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Viertes Kapitel

Als er die Augen wieder öffnete, saß er am Boden. Sein Kopf hing ihm auf die Schulter. Dumpf brauste es in seinem Schädel. Gelber Lichtschein traf seine Augen und ließ ihn langsam zum Bewußtsein kommen.

Er sah sich um, regte sich sonst aber nicht. Was war denn geschehen? Wo war Senta, die er doch befreien mußte?

Er sah in dem gelben Lichtschein mehrere Männer, die ihn im Halbkreis umstanden.

»Was – wollt Ihr von mir?« murmelte er, noch halb wirr.

»Stehen Sie auf, Detektiv, wenn Sie können,« antwortete eine Stimme, die ihm bekannt erschien.

Er erfaßte den Menschen mit den Augen. Und wußte, daß ihm der Polizeipräsident gegenüberstand.

Zwei Diener standen rechts und links von ihm und hielten Laternen in den Händen. Von diesen kam das gelbe Licht. Und diese Burschen mußten ihn wohl auch niedergeschlagen haben, gerade in dem Augenblick, als er sich mit Senta hatte entfernen wollen.

Es waren noch ein paar andere Männer da, sie standen aber im Halbdunkel und ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Sie verhielten sich übrigens ganz untätig und schienen lediglich Zuschauer dieser sonderbaren Szene zu spielen.

Der Detektiv machte tatsächlich den Versuch, sich zu erheben. Mit einiger Anstrengung gelang es.

»Sie – haben mich niederschlagen lassen, Herr Polizeipräsident?« sagte kurz und hart der Detektiv.

Der Präsident hatte ein halblautes Lachen.

»Ich muß Sie deshalb um Entschuldigung bitten; leider konnte ich das nicht verhindern. Diese diensteifrigen Männer –« er deutete auf die beiden Diener – »glaubten, Sie hätten Schlimmes im Sinne, als sie gerade in dem Augenblick dazu kamen, wie Sie die Braut unseres Freundes Leichsenring einfach davontragen wollten. So etwas tut man doch nicht, mein lieber Herr Detektiv.«

Es klang etwas Väterliches aus diesen weichen Worten.

»Aber Senta Fredersdorf ist doch das Opfer einer niederträchtigen Intrige!« rief der Detektiv. »Wo ist die junge Dame jetzt?«

»Wo sollte sie sonst sein als bei ihrem Bräutigam?« antwortete abermals milde der Polizeipräsident. »Sie fährt noch diese Nacht in Gesellschaft des Barons fort. Zur Hochzeitsfeier, wissen Sie. Das heute war der Polterabend.«

»Polterabend?« stotterte der Detektiv.

»Die Leute nennen es so, ja,« nickte der alte Herr.

Er stand nun dem Detektiv gegenüber und legte diesem freundlich die Hand auf die Schulter. »Was machen Sie nur für Ungeschicklichkeiten, mein lieber Detektiv? Sehen Sie denn überall nur Geheimnisse? Es geht doch alles ganz natürlich zu. Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich schlafen. Morgen ist Ihr Kopf dann wieder klar. Und dann wollen wir uns im Präsidium ein bißchen über diese tolle Nacht unterhalten.«

Der Detektiv faßte sich an die Stirne. War er am Ende doch verrückt? Nein! Er wußte ganz genau, was er gesehen, was er erlebt, wie man ihn in jenes scheußliche Loch gesperrt hatte, er sah die zwei glimmenden Augenhöhlen in der Wand, den bacchantischen Tanz – hörte das Knirschen des zusammenbrechenden Stuhles!

Er raffte sich wütend empor. So starrte er den Polizeipräsidenten an. »Es war alles wie ein Höllenspuk, Exzellenz – ja –« keuchte er. »Aber wollen Sie es in Abrede stellen, daß Sie mich in ein dunkles Kabinett geführt haben, und daß es dort bewegliche Böden gab, die mich zerquetschen sollten?«

Der alte Herr lachte herzlich. »In meiner Villa? Sie müssen geträumt haben, lieber Herr Detektiv. Bei mir gibt es solche Dinge nicht. Sie können ja morgen mit mir einen Gang durch mein Haus machen. Jetzt aber rate ich Ihnen dringend, gehen Sie heim. Soll ich Ihnen mein Auto zur Verfügung stellen?«

Der Detektiv erkannte die Unmöglichkeit, alle diese Menschen auf der Stelle zu entlarven. Er mußte abwarten.

»Ich – gehe,« murmelte er kraftlos. »Aber niemand kann mich hindern, in aller Morgenfrühe den Vater Sentas davon zu benachrichtigen, was hier geschehen ist.«

»Das steht Ihnen ganz frei,« nickte höflich der Polizeipräsident. »Sie werden dem alten Herrn aber keine Neuigkeit damit sagen, denn er ist ja mit allem einverstanden, was hier geschah.«

»Wie? Fredersdorf sollte –?« murmelte der Detektiv.

»Setzen Sie Zweifel in meine Worte?« lächelte der Polizeipräsident. »Sie wünschen doch wohl Ihren Hut und Mantel? Bitte –«

Ein Diener stand wie aus dem Boden gewachsen vor dem Detektiv, reichte diesem die genannten Kleidungsstücke und half ihm sogar beim Anlegen.

»Gute Nacht,« sagte der Polizeipräsident noch und hob lächelnd die Rechte.

Der Detektiv taumelte davon, nahm die Richtung des matt erhellten Parkweges und sagte sich dabei immer wieder: ich finde mich nicht mehr zurecht. Aber richtig ist das alles nicht, was hier vor sich geht. Sie sollen mich trotz allem nicht täuschen.

Er sah gar keine Leute mehr, als er fortging. Nur der Polizeipräsident stand noch da und ging dann in dem dunstigen Nachtlicht auf.

Der Detektiv faßte sich an die Stelle des Herzens. Das hämmerte wild. An dieser Brust hatte für Sekunden Senta Fredersdorf geruht. Er kostete die Seligkeit noch einmal schmerzlich durch. Er wollte sie doch retten! Sie schrie nach ihm, wollte sich ihm für diese Rettung schenken. Alles andere war Betrug – ein höllisches Blendwerk.

»Ich gehe nicht heim. Ich muß wissen, was hier weiter geschieht,« preßte er durch die zusammengebissenen Zähne.

Er kam an das Parkgitter, ohne einem Menschen zu begegnen. Hinter ihm lag tiefe, durch nichts unterbrochene Stille. Nicht einmal die Parkbäume bewegten sich jetzt.

Wie spät war es eigentlich? Er lauschte nach dem Schlagen irgendeiner Turmuhr. Aber es blieb auch in der Ferne still, unheimlich still.

Der Detektiv rüttelte an dem Gittertor. Es ging ohne Anstrengung auf. War also gar nicht einmal abgesperrt gewesen. Das wäre ihm sonst gewiß aufgefallen. Aber in seiner Gemütsverfassung achtete er gar nicht darauf.

Er trat auf die Straße. Sie war völlig menschenleer. War es noch so frühe am Morgen? Leichter Nebeldunst flatterte an den belaubten Gittereinfriedungen der Gärten, die sich hier draußen vor den Villen legten, die alle den Augen des Detektivs unsichtbar blieben. Er betrachtete die Gegend und fand sie fremd, als wäre er noch niemals hier gewesen. Und glaubte doch sein Berlin und dessen weiteste Umgebung genau zu kennen.

Plötzlich blieb er stehen. Er durfte nicht weitergehen! Er wollte warten, was in der Villa des Polizeipräsidenten nun geschehen werde. Für sich hatte er kaum mehr etwas zu befürchten. Um so mehr aber für Senta Fredersdorf. Man brachte sie am Ende noch vor dem anbrechenden Morgen fort und schleppte sie zu irgendeinem verbrecherischen Zwecke weiter.

Er fand, nicht allzu weit vom Gittertor der Villa, die er soeben verlassen hatte, eine ganz dunkle Ausbuchtung in der Straße, wo er sich gut verbergen konnte. Da wollte er abwarten, was sich ereignen würde.

Ob er dann noch einmal eingreifen würde, davon vermochte er sich keine rechte Vorstellung zu machen. Sein Kopf war offenbar noch nicht ganz in Ordnung.

So drückte er sich denn gegen die kühlen Steine einer Gartenmauer und wartete.

Eine längere Zeit verfloß. Kein Mensch kam durch die Straße, die doch wohl sehr abseits liegen mußte. Kein Auto zischte vorüber. Keine Uhr schlug. Die Luft war kühl und feucht. Aber der Wind hatte ausgesetzt.

Dem Detektiv fielen halb die Augen zu. Es war seinen Nerven in dieser Nacht doch etwas zu viel zugemutet worden. Von Zeit zu Zeit riß er sich zusammen und sah in die fahle Dämmerung der Straße.

Eigentlich müßte es doch längst Morgen sein. Er schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf. Alles das erschien ihm schleierhaft.

Endlich schlug ein Geräusch an sein Ohr. Das Knirschen von Rädern auf weichem Sand. Ein Auto.

Er starrte unverwandt auf die Stelle, wo sich das Gittertor der Villa des Polizeipräsidenten befand.

Dann glaubte er zu erkennen, daß die beiden Flügel nach zwei Seiten geöffnet wurden.

Ein fahler, kalkiger Lichtschein zuckte über die Straße. Das Auto bog aus dem Park durch die Pforte, drehte halb um und kam dem Detektiv näher.

Dieser suchte das Gesicht des Mannes zu erkennen, der am Steuerrad saß. Unwillkürlich zuckte er zusammen.

Das war kein anderer als der Polizeipräsident selber! Der alte Herr sah unverwandt auf das Rad, das er in den Händen drehte.

»Also doch!« knirschte der Detektiv. »Sie schaffen das unschuldige Opfer fort! Aber wohin denn?«

Er faßte eine Sekunde lang den Gedanken, sich dem Auto in den Weg zu werfen. Dann mußte es wohl anhalten.

Aber nein! Die Räder würden ganz einfach über ihn fortgehen. Damit half er Senta nicht.

Als der Wagen einen Meter vor ihm vorüberglitt, reckte der Detektiv den Kopf vor, um zu sehen, wer im Innern saß.

Sonderbar … dieses Innere war elektrisch erhellt. Ganz matt zwar nur, doch genügte es, die beiden Menschen erkennen zu lassen, die dicht aneinandergeschmiegt dort saßen.

Senta und der Baron!

Und während das Auto vorüberglitt, lautlos beinahe, prägte sich der Detektiv das Bild, das er soeben gesehen hatte, fest in sein Gehirn ein.

Senta Fredersdorf hatte die beiden Arme um den Hals des Barons geschlungen, der ihren schönen Kopf an sich preßte. So sah nur ein sehr glückliches Paar aus!

»Unsinn!« keuchte der Detektiv. »Auch das ist eine Täuschung! Ich weiß es doch besser, daß sie ihn haßt und fürchtet, und daß sie nur unter einem unheimlichen Druck lebt und handelt. Vielleicht haben sie die Schurken hypnotisiert, und sie erkennt gar nicht, wo sie ist und was mit ihr geschieht!«

Das Auto war vorüber. Der Detektiv sprang mit einem wilden Satze auf den Weg.

»Ihm nach!« schrie es in ihm. »Einerlei, wohin es geht!«

Er rannte eine Strecke wie ein Besessener hinter dem Wagen her. Die Luft flog ihm pfeifend aus der Kehle. Er streckte die Arme aus und schrie etwas.

Aber das Auto war immer schneller als er.

Plötzlich ratterte es hinter ihm. Ein zweites Auto stand mit seinen glühenden Lichtern dicht vor dem Detektiv. Einen Augenblick stoppte der Chauffeur, der wahrscheinlich den Menschen hier nicht überfahren wollte.

Diesen Augenblick benützte der Detektiv, um sich mit dem Manne am Steuer zu verständigen. Schon saß er neben ihm auf dem Sitz.

»Fahren Sie sofort und mit höchster Geschwindigkeit dem Wagen da vorne nach – dort biegt er gerade um die Ecke!« schrie er. »Ich bin Detektiv und auf der Spur eines großen Verbrechens! Vorwärts! Schalten Sie ein – höchste Schnelligkeit!«

Der Chauffeur starrte den Detektiv nur an, sagte aber keine Silbe. Und nun flog das Auto hinter dem ersten her, tanzte wie ein schwarzer unheimlicher Teufel auf dem Pflaster und ließ seine vier Räder in der Luft springen.

Gott sei dank! Man blieb dem ersten Wagen auf der Spur.

Nach längerer Hetzjagd sagte der Chauffeur plötzlich mit einer kichernden Stimme: »Die fahren nach dem Lehrter Bahnhof. Es wird ein Liebespärchen sein, das nach Hamburg will!«

Hamburg! Dieses Wort fiel wie ein glühender Tropfen in die Seele des Detektivs. Wollte der Baron Leichsenring denn nicht mit auf dem Dampfer »Santa Margherita« nach Südamerika? Aber er war doch noch hier und hatte sich heimlich das Mädchen geholt, um es zu gewinnen!

In Hamburg sollte sich wohl der letzte Akt dieser abscheulichen Komödie abspielen!

Da wußte es der Detektiv, daß er dem Baron auch nach Hamburg folgen mußte, ganz einerlei, was ihm dort drohte. Schließlich konnte er sich doch mit der Hamburger Kriminalpolizei in Verbindung setzen. Richtig – der schneidige Kommissar Ellerböck war ja gar nicht mehr in Hamburg, er hatte ja in der Spukvilla des Polizeipräsidenten den Croupier am Spieltisch gespielt! Tolle Geschichten das! Aber einerlei, war es nicht Ellerböck, so würden sich andere Polizeikräfte dem Berliner Detektiv zur Verfügung stellen müssen.

Plötzlich hielt das Auto. In kurzer Entfernung stiegen die Umrisse des Bahnhofsgebäudes auf. Also wirklich der Lehrter Bahnhof.

Der Detektiv sprang ab. Er hatte genau beobachtet, daß der von ihm verfolgte Wagen vor dem Portal der großen Eingangshalle hielt, und sah sogar, daß zwei Personen, ein Herr und eine Dame, ihm entstiegen.

»Melden Sie sich morgen früh auf dem Polizeipräsidium und fragen Sie nach mir,« rief er dem Chauffeur zu. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie reich vergütet werden.«

Damit war er davongeeilt. Hinter sich hörte er die heftige Stimme eines Mannes, der in einem Wagen sitzen mußte und jetzt erst bemerkt zu haben schien, wohin ihn sein Chauffeur gefahren hatte. Dazwischen das Aufkreischen einer Frauenstimme.

Donnerwetter! Was war das nur wieder? Diese Männerstimme kannte er doch. Das war – aber nein – unmöglich! Wie konnte denn der Vater von Senta Fredersdorf, der millionenreiche Eisenmagnat, um diese Stunde hier drinnen sitzen?

Und auch das seltsam vibrierende Lachen und Kreischen der weiblichen Begleiterin glaubte er zu kennen.

So lachte und kreischte nur eine: die Brillanten-Mary aus der grünen Diele! Eine raffinierte Dirne, die es besonders auf alte, reiche Kavaliere abgesehen hatte!

»Alles Unsinn!« sagte er sich. »Ich sehe einfach Gespenster, weil meine Nerven nicht mehr richtig funktionieren! Irgendein reicher Schieber wahrscheinlich, den ich in der Nacht ein bißchen spazierengeführt habe und der nun wütend geworden ist!«

Das Auto war auch schon wieder verschwunden. Auch das andere, der elegante Wagen, war nicht mehr sichtbar. Hatte ihn der Polizeipräsident irgendwo ins Dunkel gesteuert?

Aber die Eingangshalle zum Bahnhof klaffte wie ein Riesenmaul, matt von innen erhellt und bereit, die Menschen zu verschlingen.

Der Detektiv kümmerte sich nun nicht weiter darum, ob man ihn erkannte oder nicht. Schon stand er in der Halle, die nur ganz wenige Menschen aufwies, obwohl doch noch ein Zug abgehen mußte. Und wer sich noch an den Schaltern, im Gepäckraum und in den Gängen bewegte, erschien dem Detektiv kaum anders als wie ein beweglicher Schatten.

Hinter dem Fahrkartenschalter war Licht. Aber man sah keinen Menschen.

Der Detektiv stürzte an eines der kleinen Fenster und schlug gegen das Glas. Das Türchen rasselte in die Höhe.

»Was wollen Sie? Sind Sie verrückt?« fragte eine Stimme.

»Fragen Sie nicht lange. Ich bin Detektiv. Ich muß eine Fahrkarte nach Hamburg haben. Der Zug geht doch noch ab?« erwiderte atemlos der Detektiv.

»In einer Minute,« sagte kurz der Mann hinter dem Fenster.

Gleichzeitig warf er dem Detektiv eine farbige Karte hin, die jener an sich raffte und davonstürzte.

Um die Bezahlung kümmerte er sich nicht im geringsten. Er mußte den zum Abgehen bereiten Zug mit Senta Fredersdorf und dem Baron Leichsenring erreichen. Sonst entwischte ihm der Verbrecher.

Schon gab der Bahnvorsteher das Abfahrtszeichen. Die Maschine ließ einen schrillen Pfiff hören. Dampf zischte aus den Nüstern des schwarzen Ungeheuers und wälzte sich über den Bahnsteig. Alle Reisenden waren schon im Zuge.

Im Augenblick der Abfahrt schwang sich der Detektiv auf ein Trittbrett, lief an den Metallstangen entlang und schlüpfte dann gewandt in einen der Wagen. Inzwischen hatte der Zug bereits den Bahnhof verlassen.

Es waren Durchgangswagen, wie der Detektiv sofort bemerkte. Um so besser! Er durfte ziemlich sicher sein, daß der Baron ihn noch nicht entdeckt und wohl auch keinen Verdacht geschöpft hatte.

Der Zug vermehrte seine Schnelligkeit und wand sich durch graue Nebelfelder.

Noch immer war es seltsam dunkel. Der Morgen wollte nicht anbrechen.

Der Detektiv hatte sich zuerst in einem der hinteren Abteile niedergelassen. Er war allein. Der Zug schien schlecht besetzt zu sein. Ein Schaffner kam, sah auf die Karte, gab sie zurück und grüßte. Sagte aber kein Wort dabei.

Und weiter raste der Zug. Der Detektiv sah von seinem Abteil aus in die graue Morgenfrühe, die noch kein Licht aufwies. Es war fröstelnd kühl in dem Raume. Unter ihm rasselten, stampften die Räder. Eine der Stahlachsen mußte einen Defekt aufweisen. Immer wieder das nervenzerreißende Schnarren, Quietschen und Stöhnen.

Am Ende lief sich ein Rad heiß und es gab einen Bruch. Wie man nur auf solch dumme Gedanken kommen kann, sagte sich der Detektiv.

Endlich stand er auf. Er wollte vorsichtig durch die Korridore der einzelnen Wagen gehen, um herauszubringen, in welchem Abteil der Baron mit Senta Fredersdorf saß.

Er fand, daß er noch seinen Ueberrock anhatte und den Hut auf dem Kopfe. Er schlug den Kragen so hoch wie möglich und rückte den Hut tief in die Stirne.

Draußen im Gange herrschte eine schlechte Beleuchtung. Die Wagen wurden manchmal heftig hin und her geworfen.

Der Detektiv hielt den Kopf heruntergedrückt und ging ganz langsam, gleichsam schläfrig an den Türen der Abteile vorüber.

Höchstwahrscheinlich reiste der Baron mit Senta erster Klasse. Aber es war kein Mensch, der den Detektiv aufgehalten hätte, als er schließlich auch die in der Mitte liegenden beiden Wagen der bevorzugten Klasse betrat. Die Harmonikaverbindung der Wagen zitterte, der Boden mit den Eisentritten warf ihn hin und her.

Bis jetzt hatte er in keinem der Abteile die Gesuchten entdeckt. Die meisten Räume waren verdunkelt. Trotzdem konnte man sehen, wer darinnen saß. Allerlei Menschen, nicht zu viele, Männer und Frauen. Und alle hockten, kauerten schlafend in den Ecken oder hatten sich lang ausgestreckt. Einmal stieg dem Detektiv die Frage auf, warum diese Leutchen eigentlich nicht die Vorhänge nach dem Gange dichter schlossen? Oder waren sie geschlossen und sah der Detektiv gleichsam wie durch Glas durch Holz und Leinwand?

Er fand den Baron und Senta nicht.

Immer rasender wurde die Fahrt. In der nächsten Stunde konnte man schon in die Nähe Hamburgs kommen. Der Detektiv glaubte, in seinem ganzen Leben nicht so schnell gereist zu sein.

Aber es wurde noch immer nicht Morgen. Die Dunkelheit wich nicht.

Kopfschüttelnd fragte sich der Detektiv, warum er eigentlich die Gesuchten nicht fand. Er war doch immer so schlau gewesen, geradezu berühmt seiner scharfsinnigen Folgerungen wegen. War das Paar überhaupt nicht im Zuge?

Ein jäher Schrecken packte den Detektiv. Dann hätte er diese Fahrt umsonst gemacht und die beiden befanden sich vielleicht schon längst an einem entgegengesetzten Orte.

Wieder trieb es ihm den Schweiß auf die Stirne.

Eine Uniform tauchte im Gange vor ihm auf. Der Kontrolleur des Zuges.

Der Detektiv trat rasch an den Mann heran und verwickelte ihn in ein kurzes Gespräch.

Der Kontrolleur deutete mit einem Finger über seine Schulter.

»Zweiter Wagen. Nummer 37,« sagte er und ging weiter, als kümmere ihn der Frager nicht das mindeste.

Der Detektiv wußte es nun aber mit Bestimmtheit. Die Gesuchten befanden sich in einer Koje des Schlafwagens. Sie hatten die Nummer 37. Die Beschreibung des Kontrolleurs paßte ganz genau.

Der Detektiv fühlte, wie ihm das Blut brausend in die Schläfen stieg. »Wie ein jungverheiratetes Paar,« knirschte er.

Aber überzeugen wollte er sich doch. So schlich er sich nach dem Schlafwagen. Ein Beamter hockte beim Eingang auf einem Klappsitze. Aber der Mann hatte die Augen fest geschlossen. Er schlief und erwachte auch nicht von dem Rütteln des Wagens, der seinen Kopf wie eine am Zweig baumelnde reife Birne hin und her schleuderte. Hin und wieder klappte er die Kinnlade zusammen, und es schien, als lache er über einen dummen Traum, den er hatte.

Der Detektiv schritt kalt an ihm vorüber. Der Mann sah nicht auf. Die Nummer 37 war bald gefunden. Die Tür aber natürlich geschlossen.

Da versuchte der Detektiv die Schiebetür der Koje zu öffnen. Es ging ganz leicht, ohne jedes Geräusch.

Der Innenraum war ganz matt erhellt. Man sah die beiden Lager übereinander. Auf jedem lag ausgestreckt eine Gestalt. Ein Mann und ein Weib.

Sekundenlang starrte der Detektiv auf die Züge der weiblichen Schläferin, die ruhig atmete und gleichfalls zu lächeln schien. Es war Senta Fredersdorf.

Der Mann darüber der Baron von Leichsenring.

Den Atem anhaltend, trat der Detektiv leise zurück und schloß die Tür wieder. Er lehnte sich einen Augenblick gegen die Wand und fühlte wieder das Hämmern seines Herzens. Dann schritt er zurück, an dem schlafenden Mann mit dem wippenden Schädel vorbei und hinüber nach seinem eigenen Abteil.

»Sie werden mir nicht mehr entkommen,« murmelte er. »In Hamburg lasse ich den Baron gleich bei der Ankunft verhaften und bringe Senta ihrem Vater nach Berlin zurück.«

Er kämpfte nun schwer mit der eigenen Müdigkeit. Es war ja auch keine Kleinigkeit, was er bis dahin geleistet hatte. Die Augen fielen ihm zu.

Er glaubte aber doch nicht geschlafen zu haben, als er sie wieder langsam öffnete.

»Ich darf unmöglich einschlafen,« sagte er sich. »Es kann irgend etwas Unvorhergesehenes vorfallen. Man hat Beispiele genug. Es ist aber doch gut, daß mich der Baron nicht im Zuge vermutet.«

Die Fahrt schien sich mehr und mehr zu verlangsamen. Der Wagen schlingerte sonderbar, die Stahlachsen kreischten immer toller. Hielt der Zug auf einer Haltestelle? Daran hatte der Detektiv noch gar nicht gedacht.

Er erhob sich und ging ans Fenster. Noch immer graue, häßliche Dämmerung draußen, aufsteigende Nebelschwaden. Ein paar erschreckte Raben flatterten von den Feldern auf. Wald und Heide, kein Haus zu sehen.

Aber sonderbar – täuschte sich das Auge des Detektivs? – Die Gegend draußen veränderte sich kaum. Und nun stand sie sogar still. Gleichzeitig hörte auch das Kreischen unter dem Wagen auf.

Durch den Gang rannten Menschen und schrien sich irgend etwas zu. Der Detektiv ging zur Tür und riß sie auf.

»Was ist denn los, zum Teufel?« brüllte er.

Ein Reisender sah ihm ins Gesicht und antwortete heiser: »Merken Sie es denn nicht? Unser Wagen hat sich vom Zuge losgelöst. Wir stehen auf offener Strecke. Wenn ein Schnellzug nachkommt, fährt er uns in Grund und Boden!«

Der Detektiv stürzte in den Laufgang, rannte ein paar Leute um und drängte sich ins Freie. Die Tür stand weit offen.

Es war tatsächlich so, wie er soeben gehört hatte. Die letzten zwei Wagen standen unbeweglich auf freier Strecke. Die Kuppelung war gerissen. Mitten in der Fahrt. Man hatte das zunächst nicht bemerkt, da die Strecke abfiel, und nachher, bei einer längeren Steigung, blieben die zwei Wagen ganz einfach langsam zurück, während der Hauptzug seine rasende Fahrt nach Hamburg weiter fortsetzte.

Der Detektiv starrte wie vor den Kopf geschlagen in die Ferne. Nicht das kleinste Anzeichen verriet die Anwesenheit des davongeeilten Zuges.

Eine unbeschreibliche Wut wollte den Mann packen. »Der Baron steckt dahinter!« schrie er auf. »Er hat mich entdeckt!«

Aber dann fand er, daß eine solche Annahme ganz blödsinnig war. Der Baron lag ja schlafend in Abteil 37. Und wie sollte er es fertig gebracht haben, die Kuppelung zu lösen? Ein blinder Zufall! Nein, Tücke des Objekts!

Nun saß man mitten auf der Strecke, hilflos, ohne Möglichkeit vorwärts zu kommen! In einer schwachen Stunde mußte der Eilzug Hamburg erreichen. Vielleicht, daß inzwischen der Verlust der beiden Waggons entdeckt wurde. Was half das? Man telegraphierte nach allen Richtungen, die treulosen Wagen wurden von einer alten Maschine abgeholt, und wenn es gut ging, kam man durch Umsteigen und Warten etwa am Vormittag ebenfalls nach Hamburg.

Bis dahin aber konnte der Baron mit Senta längst irgendein Schiff im Hafen bestiegen haben, das zur Ausfahrt bereit lag. Natürlich mit gefälschten Reisepässen.

Wilde Flüche entrangen sich dem Munde des Detektivs. Er schrie einen Beamten an, ob es wirklich keine Möglichkeit gebe, sofort und schnellstens nach Hamburg zu gelangen.

»Wenn Sie ein Flugzeug hätten!« witzelte der Mann und drückte sich dann schnell, da er das blutunterlaufene Auge des Detektivs bemerkte.

Es half nichts, man mußte warten. Bis zum nächsten Dorfe sollte es eine halbe Stunde Fußweg sein. Die meisten Reisenden zogen es aber vor, im schützenden Wagen zu warten, bis eine Hilfsmaschine kam und sie weiterschleppte. Der in Betracht kommende Bahnhof, von dem aus dann eine raschere Beförderung möglich war, lag aber ziemlich weitab.

Der Detektiv unterdrückte einen abermaligen Fluch. Er fühlte kochendes Fieber in sich und konnte unmöglich hier sitzen bleiben, während Senta und der Baron durch den grauen Morgen wie der Wind dahinflogen.

So machte sich der Detektiv ganz allein auf den Weg nach dem Dorfe, das hinter einer bewaldeten Hügelwelle liegen sollte.

Und nun wurde es auch langsam Tag. Aber ein feiner, alles durchnässender Regen begann vom Himmel zu rieseln, wie Tränen eines verschüchterten Kindes.


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