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Heiner im Storchennest

Es ist einmal ein kleiner Junge gewesen, Heiner hat er geheißen, der ist gleich aus dem Storchennest in die Schule gekommen, und das ging so zu.

Das ist ein wunderschöner Frühlingstag, und die Osterblumen blühen, da sagt die Mutter morgens zu ihm: »Heiner, heut' geht's zum ersten Male nach der Schule.«

»Das weiß ich,« sagt klein Heiner, »mein Ränzel hab' ich schon auf dem Rücken; Tafel und Fibel sind darin.«

»Ist noch viel zu früh. Wart ein bißchen, dann bring' ich dich hin.«

»Kenn' den Weg allein. Mutter, ade!« und weg geht der kleine Bursch und marschiert fest wie ein Soldat, und die Mutter denkt: »Laß ihn nur! Morgen hat er sicher nicht mehr solche Eile.« –

Klein Heiner geht zur Schule.

»Wo willst du hin?« fragt ihn der Ochs auf der Weide.

»Zur Schule, lernen. Unsereiner kommt nicht so leicht durch die Welt wie du.«

Und klein Heiner geht weiter und pfeift und singt, daß der Buchfink denkt: »Der kann's beinah so gut wie ich.« –

Als Heiner nun vor die Schultür kommt, ist sie noch verschlossen; es ist wirklich noch viel zu früh. Aber dicht bei der Tür steht eine lange Leiter – der Dachdecker will kommen den Tag –, die reicht weit das moosige Strohdach hinauf.

»Tür zu?« denkt klein Heiner. »Geht der Weg da 'rauf? Na, mir recht!« und fängt an zu steigen und steigt, solange er steigen kann. Und dann klettert er auf das Dach hinauf; o, wie ein Eichhörnchen kann er klettern, und hat immer das Ränzel auf dem Rücken. Und nicht lange dauert es, da kann er nicht weiter, als auf der anderen Seite wieder herunter.

»Halt,« denkt der Heiner, »da geht's die Nase voran bergab, und das mag ich nicht; aber reiten mag ich!« setzt sich auf die Dachfirst und ruft: »Was für ein großes Roß ich hab'! Nun bin ich gleich der Oberste in der Schule.«

Aber bald macht ihm das Reiten keinen Spaß mehr, und da will er Seiltänzer werden. Er spaziert auf der First herum und guckt in den Schornstein hinein; aber er raucht gerade, und der Rauch beißt dem Heiner ins Auge. »Pfui!« sagt er, »das ist aber schlechter Tabak!« und geht den Weg zurück und kommt an das andere Ende, und da hat ein Storch sein Nest gebaut.

»Darf man eintreten?« fragt Heiner; aber der Storch ist nicht zu Hause, und da geht der Heiner so hinein. Das Nest ist gerade groß genug für den kleinen Jungen, und weil er müde ist von all dem Steigen und Gehen, macht er ein wenig die Augen zu und merkt es gar nicht, daß er mit einem Male eingeschlafen ist. – –

Unterdessen ist die Schultür aufgeschlossen worden, und all die andren Kinder kommen, auch die Kleinen, die heute zum ersten Male da sein müssen, und der Lehrer sagt: »So, nun wollen wir anfangen. Sind alle da?«

»Nein,« sagen die großen Kinder, »klein Heiner ist noch nicht da. Heute morgen ist er ganz früh an unserm Hause vorbeigegangen; er wollte der Erste sein.«

»O, da müssen wir aber schnell suchen,« sagt der Lehrer, »sonst verliert sich der kleine Junge noch ganz aus der Welt.«

Da suchen sie ihn zuerst hinter der Hecke, aber klein Heiner ist nicht da, dann im Bach, aber darin schwimmt er auch nicht, und dann im kleinen Tannenbusch, aber auch dort hat er sich nicht versteckt. O, da ist klein Heiner sicher wieder nach Hause gegangen, und einer läuft hin und fragt nach.

Ach, erschrecken da Vater und Mutter! Nein, klein Heiner ist nicht im Hause, und nun gehen sie mit nach der Schule; sie wollen doch wissen, wo der Junge ist.

Derweil ist der Storch wiedergekommen von der Wiese und will Eier legen, kann aber nicht; denn in seinem Neste liegt ein kleiner Junge und schläft. Da stellt sich der Storch hin und schlägt mit den Flügeln und klappert mit dem Schnabel: »Ihr Leute, ihr Leute!«

»Was ist denn los, du alter Klapperstorch?« fragen die Kinder.

»Was los ist? Das ist eine schöne Geschichte! Da liegt ein kleiner Junge in meinem Nest, der ist für mich viel zu groß, und nun kann ich keine Eier legen.«

»Ein Junge? Was für ein Junge ist das denn?«

»Einen rotbraunen Tornister hat er auf dem Rücken und eine graue Mütze auf dem Kopfe.«

»Das ist unser Junge,« rufen Vater und Mutter, »das ist klein Heiner!«

Und da steigt der Vater die Leiter hinauf und klettert auf das Dach, setzt sich auf die First und guckt in das Nest hinein. Ja, das ist sein Junge, und er schläft ganz fest.

Dann zieht er ihm die Mütze vom Kopf und ruft: »Klein Heiner, klein Heiner!«

Der erwacht und sagt: »Ja, Vater, gleich! Ist schon Zeit, nach der Schule zu gehen?«

»Junge, du bist ja schon ganz oben drauf!«

Nun weiß klein Heiner, wo er ist, und er klettert mit seinem Vater herunter auf die Erde.

Da lachen all die andern Kinder und rufen: »Guten Tag, klein Heiner aus dem Storchennest!«

*

 


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