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Jettatura

Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine
Macht? Denn Gott ist nur ein großer Wille, der
alle Dinge mit der ihm eigenen Kraft durchdringt.
Lediglich aus Willensschwäche überliefert sich der
Mensch dem Tode.

Joseph Glanvill

»Das ist der merkwürdigste Fall von Jettatura, der je vorgekommen sein dürfte«, sagte mein gnädiger Herr gleich beim Eintreten, als er noch spät am Abend zu uns kam – in A., wo ich, wie der hochgeehrte Herr Leser sich erinnert, der Dame zu dienen pflegte. Ihren Namen bin ich leider genötigt zu verschweigen. An diesem Abend saß sie, wie ich mich recht gut erinnere, ohne meinen gnädigen Herrn erwartet zu haben, am Flügel, und ich öffnete nun, da es im Hochsommer und sehr warm war, die Vorhänge und die Fenster. Ich könnte gleich im Zimmer bleiben, sagte mein Herr Baron, um mitzuschreiben, was er dem gnädigen Fräulein erzählen würde. So hörte ich ihn weitersprechen, während er langsam in dem großen, von der Lampe am Schreibtisch nur dämmrig erhellten Zimmer auf und nieder ging – und ach, wenn ich ihn so gehn sehe in meiner Erinnerung! Wie atmete nicht der ganze Raum seine Gegenwart, wie mußte nicht alles sich ducken und still verhalten vor seiner gewaltigen Erscheinung! Wie Erz, so schien immer sein dunkelhäutiges, gelbliches Gesicht im schwarzen, heftigen Haar; in seinen weit stehenden, dunkel glühenden Augen ballte sich Erinnerung tausendfältiger Erscheinung, die er durchdrungen, mit der er gespielt hatte. Mehr als Fußboden war immer unter seinen Füßen, mehr als Erde und Teppich und Diele, denn immer über Ländern ging er wie ein Riese, seine Fußspitze erfüllte ein Haus, er schöpfte Seen aus mit dem Hut, er konnte sich bücken und Schicksale heraufheben und halten auf der Fläche seiner unsterblichen Hand! Er war niemals allein, hinter ihm wogte es immer dunkel von unzähliger Gestalt, der er voranschritt, sorglos, fürstlich, und die selber zauberhaft erschien, weil er so zauberhaft war. Welche Tür auch immer es sein mochte – er rührte sie nur an, so tat sie sich auf, und hervor trat grauenhafte und erhabene Erscheinung, und wo er nur ein Lebendiges ins Auge faßte, so mußte es ihm erwidern mit dem letzten, dem tödlichen Blick! Ihm aber gefiel es nur, diese Dinge erweckt zu haben und zu betrachten; ein wundervolles Schauspiel war ihm das farbige Leben, und er ließ es immerfort spielen um sich her wie eine großartige Wasserkunst.

Ach, genug, ach, mein Herr, mein edler, kostbarer, gewaltiger Herr, wie soll ich es je verschmerzen, daß deine Stimme, deine Hand, ach, nur dein Blick nicht mehr befiehlt, und ich fliege, ich bin ein Jauchzer der Dienstbarkeit, ich – ach, dem Kormoran gleiche ich nun, dem einsamen in Sutong-pos unsterblichem Liede, und wie er mit dem unwandelbaren Auge, am Strome hockend, dem unendlichen Vorüberwallen der Wasser folgt, so – nach des Dichters Wort – das Herz, mein Herz:

So folgt ein Mensch, dem Liebe das Herz erfüllt,
jahrlang dem Auf- und Niederwogen
ein und desselben Gedankens.

Der hochgeehrte Herr Leser verzeihe aber und verstehe die Abschweifung und höre gütigst weiter Die folgenden Worte meines gnädigen Herrn habe ich gleichfalls noch in dieser Nacht oder am nächsten Tage niedergeschrieben. Es kam nämlich nicht selten vor, daß irgend jemand von einem der unzählbaren geistvollen Einfälle, Bonmots, Gedankensplitter und Paradoxen meines gnädigen Herrn sagte, wie schade es doch sei, daß dergleichen verlorenginge, denn mein gnädiger Herr gab ja niemals etwas an die Öffentlichkeit. (Er sagte dann wohl mit der ihm eigenen Hoffart, sein ganzes Leben sei, wie er es erlebe, Dichtung; durch Aufschreiben könne es höchstens Literatur werden, denn im Erleben sei der Duft der Dichtung, für den Dichter also im Erleben seines Gedichts, und zum Literaten sei er sich zu gut.) Nachdem nun aber ich es einmal gewagt hatte, ein Wort von ihm insgeheim ins Tagebuch zu schreiben, weil es mir gar so gut gefiel, kam es späterhin manchmal vor, daß er mich ermahnte: »Schreibs ins Tagebuch, Li, es wäre ja schade, wenns verlorenginge«, – und lachte herzlich. Das Tagebuch aber ist voll geworden von solchen Dingen, und ich benutze diese Gelegenheit, um zu gestehen, wie sehr schmerzlich es doch für mich ist, daß die künstlerische Form, in die ich diese Lebenserinnerungen zu fassen gewagt habe, (nicht ohne lange und tiefgehende Beratung durch mehrere sachverständige Persönlichkeiten, insbesondere eine, die leider darauf besteht, im verborgenen zu bleiben, und der ich zu allertiefstem Danke verpflichtet bin), es mir nicht vergönnt, von dieser Seite meines gnädigen Herrn ein Bild zu geben. Doch bitte ich, da ein von mir selber eben gebrauchtes Wort mich daran erinnert, ein kleines Scherzwort des Herrn Barons anfügen zu dürfen, wo er bei Gelegenheit eines unleidlich schwatzhaften und öden Besuchers hinterdrein zu mir sagte: »Die Gedankensplitter im eigenen Auge, die sieht der Mensch wohl, aber nicht die Gedankenbalken in andern Augen.« – Jedoch, wie gesagt, von solchen und ähnlichen Aperçus konnte mein Herr Baron zuzeiten sprühn wie das Fell des Katers von elektrischen Funken..

»Ich bin kein Jettatore«, sagte mein gnädiger Herr. »Du erinnerst dich (hier meinte er das gnädige Fräulein!), daß ich in Italien hin und wieder dafür gehalten wurde – meiner Augen wegen, obgleich richtige Jettatoreaugen blau zu sein haben. Kaum erinnern wirst du dich aber, gerade von den Leuten, die dieses argwöhnten, eine Bestätigung gehört zu haben ...«

Das gnädige Fräulein erinnerte hier an einen Vorfall (den ich an andrer Stelle dieses Buches zu schildern unternommen habe), und mein gnädiger Herr fuhr, nachdem er ihre Auffassung desselben berichtigt hatte, fort:

»Jettatore ist übrigens nicht das, was du dir darunter vorzustellen scheinst. Der Blick des Jettatore oder der Jettatrice bringt Unheil dem, auf den er fällt, und zwar sind es – ich weiß nicht, erinnerst du dich der Contessa –, aber lassen wir den Namen« – er lächelte –, »ich zeigte sie dir einmal.«

(NB. Bei diesen Worten konnte ich deutlich erkennen, daß der Herr mit den Fingern der linken Hand, indem er die mittleren in die Handfläche krümmte, Zeige- und kleinen Finger dagegen steif ließ, das Abwehrzeichen des bösen Blicks bildete.)

»Sie war eine Jettatrice, und bemerkenswerterweise war sie es geworden durch Übertragung von einem berüchtigten Jettatore, ihrem Mann. Sie war die schönste alte Dame, die ich kenne, ein sanftes, mütterliches Antlitz, aber das Unheil rollte um sie her – freilich von kleiner Art, und nur daß sie meinen Freund Pallavicini umgebracht hat, Pallavicini, den Dichter und Sänger Ravennas, das steht fest.«

»Ach, Josef!« tadelte das gnädige Fräulein kläglich.

»Denn«, fuhr mein Herr Baron unbeirrt fort, »als ich ihr erzählte, daß ich mit ihm in Ravenna gewesen sei, so fragte sie, ob ich auch im Museum an der Stelle, wo die Andenken berühmter Männer liegen, den Platz gesehen hätte, wo die seinen fehlten; da schlug er zwei Tage später mit dem Boot um und ertrank.«

»Ach!« sagte das gnädige Fräulein entsetzt, und so in die Ferne wirke also die Jettatura? Dann möchte Herr Josef doch ja nicht weiter erzählen. Er aber lachte und meinte, er bilde ja schon lange das Abwehrzeichen mit der Hand, habe auch ihren Namen nicht genannt, und, wie er gesagt habe, seien es immer nur Kleinigkeiten gewesen, die sich zutrugen, so – Malöre.

»Ein Freund von mir«, sprach er weiter, »geht zum Beispiel eine Treppe hinauf, sieht sie von oben herunterkommen, erschrickt, stolpert und verstaucht sich den Fuß. Ein anderer trifft mich in einem Tingeltangel, sagt, er hat sie gesehn, fragt, was nun wohl kommen würde, und kaum, daß ich ihn auf die dunkelbraune Hose aufmerksam gemacht habe, die er in der Eile zum Frack angelegt hat, entdeckt er – er war Offizier – im Parkett seinen Obersten, der ihn vorwurfsvoll mustert wegen seines Zivils. Ich selber habe – aber lassen wir das.«

An dieser Stelle, während die Augen meines gnädigen Herrn – ach, ich weiß wohl warum! – sich verdunkelten und zusammenzogen – das Fräulein selber konnte es nicht sehn, da er am Flügel lehnte und sie in gleicher Richtung auf dem Sofa saß –, wagte sie die Bemerkung, es sei doch aber auch mit ihm so, daß sich Unfälle – und Schlimmeres gar – überall da ereigneten, wo er erscheine.

»Eben das ists«, sagte er. »Der Unterschied ist um so tiefer, je feiner er ist. Und im übrigen, mein Kind, merke dir: Dem echten Jettatore – das ist sein Merkmal – stößt nie etwas zu, er hat selber nie auch nur den geringsten Zusammenhang mit dem Ereignis, es geht ihn gar nichts an, und ich bin also allenfalls das, was mein Freund, der Graf K., mich nannte – damals in Italien, als ich ihn zu seinen Ausgrabungen in Mesopotamien begleitete und für eine so weite Reise gerade genug Unheil neben oder hinter uns mitfuhr – ich bin ein umgekehrter Jettatore, einer, den das Grausen anzieht, anstatt daß er es anzöge. Aber richtig, daß ich auf Gerhard K. zu sprechen kam. Er war nämlich, ehe ich hierherkam, eine Stunde lang bei mir und erzählte mir das, was ich dir erzählen wollte. Schade vielleicht, daß du ihn nicht selber gehört hast – aber anderseits hörst dus geschickter von mir. Die Menschen sind chaotisch – ich werde deshalb seine Worte nicht wiedergeben, ich würde sonst ins selbe Chaos verfallen, sondern das darstellen, was ich im ganzen zu hören bekam – und zu sehn. So chaotisch, wie gesagt, sind sie; selbst die noch so Gebildeten, wie Gerhard, sprudeln, was in sie hineinstürzt, ebenso wild und ordnungslos wieder hervor, platzen mit der Kernstelle zuerst heraus, anstatt sie reifen zu lassen, wie sie doch in Wirklichkeit reifte, lassen sich dann in Erörterungen ein, und bloß weil sie sich auf Schritt und Tritt ablenken lassen, kommt nun auch das Eigentliche zum Vorschein, der Zustand; ihr Zustand, in den sie versetzt wurden, und der das Wichtige ist, denn wie gleichgültig ist das Geschehen selber, wie belanglos im Vergleich zu seiner Wirkung, und die ist eben der Zustand. Und mit dem, was in den Anfang gehört, kommen sie stets am Ende, wie heute Gerhard. Schließlich« – er lächelte hinreißend – »muß man sich dann selber mit Li hinsetzen und Ordnung schaffen, sonst bleibt der Klumpen noch in einem selber liegen und kommt, zählebig wie alles Gewürm, niemals zur Ruhe.

Die Menschen«, sagte er noch, indem er vom Flügel zu einem Sessel ging und sich hineinwarf, »sind alle von Dämonen gemacht, plumpen Teufeln; gerade die sinds, die nicht von ihnen getrieben werden, und darum wird auch der Gott mit ihnen im Leben nichts Reinliches zustande bringen, denn die Form ist von Anbeginn verfehlt. Ich«, sagte er mit kräftigem Nachdruck, »ich bin nicht von Dämonen gemacht, und übrigens, was sie angeht, so habe ich es immerhin so weit gebracht, daß sie mich ziehen, anstatt mich zu treiben.«

Nach diesen Worten begann er sogleich seine Erzählung wie folgt:

Gestern nachmittag, nämlich am Nachmittag vor seiner Hochzeit, stellte Gerhard die letzten Überlegungen an. Noch, ja, noch gab es Einhalt, noch ein Zurück. Noch, er fühlte es, obgleich alles in sich gesammelt, vorbereitet und fertig dastand, zitternd in Arbeit wie ein angekurbelter Kraftwagen; noch konnte er, der umherging und zauderte, den Führersitz zu besteigen, einen winzigen Hebel am Steuer rücken; die Maschine stand still.

Ja, er ging umher, hemdärmlig, in der Engigkeit seines mit Büchergerüsten, Zeitschriftengestellen, Tischen und Sesseln verbauten Arbeitszimmers, während es nun dunkelte, kein Atemzug vom Hochsommer mehr durch das weit offene Fenster hereinstrich, ging hin und her auf schmalem Raum, haderte mit sich selber, stand und starrte hinaus, nichts wahrnehmend als wirres Grün, das sich stillschweigend zu verziehen schien, weil es dunkel wurde.

Noch, noch ... Und wieder fing er an: Warum? und: Warum nicht? Liebte er sie nicht? Welche Frage! Aber liebte er sie so, er, der diese und jene Frau geliebt hatte und wieder geliebt wurde, er, zu dem diese und jene die gleichen Beschwörungen glühend hergetragen hatte wie sie: Du und ich, wir wurden einander bestimmt – altes, süßes Vorurteil aller Liebenden –, ein Leben sollte unser sein, wir gingen aufeinander zu ... ja, so sprach eine und die andre; diese – ja, liebte er diese nun so, oder durch was sonst etwa war sie ausgezeichnet vor allen, daß alles jetzt, jetzt allein, unerläßlich war: gemeinsames Leben, gemeinsames Haus, Bett, Frühstück und Abendbrot, dann – Kinder –, oh, er wünschte ja nichts als eben Kinder, und vielleicht würden sie früh genug eintreffen, um Unheil zu verhüten –, ja, war das nun ein Grund, Kinder zu haben? – Aber schmiegsam war sie und gütig, voll Eifer für alles, was ihn betraf, sie, die selber ja nicht viel andres gehabt hatte, als was man so hat als Weibwesen gemeinhin, von allem etwas, manchen Anfang, wenig Fertigkeit, aber, wie gesagt, guten Willen zu allem, und das war nun für sie diese ihr so fern gewesene Welt babylonisch-assyrischer Denkmäler, und sie schwang sich hin zu ihr, traumleicht, kinderherzig, auf dem alten Hippogryph ihrer Märchenbücher. Und wenn der dennoch versagte – ach, wie vieles, das wir brennen und leuchten sehn und vom Himmel meinen, ist doch nur Rakete, Schwärmer und bengalische Feuerwolke, nicht jene des rüstigen Gottes, in der er unbeirrt herzog vor seinem reisigen Volk, unbekannten, gesegnet genannten Geländen zu. Da war Feuer – Feuer, o ja!

Er stand, die Hände heiß in den Hosentaschen, vorgebeugt, glaubte einem verspäteten Vogelton zu lauschen und grub innerlich sein liebendes Herz hervor, die geheimnisvollen Lettern darauf zu lesen, die der gewaltige Gott schrieb, als er es zum Opfer annahm. Nahm ers, verwarf ers?

Da sprach er leise ihren Namen aus, sprach ihn und lächelte, wieder sich erinnernd, weil er ihm wieder das Stanniolpapier der Knabenzeit wachrief und sein sachtes Knittern unter dem kleinen Daumen, der es glättete mit dem Nagel, denn so, hatte sein Herzensverstand es gewollt, war sein Gefühl bei ihrem silberleichten Namen, den er aussprach: »Signe ...« Aber schon sah er ihn anders, sah ihn in der kindlichen Konstellation, die sie selber mit ihm vorgenommen hatte, damals, im triumphierenden Anfang der Leidenschaft, wo sie ihn unter den ersten stammelnden, fliegenden, weinenden Brief setzte, und darunter hinwarf in immer größeren, steigenden Lettern die Worte » In hoc signo vincas! signo«, viermal spritzend unterstrichen, daß er die Feder kreischen hörte, als er las, und er lächelte: kindisch, aber – mein Gott, wie sie ihn liebte, und was gibt es Süßeres an der Liebe, als wieder kindisch zu werden? – Sie liebte – und er? Nun loderte ihre rosige und goldene Flamme vor ihm auf, es überrauschte ihn, zu denken: Morgen! morgen – ganz! ganz! – worauf alles stockte, nur seine Pulse an den Handgelenken gegen den Stoff schlugen, und es knisterte im Garten.

Ja, warum denn nur, warum doch die Zweifel, die Befürchtungen, die Fragen seit Tagen und Tagen? Warum vom selben Augenblick an, wo alles vernietet, wo der Hochzeitstag bestimmt war und galt, warum jetzt die Erinnerungen an die andern, an jene, jene einzige, die er vielleicht doch nur deshalb zu lieben aufgehört hatte, weil sie ihm versagt wurde, die aber dennoch weitergalt, nicht aufhörte, sein Eigentum zu sein, die sterben würde, seinen Namen auf den Lippen, seine Hand in ihrer Hand, mochte er selber sein, wo er wollte? Auf einmal war sie da und versuchte ihn, mahnte, litt ihm die Leiden vor, in die Schicksal sie gestürzt hatte, Schicksal und ein wenig auch der eigene Schwachmut, und nun am Ende, nun drohte allgemeiner Zusammenbruch, nun schien es immer noch besser, eine Verlobung zu lösen, als daß später eine Ehe getrennt werden müßte – und er trat, die Hände aus den Taschen ziehend, an den beladenen Schreibtisch, fühlte seine Hände zittern, indem sie etwas suchten, von dem er kaum wußte, Streichhölzer vielleicht, oder die Zigarettenschachtel, und jetzt merkte er, daß er dicht am Fenster in den noch hellen Himmel emporsah, während unten und um ihn her schon die Nacht stand, schwärzlich, die fast alles weggenommen hatte, so daß er sich selber nicht mehr fand.

Im Augenblick jetzt, wo er, ganz verzweifelt, die eiserne Wendeltreppe in den Mansardenstock hinaufzusteigen gedachte, um ihre Zimmer zu betreten, die schöne Gewißheit des Vorbereiteten und ihren Duft zu atmen aus den Gegenständen, die sie ausgewählt hatte, die schon ein Stück ihres Seins und Wesens waren, das Schlafzimmer – und er sah, brennend deutlich, über dem mächtigen Bett das große Relief der selig in sich hinschaukelnden Bacchantin aus Neapel –, in diesem Augenblick schrillte der Ton der Hausglocke durch ihn wie ein Riß, und er stand nachzuckend, erschrocken. Ja – nun, was denn? Brauchte das ihm zu gelten? Irgend etwas kam, etwas Belangloses, ein aufgebügelter Frack, seine Mutter vielleicht, vielleicht noch ein Gruß von ihr, eine Bitte, und während er lauschend unbeweglich blieb, suchte er noch dies und jenes, was es sein könnte – an Signe denkend, von der er jetzt nichts wollte –, damit es sicher von alledem, was er sich vorgestellt hatte, keines wäre, wie das zu sein pflegte. Da klingelte es zum zweiten Mal, also war der Diener fortgegangen, also mußte er selber öffnen, und er ging mit Herzpochen.

Vor der Haustür, im ungewissen Licht der hoch hängenden Treppenhauslampe stand nichts weiter als ein fremdes Dienstmädchen mit weißer Tolle, knickste verlegen, sah ratlos und auch verweint aus. Nun stammelte sie: »Eine Empfehlung von Herrn von –« Gerhard verstand den Namen nicht – »und Herr Graf möchten doch kommen. Gnädiges Fräulein ist sehr krank«, setzte sie hoch errötend hinzu und schien in Tränen ausbrechen zu wollen.

»Bitte, den Namen noch einmal!« bat er.

»Fräulein von Curtius.«

Gerhard versuchte etwas zu verstehn. Curtius? Ja, den Namen kannte er. Fräulein von –? Ja, er kannte sie sicher, aber – wann – wo? Er hatte keine Vorstellung, und sein Gedächtnis pflegte ihn selten im Stich zu lassen. Sehr krank ... ging es durch ihn hin. Und jetzt fiel ihm ein: Oberst Curtius, verabschiedet, schrieb Kriegswissenschaftliches, die Frau eine Schulfreundin seiner Mutter, die Tochter – ja, mit der Tochter hatte er getanzt, als Student, ja, und Tennis gespielt, einmal, zweimal. Das war vor drei – oder nur zwei ...

»Herr Graf möchten doch recht schnell kommen«, wiederholte das Mädchen leise und eindringlich und setzte weinerlich hinzu: »O Gott, wenns nur nicht schon zu spät ist!« So war das, so ... Klar schien es nun freilich, wenn auch nicht gleich verständlicher, aber es war genug, um mit dem Kopf zu nicken und zu sagen, er käme sofort. Im Zurückgehn und im Schlafzimmer beim Anziehn des Rocks schien es Gerhard richtig, überhaupt nichts zu denken, denn wenn es das war, was er vermutete, so war es eins von den Dingen, die sich nur tun lassen, aber nicht denken; so zart, daß man es nur halten durfte, aber nicht bewegen.

Als er sich der offengebliebenen Haustür wieder näherte, merkte er, daß er noch keinen Hut aufgesetzt hatte, nahm ihn, ein paar Schritte zurücktretend, vom Haken, ging hinaus und an dem knicksend seitwärts tretenden Mädchen vorüber die Stufen hinunter.

Die Laternen brannten schon, der Gehsteig war schwärzlich, einzelne Regentropfen fielen, die Gartenstraße war dunstig von Feuchtigkeit, es war sehr warm. Gerhard nahm den Strohhut ab und schritt aus, das Dienstmädchen hinter sich, in Gedanken nicht viel mehr als den Namen der Straße, der ihm, wer weiß woher, von selber zugeflogen war. Er bog um die nächste Ecke ein, ging schräg über die Straße, und so oder ähnlich noch zwei- und dreimal, bis er auf einem Messingschild am eisernen Gittertor eines Vorgartens »Curtius« las. Dann ging er den Kiesweg zur kleinen Außentreppe der Villa hinauf, die Treppe selbst, unter dem Glasdach öffnete ein ganz verweinter Mensch in blau-weiß gestreifter Jacke die Glastür, Gerhard gab ihm – im aufzuckenden Gedanken: Sollte es schon zu spät sein? – den Hut, ging teppichbelegte Stufen, stand in einer Diele, es war beängstigend.

Nun öffnete sich die Tür, in der Dämmerung zeigte sich ein kleiner alter, ganz weißhaariger und weißbärtiger Herr, kam auf ihn zu, streckte die Hand aus, wollte sprechen, räusperte sich und brach in Tränen aus. – Also zu spät ... Gerhard, aufatmend und gleichwohl beklommen, legte den Arm um die Schulter des alten Mannes, murmelte etwas, klopfte ihm behutsam den Rücken und hörte ihn endlich stammeln: »Eine Minute, zwei Minuten zu spät ...« Worauf er dann sich entschuldigen wollte, es hätte ja niemand etwas geahnt, aber da es sich um eine Sterbende gehandelt habe, so würde er wohl ... und sie sei ja ganz verzweifelt gewesen ... Gerhard zwang sich, so glühend und schwül es ihm um die Brust war, zu der Frage, ob er sie nicht sehen dürfe; der Oberst beruhigte sich und bat, vorangehen zu dürfen. Während er ihm dann den kurzen Korridor hinunter, die Treppe hinauf folgte, auf den Fußspitzen, ängstlicher vor dem unverhofften Anblick einer Toten, einer Toten, die ihn geliebt hatte? – fiel ihm ein, daß er nicht einmal ihren Vornamen wußte. Indem er noch suchte, öffnete ihr Vater eine Zimmertür ins Innere und ließ ihn ein, selber zur Seite tretend.

Es roch betäubend nach Krankheit und Heilmitteln, obgleich das Fenster weit offenstand. Nun war da eine Lampe mit grünem, leuchtendem Schirm in einem fast dunklen Raum, davor der Schattenriß einer sitzenden Frau, dann, ganz rechts – angeschienene Tapete, und nun – unumgänglich zwischen Wand und Lampe – sie stand, umgeben von kleinen Flaschen mit Zetteln, auf kleiner Marmorplatte –, das Bett, der Schimmer einer schilfgrünen Steppdecke, weiße vorstehende Kissen und tief darin, im Schatten des Kissenzipfels, ein Hauch von abgewandtem Gesicht.

Während die Sitzende sich erhob, trat aus dem Hintergrunde noch ein Unbekannter und verneigte sich, wohl der Arzt. Die Mutter, eine große, noch dunkelhaarige Frau, sah über Gerhard fort, indem sie die Hand hinhielt, die er küßte; dann ließ sie ihn an sich vorüber an das Bett. Gerhard hörte sie durchs Zimmer gehn; eine Tür fiel ins Schloß.

Leise trat er näher, während zugleich der Arzt sich von oben über die Messingstangen des Kopfendes vom Bett beugte. Erschreckt sah er den Mund eines fremden, zur Wand gekehrten, heißen, hagern Gesichts, mit einer schrecklichen Falte daneben, herunter von der Wurzel der stark vorspringenden Nase. Eine braune Flechte glänzte leise – Gerhard glaubte dort, wo sie auflag, das Gefältel des Nachthemdes und die Spitzen sich bewegen zu sehn, blickte auf, gewahrte den Schatten des Vaters ganz fern im offenen Fenster und wagte, leise zum Arzt empor zu bemerken: »Aber – sie ist ja noch ganz warm ... Ist sie denn –?«

Er brach ab. Der Arzt zog die Uhr, fuhr mit dem Handballen über das Zifferblatt und erwiderte halblaut: »In der Tat – der Tod ist schon vor einer Viertelstunde eingetreten ...«

Er beugte sich über, legte mit einer schonenden Bewegung die Handflächen um die Wangen der Toten und drehte den Kopf empor, in die Gleichlage zum Körper, der auf dem Rücken ruhte.

Gerhard erhob den Arm und legte, so behutsam, so unmerklich wie möglich, ganz von oben die gewölbte Hand auf die warme Stirn.

Augenblicks aber zuckte sie zurück, denn die Augenlider der Toten bewegten sich, hoben sich, mit unendlicher Anstrengung, langsam, ganz langsam, und erschrecklich groß und düster gingen zwei schwarze Augen darunter auf, und sie blickten nun, blickten ihn, den glühend Erstarrten an, ohne zu verstehn, aber nun begreifend, nun erkennend, und nun schmolz es in ihnen, rieselte, auf einmal waren es die Augen eines Kindes, das irgend Fürchterliches, eine wilde Traumnacht, einen Sturz, ein Entsetzen überstand und mit erwachender Zaghaftigkeit aufblickt und erkennt.

Und nun – Gerhard sah, schlotternd vor Grauen, die schwarzen Augentiefen mit einem Schlage überquellen von unsäglicher Angst, unerträglicher Angst. Die Blicke hingen an seinen Augen, sie schaute und schaute, sie wollte reden, die Lippen bewegten sich, konnten nicht, die Angst nahm überhand, und plötzlich wehten, weit aus einer furchtbaren Fremde, deutliche Worte zwischen den Lippen hervor wie aus dem Nichts:

»Oh Gott, ich kann nicht fort von dir!«

Noch schienen die Augen unermeßlich viel sagen zu wollen, hingen an den seinen mit der letzten Kraft, aber sie ging aus, die Augen und gleich darauf der Kopf, der ganze Leib fiel mit einem Ruck zusammen.

Während aber Gerhard noch minutenlang flimmernden Auges auf das Entsetzliche starrte, sah er mit reißender Eile das Rötliche und Erhitzte aus den Zügen schwinden, sie erkalteten im Augenblick, und im nächsten war das ganze Gesicht schon so eingefallen, grau und vergilbt, als wäre –

»Das Herz«, stammelte der Arzt, »hatte vor einer Viertelstunde aufgehört zu schlagen.«

Gerhard taumelte hinaus.

Gerhard wußte nicht, wo er sich befand, fragte auch nicht danach, glaubte aber, er sei in seinem eignen Garten. Er saß auf einer Bank, es war ganz finster, Bäume, Buschwerk waren in dem Finster, er wußte es, er sah es nicht, all das war in ihm selber, er fühlte nichts, als daß alles Fieber jener armen Seele, die noch einmal durchgebrochen war durch das eiserne Tor, in die seine hinübergeschlagen war, die nun rastlos zuckte in seinen Gliedern, so daß er nicht einen Augenblick in derselben Lage verbleiben konnte, nun die Beine übereinanderschlug, nun die Knie auseinanderwarf und, die Ellbogen auf die Schenkel legend, zwischen ihnen die Hände faltete und rang, und nun wieder, ihre Hitze und Feuchte empfindend, diese auseinanderfliegen und, bei weit ausgebreiteten Armen, auf der Banklehne rechts und links Halt und Kühle finden ließ, um im nächsten Augenblick das Gesicht in beide Hände zu pressen.

Oh Gott, ich kann nicht fort von dir! – da merkte er, daß er diese Zeilen wie einen Vers seit langem und unaufhörlich gemurmelt hatte, daß jede Handbewegung im Gleichtakt dieser Silben ging, daß seine Fußspitze sie sagte und sein Rock, daß er die Bank war, auf der er saß, und daß er im Dunkel rauschte wie ein Regen, daß er das Dunkel war. Nun fing es an zu dämmern: Oh Gott, ich kann nicht fort von dir! Immer wieder, jetzt nur die erste, jetzt die letzte Hälfte, jetzt das Ganze, und er sprang auf, ein Ende zu machen.

Dunkle Baumstämme waren im Dunkel und Unterholz. Ihn flog der Gedanke an, fortzugehn, zu nichts zurück, in irgendein Land. Nein, er fühlte, daß er weinen mußte, niederknien, um zu danken für dies Geschenk, für diesen Tod eines Menschen. Er dachte, daß er vor fünfhundert Jahren ein Einsiedler geworden wäre, der Tag und Nacht bis ans Lebensende mit der Betrachtung dieser kleinen Schnur von Worten zugebracht hätte, die ein ganzes, junges, mädchenhaftes, schönes, feierliches Leben umschloß mit ihrem kleinen roten Ring. Er merkte nun, daß ihm wirklich Tränen über die Wangen liefen, und er setzte sich, zog sein Tuch und fühlte die hitzige Schwüle der Nachtstunde.

Und da war es wieder, das heiße, noch lebendige Gesicht der Verstorbenen – mein Gott, in welcher Falte dieser Maske hatte denn die Seele sich festgekrallt und verborgen gehalten vor dem durchdringenden Blick des Arztes? Ach, so bemerkt man auch den Falter erst nicht, weil er so still mit geschlossenen Flügeln wie ein Blatt an der großen Blume hängt, bis er auf einmal die leuchtenden Decken auseinander schlägt, und tief aufglühn die schwarzen, nächtigen Augen. Ihn schauderte aber, er sah sie wieder liegen wie bei seinem Kommen, abgewandt ihren Kopf, der ihm seine befremdende, unverständliche Rückseite zeigte von braunem Haar – aber nun war etwas schauerlich Lauerndes darin –, sie tat nur, als wäre sie tot, sie scherzte kindisch mit dem Gestorbensein, und jählings, wie ein Kind, das die Verstellung nicht mehr aushalten kann und sich herumwirft und hell auflacht mit beiden Augen – so warf sie sich herum, und da klaffte es abgründig, und herauf stieg, grauenvoll, der schwarze Tod. Der Tod, was? – Das Leben doch, so verkehrte sich ihm alles, und er hing minutenlang über sich selbst, nur schlotternd vor Grauen.

Und in sich gebückt, als könnte er sich nicht gerade aufrichten, erhob er sich und schlich davon, den Weg hinunter, den er im Dunkel zwischen den Bäumen erkannte, kam aus dem Walde heraus und stand bald darauf vor seinem Hause, das, von einer Straßenlaterne beschienen, still dalag mit geschlossenen Läden, wie wenn seine Wohner auf einer Reise wären.

Oh Gott, ich kann nicht fort von dir! – Dies würde bleiben und ewig mahnen. Nein, ich kann nicht, dachte er, die heiße Hand auf der eisernen Klinke, doch meinte er die Hochzeit, dann erst fiel ihm das Eintreten ins Haus ein, und wie er es wieder sah, still abwehrend: alles verreist! – so war das ja ganz richtig; er war in die Unendlichkeit fort gewesen und konnte von dort nie zurück.

Aber, dachte er, zaudernd vor dem Weggehn, das Unendliche war doch in mir, und ich mag gehen, wohin ich will, in mein Haus so gut wie in das entlegenste Land: zurück zu mir komme ich nie.

Und dann ging er ins Haus, es war verschlossen. Er öffnete unter der leisen Erinnerung an ein Gedicht seiner Jugendzeit, von einem Mönch, der – wie war es noch? – der im Garten ging und ins Kloster zurück. Da war alles fremd; hundert Jahre waren vergangen, und Gerhard starrte besinnungslos in ein todfremdes Gesicht, entsetzt und doch schon begreifend, daß nach dem Unmöglichen in jenem Haus nun auch das Unmögliche in diesem Wahrheit sein konnte, daß hier Fremde wohnten, daß Jahre ... Allein indem dämmerte es hinter den unbekannten Zügen, und es war nur sein Diener.

Hinter ihm zurückbleibend, sagte der, während Gerhard ins Obergeschoß hinaufstieg, ein Brief liege auf dem Schreibtisch. Gerhard seufzte gequält, aber der Seufzer machte etwas frei; er wußte, von wem der Brief war. Nein, nicht länger als eine Stunde war er fort gewesen, obgleich jenseit des Todes.

Der Brief lag auf dem Schreibtisch, ohne Marke, nur mit seinem Namen beschrieben, ein Kartenbrief – und er riß den Rand ab, öffnete das Blatt und las das eine, groß unter das Datum gesetzte Wort: Morgen!

Und nun saß er in einem seiner Sessel, zurückgekehrt aus den Ländern der Seele. Müdigkeit, Erschöpftheit, Schwere beherrschten ihn, doch rang sich zwischen ihnen hervor ein Gefühl des Genesenseins, als sei er es gewesen, der – in einem spätern als letzten Augenblick doch das Eiserne abwarf und dasaß, zitternd von der furchtbaren Anstrengung, nachdenklich, was das nun wieder sei: Leben ...

Oh, sie hatte gelebt und war tot! Und sie hatte hinunter gemußt, ehe der Brand gelöscht war, und er – er fühlte jetzt, wie sie fortsank aus ihrem Bewußtsein in die grauenvolle Leere des Nichtseins, ringend, keuchend, ertrinkend – bis sie aufstieg noch einmal, versank –, und oben schwammen die Worte ...

In diesem Augenblick aber, wo die Angst das letztemal – er wußte: das letzte – gekommen und gegangen war, wo er plötzlich erleichtert und klaräugig umhersah und sich im Alten fand, im Seinen, mitten im kaum Verlassenen seiner Arbeit, seinem ganzen Dasein ... da wußte er, daß es zweierlei gab – wie immer mit jedem nur zweierlei.

Fortgehn nach diesem, fortgehn von allem, von der eigenen Seele, jener, die jenes erlebt, die neue zu suchen, da nur dieses noch galt, diese Erschütterung der äußersten Grenze, dieser Mensch, die Tote, ihr Wort, Wesen, alles, was göttlich war an ihrer liebenden Kraft, um ihn herauszuheben aus allem Menschenwesen für immer – fortgehn also, allein zu sein, allein mit ihr bis an das Ende ...

Oder bleiben.

Er wußte freilich schon, daß er blieb, denn die Arbeit lag dort, und auf der Arbeit, leichtes Siegel, der Brief.

Also bleiben, und dann war es nun gleich, was er tat. In einer geheimen Tiefe seines Daseins, ein Meteor, aber nie gänzlich verlöschend, würde der Augenblick, jener im Angesicht des lebendigen Todes, liegen und – vielleicht – von nun an das Wirkliche sein. Er aber konnte morgen Hochzeit halten oder nicht halten, konnte allein leben oder mit dieser Geliebten oder mit einer andern vielleicht, die nach dieser kommen würde: sein Leben würde leicht oder schwer sein, ob er nun dies oder jenes tat; es würde: das Leben sein, das lange bestimmte, nicht mehr zu ändernde, das nichts war, als auf sich zu nehmen; in dem es auf wenig Eigenes mehr ankam als auf ein wenig Willigkeit, ein wenig Absicht, gut zu sein, jemand nicht zu kränken, sie zu verstehn, die ihn so liebte, daß sie diesen Brief geschrieben hatte, unter dem unsichtbar die triumphierende Letter stand: In hoc signo vincas ...

Gerhard lächelte schwer. Die Zukunft sah hoffnungsloser aus, gleichgültiger, als die Siegerin zu verlangen hatte. Da zog sich sein Herz zusammen, er brach jählings in ein rettungsloses, lautes Schluchzen aus – oh Gott, ich kann nicht fort von dir! zog es über ihm hinweg, ohne Halt, fortgezogen, wehrlos, kindlich, erlöschend endlich wie ein schmerzlicher Blick – während er todmüde und erschlafft in die Lampe sah durch seine Finger und den Stoff des Taschentuchs, mit dem er die letzte der plötzlich versiegten Tränen von seinem Gesicht fortnahm.

 

Es war lange Zeit still im Zimmer hinter mir, nachdem mein gnädiger Herr verstummt war. Endlich hörte ich das Fräulein leise aufstehn und an das Fenster gehn, wo ich sie stehen sah, die Hände sacht über den Riegel gefaltet. Wieder nach einer Weile dann drehte sie sich um und fragte:

»Aber nun, Josef, wo steckt denn eigentlich die Jettatura?«

»Das will ich dir sagen«, erwiderte mein Herr und lächelte zauberhaft, »obgleich es gar nicht so leicht ist. Denn siehst du: es handelt sich ja um gar keinen rechten Fall von Jettatura, das heißt von Unheil, um einen Unfall, ein Unglück und dergleichen, sondern um eine ganz feine seelische Erschütterung, die freilich aus einer andern Welt kam, so daß sie zu denen gehört, die wir unheimlich nennen, und hierfür habe ich ja, wie du weißt, eine besondere Anziehungskraft. Und diese bewies sich ja auch, denn Gerhard kam zu mir, trug sein Grauen zu mir. Also: Jettatura war es im Grunde sowenig wie ich Jettatore bin. Nun war aber die Sache die. Ich bin erst seit acht Tagen wieder im Land, auch Gerhard ists erst seit Monaten, wir beide haben uns seit Jahren nicht gesehn. Nun aber heut abend, Minuten nach dem Augenblick, wo wir ihn in meiner Darstellung verließen und wo er nun, immer noch ratlos, wenn auch nur mit der Vernunft, nach jemand suchte, um sich auszusprechen, sich sprechen zu hören, wie ein jeder dessen bedarf, nicht um Rat zu holen, sondern um durch sein Sprechen, das ohne Worte noch namenlose, fassungslose, unmögliche, gleichsam imaginäre Geschehnis einzureihen in den Verstand des Tags – da geriet ich ihm ins Gedächtnis, und zwar einfach deshalb, weil er mich heute im Bodega-Restaurant von weitem hatte beim Frühstück gesehn, doch war ich schon aufgestanden, in der Tür und hinaus und verschwunden, bevor er mich recht erkannt und eingeholt hatte.«

»Du, Josef?« fragte das gnädige Fräulein erstaunt, »seit wann frühstückst denn du in der Bodega?«

»Eben«, versetzte er lächelnd, »das ists: ich habe gar nicht in der Bodega gefrühstückt. Ich bins gar nicht gewesen. Es war eine Verwechslung.«

Und wir sahen beide die Bewegung, die er gern machte, mit der flachen Hand von der Stirn über die Nase fest nach unten streichend, bis Daumen und Zeigefinger an ihr fest hingen und sein ganz flach gewordenes Gesicht nach vorn zogen, so daß die Augen fragend und verwundert von unten starrten.

Dann zerfiel aber das so plötzlich, daß ich fast erschrak.

»Bei meinem Dämon!« sagte er, sich langsam erhebend, »wie konnte ich das vergessen?«

Er ging bis zur Tür, besann sich dann, trat zum gnädigen Fräulein und sagte, er müsse sie um Verzeihung bitten, allein es sei unumgänglich, er müsse im Augenblick fort. »Bei meinem Dämon!« sagte er noch einmal heftig und ins Weite drohend mit den Augen, »wenn Gerhard ihn auch nicht mehr erwischt hat, so werd ich es doch tun!« Sprachs, küßte dem gnädigen Fräulein Hand und Stirn, nickte mir zu und war hinaus.

Ich aber, der das furchtbarste Geheimnis zu ahnen glaubte, noch zaudernd, ob ich ihm nach solle, in tausend Ängsten – ihre Gründe, den Doppelgänger, kennt der Leser ja längst –, ich sprang dann doch auf, meinen Stuhl vom Schreibtisch zurückstoßend. Schon indem ich merkte, daß ich an etwas hinter mir gestoßen hatte, hörte ich einen leisen Aufschrei des gnädigen Fräuleins und sah, herumfahrend, das Tischchen hinter mir wanken und – es war zu spät zum Zuspringen! – die schöne, große, schneeweiße Nautilusmuschel – ein Geschenk meines gnädigen Herrn – umkippen, fallen über den Rand und zerschellen.

Betrübt und schuldig half ich dem gnädigen Fräulein die Scherben aufzulesen. Einmal sah sie auf und murmelte scheu: »Die Jettatrice, Li – es hat doch nichts genützt!«

Ich war freilich schon mit den Gedanken bei meinem gnädigen Herrn, dem zu folgen es nun zu spät geworden war, denn wenn er es eilig hatte, sah ich ihn noch jedesmal entfliegen wie einen Schatten. Immerhin – meine Befürchtungen waren grundlos, wie sich später herausstellte; grundlos ach nur für diesen Tag!


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