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Achtes Kapitel

Der Detektiv irrte mehrere Stunden durch Hamburg, durchkreuzte die Stadt nach allen Richtungen, sah jeder Dame, die in der Figur Senta Fredersdorf glich, ins Gesicht, und fand immer nur fremde Mienen, die ihn abweisend anstarrten.

Und ebenso vergeblich suchte er nach dem dunklen Hause, in dem die Hochzeitsfeier stattgefunden hatte. Ein Hotel konnte das gar nicht gewesen sein; das wußte er jetzt selber.

Aber worüber er sich noch immer nicht beruhigen konnte: er kannte doch Fredersdorf persönlich und kannte den Baron Leichsenring ebenfalls. Sollte es derartig unheimliche Doppelgänger geben? Und merkte das denn nicht einmal Senta? Oder wagte sie es nur nicht, das düstere Geheimnis dieser Nächte zu enthüllen?

Schließlich kehrte der Detektiv doch in sein kleines Hotel zurück und rief von dort das Polizeipräsidium an.

Man hatte noch nichts gefunden …!

Er warf sich auf sein Lager, denn seine Glieder waren wie gebrochen. Als er die Augen endlich wieder öffnete, war es Abend. Draußen lag schon starke Dämmerung.

Er sprang auf die Füße. Von neuem packte ihn die Angst um Senta. Er durfte hier nicht untätig liegen. Er mußte die Unglückliche finden. Vielleicht ahnten die Verbrecher inzwischen, daß man hinter ihnen her war, und in ihrer Wut über den Fehlschlag ihres Planes – ja, was für eines Planes? – töteten sie wohl gar die Arme!

Der Detektiv rief das Polizeipräsidium an.

Ein Kommissar meldete sich.

»Ich bin vom Chef genau unterrichtet,« sagte er auf die Anfrage des Detektivs. »Wir waren rastlos tätig. Gefunden haben wir die junge Dame noch nicht. Aber einer unserer tüchtigsten Detektive hat festgestellt, daß in der verflossenen Nacht in einer übelberüchtigten Hafengasse eine weibliche Person in ein Haus gezerrt worden ist und dabei einen durchdringenden Schrei ausgestoßen hat. Die Häuser dort sind bereits durchsucht worden. Viel Gesindel, armes Volk wohl auch. Aber die Person – um welche es sich handelt, ließ sich nicht feststellen – blieb verschwunden.«

Der Detektiv wußte in diesem Augenblick mit hellseherischer Sicherheit, daß es sich nur um Senta gehandelt haben konnte.

Sie war bei ihrer verzweifelten Flucht in die Hafengegend gekommen, hatte Unterschlupf und Rettung gesucht und war dort erst recht Verbrechern in die Hände gefallen.

Vielleicht hatte sie gar der Baron erreicht und nun in ein Versteck geschleppt, bis die Luft wieder rein würde. Es konnte aber auch Schlimmeres vorgefallen sein.

Der Detektiv ließ sich genau die Gegend beschreiben, die Straße, die betreffenden Häuser.

Viel Hoffnung konnte ihm der Kollege am Telephon nicht machen. Der Fall lag ziemlich verzweifelt.

Der Detektiv hing an. Er wollte – er mußte abermals ganz allein auf die Suche gehen.

Es wurde später und später. Endlich hatte der Detektiv seinen Plan ausgearbeitet. Er kannte das Hafenviertel von einem früheren Besuche, wo es ihm geglückt war, einen schweren Verbrecher in einer der Kneipen dort festzunehmen. Außerdem besaß er ja die ziemlich genauen Andeutungen des Kommissars.

In seinem jetzigen Anzuge konnte er nicht dorthin gehen. Er ließ den Hotelwirt zu sich rufen und gab sich dem Manne als Berliner Detektiv zu erkennen. Er zeigte ihm auch die große Blechmarke, die er von dem Hamburger Polizeichef erhalten hatte.

Der Mann war dadurch sofort zugänglich gemacht. Er stellte dem Detektiv jede Hilfe zur Verfügung.

Dieser brauchte einen geeigneten Anzug, um ohne Verdacht das Hafenviertel durchstreifen zu können. Der Wirt wußte Rat dafür.

Er brachte gleich darauf ein Bündel Kleider in das Zimmer des Detektivs, und dieser konnte sich maskieren.

Eine Viertelstunde später verließ ein breit ausschreitender Matrose in schlechtem Anzuge, Gesicht und Hände beschmutzt, als komme er gerade von der Kohlenarbeit im Hafen, das Hotel durch eine Hintertür. Mit diesem Aeußeren konnte der Detektiv sicher sein, daß ihn nicht einmal sein bester Freund wiedererkennen würde.

Die Hände in den zerschlissenen Hosentaschen, einen Pfeifenstummel zwischen den Zähnen, dem ein abscheulich stinkender Rauch entquoll, schob sich der Matrose gemächlich nach der Hafengegend.

Die Leute wichen ihm aus, ein Polizist musterte ihn scharf, aber er kümmerte sich nicht darum. Inzwischen war es tiefe Nacht geworden. Nebel wälzte sich vom Wasser herein, legte sich über die Dächer, füllte die Straßen und verdunkelte das Laternenlicht.

Den Kopf vorgeschoben, die Blicke unter den dichten Brauen wie ein Luchs umherwerfend, schob sich tapsend der Matrose durch das Winkelwerk der Gassen im elendesten Viertel des Hafens.

Immer weniger Leute begegneten ihm, und dann huschten sie jedesmal fast lautlos an ihm vorüber und wurden vom Nebel verschluckt.

Jetzt mußte der Detektiv die Stelle erreicht haben, wo nach den Bekundungen des Hamburger Detektivs das weibliche Wesen verschwunden war.

Die Häuser lagen zusammengedrückt im Dunkel. Es war wenig zu erkennen. Eine dumpfe, häßliche Luft herrschte hier. Undefinierbare Geräusche stiegen auf, eine Tür knarrte, ein Aechzen zog durch die Nebelnacht. Kreischend drehte sich irgendwo eine verrostete Wetterfahne auf einem der Dächer, die ihre Umrisse im Nebel verbargen. Dann Musik, halb verschwommen. Aus einer Kellerkneipe grölende rauhe Stimmen. Eine Ziehharmonika spielte.

Der Detektiv lehnte sich einen Augenblick lang an die nasse häßliche Mauer eines Hauses und überlegte. Seine Augen musterten trotz der Dunkelheit alles, was seine Umgebung aufwies.

Kein lebender Mensch war mehr um den Weg. Und dort drüben, da, wo das Gesindel noch im Keller saß und sich vergnügte, war das verdächtige Haus. Er konnte sich nicht irren.

Entschlossen schob er darauf zu, suchte und fand schließlich auch den Eingang zu dem Keller.

Die Tür lag ziemlich tief, und so war es auch nicht verwunderlich, daß der Detektiv von der Straße aus den von innen etwas beleuchteten roten, schmutzigen Fenstervorhang nicht gleich zu erkennen vermochte.

Er stieß die Tür auf und trat ein.

Ein ziemlich großer, gewölbter Keller, zum Wirtshaus hergerichtet. Eine Matrosenschenke übelster Art. Verräuchert, überall von Schmutz starrend. Er schauderte, wenn er daran dachte, daß man in dieses scheußliche Loch Senta geschleppt haben könnte.

Ein wüster Lärm herrschte hier unten. Nach der Gasse zu war das alles abgedämpft gewesen. Der Keller war raucherfüllt, so daß man nur gerade das Nächste zu erkennen vermochte. Oder man mußte sich erst an diese Luft gewöhnen.

Kein Mensch kümmerte sich um den Eingetretenen, der sich breitbeinig und dreist durch den Raum schob und mit blöden Augen die Insassen musterte.

Im Hintergrund stand der Wirt, eine plumpe Figur, vermutlich ein ehemaliger Seemann, hinter der Theke. Er hatte einen Kopf wie eine Billardkugel und kleine, glitzernde Augen.

Wo hatte der Detektiv diesen Menschen nur schon einmal früher gesehen? Es war ihm plötzlich, als wäre das in Berlin gewesen. Aber vielleicht täuschte er sich auch.

Ein verkrüppelter Bursche saß auf der Ecke eines Tisches, das eine Bein hochgezogen, und spielte die Ziehharmonika.

Die übrigen Tische, roh und ungescheuert, waren von Gästen besetzt, die sämtlich in diese Umgebung paßten; Matrosen, die keine Heuer gefunden hatten, Hafenarbeiter unterster Sorte, und Dirnen in grellschreienden aber zerlumpten Kleidern und mit frechen Gesichtern.

Die Weiber tanzten mit ihren Liebhabern um die hinteren Tische. Andere spielten oder dösten dumpf vor sich hin. Ein rothaariges Frauenzimmer bediente und kreischte bei jedem Witz laut auf.

Der Detektiv warf sich fluchend in einen Stuhl, spuckte kräftig aus und ließ sich dann von der Rothaarigen etwas bringen, das er scheinbar mit einem Schluck leerte, in Wirklichkeit aber unter den Tisch schüttete. Niemand fragte ihn, niemand verlangte Geld von ihm.

Er lehnte sich gegen einen Mauerpfeiler und beobachtete, scheinbar betrunken, seine Umgebung.

Plötzlich zuckte er zusammen. Wachte oder träumte er? Er bemerkte einen Tisch, ganz in die Ecke gerückt, ebenso unsauber wie alles andere im Keller, von einer rauchumnebelten Lampe beschienen. Um diesen Tisch saßen drei Männer und spielten Karten.

Sie waren so sehr damit beschäftigt, daß sie für alles andere, was um sie her vorging, keine Augen hatten.

Man hörte ihre heiseren Stimmen, das zornige Auftrumpfen der Karten, die kurzen Flüche.

Unbemerkt stand er auf und schob sich gegen den verdächtigen Tisch vor. Und nun konnte er, auf den niemand achtete, den Männern gerade ins Gesicht sehen.

Im ersten Augenblick wollte er aufschreien und den ersten am Kragen nehmen und niederschlagen, dann kam es aber über ihn wie ein eiskalter Frost.

Die da vor ihm saßen und Karten spielten – in Kleidern, wie sie hierher paßten – und doch für ihn sofort erkennbar, waren – der Polizeipräsident von Berlin, der Baron Leichsenring und der Hamburger Kommissar Ellerböck.

»Es ist kein Zweifel möglich!« schrie sich der Detektiv zu. »Ich habe sie wiedergefunden. Und in ihrer Nähe muß sich auch Senta befinden!« Sie saßen hier gleichsam als Wächter; das verruchte Haus barg also wohl die Entführte!

Der Boden drehte sich unter dem Detektiv, er fühlte wieder das wilde Hämmern seines Blutes in den Schläfen.

Einen Augenblick darauf legte er, gleichsam einem plötzlichen Zwange gehorchend, seine Hand fest und schwer auf die Schulter des ihm zunächst sitzenden Mannes.

»Guten Abend, Kollege Ellerböck,« sagte er und hatte das Gefühl, als rede er gar nicht selber, sondern ein ganz anderer, Fremder.

Der Mann drehte ihm das Gesicht zu. Es war Ellerböck. »Wat willst du denn von uns, Dreckkerl?« fragte dieser mit einem giftigen Blick.

Die anderen hatten noch ihre Karten in den Händen, aber sie sahen nun ebenfalls den Detektiv mißtrauisch an. Natürlich, sie erkannten ihn ja noch nicht in seiner geschickten Maske.

»Wir wollen ein Ende machen,« sagte der Detektiv entschlossen. »Ich bin der Berliner Detektiv …!«

Sie starrten ihn einen Augenblick lang verblüfft an. Jetzt mußten sie sich doch als überführt bekennen. Wenn sie fliehen wollten, war der Detektiv entschlossen, sie glatt niederzuschießen. Er hatte sich diesmal eine sichere Schußwaffe mitgenommen.

Aber daran dachten die drei Menschen gar nicht.

Sie lehnten sich weit zurück und brachen in ein schallendes Gelächter aus. »Hast du fein gesagt, Swinegel!« brüllte der Baron Leichsenring. »Komm her und sup dir eens!«

Und er stieß sein halbvolles Branntweinglas über den Tisch.

Der Detektiv ließ seine geballte Faust auf den Tisch sausen, daß die Gläser herunterpurzelten und zerklirrten.

»Mir macht man keine Komödie vor, und wenn sie noch so fein eingefädelt ist,« rief er. »Aufstehen! Hände hoch – oder –!«

Er hatte seine Schußwaffe hervorgeholt und richtete sie auf den Baron. Im nächsten Augenblick entstand ein heilloser Lärm. Tische und Stühle flogen um, polterten zu Boden, die Weiber kreischten wild auf, und ehe der Detektiv dazu kam, von seiner Waffe Gebrauch zu machen, hatten ihn von rückwärts ein paar Eisenarme umspannt, so daß ihm die Waffe entfiel. Ein Schuß krachte. Aber er traf niemand.

»Steht mir bei, Leute!« keuchte der Detektiv. »Ich muß diese drei Burschen festnehmen. Entweder sind es Doppelgänger – oder –«

»Raus mit ihm – immer an die Luft! Der Kerl ist besoffen!« heulte die losgelassene Meute in der Runde.

Man nahm ihn nicht einmal ernst. Sein wütender Schrei: Ich bin der Berliner Detektiv …! wurde von dem Brüllen und Lachen der Horde verschlungen.

Dann fühlte er sich von unsichtbaren Armen in die Höhe gehoben, herumgewirbelt, schlug zwecklos um sich und wurde unter Hallo durch den Keller getragen.

Vergeblich wehrte er sich. Man trug ihn die Stufen am Eingang in die Höhe – die kalte Nachtluft traf sein Gesicht – und mit einem kräftigen Schwung beförderten ihn die eisenharten Arme der brüllenden Menschen auf das nasse, schlammige Pflaster der Gasse.

Er stürzte, überrollte sich und blieb einen Augenblick betäubt liegen. Als er wieder zu sich kam, hörte er die Kellertür der Kneipe zuschlagen und vernahm noch immer das brüllende Lachen, das dann plötzlich verebbte.

Es war den Verbrechern abermals gelungen, ihn zu beseitigen! Die Scham über diesen Fehlschlag wütete in ihm. Noch mehr die steigende Angst um Senta. Denn in Wahrheit hatten ihn die Verbrecher ja doch erkannt. Sie wollten nur Luft bekommen, um zu entwischen.

Er richtete sich mühsam empor. Schlamm und Nässe hing sich an seine Kleider. Verletzt aber war er nicht. Sie hatten es noch gnädig mit ihm gemacht.

Sollte er noch einmal in den Keller eindringen? Oder das nächste Polizeiamt alarmieren?

Beides wäre zwecklos gewesen, das erkannte er sofort. Die Burschen wären gewiß längst verduftet, ehe sie gefaßt werden konnten.

»Ich habe seltsames Pech in dieser Sache,« murmelte er.

Und mehr als je war er jetzt davon überzeugt: in diesem Hause oder ganz in der Nähe wurde Senta Fredersdorf verborgen gehalten. Um sie drehte sich doch alles! Ob er nun tatsächlich drei Doppelgängern gegenüberstand, ob es auch einen gab, der dem Kommissar Ellerböck auf ein Haar gleichsah, das war jetzt Nebensache.

Um Senta ging es! Sie mußte gerettet werden!

Schließlich blieb doch nichts anderes übrig, als die nächste Polizeiwache zu benachrichtigen. Man konnte noch einmal, gleich in dieser Nacht, das ganze Häuserviertel durchstöbern.

Während der Detektiv noch überlegte, tauchte plötzlich eine Gestalt vor ihm auf.

Ein Weib!

In dem ganz unsicheren, fast geisterhaften Schein der entfernten Gassenlaterne konnte er gerade noch ihre Umrisse erkennen.


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