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Erasmus

Vieles Erstaunliche – nichts aber ist
Erstaunlicheres als der Mensch.

Sophokles.

 

1

Einige Erklärungen, die ich so kurz wie möglich zu fassen mich bemühen werde, sind an dieser Stelle unumgänglich.

Seltsame und kaum zu erwartende Begebnisse in einem Pastorenhause. –

Wir kamen – Erasmus, der in Marburg zu mir stieß, und ich – am Nachmittag in B. an, von wo wir das Kirchdorf in einer kleinen Gehstunde erreichen sollten.

In der Nähe des mittelrheinischen Städtchens B. lebte Herrn von Montfort senior ein Bruder, der dort Pfarrer eines größeren Kirchspiels war, aber schon in jungen Jahren sich durch seine Heirat mit einer zwar liebreizenden, doch vermögenslosen Dame den Groll seines Vaters zugezogen hatte, dergestalt daß der eisenherzige alte Mann ihn für tot ansah und befahl, daß er seinem Hause fortan dafür gelte. Infolgedessen hat mein Herr Baron selber kaum gewußt, daß er einen Onkel hatte – bis zum Hintritt seines Großvaters, wo er – der Oheim – zur Beisetzung erschien, und das war wenig über anderthalb Jahr vor den im folgenden beschriebenen Vorkommnissen, d. h. vor dem Tode des Oheims selbst, zu dessen Beerdigung mein gnädiger Herr reiste. Derselbe stand damals im siebenundzwanzigsten Jahr seines Lebens, an Aussehen jedoch einem fünf bis zehn Jahre Älteren gleich. Li.]

Es wurde ein schöner Gang. Die spätmärzliche Luft atmete vielfach umher, lau und gefeuchtet; auf der lehmig festen Straße standen noch Lachen vom Nachtregen, in denen Weißes und Blaues vom Himmel sich spiegelte. Dort oben war die jugendliche Sonne des Jahres rüstig am Werk, noch vor Abend die grauweißen Eiswälle des Gewölks fortzutilgen, die nun schon, weithin sichtbar nach allen Seiten, überall durchbrochen, davonjagten in voller Flucht. Mächtige Bläuen schwebten segelnd und großherzig dazwischen; die Sonne kämpfte rastlos. Strahlen vergoldeten das grüne Land in der Tiefe überall, und es dampfte. Unsern Weg entlang – Alleen weiß blühender Kirschbäume – schloß sich Obstgarten an Obstgarten. Das waren ganze fremdländische Stadtsiedlungen niedriger weißer oder rosig behauchter Kuppeln, Städte von zartester Zartheit, Leisheit, Empfindlichkeit. Zwischen ihnen, kräftig und derbe, lagen Wiesenstücke und einzeln die wirklichen Häuser, in deren Blumenvorgärten die großen Silberkugeln den Himmel zeigten, andere im Sonnenfeuer lohten und blitzten, und darunter blühten Aurikeln und Narzissen, standen Tulpenreihn grade in papierner Buntheit um die Beetränder. – »Ach Gott«, sagte ich zu Erasmus, »man muß zu anderer Zeit sterben!« – Und wir beklagten den toten Mann, dessen wir uns vom Begräbnis des Großvaters her wohltuend erinnerten. Wie er damals unerwartet erschien: weißhaarig und bärtig, unter der mildesten Stirn, die ich sah, Augen von eisklarem Blau, tief leuchtend, mit dem durchbohrenden Blicke der Wahrheit, Lippen umspielt vom ruhigen Lächeln des Weisen: so hätte er uns hier grüßen sollen vom Zaun eines dieser freundlichen Gärten, Freund der Fluren, von dem es heißt:

Dann sieht man zwischen Reben ihn mit Basten
Die losen binden an die starken Schäfte,
Die harten grünen Herlinge betasten
Und brechen einer Ranke Überkräfte.

Er schüttelt dann, ob er dem Wetter trutze,
Den jungen Baum und mißt der Wolken Schieben.
Er gibt dem Liebling einen Pfahl zum Schutze
Und lächelt ihm, dem erste Früchte trieben.

Im Dorf, das sich allgemach an der Straße entwickelte, wars um so stiller, als die ganze Bewohnerschaft im Freien, in ihren Gärten oder vor den Türen war, schwarz gekleidete Männer und Frauen in Gruppen überall, leise miteinander sprechend, über ihre Heckenzäune hinweg oder auf den Türsteinen, und auf Bänken und Treppenstufen saßen die reinlichen Kinder, verstummt, großäugig nur nach uns blickend. Schön, wie hier vom Wesen des Toten die letzten Flämmchen verflackerten, von bekümmerten Händen beschirmt. Die Hauskatzen, die sich in sonnigen Flecken an Mauern putzten, schienen sich unbehaglich zu fühlen, obwohl sie sich unbesorgt stellten. Der Lehrer, vor der Schulhaustür in einem Kreise von Männern, barhaupt, kenntlich an seiner überhohen Stirn, ein Mann in den dreißiger Jahren, den wir nach dem Wege zum Pfarrhause fragten, brachte die allgemeine Kümmernis mit wahrer Ergriffenheit zum Ausdruck. »Ein Mann«, sagte er, »wie es keinen zweiten gibt. Unser aller Vater und lieber Freund.« Er schloß sich uns an, augenscheinlich gesprächsbedürftig, und begann alsbald uns auf eigentümliche Dinge vorzubereiten, die wir sehen würden, über die er weiter nicht mit der Sprache heraus wollte. Plötzlich hatten wir dann, um die Ecke in eine Seitengasse geführt, die reizvollste kleine Barockkirche vor Augen, durch deren den Turmhelm tragenden Säulenkranz Himmel und Wolken sich bewegten, und leise wankten die Säulen.

Die Kirche lag ein wenig erhöht, vom Friedhof umgeben, den eine niedrige, leuchtend gelb getünchte Mauer umschloß; darüber blitzte von vielen Stellen her die Vergoldung schöner altertümlicher Grabzeichen aus schmiedeeisernem Arabeskenwerk um ihr Kruzifix unter bogenförmigem Dach, und manche hatten mit starkem Blau übermalte Schilde. Zur Linken, um die Kirchhofsmauer im Bogen, führte eine alte Kastanienallee, blühend übersternt mit weißen und roten Kerzen, zum Pfarrhaus, von dem eine Seitenwand mit zwei Fenstern übereinander sichtbar war: ein zweistöckiger, warm gelb getünchter Bau von schlichtem Barock, wie ich hernach sah.

Auf die Einladung des Lehrers, uns die Grabstelle zu zeigen, gingen wir zwischen den gleich Betten säuberlich bereiteten Gräbern voller Blumen hindurch: allein das für den neuen Kömmling bestimmte Grab zeigte naturgemäß keinen andern als den unbehaglich gähnenden Ausdruck aller dieser Löcher aus gelbem Sand.

Dafür hatten wir von ihm aus über eine nahe kleine Gittertür hinweg einen anmutigen Blick: im Ausschnitt einer wohl hundert Schritt langen Allee noch unbegrünter kleiner Kugellinden, deren Stämme durch beinah mannshohe grüne Hecken verbunden waren, das schmale Portal über drei Stufen mit sandsteinernen Bogenstücken überm Sims; darüber den leise vergoldeten Korb des Balkons vor der oberen Glastür, und endlich das gebrochene schwarzbraune Dach, auf welches eine große und schöne schneeweiße Wolke aus dem ganz reinen Blau sich eben so anmutig niedergesenkt hatte, daß der Lehrer davon berührt wurde und zu sprechen begann in einem zierlichen Vergleich mit einem Schrein oder Schiff, das sich auftun möchte, eine kleine Schar singender und musizierender Engel zu zeigen. Er fuhr fort mit gedämpfter Stimme.

»Sie« – seine Dorfleute meinend – »glauben, daß er mit solcher Liebe an der Erde hing, daß er sich nun nicht losmachen kann; und sie würden gewiß nicht erstaunen, wenn solch ein Wunder sich zeigte, daß er mit himmlischen Instrumenten hinaufgelockt würde. Denn« – er lächelte – »wir sind zwar gut lutherisch dahier, aber ganz vergessen ist die alte Lehre doch nicht. Davon zu schweigen, daß das Wunder das liebste Kind jeden Glaubens ist.« Er verstummte, auf das schwärzliche Netzwerk der nächsten Lindenkuppel deutend. Die schwarze Figur einer Amsel saß darin, als sei sie gefangen. »Sie singt nicht«, sagte der Gute. »Alle Sänger sind seit vorgestern verstummt. Freilich –« setzte er verständig hinzu, »viele sind ja noch nicht zurückgekommen, doch haben wir mehrere Meisenarten allein, die überwintern.«

Der Erasmus nickte ernsthaft. In Naturwissenschaft ist er mir mit dem Lehrer weit voraus, und so mag er lange bemerkt haben, was mir entging. Auch zeigte alles sich so frisch, luftig, österlich! Noch, als wir den Lindengang hinab und vor dem Hausportal waren, mußte ich mich künstlich vorbereiten auf Tod und Totes. Allein – was war nun das, was wir fanden im Haus?

Der Papa trat uns im Hausflur entgegen, verweint, aber doch mehr bedrückt aussehend als schmerzlich, grüßte uns leise und führte uns durch ein großes und mit weißen Abgüssen von Büsten und Figuren zwischen den Bücherregalen feierlich heiteres Arbeitszimmer in ein um so einfacheres Schlafgemach, wo der Schein zweier Kerzen im verdunkelten Tageslicht wie mit einem Ruck alles deutlich und fest machte – sonderbar genug, wie immer das Kerzenlicht am Tag nicht erhellt, sondern zu verdunkeln scheint. Diese beiden, wächsern und lang in hohen Leuchtern, brannten auf einem durch eine schwarze Decke zum Altar verwandelten Tisch an der Wand; zwischen ihnen das Bibelbuch, blinkend in Goldschnitt, vor einem glatten braunen Kreuz, ohne Heiland, jedoch wie der Tisch mit einer Girlande von Aurikeln und Primeln umwunden. Zur Rechten davor der Sarg zeigte offen sein bettweißes Inneres; der Deckel lag daneben. Links stand das Bett mit dem Toten, von dessen Antlitz mein Vater das Tuch fortnahm.

Aber so hat von allen Toten, die ich zu sehen bekam, noch keiner ausgesehn am dritten Tage des Totseins. Anstatt in der wächsernen Gelbe, zeigte diese Stirn und das Sichtbare der Wangen sich so weiß wie das Haar und der Bart; weiß, durchscheinend, gleich Alabaster, und die Hände waren ganz so. Erschreckend darin waren die zwei Augen: weit offen, gefüllt mit stumpfem Blau, starrten sie nach oben.

Ob sie nicht zu schließen seien, fragte ich nach einer Weile. Der Papa stand weinend und zuckte mit den Achseln. »Wer sagt denn, daß er tot ist?« murmelte er dann erschöpft. Ich fragte: »Der Arzt ...?« Er schüttelte den Kopf und bat uns, ihm zu folgen.

Durch das Arbeitszimmer zurück führte er uns über den Flur und öffnete eine Tür an der Westseite des Hauses. Alle drei standen wir da, geblendet von einem Raum aus Feuer und Gold; einem nicht eben großen quadratischen Zimmer mit, wie ich bald wahrnahm, weißgoldenen Wänden, durch dessen gläserne Gartentür und Fenster die tiefe Sonne in prachtvollem Strome hereinschwoll. Der Raum schien menschenleer; vor seiner einsam lodernden Feierlichkeit befremdete mich der Anblick von uns drei großen und schwarz gekleideten Eindringlingen, und ich sah die beiden andern zögern, hineinzugehn. Nun blickte ich mich um, und ich glaube selten so etwas Liebliches gesehen zu haben wie dies einfache Gemach mit weißer, leise golden getupfter Tapete, wo kleine graue Stahlstiche hingen, und mit goldgelben Möbeln aus den zwanziger Jahren, Schreibsekretär, Vitrine, Kommode und Spiegel. Ein runder Tisch im Kreise der Stühle trug einen Kristallkelch mit einigen Narzissen; er stand vor dem Sofa an der Wand, das mit einem erdbeerfarbenen Damaststoff bespannt war, und dessen eines Ende verdeckt war von dem einzigen Düsteren im Raum, einem schwarzen japanischen Wandschirm mit eingestickten silbernen Bambusrohren und dergleichen, auch er, wie alles umher, von der Verzauberung des Lichts mit glühendem Rot überzogen. Fee oder Göttin, dachte ich, was für ein Wesen mag das sein, dem dieser Feuerschrein als Behausung dient? – Und noch während ich den Papa auf Zehen durch den Raum gehen sah, besann ich mich vergebens auf Gestalt und Züge einer flüchtig gesehenen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen mit Namen Renate.

Indem rückte mein Vater den Wandschirm überseite und enthüllte die sitzende, gleich rosenhaft überflossene Gestalt eines schönen, anscheinend blonden Mädchens in weißem Kleid, das uns aus groß offenen, hyazinthblauen Augen so gläsern anstarrte, als wärs eine Puppe. Den Erasmus sah ich zurückfahren. Es war freilich gespenstisch, sie ebenso hinter dem Wandschirm gesessen haben zu denken, wie sie nun fortfuhr, ohne Bewegung, ohne Blick.

»Aber sie ist nicht tot?« hörte ich die Stimme meines Bruders sehr tief. Mein Vater verneinte stumm. Wir traten näher.

Sie war schön. Untadelhaft schön. Schöner vielleicht als alles. Die Starrheit der Augen beeinträchtigte die Umgebung. Das Haar, nicht blond, sondern von einem mir unbekannten hellen Braun, war, in der Mitte gescheitelt, so um die hohe Stirn gelegt, daß sie ganz frei blieb, dann tief nach unten gezogen, wie man es auf Bildern der vierziger Jahre sieht, und der Adel und die Reinheit dieses Giebels von Alabaster war ergreifend. Das ganze schmale Gesicht war schneeweiß und durchscheinend klar wie des Toten; ebenfalls das Paar der Hände und bloßen Unterarme, und ich hatte so sehr den Eindruck des aus allen Gliedern zum Herzen hineingesogenen Blutes, daß es mir dort innen erschien wie ein Glasgefäß, herzförmig, blutrot gefüllt; in einer Figur aus gesponnenem Glase.

Ich rührte eine von diesen Händen an; eiskalt und steif; kaum zu bewegen.

»Was ist mit ihr?« fragte ich. Allein statt einer Antwort vom Vater hörte ich das leise Klirren der Glastür und sah ihn ins Freie treten. Als ich mich nach Erasmus umwandte, stand er, die Hände auf die Tischplatte vor sich gestützt, übergebeugt, die Sitzende so starr anblickend wie sie ihn, ohne meiner zu achten.

Meinem Vater nachgehend, sah ich ihn jetzt so hübsch in dem Garten stehn, auf einem bewegten Grund weiß getünchter, weißwolkiger Obstbäume, blühende Zweige zu Häupten, zwischen Tulpenrabatten, etwas schief haltend wie zumeist den von der Abendglut noch rosiger als gewöhnlich gefärbten Kopf, seine goldene Brille putzend mit dem Taschentuch – so hübsch wie gesagt, so lebendig, daß ich ihm ernsthaft wünschte, als Pfarrer hierherzugehören, anstatt den Fabrikherrn spielen zu müssen, was ihm doch nie recht gelang. (Es geht ja bergab mit uns, alter Papa, merkst du es nicht?)

Ich begab mich hinaus zu ihm und wiederholte meine letzte Frage:

»Was ist mit dem Mädchen?«

Er sagte: »Seit ihr Vater tot ist, ist sie so. Er starb – der Arzt sagte, daß er starb; wir waren beide zugegen – er starb unerwartet gegen Morgen. Ich wollte sie rufen, als er noch atmete; da saß sie schon fast wie jetzt, nur furchtbar keuchend, sonst starr. Ich mußte sie verlassen. Seitdem haben beide sich nicht verändert. Nun schon den dritten Tag. Und«, er stockte, »ich fürchte mich, ihn zu begraben.«

Ob er glaube, fragte ich, daß da Zusammenhang sei zwischen der Lebenden und dem Toten? Und ich wiederholte ihm die Worte des Lehrers vom Nichtfortkönnen des Toten.

»Muß mans nicht glauben?« murmelte er gedankenlos, ich weiß nicht auf welchen meiner Sätze als Antwort.

»Der Arzt?«

Sei ratlos wie er selber.

Das Verhältnis, meinte ich, von Vater und Tochter sei zweifellos sehr innig gewesen.

»Das innigste!« Nun wurde er beredt. »Sie lebten jeder nur dem andern und durch den andern. Ihre Mutter starb ja, als sie zwei Jahre alt war. Mein Vater hatte ihn verstoßen. All das mußte sie ihm sein. Wenn du im Dorf fragst, wirst du Wunder erzählen hören von dem Mädchen, seiner Schönheit und seiner Klugheit, seiner Lieblichkeit, Güte und Würde. Er war einer der tiefsten Menschen, und sie wuchs ganz aus seinem Erdreich, in seiner Luft. Die Leute sagen: sie war sein lebendiger Segen unter uns. Ich hörte sie die Orgel spielen, kurz vor seinem Tod. Stelle sie dir vor – eine andre Cäcilie.«

»Vermutlich also«, fragte ich in plötzlicher Eingebung, »spielte auch dein Bruder die Orgel?«

Er nickte.

»So muß man«, sagte ich, »die Orgel spielen, um sie aufzuwecken.«

Er sah mich verwundert an. Das sei ein Gedanke, meinte er; wie ich darauf komme?

»Ich bekam nur die Eingebung. Wenn Musik einmal Kraft hat, Herzen zu bewegen, warum nicht erstarrte?«

»Willst du spielen?« fragte er nach einer Weile.

»Leider«, mußte ich bekennen, »ist mir die Orgel ganz fremd. Es müßte auch ein Stück sein, das der Tote kennt, ein Lieblingsstück vielleicht, und ich lese, wie du weißt, keine Noten.«

Damit schlug ich den Lehrer vor, der wahrscheinlich Organist an der Kirche sei.

Ich hatte mich aber noch kaum zur Türe zurückgewandt, so ereignete sich das Seltsame, daß die Orgel ertönte. Klar auftretende, langgezogene Töne kamen herüber, andre Stimmen mischten sich präludierend herein, noch leise; dann mit plötzlich erschreckendem Brausen und voller Macht breitete sich der Gesang Bachs »Mein gläubiges Herze, frohlocke, sing, scherze!« wundervoll, jubelnd in die Lüfte. – Später erfuhr ich dann, daß der Lehrer, dem es eingefallen war, das »Leibstück des Seligen«, wie er sagte, zu spielen, es freilich nicht aus unserm Gedanken heraus, sondern schlicht aus seiner und aller Bedrängnis gespielt hatte.

Als mein Vater und ich in die Tür traten, hatten wir die befremdliche Erscheinung, in der rechten Ecke des Sofas uns gegenüber – in der linken saß das Mädchen – den Erasmus sitzen zu sehn; den Arm auf der Rücklehne, seitwärts und zu ihr gewandt, saß er still und wie sie unbeweglich.

Aber keine Wirkung des Orgelspiels ergab sich; nicht die geringste.

Ich weiß eigentlich nicht, warum das so war? Wenn es wahr war, daß diese beiden einander so verhaftet waren im Leben, daß sie sich nicht losreißen konnten; daß nun die Lebendige hier angeschlossen war an die Erstarrtheit des Todes, und der Tote angeschlossen ans innere Feuer des Lebens, zu einem grausamen Gleichgewicht beide des Nichtsterbenkönnens und Nichtlebens – so mußte es einen Weg geben, das magische Band zu zerreißen. Magische Bande sind stark, aber zart, und allzu zart immer gegen das Hiesige.

War die Erstarrung so tief? War sie ganz taub für die Welt? Sie blieb unverändert.

Es dunkelte derweil. Der Choral »Nun ruhen alle Wälder« legte sich wie ein dunklerer Strom über das schon versinkende Licht, und als er verstummte, hatte die schweigsame Welt sich geteilt in weite, leuchtendere Klarheit oben, in verschattete Enge unten, wo mit bleicherem Weiß nur die blühenden Kuppeln noch das Licht festhielten.

So ist es nun. Die Nacht kam; ich übernahm für den erschöpften Papa die Wache beim Toten und schreibe in mein Buch, das ich durch Lis vorahnende Aufmerksamkeit im Koffer fand. Wo ist Erasmus? Ein drittes Mal war ich eben an der Tür von Renates Zimmer, und nach wie vor fand ich ihn in der Ecke des Sofas, ruhig scheinbar, sitzend mit untergeschlagenen Armen, ihr zugewandt, die dasitzt unverändert, eine lebensgroße Puppe, starräugig im Dunkel.

Geheimnisvolle Vorgänge fördern das Geheimnisvolle zutage. Doch war mir stets klar, daß in diesem riesigen und etwas ungeschlachten Leib sehr zarte Kräfte daheim seien. Und so wie andre die feine Dryas das Blattwerk der Eiche haben zerteilen sehn, so konnte ich wohl im Nachtdunkel über seine Schulter geneigt das erschimmernde Haupt jenes Rätselhaften gewahren, dem es einmal sich loszumachen gelang und seine Kraft zu gebrauchen.

 

Die dritte Nacht unseres Hierseins, die fünfte seit dem Tode des alten Mannes. Es ist nichts verändert. Wir haben ihn nicht begraben. Selbst, wenn ich nicht an einen Zusammenhang der zwei Menschen glaubte, dessen gewaltsames Zerreißen dem lebendigen Teil überaus schädlich sein könnte, würde ich nicht dazu raten, einen Menschen unter die Erde zu bringen, bevor er deutliche Zeichen des Verstorbenseins, der Verwesung von sich gab. Die Luft aber in diesem Haus – sie kommt mir fast reiner als anderswo vor. Seitdem ich es weiß, empfinde ich lebhaft das Verstummtsein der redebegabten Natur, und ich habe Stunden damit verbracht, in der Nähe des Hauses Spatzen und Meisen zu beobachten, die keinen Laut hören lassen. Äußerst selten einmal ein schwaches Zirpen, das augenblicks erstirbt; sonst nichts. Ärzte, die wir riefen, kamen und gingen kopfschüttelnd: wer den Toten sah, sprach vom Mittel des Aderöffnens; hatte er danach auch das Mädchen beobachtet, so hüllte er sich in Schweigen. Der Papa ist am Rande seiner Kraft, ich selber bin ungewöhnlich erregt. Dies dauert bedenklich lange; kein Ende ist abzusehn – bei meinem Dämon! ist das Liebe, was dergestalt Lebendes und Totes zusammenschmolz, oder ist es nur Blut? Und wenn ich mich hineindenke: Allmächtige Dinge und andrerseits so viel Ohnmacht? Dann: wie schauerlich dieser Kampf der zwei Kräfte, von denen keine die Oberhand gewinnt, und man glaubt sie keuchen zu hören durch die ewige Stille: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Und wo ist hier Jakob, wo der Engel? Wie lange die Nacht solchen Ringens? Wie lang zum Hades, Psyche, dein Weg?

Und nun dazu: emsig, emsig die dritte Kraft bei ihrer Arbeit zu wissen, die sich hineingraben will in den Gneis. Erasmus, seltsamer Geist, der sich augenblicks, so bereit, als habe er nichts andres im Sinne gehabt, in diese Aufgabe verfing – davon zu schweigen, daß kein andrer vielleicht sie gesehen hätte. Solang wir hier sind, während mein Vater hilflos seinen Gestorbnen betrachtet, ich mich in der Landschaft herumtrieb, mit den Dorfleuten sprach – die übrigens gar nicht so verstört scheinen, sondern viel mehr als verstünden sie sehr gut, was hier vorgeht –, oder ruderte auf dem Rhein, der in einer Biegung halbstundenweit dem Dorf nahe kommt – tagein und tagaus, nachtein und nachtaus weicht er nicht von dem Fleck, den er besetzte. Wann er schläft, kann ich nicht sagen. Speise nahm er erst keine; später, als wir Milch und Weißbrot neben ihn stellten, merkten wir nach einiger Zeit und in Pausen einige Verminderung und konnten es auch erneuern. Der Wille, sagt man, tut Wunder. Und der seine, geschult seit immer, wie ich glaube daß er ist, muß ihm folgsamer zu Dienst sein als jedem andern. Möchte es ihm dann gelingen, diese reine Seele in die seine hinüber –

 

Ich wurde unterbrochen. Erasmus kam ins Sterbezimmer, wo ich schreibend saß, augenscheinlich auf der Suche nach mir, denn er erklärte – ganz ruhig übrigens, beinah sanft –, er verlasse das Haus für eine Weile und würde mich später um etwas zu bitten haben. Noch keine Stunde hatte ich neben der Puppe gesessen, als er zurückkam. Übrigens fällt mir ein, daß ich versuchte, ihre Lider zu schließen, was jedoch mißlang, dann, sie zu legen, aber ihre Glieder waren eingesteift in die sitzende Haltung. Außerordentlich überraschte mich ihre Leichtheit; das Gewicht lebendiger Frauen von ihrer Größe – die über die mittlere weibliche hinauszugehen scheint – ist mir bekannt, und diese wog wie ein Kind.

Erasmus also kehrte zurück, eine Decke in der Hand, in die er das Wesen hüllte, worauf er sie auf die Arme nahm und mich aufforderte, mit ihm zu kommen.

Die Nacht war sehr kühl, sternlos, windig und feucht; vollkommen dunkel. Erasmus mußte die Wege in der Gegend von seinem früheren Besuche her kennen, denn er ging mit vollkommener Sicherheit durch das Finster, kaum einmal strauchelnd im aufgeweichten Boden. Da meine Augen die Gabe haben, besser als andere im Dunkel zu sehn, erkannte ich bald den Weg, der durch die Weingärten zum Rhein führen würde. Erstaunliche Einfälle, bei Gott, hat dieser Mensch! Physik oder Metaphysik, welche von beiden, dacht ich, hat ihn auf diesen Gedanken gebracht, denn ich will nicht mehr Montfort heißen, wenn er nicht vorhat, das starre Geschöpf in den Rhein zu tauchen. Sie ist aus diesem Boden gewachsen, der Gedanke ist vernünftig, die Natur hat unbekannte Kräfte, Verbindungen, Zauber – wahrhaftig, er hat recht, man muß sie in den Strom versenken, und was auch die Folge sein wird, Tod oder Leben, das unnatürliche Band wird zerreißen, und wenn er Glück hat, so gelingt es ihm, ihre Seele feurig aus dem Gewässer zu heben, wo er ein eisiges Bildnis versenkte. So dacht ich und fühlte das Kostbare der vom Rhein herüber hauchenden Luft von fast feuriger Kälte; reinem Odem der Erde und so ungebraucht, daß ich mich zurückversetzt fühlte in der Zeit um Jahrhunderte. Dann ward es lebendig umher. Nacht, in der noch Götter waren. Kein Laut, aber hörbar Bewegung jenseitigen Lebens; das gewaltige Reiten der riesigen Fremdlinge auf Wildnistieren, Rollen von Wagen, hastiges Laufen, Gespräch. Hatten nicht die Götter von drei Reichen nacheinander diese Stromgegend erobert, römische, barbarische, christliche Welt hier gewechselt? Nächtlicher Postenruf der lagernden Legion, barbarische Hörner, leiser Glockenruf der Mitternachtsmette – das schwamm noch im uralten Wind; und der herüber aus Attika gekommen war, der feurige Gott, zeigte am mächtigen Himmel den Schein seines bleichen Gesichts, und aus dem unsichtbaren Rebgeländ, dessen ersten Steckling er gepflanzt, befreite sich ein Seufzen.

Wir kamen ans hohe Ufer, das uns für Minuten der Mond, ein kaltes Halbgesicht im Gewölk, sehen ließ, dazu in der Tiefe die ruhig nachthin strömende Fläche, rastlos erfüllt von einem andern als dem Geiste der Feste – zu der eine schmale Treppe zwischen den Rebstöcken hinunterführte. Der Schattenriß eines langen Kahns war dort unten. Die kahlen Ufer, hügelig im verfahlten Licht, erschienen öde. Mein Bruder senkte seine Last auf den Boden des Nachens und legte sie, wie sie liegen konnte, seitwärts, worauf er zwei lange Stangen aufnahm und mir eine gab mit dem Bemerken, hier sei es zu tief für ihn, aber weiter unten im Strome eine Furt. – Weshalb er schon jetzt seine Kleider abwarf und am Ufer niederlegte, erklärte er mir noch, indem er mich bat, falls das Mädchen zu sich kommen sollte, allein mit ihr ans Ufer zu fahren und ihn zu erwarten, der zu Fuß zu seinen Kleidern zurückgehen würde.

Im Fahren hatte ich dann meine Freude an seiner heroischen nackten Gestalt, die in der Spitze des Kahns mit erhobenen Armen gleichmäßig einmal über das andre die Stange ins dunkle Gewässer senkte und wieder heraufholte. Wir stießen den Kahn in die Strömung und konnten ihn treiben lassen. Wir fuhren lautlos und rasch; kaum vernehmbar, von den Ufern her, rauschte das Wasser. Einige Minuten später hörte ich den Kiel auf Steinen knirschen; wir saßen fest. Erasmus sprang in die Flut und watete zum Ende des Kahns, wo sie bereits seine Hüfte überstieg; ich hob die Scheintote aus ihrer Decke, legte sie in seine Arme, sah ihn tiefer ins Dunkle watend versinken und sie mit ihm. Als nur noch ihr Haupt, bleich und wie steinern, die Fläche überragte, schienen mir anderthalb Jahrtausende noch nicht gewesen zu sein. Der Rhein floß durch römische Provinz; wir senkten geheim ein Götterbild in den Strom, letzter Schutz vor den Eifernden einer neuen Lehre.

Erasmus dauerte aus. Mir fielen die Augen zu, geschläfert vom einförmigen Gurgeln des Flusses, der lauter und lauter zu rauschen begann. Dann hörte ich die Arbeit des Gewaltigen durch die Jahrtausende, die den Schiefer benagte, furchtbar rastlos. Die Einsamkeit wuchs überm Strom. Es war kalt. Aber in einem Halbjahr würden diese jetzt kahlen Hügel überschüttet sein mit den süßen Gefäßen des Feuers, eine einzige Glut alles überwogt haben, brennend vom ausgeschütteten Pfeilhagel einer unerschöpflichen Sonne. Und hier bei mir im Strom – bei halbgeöffneten Augen sah ich im Zenit der Nacht quellendes Licht, Wolkenumrisse, und jetzt in meiner Tiefe dunkel die Fläche des Stroms, glänzend darin eine Mannsschulter, nackt, ein dunkleres Haupt, und daneben das Alabastergesicht über dem Wasser. Ganz mächtig im Eisigen dieser Flut spürte ich da die lebendige Glut seines Leibes, seiner Seele, und so tief, daß es mich schauderte meiner Kühle. Rufe die Götter, dacht ich, Pygmalion! Ich ward neidisch.

Ich fuhr auf, da etwas vor mir niedergelegt wurde – der schöne, leblose Leib in triefenden Kleidern, und Erasmus, erschöpft, übergeneigt aus dem Wasser, die Fäuste im Kahn aufgestützt, keuchte etwas wie, daß er sie in Blut baden möchte.

In Blut. Er meinte das seine und starrte mich böse an, als ich sagte, daß man vor einigen tausend Jahren ein jugendliches Roß oder jungfräuliches Rind geopfert haben würde. Die Unselige dauerte mich wahrhaftig, und dieser Blutgedanke ließ mich lange nicht los, während wir uns stromauf stakten. Alle Zauber wohnen allein in dem Blut. Ein mittelalterlicher Quacksalber würde ihr längst eine Ader geschlagen haben und womöglich das Rechte getroffen.

In der Haustür empfing uns die alte Dienerin, die von Erasmus verständigt sein mußte, denn sie ging uns wortlos voran bis in ein kleines weißes Schlafzimmer, wo sie Licht, Decken und Tücher bereit hatte, und wo wir sie mit der Leblosen auf ihrem Bett allein ließen. Erasmus frottierte sich warm, legte sich und schlief alsbald ein; weniger abgemattet als er und heftiger erregt, machte ich mich ans Schreiben. Eben ist die Sonne am Aufgehn.

 

Fünfter (oder siebenter) Abend. Mein Vater entschloß sich, das Begräbnis für morgen anzusetzen. Die ganze Umgegend ist in Aufruhr, die Leute strömen in Scharen herbei, es kostet Mühe, sie vom Zimmer Renates fernzuhalten, wo unveränderlich, wie ich ihn fand am Vormittag nach jener Nacht, Erasmus ihr gegenüber sitzt und sie anglüht rastlos mit brennenden Augen der Seele. Dieser Mensch macht mich staunen mit seiner Leidenschaft. Wenn er seine Seele aushauchen könnte als eine Glutwolke um die Erstarrte, so würde ers tun. Armer Pygmalion, wenn sie wirklich erwacht und ist dann nur ein Mensch, der nichts weiß und nichts ahnt, was dann?

Gleichfalls unwandelbar der Tote auf seinem Bett, unverwesend. Neben dem sitzt sein Bruder, unselig, verfallen und hilflos. Ich greife mir an den Kopf und frage, woher das Ende kommen soll?

Und da ist es, das Ende.

Preis und Ehre dem Siegreichen! Ja, alle Ehrfurcht, mein Bruder, vor dir, ich hatte das nicht von dir gedacht, und sei überzeugt, ich werde es dir nicht vergessen!

Schlafen gegangen nach Mitternacht, erwachte ich vom dumpfen Laut eines Falles und sah, daß die Sonne noch über den Rand der Erde nicht herauf sein konnte. Das seltsame Luftgrau des Morgens. Ich lausche, höre Bewegung unter mir im Zimmer des Toten, wo mein Vater auf einem Diwan schläft, springe aus dem Bett, eile treppab und treffe im Flur mit dem Vater zusammen. Wir öffnen die Tür; vor uns, fast daß wir über ihn strauchelten, liegt ein riesiger Körper, Erasmus. Und das Mädchen, Renate? Es ist hell genug, daß wir sehen können: sie sitzt dort, aber nicht wie bisher. Ihr Kopf ist vornüber geneigt, die Schläfe liegt am Polster der Lehne, wir treten hin zu ihr,, da hören wir schon, daß sie atmet. Sie schläft. Ihre Hände, ihr Gesicht waren heiß, ihre Wangen glühten, kleine Perlen standen in der Nähe des Haars. Als die Sonne da war, konnten wir sehen, wie die Wangen gerötet waren: ein ganz helles, scharlachnes Rot, zart wie Morgenhimmel und so unschuldig wie eines schlafenden Kindes.

Auf die Bitte meines Vaters hin hob ich sie auf und trug sie zu ihrem Bett, ohne daß sie erwacht wäre. Ihre Glieder waren sehr weich; sie war wieder schwer.

Dann, mit einiger Mühe, gelang es uns, den Erasmus zu wecken, der beim Fortgehn dort zusammengefallen sein mußte, und ihn mit vereinten Kräften treppauf und zu seinem Bette zu schleppen, wo er hinfiel und schlief. Später am Tag sah ich ihn dort. Auch sein Gesicht glühte, erschöpft, schweißbedeckt, gemagert, aber umlodert von solchem Adel, daß ich mich abwandte.

Der Tote aber verfiel so schnell, daß wir nicht genug eilen konnten, ihn einzusargen. Schön war noch dies: Wie jeden Morgen war der wackre Lehrer der erste, der anzufragen kam. Nachdem er die Schlafende gesehn, entfernte er sich eilig, und Minuten später hörten wir die Orgel überlaut Te deum laudamus brausen. In die Haustür tretend, sahn wir den Heckengang unter den Linden von der Kirche bis nahe ans Haus gefüllt von knieendem Volk. Mein alter Vater winkte ihnen mit den Händen und weinte erschöpft auf; da brachen sie alle in Schluchzen aus, das die Orgel übertönte. Galatea, dacht ich verwundert, alte Legenden stehn auf! und mir fiel ein, daß es gut sein möchte, wenn der löwenhafte Zerreißer jenes Bandes auch in sich selber die alte Kette zerrissen hätte, die ihn so lang als gefesselten Sklaven zwischen uns herumgehen ließ. Siehe da, der Sklave war stärker als alle!

Möglich, daß ich dir eine Gefälligkeit erweise, indem ich mit dem Mittagszug fahre, guter Erasmus, und ich werde es jedenfalls tun. Möge sie hinter mir erwachen, und mit ihr die Üblichkeit des alltäglichen Tages. Langsam wird dann das Ganze wieder bürgerlich, und mich soll es nicht wundern, wenn in einigen Wochen – allein warum nach Quitten spähn, wo so mystisch die Baumblüte duftet?

 

2

Eindreiviertel Jahr nach dem Vorhergehenden geschrieben. Li.

In neun Monaten reift ein ganzer Mensch zum Dasein heran. Kein Cäsar und kein Christus, kein Buddha und kein Napoleon brauchte nur eine Stunde länger dazu. Sollten neun Monate nicht genug sein, ein Schicksal ins Leben zu reifen?

Ich aber sitze nach neun Monaten endlich bloß in einem Erdrutsch schlafloser Nächte, lese zum Zeitvertreib das siebente Mal die rheinische Legende vom neuen Pygmalion und die Schlußprophezeiung an denselben, möchte lachen und kanns nicht.

Neun Monde im Tollhaus, oder ist es dort anders? Neun Monde jetzt geht das allmächtige Geschöpf herum in Garten und Haus, macht alles freudevoll umher, thront vor der Orgel in der Gartenkapelle, die ein beglückter alter Mann ihr erbaute, und – und?

Weißt du nun, alter Josef, was Liebe ist? Wissen, nein, aber ahnen, ahnen tust du es doch, und nach dreißig Jahren ganz nah ahnen kannst du, nach tausendunddrei Leidenschaften, Trunkenheiten, Spielen, Überdrüssigkeiten, sehn über deinem Haupt kannst du das göttliche Schwert, dessen Streich dich in Feuer setzte wie eine Fackel. Sagt, ist es Liebe, was hier so brennt? Nicht ist es, im geringsten nicht, sondern – was? Ungestüm, Brunst, Irrsinn, elende Berauschtheit, aber es könnte, Mensch, Liebe sein, und was wäre es dann? Furcht wäre es, goldner Schauder, Ohnmacht, Hingerissensein an die Sterne, Furcht und Furcht immer wieder. Wenn es aber Furcht ist und Schauder schon jetzt, so ists nur der eine, daß ich, Mädchen, mich vergreifen könnte an dir, daß ich mich aus der Faust verliere, und daß ich mit einem wütenden Zugriff zerstöre, was ich in der Welt als das Reinste erkannte.

Jettatore, wo bist du? Auf dich kommt es nun an, das ist so klar, wie du trüb. Daß ich dich faßte und herausschüttelte aus dir das verfluchte Geheimnis unsers Verkettetseins, das Geheimnis der Furcht herausrisse aus deinen schmutzigen Klauen, denn du hasts, hast es, und wolle das Gott, daß es innen sitzt dir im Herzen und daß ich es essen kann wie die Frucht von dem Baume des Lebens.

Ah, warst du das Mädchen, keusch und kaum erwachsen, das ich aus dem Wasser herauftauchen sah wie ein Bild? Sind das die hyazinthblauen Augen der steinernen Puppe, die nun im Feuer stehn wie erleuchtete Höhlen voll Götter? Wo denn warst du inzwischen das Jahr? In einer Mädchenpension, heißt es, in Genf. Scheint Sonne auf deine Augen, verwandeln sie sich ins Grün feuriger Almen, und das künstliche Licht macht sie schwarz und voll Sterne. Oh, du Nachdenkliche! Du stehst am Fenster und sinnst, eine Hand an dem Hals, den Ellbogen gestützt in die andre, die Wimpern atmen über deinen Augen, und ich denke: Iphigenie. Den Wuchs gab Diktynna her, Jägerin der Artemis, keuscheste unter den Nymphen, vielleicht auch das seltene Haar. Schwärme, Mensch, schwärme! Diese Stirn – Glanz eines Königreichs geschmolzen in diese Stirn! Diesen Tempel sehn und nicht Herostrat sein und ihn in Flammen setzen? Die Anmut sehn dieses ewigen Leibes und nicht hineinstürzen wie in ein feuriges Inselmeer voller Götter und Tritonen? zu fühlen mit ganzem Leib den Strom des Leibes, dieser Wärme, dies Entzücken der Erde?

Und ich wars nicht, der über den Rand in den Abgrund stieg und das zarte Lamm aus der Spalte zog, sondern der andre, er, der fruchtbar ward wie der heilige Nil. Plötzlich stieg er mit strömenden Armen über alle Dämme, das Leben quoll auf unter ihm, brennend, sonnedampfend. Nun liegt er freilich jahrlang wieder in trockener Ebbe. Unbegreiflichster Mensch! Ich kann verstehen, daß du schweigst und zu schweigen batest; verstehen, daß es dir nur ein plumper Verrat scheinen konnte, dich vor sie hinzustellen und zu sagen: Hier ich! ich bins gewesen! Verstehn, daß du sie lieber ahnungslos wolltest, und verstehn den letzten Ehrgeiz deiner Vereinsamung, der seiner Tat nichts verdanken wollte. – Aber was heißt dies? Jetzt haben wir April, sie kam im August, und wo bliebst du? Bei deiner Arbeit, obwohl du Ferien hattest und behördliche Erlaubnis, dich zu entfernen. Kamst Ende September, schiedest ab im Oktober. Im Erscheinen zwar sittsamer als früher, warst du im übrigen der stumme Lachs wie zuvor. Tauchtest du dazu in den Rhein? Nahmst im Sprunge den höchsten Fall und stehst nun stumm und dumm vor dem nächsten? Oh, Himmel, ich werde satirisch und böse, ist das alles?

Unverwandelt! Lieber Freund, das ist nicht recht! Fruchtbar sein, andre befruchten, das kann ich auch, und ohne mich dessen rühmen zu wollen, habe ich Wonnen und Qualen genug um mich ausgesät, um mich rühmen zu können. Sich selber befruchten, das ists, angeschlossen sein an den ewigen Strom, offen alle Poren, durchleuchtet von Licht, daß jedes Haar deines Leibes eine duftende Blume würde, das heißt fruchtbar sein und ein Entzücken und Frühling der Menschen. Und du bliebst der alte, hölzerne Götz. Wer aber kennt alle Geheimnisse, und wer kennt das Entsetzen Pygmalions, als er leibhaftig sah, was er – vollbrachte oder verbrach? Denn alle sitzen wir da in unsern Dreiecken und Quadraten, mit Grenzen umzirkt, und allein der Gott, der das Erschaffen sich vorbehielt, wird imstande sein, den Anblick des Erschaffenen zu ertragen.

Nun, aber dies sind Deutungen. Wahrscheinlicher ist das ganz Einfache, daß du etwas viel Simpleres nicht ertrugst, nämlich mich zusammen zu sehn mit ihr, unter einem Dach, viel zu stolz, als Rivale aufzutreten, oder unselig womöglich deine hölzerne Ohnmacht verspürend, angesichts meiner. Das täte mir leid. Aber sollte ich deswegen verschwinden? Ich werde verschwinden, jetzt bald, aber nicht eben darum!

Renate, Kind! Du siehst mich ja gerne, ich weiß. Ich weiß aber auch, wen du neben mir siehst und wer dich stört und dich hindert, statt mich zu sehn, mich zu fühlen. Das ist die Kreatur, der Venediger, der Jettatore, und wärs möglich, ich brächte ihn um, und alles würde anders? – Es läuft immer wieder auf ihn hinaus.

Es wird jemand umgebracht werden in diesem Haus, das ohnehin wankt. Der Fallit steht bevor, ich kenne die Bücher, und gestern kam der Erasmus. Der alte Mann ist am Ende, meine Rolle in der Fabrik war nie anders als dekorativ, also muß der immer Unbeachtete heran, zu helfen, wie es Sitte ist unter den Menschen.

Drei Dinge werden bald nur noch möglich sein. Entweder ich töte mich, oder sie, oder ihn. Nein, vier: oder er mich, wenn ich – was? Sie mit Gewalt an mich riß. Wir sind alle drei reif. Besonders aber er und ich. Wir haben uns jeder einen einzigen Blick gezeigt, und in dem war Klinge.

»Hüte dich, Bruder! Hüte dich, Bruder!«

Sie mit Gewalt ... Ah, Schauder, Schauder, letzter, hier bist du zu riechen! Zerstören, das Heilige, Reine, Unsterbliche zer-stö-ren – davor grauts dich, davor, du Narr, überläuft dich die Gänsehaut, und du wirst es nicht können.

Also fort. Die Gelegenheit paßt. Diese bürgerliche Gemeinschaft dahier macht mir todübel, seit Jahren, nun erträgt sichs nicht mehr. Und der Venediger? Höllenhund, wo steckst du, Gelächter? Dreimal in den Jahren erschien er von weit und war fort wie ein Schatten im April, und ich ließ ihn frühstücken in der Bodega, aber nun will ich mich an den Venediger hängen und ihn wie einen Wildesel über die Erde jagen und dann würgen und seine Augen der Fürstin bringen, und es ist wie im Märchen. Auf, spielen wir ein wenig den verlorenen Sohn! Gehn wir, ehe das Dach fällt, dem alten Mann wird das Herz brechen, was hilfts? Oder wir morden uns, ist dir das lieber? Auch – ich muß sagen – zum Sterben ist mirs zu früh.

Eine Woche will ich aushalten. Möglich, sie nimmt ihn. Möglich, ich ertrage es. Oder sie nimmt ihn nicht. Dann gehts dem Venediger an den Kragen. Komme ich aber wieder, und der Erasmus und du, ihr zwei, habt noch kein Gold an den Händen, und der Venediger ist auch noch nicht hin, was dann?

Nun, vielleicht habe ich dann doch inzwischen einen Tiger geschossen und bin zahmer geworden. Auf die Reise, kleiner Li, haben wir nicht fast vergessen, was die Augen des Todes für Farbe haben? Nun, grau oder grün, wir werden jedenfalls zahm davon werden wie die Rehchen, go on!

 

3

Ich, Li, schreibe:

Es war in der zweiten Nacht unsrer Überfahrt nach Amerika, als das Klopfzeichen des gnädigen Herrn mich aus meiner Kabine, neben der seinen, zu ihm berief. Er saß in seinem Bett, als ich eintrat; seine Augen glänzten außergewöhnlich, um nicht zu sagen fieberisch; ich fragte, da er mich wortlos und durchdringend ansah, ob er krank sei, worauf er leicht nickte und mich ersuchte, ein gewisses starkes Schlafmittel, das er nur im äußersten Notfalle zu brauchen pflegte, zu mischen. Danach sagte er, mich wiederum eindringlich, jedoch als sähe er durch mich hindurch, anblickend und mit müdem Ton:

»Die letzte Nacht in Deutschland, du erinnerst dich, Li?«

Ich bejahte erschreckt, da ich mit aller Macht versucht hatte, diese Nacht zu vergessen.

»Da wir«, fuhr er fort, »gelärmt haben wie die Teufel, so wirst du vermutlich alles gehört haben?« – Ich bejahte.

»Schreib es auf, Li!« sagte er, jetzt drohend und deutlich, nur mich im Auge. »Du sollst es aufschreiben, hörst du, und nichts weglassen, bei deiner Seele, was du gehört hast oder gesehn, und wenns zu meinen Ungunsten, ja wenns zu meiner Schande wäre. Du siehst, daß ich nicht schreiben kann« – er machte eine verächtliche Bewegung mit seiner verbundenen Rechten, die vor ihm auf der Bettdecke lag – »also, schreib du, bei meiner Ungnade, jedes Wort, jeden Vorgang. Dazu brauchst du eine Stunde. Danach kommst du mit dem Geschriebenen hierher und – davon später.«

Ich war entlassen. Das Buch, das ich schon beim Eintreten auf seinem Bettrand hatte liegen sehn, nahm ich an mich, ich muß aber gestehn, daß ich den Auftrag des gnädigen Herrn insofern nur schlecht erfüllte, als ich viel mehr Zeit als die eine Stunde, die er mir angesetzt, dazu brauchte, so wenig zu schreiben war, doch sah ich zu meinem Entsetzen bereits eine halbe vergangen, bevor ich nur begonnen hatte. Dies wird der hochgeehrte Herr Leser vielleicht zu würdigen wissen, nachdem er las.

Aber einige notwendige Erklärungen zuvor.

Am Tage vor unserer Abreise hatte ich bereits den Koffer des gnädigen Herrn zur Bahn geschafft. Der Zug sollte um drei Uhr des Morgens gehn. Der gnädige Herr war am Nachmittage und Abend bei einer Hochzeit; ich erwartete ihn mit dem Anzug, mit dem er die Gesellschaftskleidung vertauschen wollte, im Hause einer sehr schönen jungen Dame, die Herr Josef oft zu besuchen pflegte und die ihn, wenn ich so sagen darf, liebte, während seine Gefühle für sie mehr freundschaftlicher Natur waren. In allen Zeiten, die er in seinem Vaterhause verbrachte, wohnte ich bei ihr. Uns beiden hatte Herr Baron gesagt, daß er, wenn überhaupt, erst nach Jahren zurückkehren werde. Ihre Untröstlichkeit läßt sich denken. Ich war sehr ergriffen; die schreckliche Gefaßtheit des armen Fräuleins, die sich für ihr Leben des einzigen Gutes mit plötzlichem Risse beraubt sah, konnte mein Mitgefühl nur erhöhen, ich glaubte, sie trüge den Tod schon am Herzen, jeden Augenblick bereit, ihn hereinzuholen, aber dies – glücklicherweise – war ja nicht der Fall, wie ich nachmals zu meiner unaussprechlichen Freude erfuhr.

Und nun zu meinen Aufzeichnungen.

Kurz vor Mitternacht hörte ich den Wagen des gnädigen Herrn, öffnete ihm das Haustor und war ihm beim Ablegen des Frackanzugs behilflich. Dabei bemerkte ich, daß er aus einer Tasche einen Schmuckgegenstand nahm, um ihn eine Weile betrachtend in Händen zu halten, ehe er ihn in seiner Brieftasche verwahrte. Es war eine Kette von Perlen, in deren Mitte, in einem Kranz kleiner Perlen, ein Saphir von außerordentlicher Größe und Schönheit, im weißen Ring der umgebenden Perlen einem menschlichen Auge vergleichbar, befestigt war; wohl der Halsschmuck einer Dame.

Noch hatte der gnädige Herr die Riegel seines Schlafanzugs nicht geschlossen, als wir ein Automobil vor dem Hause halten hörten und Augenblicke darauf den heftigen Aufschrei der Hausglocke. Ich eilte hinunter.

Wie ich öffne, steht ein Herr draußen, sehr groß, barhaupt in offenem schwarzem Havelock, der eine weiße Hemdbrust sehn ließ. Indem ich mich noch darauf besinne, daß ich den Bruder des gnädigen Herrn, Herrn Erasmus von Montfort, vor mir habe – ich sah ihn nur flüchtig einmal Jahre zuvor –, stürzt er an mir vorüber in den Hausflur, bleibt stehn und schreit, nein, er brüllt ins Treppenhaus hinauf: »Josef!«

Überm Geländer oben erscheint der Kopf des Herrn.

»Komm herauf!« sagt er und verschwindet.

Der Bruder nimmt die Treppe in Sprüngen. Wie ich nachkomme, sehe ich die Zimmertür offen, drinnen beide Herren einander gegenüber, noch stumm.

»Dieb!« sagt da der Bruder des Herrn.

Der erwidert nach einer Weile: »Was gehts dich an? Übrigens: die Bestohlene – um mich deiner Weise anzupassen – weiß bereits darum.«

Der andere gurgelt fast. »Nicht darum!« sagt er. »Nicht darum! Ich dulde nicht, daß du ein Stück von ihr – hörst du, Mensch, ich dul-de es nicht! – mit dir nimmst! Sag!« fährt er, mit geballten Fäusten stehend, fort, so groß, daß sein Scheitel fast die Ampel über ihm berührte. »Sag, was wirst du mir nun noch stehlen? Kanaille!« sagte seine dröhnende Stimme.

Herr Josef wurde ganz bleich. Mit Erschrecken sah ich, als ob ich schon Kommendes ahnte, seine Gestalt in dem dunkelroten Anzug kleiner und so viel schmaler als die des andern – er trug keine Schuhe und war barfuß –, und ich begann zu zittern, obgleich ich so gut kannte beides, seine Kraft und seine Gewandtheit. Er sagte:

»Kanaille ist nicht gut.« Sein Gesicht verzerrte sich grausam. »Was, bitte, stahl ich dir schon?«

»Die Mutter!« brüllte sein Bruder ihn an.

Herr Josef senkte seltsam den Kopf. Er murmelte: »Du bist verrückt ...«

»Satan, ich kenne dich doch! Wohin du trittst, gibt es Pest oder Tod. Du –« Die Stimme verschlug ihm.

»Du meinst jemand anders«, sagte der gnädige Herr schrecklich kalt. »Eine Verwechslung. Übrigens will ich mich verpflichten, dir den du meinst zu verschaffen. Mir liegt selber daran. Ernstlich, Erasmus, dreh dich um, geh, es gibt sonst Unheil!«

»Du Schwätzer! Immer zungenflink! Mir gleich, was es gibt! Hast du mir nicht den Vater auch gestohlen? Alles weg, alle – Liebe?« Und er senkte den Kopf, als ob er schluchzen müßte oder sich schämte.

»Ich bin«, versetzte der Herr mit Würde, »und ich war immer der, der ich geboren ward. Und –«

»Und heut!« brüllte der andere, »heut? Weißt du noch nicht, was du tust? Du brichst ihn, du bringst ihn um!«

»Darüber sprachen wir schon«, erwiderte der Herr und tat einen Schritt rückwärts, da der andere ihm an die Gurgel wollte, doch ließ er die erhobenen Hände wieder sinken. Sie schwiegen lange. Ich hörte Keuchen. Endlich sagte der Herr:

»Erasmus, ich warne dich vor dir!«

Der schien ruhiger geworden. Er fing nach einer Weile an: »Sage mir, Josef – du liebst sie?«

»Jawohl.«

»Und sie dich?«

Der Herr schwieg. Es glühte in seinen Augen. Er schwieg endlos lange, während ihrer beider Blicke ineinanderverhakt waren wie Partisanen. Dann hatte ich noch kaum recht das kaum hörbar geflüsterte »Noch nicht« seiner Antwort gehört, als sie sich schon umschlungen hatten, taumelten, und ich hörte ihn rufen: »Tu die Kleider weg, Erasmus, ich bin dir überlegen!«

Und der Unhold, was tat er? Er legte wahrhaftig – nein, er riß sich die Kleider vom Leibe, in Fetzen riß er herunter, ohne nur ans Ausziehn zu denken, Rock, Weste, Kragen und endlich das Hemd. Da war auch der Herr seiner Jacke schon ledig, und er schrie, nein, er jauchzte überlaut, während halbnackt sie sich packten: »Fenster auf, Li, Fenster auf, einer von uns muß hinaus!«

Die Fenster waren offen. Sollte ich sie schließen? Ach, nur an den Wütenden vorüberzukommen, wollte mir nicht gelingen, und wenn auch – an den Rahmen würden sie sich zerschmettert haben. Ach, das Fräulein! Halb ohnmächtig hinter mir! Und wie sie da rangen! Wie sie sich losließen, sich gegenüberstanden, glühend, zischend, und dann zustürzten wie die Hirsche und sich verhakten, wie sie stampften und sich herumschleuderten, wie alles krachte, und ihr fürchterliches Keuchen dazu! Ein Stuhl flog zu mir heraus, Schränke dröhnten vom Anprall ihrer Leiber, über das Bett rollten sie hin im Knäuel, lagen am Boden, wälzten sich herum wie die Panther, standen wieder, ich sah meinen Herrn kerzengerade schweben in der Luft, von den Armen des andern umklammert, aber siehe da, mit auswärts zu Hebeln angezogenen Unterarmen sprengte er die Umklammerung, sie standen wieder, ächzend, stöhnend, gespreizter Beine, jeder das Kinn auf der Achsel des andern eingepreßt, eisern umschlungen, und sie stampften wie die Rasenden mit gehobenen Knien, und dies, ach, dies war der Anfang ...

Wir kauerten dann am Treppengeländer, wir zwei, ich weiß nicht mehr, ob sie oder ich, wer von uns die Tür zugeworfen hatte, aber es war nicht anzusehn. Die lodernde Wut in den Augen, die gefletschten Zähne, die zurückgerissenen Lippen, die ganz entstellten Gesichter waren ja nicht zu ertragen. Und nun, unablässig, immer wieder nach grausigen Pausen der Erwartung – war es zu Ende? – hörten wir das dumpfe Stampfen der Füße drinnen, das Dröhnen, aber sonst keinen Laut, keinen Schrei – und die Fenster, die offenen Fenster ...

Plötzlich ein furchtbares Dröhnen. Stille. Ich ertrug es diesmal nicht, zu warten, riß die Tür auf, und – da lagen sie beide!

Am Boden der Herr, auf dem Rücken, so lang er war, mit gebreiteten Armen, ganz schlaff. Und halb über ihm, auf Knien liegend und Fäusten, der Bruder, dem der Kopf so nach unten hing, als sei er im Sterben.

So gingen Minuten. Dann hob sich langsam das hängende furchtbare Haupt; wir sahen den bluttriefenden Mund, die berstende Stirn und Augen, die uns blicklos anstarrten wie die eines Irren.

Wieder fiel ihm der Kopf. Aber jetzt richtete Herr Josef den seinen langsam empor, hob schwer eine Hand, legte sie auf den glühenden Rücken des andern, und in seiner Stimme war niemals so viel Güte gewesen, doch auch nie so viel Müde:

»Steh auf, Bruder! Wir sind uns noch zu gleich. Später wieder. Ich komme zurück.«

Sich aneinander haltend, richteten sie sich auf, lehnten eine Weile ohnmächtig zusammen, wie Trunkene und doch auch wie Brüder, küßten sich dann und weinten. Mein Herr fiel auf den Stuhl, den ich reichte, der andere auf das Bett, das ganz schief im Zimmer stand. Herr Josef verlangte zu trinken. Ich holte Wein und stärkte einen und den andern. Sie erholten sich langsam. Dann half ich Herrn Erasmus in seinen zerrissenen Mantel, sie gaben sich die Hände, ohne sich anzusehn, ich geleitete ihn aus dem Hause, sah ihn jubelnden Herzens in den Wagen steigen, der nach dem Wappen am Schlage zum Haus Montfort gehörte, und davonfahren. Es war ein Uhr in der Nacht. Wir reisten mit dem Zuge um drei, wie geplant. Dies ist, bei meiner Seele, alles, was ich hörte und sah.

 

Nachdem ich diese Zeilen geschrieben hatte, mußte ich neben dem Bett des gnädigen Herrn sitzen und sie ihm vorlesen, sehr langsam, Wort um Wort, und manche Stellen, besonders seine eigenen Reden, befahl er mir zu wiederholen. Er lauschte mir derweil, mitunter die Lippen bewegend und so angespannt, als grübe er jedes Wort ein in sein Gehirn. Danach nickte er ein paarmal, blickte mich schwer lächelnd an, nahm seinen Schlaftrunk, streckte sich aus und befahl mir, das Licht zu löschen.

Noch lange aber stand ich am Bullauge meiner Kabine und sah in das Schwarze der Nacht, empfindend an der Gangart des Schiffes, daß es eben dabei war, sich aus dem Kanal hinauszuarbeiten ins unermeßliche Rollen des Ozeans, und von roten Punkten im Finstern, den Lichtern anderer Schiffe, angerührt mit Verlorenheit, Angst und der schweren Trauer der Ferne.


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