Ferdinand von Saar
Wiener Elegien
Ferdinand von Saar

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XIV.

              Dort, wo der Stille bedürftig, in abseits gelegener Gasse
    Fand der Dichter sein Heim, hebt sich ein gotischer Bau.
Lange steht er noch nicht; ihn schuf das letzte Jahrzehent,
    Und zur Schule geweiht haben ihn Väter der Stadt.
Eifrige Knaben und Mädchen besuchen die stattlichen Räume,
    Wo sich Licht und Luft hell und gedeihlich verteilt.
Dort erlernen sie alles, was not zu wissen dem Menschen,
    Denn bequemlich, wie einst, ebnet sich nicht mehr der Pfad.
Lesen und schreiben zu können, genügte; mit Fibel und Bibel
    Und dem Einmaleins reichte vorzeiten man aus.
Heute ist jegliches Kind bereits ein Gelehrter; wie oft schon
    Hat mich ergrauenden Mann Weisheit des Schülers beschämt.
Aber betrachtend verweil' ich mich gern, wenn das knirpsige Völklein,
    Bunt durcheinander gemischt, wimmelnd den Türen entströmt.
Welche Fülle des Lebens in all den verschiednen Gestalten,
    Teils wie von Rubens, van Dyk – teils wie von Cranach gemalt!
Früh verrät sich in Gang und Gebärde das innerste Wesen,
    Und dem erkennenden Blick zeigt sich das Werdende schon.
Schmächtiger Knabe, erhobenen Haupts hinwandelnd im Schwarme,
    In dir reift mir gewiß bald ein Kollege heran.
Dichtest du etwa schon jetzt an einem veristischen Drama,
    Das in der Klinik beginnt und am Seziertisch verläuft?
Und du, niedliche Kleine, mit großen, beweglichen Augen,
    Ahnst du Novellen bereits, üpp'ger als die des Boccaz?
Freieste Liebe versprichst du, indessen breitspurig die Freundin
    An der Seite dir stapft, reizlos verschnittenen Haars.
Diese, ich seh's, wälzt unter der wuchtigen Stirn schon die Frage,
    Wie man das Männergeschlecht gänzlich vom Erdball verdrängt.
Ja, hier bereitet sich vor in allen Phasen die Zukunft,
    Achtlos trippeln an mir ihre Vertreter vorbei:
Wahrer des ewigen Friedens, Begründer der gleichesten Gleichheit,
    Weltbefreier vom Gift schnöden Mikrobengezüchts;
Maler der vierten Dimension – und Entdecker der fünften,
    Die mit Gespenstern bereits speisen vertraulich zu Nacht.
Aber gedeiht nur und blüht, ihr kleinen Erneurer der Menschheit –
    Wachsen die Bäume doch nicht gleich in den Himmel hinein!

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