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Die gläserne Brücke

Brüderlein und Schwesterlein wollten zusammen spielen auf der grünen Wiese, wo die bunten Blumen blühen, konnten aber nicht hinaufkommen; denn vor der Wiese floß ein Bach, und der war tief.

Da gingen sie an das Ufer der Baches und riefen:

»Frosch Quakmaul, Frosch Quakmaul!«

»Ja,« rief der Frosch, »hier bin ich. Was soll's?«

Brüderlein antwortete:

»Ich bin der Fritz, und sie heißt Liese;
Möchten spielen auf der grünen Wiese.
Da wollen wir Frosch Quakmaul fragen,
Soll uns flugs durch das Bächlein tragen.«

»Könnt ihr Atem holen, wenn ihr die Nase unter Wasser habt?« fragte der Frosch.

»Nein, das können wir nicht,« sprach Brüderlein.

»Dann tut mir's leid,« sagte der Frosch, »so kann ich euch auch nicht durch das Bächlein tragen. Aber einen guten Rat will ich euch geben: Wenn ihr über das Wasser wollt, dann geht zum Zimmermann und laßt euch eine Brücke bauen.«

Da gingen Brüderlein und Schwesterlein zum Zimmermann und riefen: »Meister Spaltholz, Meister Spaltholz!«

»Ja,« sagte der Zimmermann, »hier bin ich. Was wollt ihr?«

Nun sagte Schwesterlein:

»Das ist der Fritz, und ich bin die Liese,
Möchten spielen auf der grünen Wiese.
Frosch will uns nicht durchs Wasser tragen;
Zimmermann soll uns Brücken schlagen.«

»Gut,« sprach der Zimmermann, »soll die Brücke aus Holz sein oder aus Stein?«

»Drei Pfeiler sollst du bauen aus Stein,« gab Brüderlein zur Antwort, »und darüber mußt du hölzerne Bretter legen; an der Seite muß ein Geländer sein, das darfst du aus Holz machen.«

»Schön,« antwortete der Zimmermann, »aber nun sagt mir: Wollt ihr die Brücke mit Gold bezahlen oder mit Silber?«

»So etwas haben wir nicht,« sagte Brüderlein, »aber ich hab' einen Hampelmann, daran fehlt bloß ein Bein, und die Liese hat eine Puppe, die hat sich den Kopf abgefallen, die wollen wir dir dafür geben.«

»Tut mir leid,« sprach der Zimmermann, »dafür kann ich es nicht tun. Geht zur Spinne, die macht es vielleicht umsonst.«

Nun gingen Brüderlein und Schwesterlein zur Spinne, und sie riefen: »Frau Raschzufuß, Frau Raschzufuß!«

»Ja,« antwortete die Spinne, »hier bin ich. Was wollt ihr denn?«

Da begann das Brüderlein:

»Ich bin der Fritz, und sie heißt Liese,
Möchten spielen auf der grünen Wiese.
Frosch will uns nicht durchs Wasser tragen,
Zimmermann will keine Brücke schlagen.«

»Na,« sagte die Spinne, »dann will ich es tun.«

»Aber wir haben kein Geld,« sagte Schwesterlein.

»Ist auch nicht nötig,« meinte die Spinne, »kleinen Kindern helf ich umsonst.« Und sie lieh sich ein kleines Boot von den Blättern des Weidenbaumes, fuhr hinüber und herüber und spannte ihre Seile; dann lief sie hundertmal überquer, und dann war die Brücke fertig. Nun sollte Schwesterlein zuerst hinübergehen.

Schwesterlein aber sagte: »Wenn die Brücke nur hält! Ich getrau' mich nicht.«

»Ach was!« rief die Spinne, »ich habe acht Beine und ihr bloß zwei. Frisch vorwärts und hinüber!«

Da faßte Brüderlein sich ein Herz, trat auf die Brücke und fing an zu gehen; aber sie bog sich durch, und mit einem Male, da riß sie entzwei, und Brüderlein wäre in den Bach gefallen, wenn Schwesterlein ihn nicht gegriffen hätte.

»Das hätte ich nicht gedacht,« sagte die Spinne, »aber sie ist wirklich entzwei. So leid mir's tut, kann ich nicht weiter helfen. Ich rat' euch, geht zum Winter, der baut fester als der Zimmermann.«

Flugs gingen Brüderlein und Schwesterlein zum Winter und riefen: »Dezembermann, Dezembermann!«

»Ja,« gab der Winter zur Antwort, »hier bin ich. Was wollt ihr beiden?«

Da sagte Schwesterlein ganz traurig:

»Das ist der Fritz, und ich bin die Liese,
Möchten spielen auf der grünen Wiese.
Frosch will uns nicht durchs Wasser tragen,
Zimmermann keine Brücken schlagen.
Tat es die Spinne, da sind wir gekrochen,
Aber knacks ist die Brücke zerbrochen.«

»Tröstet euch nur,« sprach der Winter, »ich will euch eine bauen, die kriegt niemand entzwei als die Frau Sonne, wenn sie alle ihre Strahlen drauflos schießt. Nun geht nur nach Haus und schlaft. Wenn die Brücke fertig ist, will ich euch wecken.«

So gingen Brüderlein und Schwesterlein nach Haus und schliefen die ganze Nacht, und als es Morgen ward, klopfte der Winter an das Fenster und rief:

»Ihr Kinderlein, erwacht, erwacht!
Eine Brücke baut' ich in einer Nacht.
Kein Zimmermann baut so fest und schnell;
Meine Brücke, die ist aus Glas so hell.
Nun schnell ihr Kinderlein, kommt und schaut.
Was euch der Winter für Brücken baut!«

Geschwind fuhren Brüderlein und Schwesterlein in die Kleider und gingen hinaus an den Bach, und es war wirklich eine gläserne Brücke darüber. Leise tasteten sie mit den Füßen hinauf; aber die Brücke war wirklich fest, und sie konnten hinübergehen auf die Wiese. Doch als sie nun mit den bunten Blumen spielen wollten, da war keine einzige mehr da. Es lag ein weißes Tuch über die Wiese gebreitet, und das war kühler, als wenn es aus Seide gewebt wäre.

Da wurden Brüderlein und Schwesterlein traurig und sagten: »Was soll uns nun die breite gläserne Brücke, wenn die bunten Blumen nicht mehr blühen!«

»Ei was, Blumen!« rief der Winter, »kauft euch doch einen Schlitten, und dann soll der Fritz die Liese über die gläserne Brücke schieben, hin und her, ganz schnell!«

Und das haben sie getan, und der Winter stand am Ufer, die Hände in den Taschen, und sah zu. Der Fritz und die Liese freuten sich und dachten gar nicht mehr an das grüne Gras und die bunten Blumen; aber als sie des Abends nach Hause kamen, da hatten sie beide eine rote Nase.

*

 


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