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Sechstes Kapitel

Der Detektiv hatte sich in einem kleineren Hotel nahe am Bahnhof ein Zimmer genommen.

Als die Stunde kam, wo er im Hotel Terminus erscheinen sollte, inspizierte er sein Aussehen, seinen Anzug und fand, daß er noch im Frack war. Darüber trug er den Mantel.

Er ließ sich die Kleider, so gut es ging, säubern, immer halb im Traume, denn was er jetzt erlebte, verstand er einfach nicht. Gleichzeitig fieberte sein ganzes Inneres nach Klarheit, und er schwur sich von neuem zu, dieses Netz von geheimnisvollen Intrigen zu zerreißen.

Senta retten! Trotz der Vermählungskomödie! Für sich retten. Der Eisenmagnat würde später das alles schon begreifen müssen. Er liebte ja seine einzige Tochter, und der Vater würde wohl bald erkennen, was der Detektiv für sie getan hatte.

Dieser stieg die Treppe des Hotels hinab und glaubte auch hier wieder zu bemerken, daß ihm lächelnde, fast mitleidige Blicke folgten. Der Portier grüßte höflich. Aber auch er zeigte ein lächelndes Gesicht.

Sollten die Leute von der Polizei einen geheimen Wink bekommen haben, den Berliner Detektiv, der so überschlau sein wollte, in allem ganz einfach gewähren zu lassen?

Das war jetzt einerlei! Die Wahrheit mußte schnell ans Licht kommen.

Der Detektiv nahm ein Auto und fuhr nach dem Terminushotel. Der Chauffeur kannte es gut.

Beim Aussteigen bezahlte der Detektiv den Mann. Die Taxe war sehr hoch. Aber darüber kam er rasch hinweg. Alles brannte in ihm vor Verlangen, Senta und dem Baron gegenüberzutreten.

Er hatte sich absichtlich nicht mit dem Kommen beeilt. Entgehen konnte ihm der Baron ja doch nicht mehr, denn dieser Mensch hielt sich offenbar für ganz sicher, da er ja die Einwilligung des Millionärs besaß.

Es war ein vornehmes Hotel. Der Detektiv war früher noch nie hier gewesen, wenn ihn sein Beruf einmal nach Hamburg brachte.

Die Diele des Hotels war strahlend erhellt. Man begegnete ausgesucht eleganten Gästen, die Bedienung war sehr höflich, und es herrschte ein äußerst vornehmer Ton.

Der Detektiv wandte sich an einen sehr gepflegt aussehenden Herrn, der der Geschäftsführer zu sein schien, und fragte nach der Hochzeitsgesellschaft. Er wäre eingeladen.

Der Herr verneigte sich höflich und winkte einem Boy, der wie der Blitz herbeieilte. Das kleine Kerlchen trug eine Livree aus lilafarbenem Stoff mit blinkenden Goldknöpfen.

Ein paar Worte des Geschäftsführers sagten dem Boy das Nötige.

»Darf ich den gnädigen Herrn bitten, mir zu folgen?« bemerkte darauf das Kerlchen.

Im Fahrstuhl ging es nach oben. Wie hoch, konnte der Detektiv nicht feststellen. Dann hielt der Fahrstuhl mit einem sanften Ruck.

Die Tür öffnete sich, der Boy trat bescheiden zur Seite und ließ den Detektiv aussteigen. Auch hier oben war alles hell erleuchtet. Weiche, rote Teppiche spannten sich über den Boden. Die Wände waren in mattem Rot mit Gold gehalten.

Der Boy übergab seinen Gast einem rasch herbeigeeilten, ebenfalls in Lila kostümierten älteren, aber ebenso vornehm auftretenden Diener. Wie ein Diplomat der alten Schule sah der Mann aus.

»Ich bitte, gnädiger Herr – hier ist die Kleiderablage,« sagte der Diener.

Der Detektiv ließ sich Hut und Mantel abnehmen und besah sich in einem Spiegel. Er fand, daß er einen guten Eindruck im Frack machte

»Hat das Fest bereits begonnen?« fragte er den Diener, der dienstbereit hinter ihm stand.

»Vor einer Stunde etwa, gnädiger Herr,« lautete die Antwort. »Die Herrschaften haben bereits gespeist.«

Der Detektiv hörte Musik. Ein weiches Stück, etwas sentimental. Aber es mußte ein Künstlerquartett sein, das hier spielte.

»Ist es Ihnen möglich, mich etwas unauffällig dem Schwiegervater des Bräutigams, Herrn Fredersdorf, zu melden?« fragte der Detektiv den Diener.

»Gewiß, gnädiger Herr,« lautete die Antwort. »Ich bitte nur, mir zu folgen.«

Der Diener ließ den Detektiv in einen Vorraum des eigentlichen Festsaales treten. Ueberall gewähltester Luxus, kein Hotelklischee. Reizend geformte, vergoldete Tischchen an den Seiten, gepolsterte Sitzgelegenheiten, aus blaßroter Seide bestehend. Und überall draußen an den Wänden seltsame Goldkäfer in den Stoff gewoben.

Die Musik erklang nun näher. Ein hoher Eingang in den Saal wurde zur Hälfte von einem Brokatvorhang verdeckt. Dahinter lag spiegelblankes Parkett.

Man hörte auch das Schwirren einer Anzahl Stimmen, doch war nichts deutlicher zu erkennen. Dazwischen lachten Frauen hell und lebensfroh.

»Seltsam ist das alles doch,« sagte sich der Detektiv. »Ich komme mir beinahe dumm vor. Denn ich will ja doch in diese ganze elegante, frohe Gesellschaft hineinplatzen, um der Komödie hier ein Ende zu machen.«

Der Diener war verschwunden, war in den Saal gegangen. Langsam folgte ihm der Detektiv.

Und nun stand er im Speisesaal. Eine lange, hufeisenförmige Tafel lag vor ihm. Ueberall Blumen in verschwenderischer Fülle, überall gleißendes Silber in etwas bizarrer Form. Der Raum nicht einmal allzu groß, aber ein Kunstwerk an sich. Wände und Decke aus geädertem Marmor, unterbrochen von vergoldetem Stuck. Wahre Kunstwerke bildeten auch die elektrischen Beleuchtungskörper, die an den Wänden und an der Decke angebracht waren. Nie zuvor glaubte der Detektiv derartig schöne und originelle Formen gesehen zu haben.

Die Gesellschaft, die er hier versammelt fand, fügte sich vorzüglich in die ganze feudale Umgebung. Das Hotel hatte hier sicherlich seine vornehmsten Räume der Hochzeitsgesellschaft zur Verfügung gestellt.

Man beachtete den Detektiv zunächst nicht weiter. Er war Gast wie sie alle.

Rasch studierte er die einzelnen Gesichter der eleganten Herren und Damen. Sie waren ihm alle fremd, außer den dreien, die an dem oberen Ende der Tafel saßen: Fredersdorf, der Baron von Leichsenring und – Senta.

Diese in wunderbarer Hochzeitstoilette. Als der Blick des Detektivs zum ersten Male nach Stunden wilder Hetzjagd auf dieses entzückende Oval des jungen Geschöpfes fiel, das er liebte, krampfte sich ihm das Herz zusammen vor wildem Weh. War Senta wirklich die Gattin des Barons geworden?

Alle hier an der Tafel glaubten es, sogar der Vater, und sie selber wahrscheinlich ebenso.

Die drei hatten nicht nach dem Eingang des Saales geblickt. So konnten sie auch nicht den Detektiv bemerken. Sie unterhielten sich lebhaft. Halb geleerte Sektkelche standen auf dem Tische, und einer der Herren erhob sich gerade zu einer Rede, die das Hochzeitspaar feierte.

Der Detektiv blieb etwas seitwärts stehen und wartete. Als der Herr geendet hatte – eine etwas exotisch aussehende Erscheinung mit einem wunderbaren Brillanten in der blütenweißen Hemdbrust – stießen alle lärmend mit den Sektkelchen an. Die Musik fiel mit einem rauschenden Tusch ein. Wo die Künstler eigentlich untergebracht waren, konnte der Detektiv nicht erkennen. Sie waren einfach da – irgendwo – vielleicht in einem offenen, rückwärtigen Nebenraume.

Der Baron dankte. Sein nicht uninteressantes Gesicht war etwas gerötet, es stand deutlich das Gefühl erfüllter Sehnsucht und eines starken Triumphes in diesen großen, etwas flackernden Augen.

Senta lehnte scheinbar ermüdet auf dem Stuhle. Aber ihr Antlitz trug dabei den Ausdruck geheimer Angst. So schien es wenigstens dem Detektiv. Niemand sonst bemerkte das wohl, nicht einmal der eigene Vater, der behaglich schmunzelte. Er schien völlig versöhnt zu sein mit dem Baron.

Da näherte sich ihm der Diener und hauchte ihm etwas zu.

Fredersdorf wandte den Kopf. Es schien, als flüstere er leise ein paar Worte in das rosige Ohr Sentas, und die junge Frau zuckte leicht zusammen, wagte aber nicht, sich zu erheben.

Fredersdorf hatte sich erhoben, lächelnd, scheinbar sehr vergnügt. Der Baron wandte sich inzwischen wieder Senta zu, sie mit zärtlichen Worten überschüttend.

Dies alles stellte der Detektiv fest.

Da kam Fredersdorf auf ihn zu und reichte ihm die Hand wie einem alten, guten und erwarteten Freunde. »Reizend, daß Sie nun doch noch gekommen sind, mein lieber Herr Detektiv,« sagte er, fügte dann aber leise hinzu: »Ich werde Sie hier aber doch lieber als Baron Stülpnagel vorstellen. Es ist besser so.«

Der Detektiv wollte widersprechen. Denn er hatte vor drei Wochen erst in Berlin einen internationalen Hochstapler festgenommen, der sich Baron Stülpnagel genannt hatte. Wie kam Fredersdorf gerade auf diesen Namen?

Es war aber zu spät, um den Eisenmagnaten zurückzuhalten. Schon erhoben sich einige der Gäste. Die Tafel war beendet.

Der Detektiv fühlte sich in einen Kreis eleganter Herren gezogen, hörte Namen, die er nicht einmal behalten konnte, und man schüttelte ihm sogar die Hand, als wäre er hier längst bekannt. Wahrscheinlich hatte Fredersdorf ein paar sehr empfehlende Worte gesprochen.

Als Baron Stülpnagel bildete der Detektiv rasch den Mittelpunkt einer lebhaft bewegten Gruppe. Weiß der Himmel, welche Eigenschaften der Millionär ihm angedichtet hatte!

Auch die Damen, sehr schöne Erscheinungen, waren von entzückender Liebenswürdigkeit. Er sollte von Berlin berichten und was es dort in der Gesellschaft Neues gab. Und der Detektiv antwortete, ohne recht zu wissen, was.

Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Er mußte jetzt doch endlich auch dem Baron und Senta vorgestellt werden.

Bei diesem Gedanken begann sein Herz seltsam hart zu hämmern. Der Baron kannte ihn doch von Berlin her. Er stand mit im Bunde, als der Detektiv in der Villa des Polizeipräsidenten beseitigt werden sollte. Davon ließ sich der Detektiv nicht abbringen.

Fredersdorf war es, der nun tatsächlich ihn selber seiner Tochter und dem Baron zuführte.

Ohne eine Spur von Verlegenheit nickte ihm Senta mit ihrem sinnbetörendsten Lächeln zu und reichte ihm sogar die feine Hand, die in der seinen aber doch leicht zu beben schien.

»Ich freue mich sehr, Herr Altaro, daß Sie uns aufgesucht haben,« sagte sie.

Komisch! Nun nannte ihn die junge Dame wieder Altaro, wie in der Villa des Polizeipräsidenten! Und sie wußte doch, daß er der bekannte Detektiv war, der hergekommen war, um sie zu erlösen! Aber sie wußte sich sehr geschickt zu beherrschen.

»Wir haben den Herrn Altaro hier als Baron Stülpnagel eingeführt,« flüsterte mit vertraulichem Augenzwinkern Fredersdorf seiner Tochter in diesem Augenblick zu.

»Dann – unsern Dank für Ihr Kommen, Baron Stülpnagel,« sagte Senta liebenswürdig.

Der Baron stand neben ihr. Auch er zeigte sich völlig unbefangen. Er schüttelte dem Detektiv die Hand. »Wie geht es in Berlin?« fragte er leicht. »Sie werden hier einen sehr schönen Abend verleben, dafür stehe ich ein.«

Und er lachte und sah zärtlich zu Senta hin, die sich an seinen Arm hing.

Der Detektiv hatte Worte, wie man sie in solcher Gesellschaft nun eben braucht. Er wußte aber selber nicht recht, was er sagte.

Fredersdorf stieß mit ihm an, ebenso der Baron. Und dabei dachte der Detektiv beständig: ich muß mit der jungen Dame allein sprechen! Sie ganz allein kann mir Aufklärung geben! Ich glaube nicht an ihr frohes Lächeln, es ist alles eine furchtbare Maske. Sie wird von einer unheimlichen Gewalt festgehalten, der auch ihr Vater unterliegt. Diese ganze vornehme Gesellschaft besteht am Ende aus lauter eleganten Verbrechern. Es sind exotische Gesichter darunter. Man will höchstwahrscheinlich Senta doch noch nach Südamerika verschleppen.

Warum man dann aber nur den Millionär Fredersdorf in das dämonische Spiel mit einbezog? War es denn nicht genug – der Baron hatte doch sein Ziel erreicht, Senta zur Frau bekommen und mit ihr ein paar Millionen!

Das verstand der Detektiv noch immer nicht. Es gab aber schließlich eine Deutung: der Baron war gar kein Baron, war ein Glücksritter, wenn nichts Schlimmeres. Und fürchtete jeden Tag die Entlarvung. Wollte noch rechtzeitig zuvor mit Senta verschwinden und den Geldern, die er seinem Schwiegervater entlockte.

Nach und nach verzogen sich die Herren in die anstoßenden Räume, um ihre Zigaretten zu rauchen. Auch die Damen sonderten sich ab. Man unterhielt sich ganz zwanglos.

Und nun glaubte der Detektiv die Zeit gekommen, wo er Senta für kurze Zeit allein sprechen konnte.

Sie war verschwunden. Der Baron stand bei einer Gruppe von Herren in eifrigster Unterhaltung. Man schien wirklich keinen Verdacht zu schöpfen.

Gerade jetzt kam Fredersdorf an dem Detektiv vorüber. Der Mann war etwas angeheitert. Er klopfte dem Detektiv auf die Schulter. »Was sagen Sie nun dazu, mein Bester?« lachte er. »Haben Sie sich endlich davon überzeugt, daß es hier nur ein paar glückliche Menschen gibt? Wo liegt da noch ein Grund zur Besorgnis vor? Im Vertrauen gesagt – ich reise morgen wieder nach Berlin. Wollen wir zusammen fahren?«

»Sie reisen – ohne Ihre Tochter?« entfuhr es dem Detektiv.

»Aber selbstverständlich! Ein jungvermähltes Paar soll man nicht länger stören als unbedingt nötig. Der Baron will mit Senta einen kleinen Ausflug nach Neuyork machen.«

Er brach in ein lautes Lachen aus. Als Schwiegersohn des Millionärs Fredersdorf konnte sich der Baron allerdings auch eine Hochzeitsreise nach Amerika leisten.

Nur glaubte der Detektiv nicht recht an diese Neuyorker Reise. Dahinter steckte etwas ganz anderes.

»Sie werden Ihnen ein paar amerikanische Dollars mitbringen, Baron Stülpnagel,« scherzte Fredersdorf noch. Dann verschwand er wieder und schob sich in das Rauchzimmer.

Der Detektiv paßte einen geeigneten Augenblick ab, dann verließ er den Festsaal und suchte in dem kleinen, angebauten Wintergarten Senta. Er war gewiß, daß er die junge Dame hier finden werde.

Leise tönte die Musik wieder. Der Geiger spielte ein Adagio …

Und dann stand der Detektiv ganz plötzlich vor Senta. Sie saß auf einer zierlichen Bank hinter einer Palmengruppe und kein anderer Mensch war in der Nähe.

»Senta – gnädige Frau,« verbesserte er sich und fühlte, daß ihm alles Blut zum Herzen drang.

Die junge Dame fuhr in die Höhe, sank dann aber wieder matt zurück. Ihr feines Gesicht war geisterhaft bleich. Um den kleinen Mund zuckte es wie von furchtbarer Angst. In ihren Augen, die fieberhaft flackerten, brannte ein Leuchten, das dem Detektiv den Atem raubte.

»Sie sind es – Sie – also doch –!« stammelte Senta.

Sie schlug beide Hände vor das wachsbleiche Gesicht und ein Beben erschütterte ihre ganze Gestalt, die in dem schönen, spitzenüberrieselten Hochzeitskleide vor ihm saß, und ihm das Schönste, Herrlichste des Daseins schien.

»Ja, ich!« sagte er hastig und neigte sich gegen sie. Und sah sich doch auch um, ob sie von niemand belauscht wurden. »Ich bin Ihnen gefolgt, Ihnen und dem Baron – im Zuge –«

»Ich weiß es,« flüsterte sie erschauernd.

»Sie – wissen –?«

»Ja. Und auch er wußte es. Darum –!« murmelte sie und brach doch jäh wieder ab.

Der Detektiv fragte sich noch einmal, wie es denn dem Baron dann möglich geworden war, den Eisenbahnunfall herbeizuführen, um ihn, den Detektiv, für kurze Zeit auszuschalten?

Aber jetzt war keine Zeit zu solcher Erklärung, das sah er auch ein.

»Man vermißt uns vielleicht schon, gnädige Frau,« stieß er hervor. »Antworten Sie schnell, ehe alles verloren ist. Ich fühle es, man spielt mit Ihnen, mit Ihrem Vater, man spielt wohl auch den Gästen allen eine grausame Komödie vor. Nur mich kann man nicht täuschen. Wenn Sie wirklich die Gattin des Barons wurden – so geschah dies unter einem unheimlichen Zwange. So ist es doch, nicht wahr?«

»Sie haben es erraten …« hauchte Senta und sah zu dem Detektiv auf.

»Dieser Schurke!« knirschte der Detektiv. »Aber er soll nicht triumphieren. Ich lege ihm das Handwerk, so wahr mir Gott dabei helfen wird! Nur eines, Senta – gnädige Frau – sagen Sie mir, ob Sie sich der wenigen köstlichen Worte erinnern, die Sie mir in der Nacht sagten, unter den Bäumen der Villa in Berlin?«

»Ich weiß noch alles,« kam es wie ein Hauch von Sentas Lippen.

Er fühlte ein brausendes Glücksgefühl in sich, so stark, daß er fast alle Vorsicht vergaß.

»Senta –!« schrie er voller Sehnsucht und wollte sie an sich reißen.

Da fuhr sie angsterfüllt in die Höhe.

»Um Gottes willen, rühren Sie mich nicht an!« flehte sie. »Ich bin ja doch die Gattin des andern geworden!«

»Gezwungen, Senta, unter martervollem Zwange,« gab er hastig zurück. »Können Sie mir nicht wenigstens andeuten, worin das furchtbare Geheimnis besteht, das Sie diesem Menschen auslieferte?«

»Ich kann es nicht, ich weiß es selbst nicht …«

Er starrte sie an. Das begriff er wieder nicht.

»Dann weiß es Ihr Vater, der sich nun auch unter das Joch des Barons beugt?« stieß er hervor.

»Vielleicht … ja … so wird es sein!« stöhnte die junge Frau leise.

Der Detektiv fühlte eine nie geahnte Energie in sich.

»Ich bin bereit, Ihnen noch diese Nacht zur Flucht zu verhelfen, Senta. Ich will mich gleich nachher verabschieden. Es ist jetzt genau zwölf. In einer halben Stunde warte ich mit einem Auto zwanzig Schritte vom Seiteneingang des Hotels entfernt. Glauben Sie, daß es Ihnen möglich ist, sich ein paar Minuten unbemerkt zu entfernen, so wie Sie sind, in diesem Kleide?«

»Ich will es versuchen,« stammelte das junge Weib.

»Dann sei Gott mit uns,« versetzte heiser der Detektiv. »Mit Ihrem Vater werde ich mich nachher rasch verständigen. Den Baron aber lasse ich noch vor dem Morgengrauen durch die Hamburger Polizei festnehmen. Alles weitere findet sich dann schon.«

Senta Fredersdorf sah mit großen Augen in die Ferne. Hatte sie die Worte des Detektivs gar nicht mehr verstanden?

»Man kommt!« schrie sie plötzlich voller Entsetzen auf.

Der Detektiv trat zurück. »Um halb eins – ich warte –« raunte er ihr rasch zu.

Er hatte gerade noch Zeit, sich hinter einer künstlichen Taxushecke zu verbergen, an der einige gelbe, saftige Orangen baumelten – dann betrat der Baron von Leichsenring den Raum.

»Ich habe dich überall gesucht, mein Lieb,« hörte ihn der Detektiv sagen. »Ist dir nicht wohl?«

Die junge Frau hatte sich schon erhoben und reichte dem Baron beide Hände. »Vergib mir,« sagte sie mit ihrer weichen, melodischen Stimme. »Die Luft war so drückend – und dann wollte ich auch ein Weilchen allein sein mit meinem Glück!«

Der Detektiv staunte über die Fassung der jungen, gequälten Frau. Sie verstand es glänzend, einen etwa aufsteigenden Verdacht des Barons zu zerstreuen.

Nun konnte der Detektiv sogar sehen, wie dieser Senta an sich zog und zärtlich küßte.

»Du mein alles – Du mein ganzes Glück!« flüsterte der Baron.

Und wieder sah der Detektiv, der die Zähne wie im Krampf zusammenbiß, daß sich die Lippen der beiden Menschen zu einem langen, innigen Kusse fanden.

Dann zogen sich der Baron und Senta langsam zurück. Der kleine Wintergarten lag leer und tot vor den brennenden Blicken des Detektivs.

Er schlüpfte hervor und richtete sich auf. Es war wie ein Anflug von Fieber, das ihn schüttelte. Der Kuß der beiden hatte alles in ihm in Brand gesetzt.

»Und doch haßt sie ihn!« schrie er auf. »Ihre Worte haben es mir verraten. Ich allein darf sie retten! Sie vertraut meiner Zusage und wird kommen!«

Er sah auf die Uhr, die oben an der Wand des Wintergartens als kleine Rosette angebracht war.

Zehn Minuten nach zwölf. Er mußte sich beeilen, wenn er auch gewiß war, rasch ein Auto zu finden.

Scheinbar gleichgültig schob er sich durch den Saal, hörte das Gelächter der Gäste, sah einzelne Gruppen, fand aber weder Senta noch den Baron, und auch nicht Fredersdorf.

Um so besser!

Er fuhr im Fahrstuhl nach unten, nachdem er sich in der Kleiderablage schnell Mantel und Hut hatte geben lassen.

Niemand hielt ihn auf, niemand sprach ihn mehr an. Schon stand er in der kühlen Nacht. Es wehte ein feiner Wind vom Hafen her.

War bei seiner Ankunft der Eingang des Hotels strahlend erhellt gewesen, so lagerte jetzt tiefe Dunkelheit um das Haus. Auch das war gut. Und auch die Straßengänger fehlten. Kalt und tot zogen sich die Häuser die Straße entlang. Irgendwo in weiter Ferne klingelte noch eine Elektrische.

»Ich habe noch etwa zwanzig Minuten Zeit, dann muß ich mit dem Auto dort drüben an dem Seiteneingang des Hotels sein,« sagte er sich.

Wohin er mit Senta dann fahren wollte, darüber stellte er sich jetzt keine Frage. Nur erst fort! Sie dem Baron entreißen! Der sollte sie nicht mit auf seine beabsichtigte Meerfahrt nehmen. Den mußten morgen früh die Mauern des Polizeigefängnisses umschließen.

Er rannte eilig die Straße entlang. Am Ausgang mußte ein Platz liegen, den er beim Herfahren gekreuzt hatte. Dort hielten ganz sicher einige Taxis. Es blieb ihm dann noch genügend Zeit.

Als er den Platz erreicht hatte, sah er sich vergeblich nach den Scheinwerfern der Autos um. Nicht ein einziges war zur Stelle. Das war ein fataler Zufall, wiederum die Tücke des Objektes.

Der Platz sah überhaupt seltsam verlassen aus. Nur zwei entfernt stehende Laternen brannten und spendeten höchst spärliches Licht. Und auch hier kein Mensch zu sehen. Nicht einmal ein Polizeiposten. Es half nichts, er mußte weiter suchen.

Als er die nächste Straße und die darein mündende erreichte, ohne auch hier ein Auto zu entdecken, schlug es irgendwo das erste Viertel.

»Noch fünfzehn Minuten!« keuchte er.

Er rannte weiter. Der Atem flog ihm aus der keuchenden Brust, dicker Schweiß trat ihm auf die Stirne, der Boden unter ihm schien zu tanzen.

Wenn Senta genau die Zeit innehielt und ins Freie trat, und er stand nicht mit dem Auto zu ihrem Empfang bereit, konnte alles verloren sein!

Eine zweite und dritte Straße wurde von ihm durchkreuzt. Herrgott, wollte sich denn kein Auto zeigen? Er war entschlossen, mit Gewalt jeden Chauffeur anzuhalten und zur Umkehr zu zwingen.

Inzwischen waren weitere fünf Minuten verflossen. Es blieben ihm nur noch zehn übrig.

Die Adern an seiner Schläfe drohten zu zerspringen, eine wilde, unbeschreibliche Angst, gerade jetzt zu spät zu kommen, schnürte ihm die Brust zusammen.

Da endlich –! Um die Ecke sauste ein Auto. Wie zwei glühende Augen starrten ihn die Lichter an und warfen zuckende Streifen auf das feuchte Pflaster der Straße.

Der Detektiv warf sich dem Auto in die Fahrbahn.

»Anhalten!« rief er mit einer brüllenden Stimme.

Und der Chauffeur hielt auch wirklich.

»Was wollen Sie denn?« fragte er unwirsch.

Als er dabei dem Detektiv seinen Kopf zuwandte, der vom Schein einer entfernt stehenden Laterne ein Teilchen abbekam, sah der Detektiv, daß der Mensch schon wieder aussah wie der Wachtmeister Kubasch in Berlin. Aber dadurch ließ er sich nicht mehr beirren. Er wußte, daß er sich ja doch nur täuschte. Dieser gewöhnliche Gesichtsausdruck mußte ihm auch beständig in den Sinn kommen!

Er schrie dem Manne heftig sein Verlangen zu, und der Chauffeur nickte gelassen.

»Werden wir schon machen,« sagte er.

Der Detektiv sprang in den Wagen. Das Hotel Terminus kannte der Fahrer, wie er sagte.

Der Wagen wurde herumgeworfen und sauste dann durch die Nacht. Es dauerte dem Detektiv eine kleine Ewigkeit, ehe er am Ziel war. In dem Rattern und Hämmern des Autos hörte er nichts als die eigenen Herzschläge, die gegen die Rippen pochten.

»Ich muß noch rechtzeitig ankommen!« schrie er einmal heiser auf. »So blödsinnig kann das Schicksal nicht spielen, daß es mir um ein paar Minuten mein ganzes Glück stiehlt!«

Er riß den Schlag auf und sprang ins Freie.

»Haben Sie eine Uhr?« fragte er atemlos den Chauffeur. »Sehen Sie doch nach, wie spät es ist!«

Der Mann antwortete lakonisch: »Wir haben fünf Minuten über halb eins, Herr.«

Der Detektiv fuhr lautlos zurück.

Um fünf Minuten zu spät!

Aber was wollte das denn sagen? Der Platz, auf dem er hielt, war ganz menschenleer und dunkel. Nichts regte sich in der Nähe. Man hörte nur das Rattern und Schlagen des Motors.

»Stellen Sie ab, zum Henker!« keuchte der Detektiv, der dieses Höllengeräusch nicht zu ertragen vermochte.

Dann wurde es sofort totenstill.

Der Detektiv sah zu den Fenstern des Hotels hinauf. Alles war dunkel. Wahrscheinlich lagen die Festräume nach hinten hinaus. Darum hatte sich der Detektiv früher nicht gekümmert. Unten war das Haupttor verschlossen. Und auch dort kein Licht, nicht die kleinste Flamme. Es wirkte geradezu unheimlich.

Der Detektiv lief ein paar Schritte an der Hausmauer entlang und rief dann mehrmals halblaut:

»Senta – gnädige Frau –!«

Aber niemand antwortete.

»Sie ist noch nicht gekommen,« sagte er sich aufatmend.

Er überlegte und setzte sich dann wartend in das Innere des Autos. Der Chauffeur hatte seinen Platz nicht um einen Ruck verändert. Ihn schien dies alles gar nichts anzugehen.

Zehn Minuten verflossen! Es ereignete sich nichts.

»Sie ist aufgehalten worden!« murmelte der Detektiv, noch immer von einer heißen Hoffnung belebt.

Endlich ein Ton – das Geräusch rascher Schritte!

Er stieß den Schlag etwas auf, wollte hinausrufen: Hierher! Ich bin da!

Im gleichen Augenblick wurde ihm der Autoschlag aus der Hand gerissen und der Kopf eines Mannes schob sich durch den Spalt.

Der Detektiv hörte das wütende Keuchen des Menschen. »Meine Frau ist mir entflohen! Durch Ihre Schuld. Das sollen Sie mir büßen!« kam es scharf und schneidend durch die Dunkelheit.

Mit einem Krach, der sich wie ein Kanonenschuß anhörte, wurde der Schlag wieder zugeschmettert.

Der Detektiv war in die Ecke zurückgefallen. Er hatte den Mann an der Stimme erkannt. Es war der Baron Leichsenring!

Die Flucht war geschehen, war entdeckt, aber Senta hatte sich allein in die Nacht gewagt, als sie den Wagen nicht an der verabredeten Stelle vorfand. Allein in Hamburg, mit seinen tausend Gefahren, eine junge Frau im Hochzeitskleid!

Wieder wurde der Schlag geöffnet. Der Chauffeur stand davor. »Was soll nun geschehen, Herr? Fahren wir oder warten wir? Die Dame kommt doch nicht,« sagte der Bursche.

»Von welcher Dame reden Sie, Mensch? Was wissen Sie denn?« fuhr ihn der Detektiv wütend an.

»Ich weiß gar nichts,« antwortete der Chauffeur. »Aber – –«

»Wir fahren,« befahl der Detektiv entschlossen, »nach dem Polizeipräsidium. So schnell wie möglich!«

Ein paar Augenblicke später sauste der Wagen durch die nächtlichen Straßen.

Der Nachtdienst versehende Kommissar ließ sich ein wenig umständlich die seltsame Entführungsgeschichte von dem Detektiv berichten. Dann zuckte er die Schultern.

»Wir müssen den Morgen abwarten,« meinte er. »Die ganze Geschichte klingt so außerordentlich phantastisch –«

Er stockte und sah den Berliner Detektiv von der Seite an.

Dieser lachte heiser auf. »Sie halten mich wohl für verrückt?« gab er heftig zurück.

»Wie können Sie so etwas denken!« wehrte der Kommissar ab. »Aber Sie wissen selbst, wir müssen vorsichtig sein. Und hier hat doch wohl erst unser Chef zu entscheiden.«

»Und wenn inzwischen ein Verbrechen geschieht?«

»Allerdings – nun gut! Ich werde sofort alle Polizeiämter telephonisch benachrichtigen lassen, damit unsere Leute nach der Dame in Hochzeitskleidern forschen. Sie könnte sich ja in die Hafengegend verirren. Das wäre immerhin etwas gefährlich.«

»Kann ich selber nichts dabei tun?« wollte der Detektiv wissen.

»Ich glaube kaum. Unsere Beamten kennen jeden Winkel besser als Sie.«

»Sie mögen recht haben.«

»Und ich meine, bevor es tagt, haben wir die Dame auch gefunden!«

»Und – was wird mit dem Baron Leichsenring, diesem offenkundigen Verbrecher?« wollte der Detektiv wissen. »Sie könnten ihn unschwer verhaften lassen.«

»Darüber wage ich nicht zu entscheiden,« versetzte der Kommissar. »Ich bin hier lediglich auf Ihre Angaben angewiesen. Ein Verdacht, aber sonst nichts. Und sagen Sie nicht selbst, daß der Millionär Fredersdorf mit dieser Heirat einverstanden war?«

»Allerdings. Scheinbar. Aber auch er wurde hinters Licht geführt!«

»Das muß dann erst bewiesen werden. Ich werde unserm Chef in aller Frühe Bericht erstatten und währenddessen das Hotel und seine Gäste sorgsam bewachen lassen. Mehr aber kann ich nicht zusagen.«

Der Detektiv sah ein, daß er tatsächlich nichts anderes erreichen konnte.

Das Gesicht bleich, die Hände zusammengekrampft, und den Kopf zwischen die Schultern drückend, verließ er wortlos den Kommissar.

Er vermochte es nicht, in sein kleines Hotelzimmer zurückzukehren. Die ganze Nacht über streifte er in den Straßen umher, wagte sich sogar in das Hafenviertel, wurde von Polizisten angehalten, fragte die Beamten und erfuhr doch nichts von Senta Fredersdorf.

Als es zu tagen begann, wankte er nun doch in sein Hotel und warf sich auf sein Bett, ohne sich auszukleiden. Wenn er in den nächsten Stunden nicht zusammenbrechen wollte, mußte er sich wenigstens eine kurze Zeit ausruhen.

Bleiern schwer sanken ihm die Lider über die Augen.


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