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Drittes Kapitel

Minuten vergingen. Der Detektiv faßte sich an die Stirne, um seine Gedanken zu ordnen. Und dann wußte er es mit völliger Sicherheit: man hatte ihm also doch eine Falle gestellt. Eigentlich eine ganz plumpe Falle!

Warum ließ man ihn nicht gleich beim Eintritt in diese verfluchte Villa verschwinden? Es waren dazu gewiß genug Leute vorhanden, die zugegriffen hätten. Er verstand das noch nicht, aber eine Lösung würde er schon noch finden!

Vielleicht machte sich die ganze verbrecherische Gesellschaft tatsächlich erst einen Scherz mit ihm, ehe man ihn beseitigte. Vielleicht sollte er auch nur einige Zeit, ein paar Tage etwa, unschädlich gemacht werden; so lange, bis der Baron Leichsenring mit Hilfe seiner Freunde Senta Fredersdorf fortgeschafft hatte. Sie wagten diese Reise am Ende nur darum nicht, weil sie den Detektiv auf der Fährte wußten.

Wo war er nun eigentlich? Ob es ein Zimmer oder nur ein rundes Loch zwischen den Mauern war, in das man ihn gelockt hatte, das ließ sich in der undurchdringlichen Finsternis nicht feststellen.

Er lauschte angestrengt. Und dann glaubte er irgendwo leise, flüsternde Stimmen zu vernehmen. Ein kicherndes Lachen folgte.

Hatte nicht genau so der Polizeipräsident gelacht, als er von Schopenhauer sprach, und dann von der chilenischen Gesandtschaft? Was bedeutete das denn nur zum Teufel?

Und daß sich der Polizeipräsident selber dazu hergab, diese dumme Komödie mitzumachen? Er, der seiner eisernen Strenge wegen gefürchtet und anerkannt zugleich war! Welche Macht zwang diesen einwandsfreien Mann, den Verbrechern seine Hilfe zu leihen, um den Detektiv zu beseitigen?

Er kam über diesem bohrenden Grübeln zunächst zu keinem Ergebnis.

Nun tastete er sich mit den ausgestreckten Händen an der Wand entlang. Er fand, daß der Raum nicht allzu groß war und viereckig. Möbel schienen nicht vorhanden zu sein. Ein Fenster aber ebensowenig. Er lauschte abermals. Jetzt war nichts mehr zu vernehmen. Entweder waren die Wände und die Tür sehr dick, so daß kein Ton hindurchzudringen vermochte, oder die Gesellschaft, die allerdings ziemlich entfernt sein mußte, hatte aufgehört, zu musizieren.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er ja seine kleine, elektrische Taschenlampe mitgenommen hatte. Ganz mechanisch, wie immer, wenn er seine Nachtausflüge machte. Wie konnte er auch nur vorhin nicht daran denken.

Er schaltete das Licht ein. Der weiße strahlende Lichtkegel sprang ins Dunkel, zuckte über die Wände, tanzte zur Decke.

Ein mäßig großer Raum. Die Wand mit harter, stahlfarbener Tapete scheinbar bekleidet. Kein Teppich auf dem Boden, der seltsam glatt war und aus Hartholz zu bestehen schien, eine Art Parkett mit sonderbaren Figuren. Die Decke nicht hoch, gewölbt, ohne jeden Zierat. Und tatsächlich nirgends ein Fenster. Aber auch keine Lichtanlage. Nirgends ein Hebel, keine Türverkleidung. Die Einlaßpforte schloß sich in eisernen Fugen dicht und fest in die Mauern. Die Fläche der Tür war ganz glatt. Stahl oder doch Eisen.

»Schöne Geschichte,« sagte sich der Detektiv. »Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Gefängnis. Aber ich habe wenigstens Licht, und so leicht soll es den Halunken nicht gelingen, mich um die Ecke zu bringen.«

Eigentlich ärgerte er sich nun doch, daß er keinen Revolver mitgenommen hatte. Doch daran war nichts mehr zu ändern.

Er ging nun daran, den seltsamen Raum noch genauer zu durchsuchen. Aber er fand nichts Außerordentliches, das ihm irgendwie nützlich schien.

Ein Stuhl stand fast in der Mitte. Im Licht seiner Lampe konnte er das nun feststellen. Ein massives Möbelstück, klobig, mit plumpen Füßen, die sich nach vier Seiten ausreckten und unten am Boden in der Form rohe Pantherpratzen bildeten. Der Stuhl hatte weder Lehne noch eine Sitzdecke. Zu welchem Zwecke er eigentlich hier hereingestellt worden war, ließ sich schwer sagen. Zum Ausruhen! Er war höchst unbequem.

Der Detektiv erinnerte sich, irgendwo einmal einen solch dummen Stuhl bei einem Antiquar gesehen zu haben. Er hatte sich ordentlich über diese brutalen Formen geärgert. Der Mann, der vor einem Jahrhundert sich wahrscheinlich einen solchen Stuhl hatte anfertigen lassen, mußte eine Gewaltnatur gewesen sein! Das hatte der Detektiv auch dem Antiquar gesagt, der aber nur sonderbar dabei gelächelt hatte.

Und jetzt stand ein solcher Stuhl vor dem Detektiv.

»Auch das ist ein Stück von der verrückten Geschichte, die mir heute zustößt,« sagte er sich.

Er klopfte nun den Boden ab und glaubte zu entdecken, daß sich darunter ein Hohlraum befand. Ein Keller vielleicht. Viel Laut gab sein Pochen nicht, die Töne klangen fast weltfern.

Er stand auf und schlug gegen die Eisentür. Aber sonderbar, hier flog kein Gegenlaut zurück. Es war, als hämmere der Detektiv gegen ein unendlich dickes Stück Filztuch. Trotzdem war die Tür aus Eisen oder Stahl, davon war er überzeugt.

Er suchte nach einem Messer, um ein Loch in diese Verkleidung zu bohren. Aber er hatte keines mitgenommen. Auch an die Wände pochte er und wanderte die vier Seiten des kahlen Raumes ab, der keinerlei Bild oder dergleichen aufwies. Seine geballte Faust wurde jedesmal gleichsam zurückgeschleudert. Es kam kein Ton darunter hervor.

Der Detektiv bemerkte nun, daß ihm ein leichter Schweiß auf der Stirne stand. Er ging zu dem plumpen Stuhl und ließ sich darauf nieder. Nach einer Weile des Nachdenkens glaubte er zu bemerken, daß sich die Armlehnen des Stuhles – eine Rückenlehne besaß dieser nicht – leise bewegten. Es war wie ein schwaches Vibrieren.

Der Detektiv sprang sofort in die Höhe. Es gab allerlei Stühle, wie er wußte, die für verbrecherische Zwecke hergerichtet worden waren.

Vorsichtig betastete er nun die starken Holzteile. Aber sie wiesen gar nichts Auffälliges auf. Eine Täuschung seiner immerhin erregten Nerven also.

In diesem Augenblick merkte er, daß der Lichtschein seiner kleinen Lampe schwächer wurde. Er erschrak unwillkürlich. Sollte die Ladung verbraucht sein? Eine Unachtsamkeit von ihm, die sich bitter rächen konnte!

Er untersuchte die Lampe. Gleich darauf zuckte der weiße Lichtkegel noch einmal auf, gleichsam wie ersterbend – und verlosch.

Wieder tiefe Nacht. Und auch kein Geräusch mehr, so angestrengt der Detektiv auch lauschte.

Minuten reihten sich an Minuten. Es mußte doch etwas geschehen! Der Detektiv wünschte, man möge kommen und ihm mit offenem Visier gegenübertreten. Er wollte schon seinen Mann stellen.

Aber es kam niemand.

Also setzte man ihn fest und machte ihn hilflos. Er konnte hier langsam verhungern und sich den Kopf an den glatten Wänden zerschmettern. Sein Schreien hörte sicherlich kein Mensch.

Trotzdem versuchte er einen lauten Schrei.

Dabei war es ihm, als halte ihm eine unsichtbare Hand einen eklen Schwamm vor den Mund; er bekam keinen rechten Atem, so oft er zum Schrei auch ansetzte. Und es kam auch gar kein voller Ton aus seiner Kehle. Die dumpfe, schwere Luft, die immer drückender wurde, mußte schuld daran sein.

Verdammt, daß sein Licht versagte!

Aber was half es! Er mußte abwarten, was man eigentlich mit ihm vorhatte. Wie sagte der Polizeipräsident, als er ihn hierher begleitete?

»Sie wünschen zu wissen, was hier in dieser Nacht vorgeht? Dann bitte – –«

Aber bis jetzt hatte er noch gar nichts erfahren …!

Er setzte sich nun doch wieder in den häßlichen Stuhl, den er auch in der Dunkelheit fand.

Die ganzen Ereignisse dieser Nacht zogen wie ein Filmband an seinem Geiste vorüber. Eigentlich hatte sich derartiges in seinem lange ausgeübten Beruf noch nicht ereignet. Und er war auch jetzt noch fest davon überzeugt, daß man mit Senta Fredersdorf und deren Vater eine abscheuliche Komödie spielte. Das sorglose Wesen der jungen Dame, deren seelenvollen Blick er nicht vergessen konnte, war nur eine Maske. Irgendwer, irgendeine geheime Macht hielt sie als Sklavin fest, so daß sie lächelte, wenn auch ihr Herz sich in wilder Angst zusammenkrampfte.

»Ich muß ihr helfen! Noch nie hat ein weibliches Wesen auf mich einen so tiefen Eindruck gemacht!« sagte sich entschlossen der Detektiv.

Und plötzlich fuhr er sich nach der Stirn. Diese war feucht und heiß.

»Ich liebe Senta,« murmelte er in das Dunkel hinein. »Wie ist das nur möglich, da ich sie vorher doch noch niemals gesehen habe?«

Er wußte keine Deutung für dieses neue Gefühl. Aber es war stark und umnebelte alle seine Sinne.

Ihr helfen! Ja! Aber wie, um Gottes willen?

Sein Geist arbeitete scharf, überlegte, kombinierte. Er hielt seine Taschenlampe in der Hand, er saß auf dem harten Stuhl, er hatte mit dem Polizeipräsidenten gesprochen und wußte haarscharf, daß er tatsächlich Senta Fredersdorf liebte!

Nichts anderes war das als ein Anschlag auf seine Freiheit! Raffiniert erdacht, vielleicht auf dem Boden irgendeines dunklen Geheimnisses, das er nur noch nicht zu enträtseln vermochte.

Er merkte, daß er allmählich schläfrig wurde. Diese scheußliche Luft war natürlich schuld daran. Vielleicht fielen ihm auch die Augen schon zu, ganz von selbst.

Und halb schlafend war es ihm doch, als bewege sich der Boden unter ihm ganz sanft. Er sprang nicht auf und war nur neugierig, was dies wieder zu bedeuten habe.

Sank er? Möglich, aber kein Ruck erschütterte ihn; es war wie ein höchst angenehmes Hingleiten. Behaglich knickte er in seinem Stuhle zusammen. Ob er wirklich sank, wie tief es ging, das vermochte er sich nicht klarzumachen. Hatte auch keine Lust dazu. Es war wenigstens etwas – anderes.

Dann wieder fühlte er, daß er feststand. Kein Gleiten mehr, alles unbeweglich. Die Luft mußte kühler sein. Deutlich empfand er dies. Also befand er sich an einem anderen Orte.

Er wollte auflachen. Ein dummer, höchst plumper Einfall von diesen Verbrechern. Sinkende Fußböden, eine geheime Hebelvorrichtung in einer modernen Villa. Aber wußte er denn so genau, daß dieses Haus nicht schon längst von früheren Besitzern, die immer etwas Fragwürdiges gehabt hatten, mit diesen, unter den heutigen technischen Errungenschaften so leicht einzubauenden maschinellen Fallböden ausgestattet worden war?

Die kühlere Luft brachte seine umnebelten Sinne wieder zu einer gewissen Klarheit. Er erhob sich.

»Ich bin in einem Keller – oder doch unter der Erde,« sagte er sich.

Die Wände fühlten sich etwas feucht an und kalt. Der Stuhl war mit ihm gesunken. Vielleicht durch ein Loch, das sich lautlos auftat, vielleicht mit dem ganzen Quadrat des Zimmerbodens.

Verdammt, daß seine Lampe versagte! Er machte einen nochmaligen Versuch, das Licht einzuschalten. Es ging nicht.

Nun strengte er seine Augen auf das äußerste an, um irgendeinen Punkt zu erkennen, der vielleicht doch aus der Dunkelheit hervorsprang, und wäre es auch nur wie ein kleiner Leuchtkäfer.

Plötzlich zuckte er zusammen. Er hörte ein Geräusch. Eine Täuschung war ausgeschlossen. Das waren Stimmen, undeutlich, verworren. Hin und wieder ein Lachen, hinflatternd, verschwindend. Dann auch feines Klirren – Champagnerkelche!

Wo, zum Henker, saß er denn? Er tastete sich nach der Richtung, aus der die Laute vorhin kamen. Als er mit den Augen langsam, suchend zur Höhe emporwanderte, entdeckte er zwei leuchtende Punkte. Sie waren ganz winzig und standen in der Entfernung einer Handbreite voneinander ab. Ihre Form war ganz rund, wie eine Augenpupille.

Hatte er die beiden Punkte vorher nicht bemerkt, oder –?

Sie konnten von der anderen Seite verdeckt gewesen sein. Das war es wohl.

Und mit immer steigender Sicherheit sagte sich der Detektiv, daß diese zwei runden Oeffnungen nichts anderes waren, als die ausgeschnittenen Augen eines Bildes, das auf der Wand jenseits angebracht war. Man hatte einfach auf diese Art eine Kontrolle hergestellt.

Also wollte man ihn beobachten.

Oder sollte er selber Gelegenheit haben, in einen ihm noch ganz unbekannten Raum zu blicken? Wie sagte der Polizeipräsident?

»Sie wollen wissen, was in dieser Nacht hier vorgeht?«

Der Detektiv schüttelte den Kopf. Der Scherz ging doch ein bißchen zu weit. Er konnte mit der Faust dieses Bild durchstoßen und sich zwischen die Gesellschaft – oder was er immer zu sehen bekam – stürzen!

Er holte bedächtig den schweren Stuhl, schleppte ihn bis unter die zwei Oeffnungen und stieg nach oben.

Höchst vorsichtig näherte er sein Gesicht den Gucklöchern.

Seine Vermutung stimmte. Er konnte genau wie durch die Gläser einer Brille durch diese Bildaugen sehen.

Im ersten Augenblick blendete ihn das Licht, das von drüben auf ihn eindrang. Er mußte sich erst an die Helle gewöhnen. Dabei fühlte er, wie sein Atem schneller ging und die Pulse hämmerten. Das passierte ihm sonst niemals, ihm, dem kühlen Manne.

Was er dann unterscheiden konnte, war aber auch geeignet, all seine künstliche Ruhe und Fassung über den Haufen zu werfen.

Er sah in einen halbkreisförmigen Raum, der nach einem weiter rückwärts liegenden Saale zu offen war. Dieser erste Raum war nur matt erhellt, dagegen war der Saal in blendende Lichtfülle getaucht. Und von dorther kam auch das Gewirr der menschlichen Laute, kam das Flüstern, Lachen und Gläserklingen.

Das unter ihm liegende Zimmer war wie der Ausschnitt eines Wintergartens. Palmen standen umher, zierliche Sessel aus seltsam geformtem hellem Rohr. Den Boden bedeckte ein tiefroter Teppich. Die Verkleidung der beiden weit geöffneten Türen war roter Damast mit Goldfiguren.

Für den Augenblick war der kleine Wintergarten menschenleer. Die Leute, die sich aber im Saale selbst bewegten, ganz, als wären sie in der besten Gesellschaft, hatte er alle oben schon gesehen. Oben? Gab es wirklich ein Oben?

Er sah den Polizeipräsidenten lachend im Gespräch mit dem Baron Leichsenring. Am Ende machten sie sich über ihn, den Detektiv, lustig. Einmal blickte der Präsident nach dem Eingang des Wintergartens, und dann lachten sie beide herzlich.

Einer der Diener kam vorüber, und sie nahmen von dem silbernen Tablett zwei Champagnerkelche, sahen sich verständnisvoll an und hoben nun – welche Frechheit! – die Kelche in der Richtung gegen den Wintergarten, wo sie der Detektiv bemerken mußte.

Dieser größere Saal war prunkhaft ausgestattet. Die Decke wurde von marmornen Säulen getragen, um die sich goldene Arabesken schlangen. Auch das Gewölbe der Decke war überreich vergoldet. In bizarren Formen wand sich gleißendes Stuckwerk an den Kanten auf und nieder. Von wo das strahlende Licht des Saales kam, konnte der Detektiv nicht feststellen. Wahrscheinlich waren die Glühkörper an verborgenen Stellen angebracht.

Aber auch hier hatte dieses Licht etwas Unwirkliches, einen bläulichen Schimmer, der sich auch auf die Gesichter der Menschen legte, die sich darin bewegten.

Und abermals zuckte der Detektiv zusammen. Ein Mann war zu dem Polizeipräsidenten getreten und schien etwas zu berichten. Das war der Kriminalwachtmeister Kubasch, der Mensch, der ihn hierhergelockt hatte. Der Polizeipräsident nickte. Ganz militärisch salutierte Kubasch und trat zurück, verschwand. Dafür sprach der Präsident einen andern Herrn an, der quer durch den Saal kam.

Teufel! War es denn möglich? Das war doch kein anderer als der Kommissar Ellerböck, der nach Hamburg versetzt worden war, weil er irgendeine Dummheit gemacht hatte, die ihm der Polizeichef nicht vergab! Hatten sich die beiden wieder ausgesöhnt?

Es schien so. Der Polizeipräsident klopfte dem Ellerböck sogar vertraulich auf die Schulter.

Und noch einmal sahen die beiden nach dem Wintergarten – und lachten.

Wütend ließ der Detektiv seine geballte Faust auf das Bild sausen, hinter dem er stand. Aber es war abermals derselbe stumpfe Ton, dieses lähmende Gefühl, auf eine meterdicke Filzfläche zu hämmern.

Die künstlichen Augenhöhlen! Wenn er sie mit beiden Händen auseinander riß …?

Nein, sagte er sich. Erst will ich sehen, was sie da drüben eigentlich treiben.

Und nun suchte er Senta Fredersdorf mit einem fieberhaften Eifer. Sie waren ja alle vorhanden, die eleganten, geputzten Damen von droben. Ihre Juwelen funkelten im Licht, ihre Augen kokettierten. Wo war Senta?

»Ich liebe sie!« schrie eine Stimme im Innern des Detektivs. »Wenn sie es wüßte, würde sie einen Weg finden, sich mit mir zu verständigen. Wir würden dann auch aus diesem verhexten Hause kommen.«

Plötzlich sah er sie. Am Arm des Baron Leichsenring kam sie in den Saal.

Eine Krallenfaust klammerte das Herz des Mannes hinter den beiden winzigen Gucklöchern zusammen. Das war die wütende Eifersucht.

Er sah Senta lächeln, genau so wie früher. Und sie erschien ihm jetzt noch tausendmal schöner als zuvor.

Warf nicht auch sie einen kurzen Blick nach dem Wintergarten? Wahrscheinlich sah man vom Saale aus deutlich das an der Stirnwand des Nebenraumes angebrachte große Bild mit den lebenden Augen.

Aus diesem kurzen Blick glaubte der Detektiv eine wahnsinnige Angst herauszulesen, den Ausdruck eines unter unheimlicher Macht seufzenden Menschen. Alles, was sie tat – ihr Lächeln, ihre Bewegungen der Gesellschaft gegenüber – mußte Komödie sein. Der Mann an ihrer Seite, der sich lächelnd zu ihr neigte und Liebesworte zu flüstern schien, hielt das Mädchen fest in seinen Händen.

Und abermals schwand das Bild der beiden Menschen vor den beobachtenden Blicken des Detektivs.

Das gesellschaftliche Treiben im Saale war nun immer lebhafter geworden. Man schien auf etwas zu warten, dessen Natur der Detektiv beim besten Willen nicht zu erraten vermochte.

Da sah er, wie der Polizeipräsident, der ganz plötzlich wieder auftauchte, die Hand erhob.

Und wie aus dem Boden gewachsen, stand der Wachtmeister Kubasch vor ihm, nahm einen Befehl entgegen und verschwand wie früher, salutierend.

Ein dröhnender Gongschlag erschallte.

Was war das? Mit einem Schlage verlöschte das Licht im Saale. Es wurde totenstill.

Der Detektiv preßte sein Gesicht krampfhaft gegen die beiden Oeffnungen und suchte die Dunkelheit jenseits zu durchdringen.

Er glaubte nun das leise Kreischen und Knirschen einer Maschine zu unterscheiden, ein feines Pfeifen, das ihm durch alle Nerven ging. Als ob sich Stahl gegen Stahl reibe und irgendwo vorübergehend Widerstand fand.

Er biß die Zähne krampfhaft gegeneinander, um den Schrei zu unterdrücken, der sich ihm aus der Kehle reißen wollte. Da ging irgend etwas vor, das ihm Angst einjagte – nicht für sein Leben – nur für dasjenige Senta Fredersdorfs!

Da – flammte das Licht wieder auf. Der Saal war so hell wie vorher. Aber was war das? Wo war die ganze elegante Gesellschaft?

Sie wurde endlich von dem Blick des Detektivs entdeckt. Alle standen gegen die Wände gedrückt, die Champagnergläser in den Händen, und sahen auf eine bestimmte Stelle auf dem blitzenden, glatten Parkettboden.

Ein leises abermaliges Knirschen – nicht ein einziges Möbelstück befand sich nun mehr im Saale, verschwunden waren all die kleinen vergoldeten Tischchen und Stühle – da spaltete sich der Parkettboden an mehreren Stellen zugleich. Schwarze Oeffnungen gähnten.

Doch nur einen Augenblick lang. Dann stiegen von unten, zugleich an vier Stellen, aus der Tiefe breite Tische, umgeben von bequemen, seidengepolsterten Stühlen. Und auf all diesen Tischen lagen die Rechen der Bankhalter, zitterte die glitzernde Kugel im Hohlraum der schwarz und roten Roulette.

Mit einem Ruck fügten sich die Tische samt den Stühlen in die noch leicht klaffenden Risse am Boden. Dann war alles wieder glatt, als wäre gar nichts geschehen.

Mit einem Jauchzen stürzte sich die ganze Gesellschaft auf die Sessel an jedem einzelnen Tische. Blitzschnell war alles besetzt.

Der Detektiv, dem die Augen vor Verwunderung fast aus den Höhlen drangen, sah, wie der Polizeipräsident den Beobachterstuhl einnahm, die Arme verschränkte, wie er den Damen und Herren zunickte und sie aufforderte, das Spiel zu beginnen.

»Eine Spielhölle!« schrie es in dem Kopfe des Detektivs. »Vom Polizeipräsidenten persönlich unterhalten und geleitet! Wer hätte das für möglich gehalten?«

Ellerböck, der Kommissar, fungierte an dem vordersten Tische als Croupier. Hier saßen auch der Baron Leichsenring und Senta als Spielende.

Gold gleißte auf, Papierscheine, zu ganzen Bergen geschichtet, lagen vor den Sitzen der Spieler, die sich sofort fiebernd in dieses nervenzerreibende Vergnügen stürzten. Wie rasend drehte sich die Scheibe der Roulette. Die Kugel sprang und hüpfte, stand still – heisere Laute der Verlierenden – flackernde Blicke der Gewinner – alles das konnte der Detektiv sehen.

Er fühlte, wie ihm kalter Schweiß über die Stirne rann und wie seine Glieder zitterten. Dazu die unbequeme Stellung auf dem Stuhl. Und bei allem Verlangen, diesem Hexentrubel da drüben ein Ende zu machen, fand er doch nicht die nötige Kraft dazu. Der Ton, den er aus seinem Halse würgte, war trocken und lächerlich leise wie das Greinen eines neugeborenen Kindes. Er wußte nicht einmal, ob er längere oder kürzere Zeit durch die kleinen Oeffnungen hinübergestarrt hatte, als sich schon wieder etwas Neues ereignete.

Irgendwo ertönte ein schriller Pfiff. Den erkannte der Detektiv. Der Signalruf der Polizei! Die Villa mußte umstellt sein! Man hob das Spielernest aus!

Wie vom Blitz getroffen schnellten die um die Tische Sitzenden in die Höhe. Ueberall verstörte Mienen. Nur der Polizeipräsident und Ellerböck schienen weiter zu lächeln.

Und noch einmal fiel plötzliche Dunkelheit ein.

Der Detektiv sah gerade noch, wie sich die ganze vornehme Gesellschaft, darunter auch der Baron Leichsenring und selbst Senta Fredersdorf, rücksichtslos wie Wahnsinnige auf das herumliegende Geld stürzte und an sich riß, was die Hände erfassen konnten. Da und dort packte eine Hand, an der blitzende Ringe funkelten, den Hals des Nachbars, der sich unrechtmäßig bereichern wollte.

Dann schwarze Nacht. Stille …!

Türen flogen auf. Es tönte wie leichte Kanonenschläge. Schwere Tritte, Kommandostimmen. Und wieder der von zwei verschiedenen Seiten kommende Alarmruf der Polizei.

»Schnell … schnell …!« keuchte der Detektiv wie in rasendem Fieber. »Sie entkommen sonst! Laßt es doch endlich Tag werden! Zerrt sie ans Licht, alle diese Komödianten des Lebens!«

Sekunden verflossen so.

»Im Namen des Gesetzes – macht Licht!« ertönte eine rauhe Stimme.

Da flammte Licht auf.

Aber was sahen die Augen des Detektivs?

Der Saal war wieder strahlend erhellt. Das Gold glänzte überwältigend von Säulen und Decke. Die Spieltische waren verschwunden. Und all die kleinen zierlichen Tischchen und Stühle standen an den Wänden. Aus dem Hintergrund kam Musik, aufrauschend, sinnberückend.

Wo die Musiker saßen, war nicht festzustellen. Aber schon ordneten sich die Paare, alle lächelnd, scherzend, zum Walzer.

Zwei Türen standen offen. Dahinter sah man mehrere Beamte der Polizei. In dem Augenblick, da der Walzer der Paare begann – Senta Fredersdorf am Arm des Polizeipräsidenten – trat ein uniformierter Schupobeamter zwischen die sich wiegenden, lachenden Menschen.

Gerade vor dem Polizeipräsidenten blieb er stehen und salutierte höflich.

Der Präsident überließ seine Dame, die einen koketten Blick auf den Polizeibeamten warf, dem Baron Leichsenring, und der Präsident trat mit dem Befehlshaber der Nachtkolonne auf die Seite, sprach lächelnd mit dem Manne und deutete auf die Paare, die sich soeben wieder zum Tanze ordneten, als ginge sie dies alles gar nichts an.

Und plötzlich trat der Polizeioffizier zurück und hob entschuldigend die rechte Hand zur Schläfe.

Im Nu verschwanden die Gesichter der übrigen Schupobeamten hinter den geöffneten Türen. Und sie hatten doch kurz vorher noch die schußbereiten Brownings in den Fäusten gehabt.

Der Detektiv wollte, namenlos erregt, schreien:

»Schwindel! Man betrügt Euch! Haut dieses Bild mit Euren Händen und Messern in Stücke. Holt mich heraus, daß ich Euch klaren Wein einschenke!«

Aber seine Stimme versagte. Er konnte kaum etwas Undeutliches krächzen. Und sah, wie sich auch der Schupooffizier entfernte, noch an der Tür entschuldigend grüßend.

Ein Nachtfest des Polizeipräsidenten! Was denn sonst? Da hatte er nichts zu schaffen. Er ärgerte sich gewiß nicht wenig, daß er auf irgendeine anonyme Anzeige hereingefallen war.

Nein! Er war nicht hereingefallen – wenigstens nicht, als er sich mit seinen Leuten hierher begab – aber jetzt um so mehr!

Und nun begann wirklich der Walzer aller Paare. Man war sehr vergnügt, wie es schien. Aus dem Walzer wurde ohne Unterbrechung ein rasender Foxtrott, und wie in einem Höllenfanal bogen und wanden sich die geschmeidigen Leiber der Damen und Herren, gepeitscht von der verborgenen Musik. Es artete zu einem wilden Bacchanale aus …!

Der Detektiv fiel kraftlos vom Stuhl, lag eine Weile am Boden und wischte sich mit dem Aermel die eiskalte feuchte Stirn ab.

Und wieder verflossen Minuten. Oder waren es Ewigkeiten, die sein Sinn nicht mehr zu erkennen vermochte?

Er hob den Kopf und sah sich in der Dunkelheit um.

Er suchte die zwei winzigen Lichtpunkte – die Löcher der Augen, durch die er den ganzen Hexenspuk beobachtet hatte.

Aber er fand die glimmenden Punkte nicht mehr. Und wußte, daß sie von drüben verschlossen worden waren.

War es das also, was ihm der Polizeipräsident zeigen wollte? Eine Höllenorgie, in der Senta Fredersdorf die Hauptrolle spielte? Denn der Detektiv erinnerte sich wohl: gerade sie wurde immer wieder in den Vordergrund geschoben. Um sie schien sich alles zu drehen. Um sie und den Baron Leichsenring. Alle anderen waren nur Staffage.

Er richtete sich langsam empor. Er wußte, daß er fort mußte. Was sollte er noch hier?

Es galt, das Mädchen zu retten, das man durch eine unerklärliche Macht in diese verruchte Gesellschaft gezwungen hatte.

Seine Hände tasteten am eigenen Körper herum und fuhren auf und nieder, um irgendein Werkzeug zu finden, das ihm helfen könnte, sich Bahn zu schaffen.

Er fand aber nichts als die kleine Taschenlampe, die so treulos versagt hatte.

Noch einmal versuchte er das Licht einzuschalten. Vielleicht war früher nur eine Störung vorhanden gewesen.

Er klopfte und drehte das kleine Metallstück.

Und plötzlich – die Laterne brannte!

Er sah sich um. Aber es gab zu seinem Erstaunen nichts Absonderliches zu sehen.

Ein glatter Raum, genau so wie früher. Graue Wände. Eisen oder Stahl. Keine Tür. Die Luft kühl. Der Stuhl stand noch immer da. Sonst nichts in dem nicht sehr hohen Gelaß.

Er suchte die Stelle, wo das Bild sein mußte. Aber er fand sie nicht, trotz größter Aufmerksamkeit. Vielleicht hatte man von jenseits eine ganz neue Füllung in die Mauer geschoben, während er halb betäubt am Boden lag.

Daß Schreien nichts fruchtete, wußte er bereits. Er dachte auch gar nicht mehr daran. Nur hinaus! Das war nun sein ganzes Sehnen, sein heißester Wunsch. Nicht seinetwegen, nur Sentas wegen!

Und noch stärker als zuerst brannte das Bewußtsein in seiner Seele: ich liebe dieses unglückliche Mädchen! Wie das gekommen war, wußte er nicht zu sagen. Das brennende, inbrünstige Gefühl war da, erfüllte sein ganzes Inneres und ließ ihn vor Angst um Sentas Schicksal erbeben und zittern.

Seine Augen wanderten scharf wie die eines Falken in dem Raume umher, der nirgends eine Oeffnung zum Entschlüpfen zeigte. Und fielen dann auf einen dunklen Punkt unterhalb des Stuhles. Einer der Prankenfüße hatte die Stelle halb verdeckt, so daß der Detektiv diese Abweichung im Boden nicht sofort bemerken konnte.

Er besaß jetzt ja doch Licht und kniete nieder, um zu sehen, was sich hier befand.

Den Stuhl stieß er zur Seite. In seinem Gesicht zuckte es scharf auf, denn er ahnte, daß er an der Schwelle eines neuen Geheimnisses stand. Das hier war ein starker Eisenring, halb in den Boden eingelassen. Er ließ sich umbiegen und legte sich dann dicht in eine Fuge des Bodens.

Der Detektiv kratzte ihn mit den Nägeln hoch und behielt ihn fest in der Hand. War es eine Täuschung, daß unter ihm der Boden ganz leise vibrierte?

Einige Sekunden lauschte er und hielt förmlich den Atem an.

Dann zerrte er an dem Eisenring. Doch der ließ sich nicht hochheben.

Also versuchte es der Detektiv mit einer seitlichen Drehung. Und plötzlich schnappte irgendwo etwas ein. Ganz deutlich hörte er den metallischen Klang. Gleichzeitig aber fühlte er, wie sich der ganze Boden samt dem Stuhl und auch dem plumpen Sessel mit den Pantherpratzen langsam aber stetig hob. Kaum daß ein feines, pfeifendes Geräusch dabei entstand, das Reiben verschiedener Eisenteile.

Und nun begriff er mit unfehlbarer Sicherheit. Genau so, wie er früher mit dem Boden von oben nach unten gesunken war, stieg er nun wieder zur Höhe. Er hatte das in der Dunkelheit nur nicht bemerkt.

Jetzt aber besaß er wieder Licht. Er warf sich hoch und ließ den weißen Strahlenkegel der Lampe gegen die Decke prallen. Die war fest, offenbar eine Art eiserner Rollboden, der sich mechanisch über das entstandene Loch geschoben hatte, als er mit dem Stuhl in die Tiefe gesunken war.

Langsam, sehr langsam aber stetig hob sich Stuhl und Mensch an der Wand. Nicht die geringste Erschütterung ging durch den Mechanismus. Eine ganz einfache maschinelle Einrichtung bei dem heutigen Stand der Technik.

Plötzlich packte den Detektiv ein furchtbarer Schrecken. Der Zwischenraum zwischen dem Boden und der eisernen Decke wurde immer geringer. Warum rollte nicht ebenso die Decke zur Seite? Geschah dies nicht, funktionierte dieser Teil der Einrichtung jetzt nicht rechtzeitig, so mußte der Detektiv oben zerquetscht werden. Einen anderen Weg gab es wohl kaum.

Und immer noch stieg er langsam …

Der Detektiv fühlte, wie seine Gedanken durcheinanderrasten. Es ging nun doch um sein Leben! Und er selber hatte den Anstoß dazu gegeben.

Warum drehte er auch an dem Eisenring, der mit einer Hebelausschaltung in Verbindung stehen mußte?

Es mußte aber noch eine andere Auslösung geben, die bewirkte, daß oben der Deckenboden zurückrollte!

Noch einmal warf sich der Detektiv, kalten Schweiß auf der Stirne, auf die Knie und riß an dem Ring, drehte ihn zurück, sogar einmal um die Achse. Es nützte aber nichts.

Der Boden stieg …

Als Mann der Tat, der oft genug hart am Tode vorübergegangen war, kannte der Detektiv in Wirklichkeit kaum eine Furcht, solange er sich gegen einen sichtbaren Feind wehren konnte. Diesmal aber sah er ein, daß er das Opfer eines plumpen, dummen Gewaltaktes werden mußte. Hilflos, wehrlos zwischen zwei Wände gequetscht! Am Ende ahnten seine Gegner nicht einmal, was da unten geschah.

Er versuchte abermals zu schreien und strengte sich bis zum Platzen der Halsadern an. Aber wieder kam nur ein pfeifendes Geräusch aus seiner Kehle.

Er warf einen blutunterlaufenen Blick umher. Schon mußte er sich bücken, um nicht mit dem Kopfe oben anzustoßen

Und weiter hob sich der Boden …

Blitzartig durchzuckte ihn eine Erinnerung. Er hatte einmal von einer solchen Menschenfalle gelesen, die in einem alten Kastell von einem raffinierten Verbrecher eingebaut worden war, einem genialen Ingenieur, der seine Fähigkeiten leider an falscher Stelle angewandt hatte. Auf diese Weise hatte der Mann seine gefährlichsten Verfolger unschädlich gemacht. Damals hatte der Detektiv diese Zaubereinrichtung, diesen Theatertrick, wie er es nannte, unsäglich dumm gefunden – heute war er selber in eine gleiche Falle geraten.

»Senta –!« schrie er wild.

Sie stand vor ihm im Geiste mit den tiefgründigen Augen und streckte die weißen Arme nach ihm aus, als wolle sie ihm helfen. Aber da tauchte hinter ihr ein glattes, höhnisch verzerrtes Gesicht auf: Der Polizeipräsident selber.

Der Detektiv glaubte in diesen letzten Minuten den Verstand verlieren zu müssen. Er ließ sich auf den Boden fallen.

Halt! Ein letzter Hoffnungsgedanke …!

Der breite wuchtige Stuhl stand ja noch inmitten des steigenden Bodens. Wenn sich der Mann flach niederlegte, mußte dieser Stuhl mit seinem massiven Sitze, den gewaltigen Armlehnen zuerst oben anstoßen. Würde dann der Mechanismus anhalten?

Das war jetzt noch die einzige Rettung. Dann lag der Detektiv in einem elenden Raum, der nicht viel größer als eine Hundehütte war!

Noch immer stieg der Boden …

Bis zu den Armlehnen des Stuhles waren es nur noch wenige Zentimeter. Nun mußte es sich entscheiden. So viel Geistesgegenwart besaß der Detektiv noch immer, daß er das Licht seiner Lampe auf Stuhl und Decke fallen ließ. Er hatte dabei das Empfinden, als müßten ihm die Augen aus den Höhlen quellen.

Jetzt – jetzt stieß die eiserne Decke auf!

Ein Augenblick des Erzitterns, dann ein dumpfer Krach. Die Armlehnen waren zersplittert zusammengebrochen. Es half also nichts!

Noch ein schwaches halbes Meter! Der Sitz kam nun an die Reihe. Ganz flach auf dem Rücken lag der Detektiv, die Augen starr nach oben gerichtet, den Kopf kaum etwas erhoben, die Laterne in der krampfhaft geschlossenen Hand.

Sekunden wurden zu Ewigkeiten. Schreien hatte keinen Zweck. Es kam ja doch kein richtiger Ton aus der Kehle.

Die halb abgesplitterten Teile der Armlehne wurden knisternd zur Seite gedrängt. Näher und näher kam die Decke.

Und noch einmal wollte der Detektiv den Namen des Mädchens hinausschreien, das er liebte – warum, weshalb, seit wann – das wußte er selber nicht. Und wieder kein Ton. Immer war es, als lege sich ihm ein ekler, dichter, lauwarmer Schwamm vor die Lippen.

Sein Blick krallte sich an die schwarze Decke, die ihm wie ein scheußliches Ungetüm ohne Augen erschien, das ihn langsam zermalmen würde.

Jetzt legte sich der breite Sitz des Stuhles glatt an der Decke an …

Wieder ein Ruck … ein Knirschen und Aechzen irgendwo – dann nach qualvollen Sekunden ein um so gewaltigerer Krach!

Die Trümmer des zusammenbrechenden Stuhles flogen gegen den Kopf des Detektivs.

Er verlor die Besinnung …

Wie lange das gedauert hatte, wußte er natürlich nicht, als er mühsam die Augen aufschlug. Ein kühler Luftstrom traf sein Gesicht. Er suchte seine Gedanken zu ordnen. Also tot war er nicht. Noch nicht! Irgendein glücklicher Umstand mußte ihn im allerletzten Augenblick doch noch gerettet haben. War schließlich doch die eiserne Decke durchbrochen und er durch das entstehende Loch ins Freie geworfen worden?

Er fand, daß seine Taschenlampe verloren gegangen war. Er lauschte und konnte nichts entdecken als das feine Rauschen von Parkbäumen. Lag er an der Erde?

Er tastete sich ab. Die Stirne war mit dickem, eisigem Schweiß bedeckt, den er abwischte. Alles in ihm schrie nach Fassung, kühler Ueberlegung. An ein Wunder glaubte er nicht. Alles mußte mit rechten Dingen zugegangen sein.

Er richtete sich etwas auf. Die Glieder schmerzten ihn.

Aber er hatte nichts gebrochen und konnte sich frei bewegen.

Wo war er denn nun eigentlich?

Ueber sich sah er den Nachthimmel. Der dicke Nebel hatte sich etwas verzogen, sogar der Mond kam mitunter zur Geltung. Er konnte unter sich Bäume unterscheiden, sogar einen matt beleuchteten Parkweg.

Hatte wirklich keine Seele im Haus entdeckt, was mit ihm vorgegangen war? Tanzte man noch immer?

Er horchte angestrengt, konnte aber keine Musik vernehmen, hörte kein Lachen der Gesellschaft. Vielleicht war er auch an irgendeine abgelegene Stelle geschleudert worden.

Und plötzlich erkannte er: er kauerte auf einem Dache! Es war ziemlich flach und saß auf einem turmartig ausgebauten Teil der Villa. Unter ihm lag der Park mit den im Nachtwind leise singenden Bäumen.

»Ich muß natürlich auf den Boden hinunter,« sagte er sich ganz richtig. »Was tue ich hier oben? Es ist dumm, untätig auf einem Dache zu sitzen!«

Sofort ging er an die Ausführung. Sie war nicht einmal sonderlich schwer. Den Absprung konnte er freilich nicht wagen, denn die Entfernung zwischen Dach und Boden war zu groß.

Also glitt er auf dem Leibe bis zum Rande des Daches und tastete mit den Händen umher. Und fand dann einige Ranken, die an der Mauer zur Höhe kletterten. Sie erwiesen sich als ziemlich zähe und hatten sich ziemlich fest in die Fugen der Mauer verankert.

Und er sagte sich, daß diese Ranken nach unten noch stärker werden mußten. Außerdem, es blieb ihm keine große Wahl, er mußte den Versuch machen, die Mauer hinabzuklettern.

Seine Hände brannten, als er sie fest um die stärksten Ranken legte. Dann ließ er langsam den Körper nachgleiten. Als dessen ganzer Schwerpunkt an der Ranke hing, löste sich etwas Mauerwerk, aber das zähe Holz hielt aus.

Einige Minuten später setzte er die Füße auf den sandigen Parkboden.

»Gerettet!« schrie eine Stimme in seinem Innern. Er fühlte das Bedürfnis, laut aufzulachen. Es war wie eine furchtbare Erlösung von unheimlicher Marter. Dennoch lachte er nicht.

Senta stand wieder vor ihm. Sie befand sich doch noch immer im Hause, in den Händen dieser verbrecherischen Gesellschaft, die irgendeine dunkle Tat mit ihr vorhatte.

Er könnte vielleicht nach dem Parkgitter rennen, dieses Gitter überklettern, die nächste Wache alarmieren und den Leuten zurufen: »Ihr seid furchtbar betrogen worden. Man hat Euch nur hinters Licht geführt. Ich werde Euch jetzt führen!«

Er taumelte weiter. Seine Knie knickten vor Schwäche zusammen. Aber das ging vorüber.

Schließlich lehnte er sich aber doch an den feuchten Stamm eines dicken Baumes und überlegte, was nun zu tun war.

Senta retten! Das war auch jetzt noch die Hauptsache! Ihr Vater wartete voller Sehnsucht auf sie, die man hierher verschleppt und in diesen Höllenspuk verwickelt hatte.

Und nicht nur darum …!

Wenn er ihr doch ein Zeichen geben könnte! Ihr sagen: »Ich bin hier. Ich will Sie retten! Sie haben keinen treueren Freund als mich!«

Ein Ton drang an sein lauschendes Ohr. Eine Tür mußte sich in der schweigenden Villa geöffnet haben.

Er strengte seine Augen an, halb von einem Gebüsch verdeckt, und starrte nach den matt erkennbaren Hausmauern und dem schmalen Weg, der in einer grotesken Schlangenlinie durch den Park lief.

Eine weibliche Gestalt zeigte sich. Sie war licht gekleidet, denn so viel konnte er erkennen. Und ihr Fuß hastete fluchtartig über den Boden, der keinen Ton der streifenden Füße verriet.

Als sie wenige Schritte von dem Standort des Detektivs entfernt war, stürzte dieser hervor.

»Senta!« schrie er.

Oder er wollte es wenigstens. Ob sie ihn überhaupt hörte, wußte er nicht.

Er sah dieses feine, seltsam bleiche Antlitz des Mädchens, sah ihr Erschrecken, sah, wie Senta Fredersdorf die Arme erhob.

Da stand er vor ihr, griff nach ihren Händen, umklammerte sie fiebernd, starrte in dieses schöne, weiße Gesicht mit den großen Augen und stammelte nur wiederholt:

»Ich bin da! Ich rette Sie! Ich – der Mann aus dem Dunkel! Der Detektiv!«

Und ihm war es, als habe er seinen wirklichen Namen selber vergessen.

Das Mädchen blieb stehen, sah ihn an – und lächelte.

Wie eine der alten Heiligen im Dom erschien sie ihm, schwach beleuchtet vom einfallenden Mondlicht.

»Ich wußte es, daß Sie auf mich warteten,« flüsterte ihr Mund. »Retten Sie mich und ich gehöre Ihnen – Ihnen fürs Leben!«

Er breitete die Arme aus, von einem namenlosen Jubel erfüllt. Er zog die Gestalt, die sich gar nicht sträubte, die etwas beinahe Körperloses hatte, an seine Brust und nahm ihr weißes Gesicht zwischen seine beiden Hände.

»Wir sind nun eins geworden – Du – ich – komm – komm,« hauchte er.

Er wollte sie mit sich fortziehen, aber nun schüttelte sie den schönen Kopf. »Ich kann nicht – jetzt noch nicht – die da drinnen warten ja auf mich!« sagte sie.

Er verstand das nicht. Sprach sie irre?

Noch einmal umfaßte er sie, wollte sie über den Weg ziehen, in das Gebüsch, nach dem Parkgitter.

»Wir müssen uns beeilen, Senta, sonst ist es vielleicht zu spät!« rief er.

Sie wehrte sich nicht mehr.

Aber in demselben Augenblick, als der Detektiv Senta Fredersdorf auf seine Arme nehmen und forttragen wollte, erhielt er von rückwärts einen schweren Schlag auf den Kopf.

Es wurde wieder Nacht um ihn …


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