Paul Scheerbart
Das große Licht
Paul Scheerbart

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Der Humor als Lebenselixier

Eine anamitische Geschichte

Der jetzige Kaiser von Anam befand sich im August des Jahres eintausendneunhundertundfünf auf einer großen Inspektionsreise; er fuhr durch alle Teile seines weiten Reiches und erkundigte sich überall eifrig nach den sozialen Verhältnissen und ward dabei sehr mißgestimmt, da sich sehr bald herausstellte, daß die sozialen Verhältnisse verbesserungsbedürftig seien – sehr verbesserungsbedürftig.

»Wenn ich die Lebensverhältnisse in meinem Lande«, sagte er schließlich zu seinem Ober-Schatzmeister, »erträglich machen wollte, so müßte ich ja mindestens noch hundert Jahre leben. Aber so alt werde ich doch nicht. Wer gibt mir das Lebenselixier, das mich noch hundert Jahre am Leben erhält? Jetzt bin ich schon fünfzig Jahre alt. Wie mach ich's, daß ich hundertundfünfzig Jahre alt werde? Ober-Schatzmeister, wissen Sie nicht, wie ich das mache?«

Der Ober-Schatzmeister kratzte sich in seinem schwarzen Backenbart und sagte lächelnd:

»Na, wir wollen mal sehen, was ich in dieser Angelegenheit machen kann.«

Der Kaiser machte große Augen.

Er sah seinen Ober-Schatzmeister lange an und sagte dann ernst: »Lieber Freund, ich bin zu Späßen nicht aufgelegt; wie soll ich Ihre Antwort verstehen?«

»Wenn Majestät mir«, versetzte der hohe Beamte, »freie Hand lassen wollten und tun möchten, was ich anordne, so könnten wir in einigen Tagen Näheres über diese Lebensverlängerungsangelegenheit erfahren.«

Der Kaiser gab sofort den Befehl, den Anordnungen des Ober-Schatzmeisters für die nächsten acht Tage unbedingt Folge zu leisten.

Und der Ober-Schatzmeister führte seinen Kaiser mit seinem ganzen Gefolge in ein kleines Dorf, allwo sich alle beim Schulzen, so gut es ging, einquartierten; der Kaiser war gespannt.

Es war der zweite September des Jahres eintausendneunhundertundfünf, und in demselben Dorfe, in dem sich jetzt der Kaiser von Anam niedergelassen hatte, lebte auch ein deutscher Baron namens Münchhausen, der täglich auf die Klapperschlangenjagd ging.

Der Baron war nur der Klapperschlangenjagd wegen nach Hinterindien gekommen; in seiner Begleitung befand sich die Gräfin Clarissa vom Rabenstein, die immer die Schlangenjagden mitmachte. Sie war noch sehr jung, er aber schon sehr sehr alt.

Diesem seltsamen Paare stattete der Ober-Schatzmeister des Kaisers von Anam in aller Frühe zum zweiten September einen Besuch ab.

»Könnten Sie nicht, Herr Baron«, sagte er lächelnd, »heute die Schlangenjagd sein lassen? Es wäre möglich, daß Sie der Kaiser von Anam noch heute zu sprechen wünschte; ich bin von Ihrem Aufenthalte in Hinterindien bereits unterrichtet – Ihren Paß habe ich schon gesehen.«

Der Baron rief die Gräfin Clarissa ins Krugzimmer und sagte:

»Wir sollen heute zum Kaiser von Anam kommen, die Klapperschlangenjagd soll heute unterbleiben; ist dir das recht?«

»Meinetwegen!« sagte die Gräfin.

Da ging denn der Ober-Schatzmeister zu seinem Kaiser und sprach also:

»Großmächtiger Monarch, es ist mir gelungen, heute einen Mann aus Europa zu sehen, der laut Taufschein und Paß volle hundertundachtzig Jahre alt ist – ja, er ist bald hundertundeinundachtzig Jahre alt. Und trotzdem geht er noch alle Tage auf die Klapperschlangenjagd. Von diesem Manne müssen wir doch erfahren können, wie man sein Leben verlängern kann; der muß doch das sogenannte Lebenselixier entdeckt haben. Darf ich den Mann feierlich holen lassen? Er ist hier im alten Dorfkruge und geht heute nicht auf die Klapperschlangenjagd; das weiß ich ganz genau.«

»Sagen Sie mal, mein Bester«, rief da der Kaiser mit ganz lauter Stimme, »glauben Sie, ich lasse mich von Ihnen zum besten halten? Wenn Sie mir nicht umgehend beweisen können, daß der Mann tatsächlich hundertundachtzig Jahre alt ist, so lasse ich Ihnen sofort den Kopf abschlagen. Ich lasse mich nicht verulken. Holen Sie den Mann her – meinetwegen mit dem allerfeierlichsten Gepränge.«

Der Ober-Schatzmeister streichelte seinen Kopf und seinen Hals und sagte, gutmütig lachend:

»Kopf und Hals ist ganz fest – geht nicht ab – geht nicht ab!«

»Das werden wir sehen!« brüllte der Kaiser.

Der Baron Münchhausen und die Gräfin Clarissa wurden danach in zwei Prachtsänften – vierundzwanzig weiße Elefanten vorne und vierundzwanzig weiße Elefanten hinten – zum Kaiser von Anam gebracht.

Das erste, was der Kaiser sagte, war dieses:

»Beweisen Sie mir, daß Sie tatsächlich einhundertundachtzig Jahre alt sind.«

Der Baron holte zwei Schriftstücke aus seiner Tasche – seinen Taufschein und seinen Reisepaß.

Der Ober-Schatzmeister rief triumphierend:

»Der Paß ist im Mai dieses Jahres vom Berliner Polizei-Präsidium ausgestellt – wenn das nicht genügt –«

»Das genügt!« rief der Kaiser und fiel seinem Freunde um den Hals.

Dann bat er den Baron und die Gräfin, Platz zu nehmen – was diese auch sofort taten.

»Sie heißen Münchhausen«, ergriff nun der Kaiser das Wort, »sind Sie derselbe Münchhausen, der im achtzehnten Jahrhundert auf Kanonenkugeln in der Welt herumritt?«

»Eben der!« versetzte der Baron.

»Ja, wenn Sie der Baron sind, so sind Sie ja der berühmteste Mann unsrer Zeit. Wie haben Sie's denn nur angefangen, Ihr Leben so lange zu erhalten? Sind Sie schon in Europa gewesen? Sie sind ja ein Weltwunder. Ihnen gegenüber sind ja die siamesischen Zwillinge einfach gar nichts.«

Der Baron strich sich mit seiner rechten braunen Hand über seine kurzgeschorenen Haupthaare, strich sich den schneeweißen Schnurrbart rechts und links in die Höhe, lächelte, daß die unzähligen Falten seines dunkelbraunen Gesichts hin und her zuckten und sagte langsam:

»Majestät geruhten, zwei Fragen an mich zu richten; ich werde mir erlauben, zunächst die zweite Frage zu beantworten: in Europa war ich am Anfange dieses Jahres und hatte das Vergnügen, zu bemerken, daß man sich dort überhaupt nicht mehr wundern kann; man nahm kaum von meiner Anwesenheit Notiz. Diese gradezu bewunderungswürdige Unberührbarkeit der europäischen Menschennatur wird diese jedenfalls befähigen, große schwere Schicksalsschläge mit Würde zu ertragen. Es steht fest, daß Pest, Krieg und Revolution den Europäer nicht aus dem Gleichgewicht bringen werden.«

»Die Leute sind da nämlich ganz und gar stumpfsinnig geworden«, sagte die Gräfin Clarissa vom Rabenstein, »die Europäer leiden momentan an der sogenannten Massen-Idiotie. Wenn man einen Europäer mit dem Kopf gegen eine harte Wand stößt, so sagt er immer: Was bullert denn da?«

Da rief der Kaiser von Anam lachend:

»Das müssen ja furchtbar lustige Zustände in Europa sein. Ja – ja – ich hab's ja immer zu meiner Umgebung gesagt: Aus Europa kann noch mal was Gutes werden. Aber, meine gnädigste Gräfin, wir in Anam sind nicht so – abgebrüht; wir können uns noch wundern, und wir können auch noch das Wunderbare verehren. Das Wunderbare ist ja immer in Hinterindien sehr beliebt gewesen. Vor acht Tagen sagte ich noch zu meinem Freunde, daß ich gern hundertundfünfzig Jahre alt werden möchte, um meinen Untertanen passable Lebensverhältnisse zu schaffen. Und nun habe ich das Glück, den Baron Münchhausen persönlich kennen zu lernen – und der ist schon hundertundachtzig Jahre alt. Wie ist das möglich? Erzählen Sie, Herr Baron! Ich vergehe vor Neugierde. Ich möcht Ihnen alles nachmachen. Ich möchte auch so alt werden wie Sie. Ich bin für Sie begeistert. Sie können hier in Hinterindien alles von mir haben, was Sie wollen. Denken Sie an meine armen Untertanen! Wie würden die sich freuen, wenn ich auch so alt würde – wie Sie, Herr Baron! Erzählen Sie mir alles! Lassen Sie mich nicht länger bitten. Ich lege Ihnen mein halbes Kaiserreich zu Füßen.«

»Das nimmt er nicht an!« rief da lachend die Gräfin, »denn wir haben keine Zeit zum Regieren; wir müssen überall Geschichten erzählen.«

»Na«, sagte der Kaiser, »ich will ja auch nicht gleich mein halbes Reich loswerden. Ich danke Ihnen, daß Sie mich nicht beim Worte nehmen. Ober-Schatzmeister, bringen Sie der Gräfin ein Dutzend kinderfaustgroße Smaragde.«

Der Ober-Schatzmeister gab sofort seinen Unterbeamten den Auftrag, die Smaragde umgehend herbeizuschaffen.

Und der Baron Münchhausen sprach nun so:

»Ehrwürdiger Beherrscher der Anamiten, der Sie diesen ein guter Vater sind, was Sie mich fragen, ist sehr einfach zu beantworten: Der sogenannte Humor vermag ganz allein unser Leben zu verlängern. Andere Mittel gibt es nicht; andere Mittel habe ich auch niemals angewandt.«

»Der Humor?« rief nun der Kaiser, »wie ist das möglich? Erklären Sie sich deutlicher.«

»Das will ich gern tun«, versetzte der Baron ganz langsam, »Sie werden es nicht bestreiten, wenn ich behaupte, daß nur der Ärger den Menschen älter macht. Wer aber hat keinen Ärger? Doch nur derjenige, der allezeit einen guten Humor bei sich hat. Wer seinen Humor nicht verliert, kann sich nicht ärgern. Ich sehe, daß Sie mir zustimmen. Nun weiter, Majestät! Außer dem Ärger gibt es noch eine zweite Plage, die den Menschen älter macht: Die Langeweile! Und da muß ich nun auch sagen, daß demjenigen, der immer seinen Humor bei sich hat, die Langeweile eine ganz unbekannte Sache bleibt. Ich sehe abermals, daß Sie mir zustimmen, Majestät. Nun hätte ich Ihnen nur noch zu erklären, wie Sie zum guten Humor kommen – dann hätten Sie das Lebenselixier in der Hand.«

»Ja«, flüsterte der Kaiser, »dann hätte ich das Lebenselixier in der Hand.«

Die Unterbeamten des Ober-Schatzmeisters brachten der Gräfin Clarissa vom Rabenstein die zwölf kinderfaustgroßen Smaragde; sie bedankte sich beim Kaiser aufs herzlichste, steckte die edlen Steine in die Tasche, und der Baron fuhr fort:

»Der Humor vernichtet den Ärger und die Langeweile. Und da diese das Leben verkürzen, so vermag der Humor, durch Vernichtung dieser beiden Lebensverkürzer, das Leben zu verlängern. Das ist ohne weiteres einzusehen; ich sehe, daß auch Eurer Majestät Umgebung diese Geschichte vollkommen versteht.«

Alle nickten und lächelten und fühlten sich sehr geschmeichelt.

Der Baron schwieg nun ein paar Augenblicke und sah den Kaiser ganz verschmitzt an, so daß dieser ganz verlegen wurde und stotternd bemerkte:

»Ich bin nicht geizig; ich weiß nur nicht, was ich Ihnen verehren dürfte; alles, was ich habe, erscheint mir so wertlos Ihrem – Lebenselixier gegenüber.«

»Oh«, rief Gräfin Clarissa, »mein Baron ist so reich, daß er gar nichts haben will; er macht sich auch aus allen Schätzen gar nichts; das können Sie mir ganz bestimmt glauben, Majestät.«

»Aber«, sagte diese nun, »jetzt möchte ich doch noch gern in ein paar Worten hören, wie man's anfängt, wenn man einen guten Humor bekommen will.«

»Das ist sehr einfach«, erwiderte lebhafter der alte Münchhausen, »man muß nur immer jeder Sache ein paar gute Seiten abgewinnen – auch jeder bösen und unangenehmen Sache. Wenn Majestät plötzlich vom Throne herunterfallen und sich einen Arm dabei brechen, so müssen Sie sich freuen, daß jetzt Ihr Arzt wieder eine gute Belohnung für die Armbehandlung bekommt. Und wenn Sie bemerken, daß Ihre Untertanen täglich dümmer werden, so müssen Sie sich freuen, da ja die Dümmeren immer empfänglicher für alles Gute sind – als die sogenannten Klügeren. Kurzum: Es handelt sich darum, daß man in jedem Augenblicke seines Lebens immerzu neue gute Seiten an allen Dingen entdeckt – besonders an den bösen Dingen. Dann bekommt man ohne Zweifel einen guten Humor, wird sich niemals ärgern und sich niemals langweilen – und wird jeden Tag älter.«

Da sagte der Kaiser von Anam sehr ernst:

»So ganz einfach ist das wohl nicht; es gehört ein allezeit parater Witz dazu. Und außerdem muß man wohl auch ein guter Mensch sein, wenn man überall – auch im Bösen – etwas Gutes entdecken will.«

»Das ist«, bemerkte da die Gräfin Clarissa, »ganz unumgänglich notwendig; einen bösen Humor gibt es eben nicht.«

»Wer sich ärgert«, sagte Münchhausen, »hat ja das Ärgerliche nicht überwunden – ist böse – und entdeckt nicht die guten Seiten des Ärgerlichen. Solch ein Ärgerlicher hat gar keinen Humor und wird sich bald durch seinen Ärger ins Grab bringen – oder sterben vor Langeweile.«

Der Kaiser von Anam stand auf, reichte dem Baron die Hand und sagte:

»Sie haben mir mehr gegeben, als alle Herrscher der Erde besitzen – Sie haben mir das einzige Mittel gegeben, mein Leben zu verlängern. Ich werde ewig Ihr Schuldner bleiben. Aber jetzt sollen gleich meine Schreiber kommen und das, was Sie sagten, aufschreiben. Ich will dieses Lebenselixier meinem Volke nicht vorenthalten. Alle Anamiten sollen so alt werden, wie der alte Baron Münchhausen.«

Und nach diesen Worten umarmte der Kaiser den alten Baron Münchhausen.

Und die Hofbeamten riefen alle zusammen mit lauten Stimmen:

»Lange lebe der Kaiser!«

Da rief der Kaiser aber lachend:

»Das ist nicht genug! Ihr müßt rufen: lange lebe das Volk! Dann lebe ich auch lange, denn ich gehöre doch zu euch!«

Da riefen die Hofbeamten:

»Lange lebe das Volk!«

Münchhausen wollte danach gleich wieder mit seiner Gräfin auf Klapperschlangenjagd gehen – aber der Kaiser sagte:

»Nein, heute müssen Sie bei mir zu Mittag essen!«

Und so geschah es.


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