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Viertes Kapitel

Es war am nächsten Tage nachmittags, als das Dampfschiff »Southerner«, von Charleston kommend, im Hafen von Neuyork einlief und sich neben einen der kleinen Küstendampfer legte, welcher eben für seine Abfahrt zu heizen begonnen hatte. Die Menge der Passagiere hatte bereits das gewaltige Schiff verlassen, als noch ein junger Mann mit seinem Reisesacke langsam über das Verbindungsbrett nach dem Ufer schritt; er sah um sich, wie man bekannte Gegenden, die man von neuem betritt, mustert, und wies den Haufen von Mietkutschern und Handkärrnern, die sich mit Dienstanerbietungen um ihn drängten, mit einer Sicherheit zurück, die deutlich genug bewies, daß er kein Neuling auf Neuyorker Boden war. Eben machte er sich fertig, seinen Weg durch eine der hier ausmündenden Straßen weiter zu verfolgen, als ein Auflauf von Menschen an der Landungsbrücke des kleineren Dampfers seine Aufmerksamkeit erregte. Er schritt näher hinzu und sah eine junge, weibliche Gestalt mit einer Reisetasche an der Hand in dem Kreise der neugierig zusammengelaufenen Menschen, vor welcher ein Mann in schäbigen Kleidern perorierend stand.

»Ladies und Gentlemen,« wandte sich dieser soeben an die Zuschauer, »Sie sehen hier ein Muster von ehelicher Treue vor sich, das mir mit diesem Steamer auf und davon gehen wollte, dem ich aber noch zur rechten Zeit den Weg vertreten habe. Schämst du dich nicht, Mary, vor den Menschen, und willst du mir nicht gutwillig nach Hause, folgen?«

»Er lügt, er lügt!« rief das junge Weib zornig; "ich habe mit ihm nicht mehr zu tun gehabt als mit jedem anderen; er ist ein Lump und ein Spitzbube, der mich nicht aus seinen Krallen lassen will.«

»Schimpfe, Mary, wenn du nicht anders kannst!« sagte der Mann mit der Miene gekränkter Unschuld. »Sie wissen, Gentlemen, wer schimpft, hat immer unrecht! Aber sage, Mary, sind wir nicht seit länger als einem Monat Mann und Frau? Hier, Gentlemen,« fuhr er fort, auf zwei Männer desselben Schlags wie er, hinter sich deutend, »hier sind Zeugen, die meine Aussagen bestätigen können. Komm, Mary, und tue, was recht ist; fort darfst du doch nicht, und wenn ich die Polizei zu Hilfe nehmen sollte.«

»Er lügt, ich war nie seine Frau!« rief das Weib, in einen Strom von Tränen ausbrechend.

»Ja, er lügt!« wurde plötzlich eine gewaltige Stimme laut, und ein Mann, der alle anderen überragte, warf die umstehenden Menschen beiseite und stellte sich neben die Angegriffene. »Bist du da, Ben? So! Und du hast dir meine Warnung, das Mädchen nicht weiter zu verfolgen nicht zu Herzen genommen? Komm heran, wenn dir der Dutch Charley nicht zu viel ist! Das Mädchen ist weder deine Frau noch wirst du sie hindern, jetzt aufs Land zu gehen; sie ist meine Landsmännin, die ich kenne, und die jetzt unter meinem Schutze steht! Komm mit mir, Mary!«

Der andere gab seinen beiden Kameraden einen Wink, zu folgen, und faßte das junge Weib in dem Augenblicke am Arme, als sie sich mit ihrem Beschützer nach dem Dampfboote wandte. »Sie bleibt, und ich will doch sehen, ob ein Ehemann sein Recht nicht durchsetzen kann!«

Charley sah dem Menschen, wie ganz verdutzt über dessen Keckheit, einen Augenblick ins Gesicht; im nächsten hatten diesen aber auch schon die gewaltigen Hände des Riesen gepackt, in die Höhe gehoben und so auf seine zwei nachfolgenden Kameraden geworfen, daß alle drei wie umgeworfene Kegel im Sande lagen.

Ein brüllendes Gelächter der Umstehenden lohnte die Kraftprobe – mitten hindurch klang die Pfeife des Dampfboots.

»Vorwärts, Mary, das Schiff geht ab!« rief Charley dem Mädchen zu; »ich halte dir die Burschen vom Leibe!« Und bereitwillig öffnete sich der Menschenkreis, um die Verfolgte durchzulassen.

Schnell genug hatten sich die Niedergeworfenen aus ihrer augenblicklichen Betäubung erholt und stürzten jetzt, wie Bullenbeißer auf den Bären, auf den Sieger los. Den ersten traf ein Faustschlag, daß er wieder zurück auf den Boden flog, der zweite aber hatte mit raschem Griffe die Kehle des Goliaths gepackt, während der dritte ihn unterlaufen und zum Niederwerfen um den Leib gefaßt hatte.

In diesem Augenblicke bahnten sich zwei andere Männer in gleich blauen Röcken den Weg durch die Menge. – »Die Polizei!« flog es durch den Kreis der Zuschauer und schlug wie mit magischer Gewalt in die Ohren der Kämpfenden; jede Hand löste sich, und die drei Angreifer waren unter den übrigen Menschen verschwunden, eben als die beiden Beamten den wirklichen Kampfplatz betraten. Der große Dutch Charley allein stand, da und fühlte auch sofort die Hand der Obrigkeit auf seiner Schulter.

»Sie sind arretiert!«

»Weshalb?« fragte Charley, sich verwundert umsehend.

»Wegen öffentlicher Schlägerei!«

»Darf sich ein Mensch nicht seiner Haut wehren oder ein angegriffenes Mädchen in Schutz nehmen?«

»Das wird sich finden, Sie haben jetzt mit mir zu kommen!«

Charley warf einen Blick unter die Menschen, die ihn umstanden hatten, als wollte er sich nach einem Freund in der Not oder einem Zeugen für seine Sache umsehen; aber mit dem Auftreten der Polizeibeamten hatte sich die Zuschauermenge wunderbar gelichtet, und sein Auge traf auf nichts als Leute, welche zu entfernen sich bestrebten.

»Haben Sie denn gesehen, was hier, vorgegangen ist?« fragte er endlich, beide abwechselnd ansehend.

»Genug, um Sie zu verhaften,« erwiderte der eine, »und Sie tun gut, keine großen Umstände zu machen.«

»Da trat der kurz zuvor mit dem »Southerner« angekommene Passagier heran.

»Der Mann war meines Erachtens nicht im Unrechte, Gentlemen,« sagte er, »und wenn es ihm dienen kann, will ich gern für ihn zeugen; ich habe der ganzen Affäre beigewohnt.«

»Haben Sie ein Interesse an dem Arrestanten?« fragte der Beamte, ihn scharf fixierend.

»So viel, als jemand haben kann, der eben aus dem Süden kommt,« erwiderte er, auf den noch rauchenden Dampfer deutend, »und einen Menschen arretieren sieht, weil er sich eines schutzlosen Mädchens angenommen hat.«

Der Beamte maß den Sprecher von Kopf bis Fuß.

»Würden Sie Bürgschaft für den Mann stellen?«

»Bürgschaft? Ich sehe ihn ja zum ersten Male und biete nur mein Zeugnis über den Hergang des jetzigen Vorfalls an. Er hat nichts anderes getan, als was ich oder Sie selbst als Gentlemen tun würden, wenn Sie ein Mädchen Ihrer Bekanntschaft bedrängt sähen.«

»Laß ihn laufen!« sagte der zweite Polizeibeamte, sich wegdrehend; »ich glaube kaum, daß etwas bei der Sache herauskommt.«

Der erstere sah den Arrestanten und seinen Verteidiger prüfend an.

»Nehmen Sie sich in acht,« sagte er zu dem Riesen, »daß ich Sie nicht nochmals bei einem ähnlichen Straßenspektakel finde – es könnte schlimmer auslaufen als heute.«

Damit folgte er langsam seinem bereits davongeschrittenen Kollegen, und auch der neuangekommene Passagier wollte seinen Weg fortsetzen, als er sich am Arm gefaßt fühlte.

»Sie werden mich doch ein ›Danke schön‹ zu Ihnen sagen lassen, ehe Sie gehen?« sagte der erlöste Arrestant. »Sie haben besser an mir gehandelt als alle die verdammten Kerle, wie sie dahinlaufen, die mich, ohne ein Wort zu sagen, hätten einstecken lassen, obgleich sie wußten, daß ich nichts Unrechtes getan.«

»Nichts zu danken, Sir,« erwiderte der Fremde, »ich tat nur, was ich für eine einfache Pflicht gegen jeden gehalten hätte.«

»Alles eins, Sir, und ich wollte Ihnen nur sagen, daß, wenn Sie einmal irgendeiner Hilfe bedürfen, wozu ein paar feste Arme erforderlich sind, Sie nur ein Wort für den Dutch Charley bei dem alten Omsby in Jamesstreet zu hinterlassen brauchen. Und nun sagen Sie mir auch wenigstens Ihren Namen, damit ich Bescheid weiß.«

»Ich heiße Helmstedt,« sagte der Fremde lächelnd, »und wenn ich auch noch keine Aussicht habe, von Ihrem Anerbieten Gebrauch machen zu können, so nehme ich es doch dankbar an; ich habe noch selten ein paar Arme von einer solchen Kraft gesehen, wie Sie eben gezeigt.«

»O, das war doch eigentlich nur Spaß,« erwiderte Charley geringschätzend; »die drei Halunken sind gute Bekannte von mir, und ich wollte ihnen nicht zu wehe tun – ich kam nicht einen Augenblick in Hitze. Wenn ich böse gemacht werde, nehme ich sechs von diesem Kaliber auf mich.«

»Well, Sir, dann ist es freilich besser, Freundschaft mit Ihnen zu halten,« erwiderte Helmstedt lachend; »good bye, ich muß eilen, daß ich in die Stadt hinaufkomme.«

Er fühlte einen Händedruck von dem Riesen, daß er hätte aufschreien mögen, und bog dann in die nächste Straße hinein.

Neun Monate waren erst verflossen, seit Helmstedt Neuyork verlassen hatte, um mit der ganzen Unternehmungslust der frischen Jugend sein Glück im Süden zu versuchen, und doch war es ihm, wenn er an jene Zeit zurückdachte, als wäre er neun Jahre älter geworden. In seinem Fühlen und seiner Weltanschauung war durch alles, was er geistig und körperlich durchlebt hatte, eine Veränderung mit ihm vorgegangen, deren er erst jetzt recht inne wurde. Er hatte fast unwillkürlich den Weg nach dem Boardinghause in der Williamstreet eingeschlagen, in welchem er, solange er in Neuyork lebte, gewohnt hatte. Als ihm aber hier neben manchen anderen Veränderungen auch ein neues Schild mit fremdem Namen entgegenblinkte, blieb er stehen und drehte sich langsam wieder um – es war ihm, als sei jetzt jede Verbindung seines früheren Lebens in Neuyork mit seinem gegenwärtigen Aufenthalte abgebrochen. Er dachte einen Augenblick nach, und als er eine leere Mietkutsche die Straße heraufkommen sah, ließ er sich nach einem der Broadway-Hotels fahren.

Als ihm dort ein anständiges Zimmer angewiesen worden war, warf er sich auf das Sofa, um die nächsten Schritte zu überlegen, die ihn zu einem schnellen Abschluß seiner Geschäfte führen könnten; aber die Erinnerungen aus seinem früheren Aufenthalt in Neuyork verfolgten ihn und bemächtigten sich bald unabweislich seiner Seele. Szene auf Szene zog an ihm vorüber, bis seine Gedanken endlich an einem Bilde hängen blieben: dem seiner Freundin Pauline Peters, die bei ihrem ersten Begegnen mit ihm hier in dem fremden Lande sich an ihn geschmiegt hatte wie der Efeu an seine Stütze, und die er, ihr reines Gemüt mißverstehend, kalt und stolz von sich gewiesen. Jetzt war es ihm, als könne er sich ganz versenken in diese Augen mit dem innigen Ausdruck, wie sie ihn damals angesehen. Sie hatte bald darauf den alten Pflanzer geheiratet und war nun Mrs. Morton – kalt und unzugänglich und sich nur der traurigen Pflicht, der Pflege ihres Mannes widmend; was hinter dieser Außenseite lag, ob eine Resignation, die mit sich und der Welt fertig ist, oder ein niedergehaltenes, rebellisches Herz, war nicht zu erraten. Er hatte auch geheiratet und war nicht glücklich geworden; noch niemals aber hatte er so sehr das Verfehlte seiner Wahl gefühlt als in den jüngst vergangenen Tagen, in welchen er die Vorbereitungen zu seiner Reise nach Neuyork gemacht. Er hatte seiner Frau die Notwendigkeit derselben freundlich vorgestellt und sie gebeten, die kurze Zeit seiner Abwesenheit in Mortons Hause zuzubringen, des Anstandes und seiner Beruhigung wegen; sie aber hatte ihn mit aufglänzendem Auge angesehen und gefragt, warum sie in ein fremdes Haus und nicht zu ihren Eltern gehen solle, die sie mit tausend Freuden aufnehmen würden. Er hatte ihr, wenn auch innerlich erregt durch ihre Antwort, die manche seiner leisen Befürchtungen bestätigte, doch äußerlich ruhig auseinandergesetzt, daß, solange der Widerwille ihres Vaters gegen ihn und seine Verbindung mit ihr bestehe, der Aufenthalt bei ihren Eltern sich von selbst verbiete, wenn sie ihren Mann nicht bloßstellen wolle; daß nicht allein ihre Liebe zu ihm, sondern auch ihr Takt sie von einem Wunsche wie der geäußerte hätte zurückhalten sollen. Da war sie in ein schluchzendes Weinen ausgebrochen und hatte gefragt, ob sie denn, wenn der Sinn ihres Vaters sich nicht ändere, zeitlebens fern von diesem und unglücklich sein solle. Helmstedt hatte bei dem Ausbruch gefühlt wie der Ritter in dem Märchen von der »Schwanenjungfrau«, der sich ein Weib aus dem Feenlande gewonnen, das ihn wohl hätte lieben können, wenn nicht die Sehnsucht nach ihrer schöneren Heimat sie verzehrt hätte, – und eine drückende Ahnung, daß ein solches Verhältnis für die Dauer nicht bestehen könne, hatte sich seiner bemächtigt. Die Worte des alten Pedlars, welche dieser noch kurz vor seinem Tode warnend zu ihm gesprochen: »Ich habe noch niemals rechten Segen aus einer Heirat zwischen Leuten entstehen sehen, die mit einer verschiedenen Art zu fühlen geboren und mit so verschiedenen Gewohnheiten erzogen werden wie Deutsche und Amerikaner!« waren plötzlich vor seine Seele getreten, und ein starker Entschluß, allen Verhältnissen zum Trotz wenigstens seine äußere Ehre zu wahren, hatte sich in ihm gebildet. Was dann später kommen mochte, überließ er dem Schicksal, Er hatte seiner Frau gesagt: Entweder liebe sie ihn, wie ein rechtes Weib ihren Mann lieben solle, das, wenn sie sich ihm einmal zu eigen gegeben, auch fest zu ihm stehe, und wäre die ganze Welt gegen ihn, das kein anderes Interesse habe als ihr gemeinschaftliches – und dann werde sie gern seinem Wunsche Folge leisten und sich einstweilen unter Mortons Obhut begeben, – oder ihre Liebe zu ihm sei nur eine Selbsttäuschung gewesen, und dann würden sie weiter miteinander reden, wenn er von Neuyork zurückkäme; bis dahin verlange es aber seine eigene Selbstachtung, daß sie von einer ihm befreundeten Hand beschützt werde, zu welchem Zwecke Mortons Haus vorläufig der geeignetste Aufenthalt für sie sei. Da war sie aufgesprungen und hatte ihn mit blitzenden Augen, denen man keine Spur von Tränen mehr angesehen, gefragt, ob er sie zwingen wolle, zu tun, was ihr lästig sei, oder sich an einem Orte aufzuhalten, den sie nicht liebe. Und Helmstedt, der in diesem Augenblick mehr als je die breite Kluft erkannte, die zwischen ihnen lag, hatte kalt erwidert, sie möge tun, was sie für gut halte; mit dem morgenden Tage aber werde er ihr beiderseitiges lebendiges Eigentum an Morton zum Verwahr übergeben und das Haus schließen. Wolle sie dann dem ganzen County Stoff zu einem Skandal liefern und dem Manne, den sie sich erst vor wenig Monaten allen ihren Freunden zum Trotz erkoren, davonlaufen, so möge sie es tun, er werde auch das im Gefühle seines Rechttuns zu ertragen wissen. Da hatte sie von neuem zu weinen begonnen, war an ihm vorüber zur Stube hinausgegangen und hatte sich in ihr Schlafzimmer eingeschlossen. Sie hatte den ganzen Tag über niemanden zu sich gelassen als ihr schwarzes Dienstmädchen, und jede Hoffnung Helmstedts, ihr noch einmal zu Herzen reden zu können, war fehlgeschlagen, selbst als er abends das gemeinschaftliche Schlafzimmer aufgesucht. Sie hatte sich dicht in ihre Decke gehüllt und keine Notiz von ihm genommen. Am Morgen, als alles zur Übersiedlung nach Mortons Farm fertig war, hatte er ihr durch ihr Mädchen Nachricht davon geben lassen, und sie hatte, ohne ein Wort zu Helmstedt zu reden, den Wagen bestiegen, nur an die Schwarze den Auftrag zurücklassend, ihre bereits gepackte Garderobe nachzubringen; sie hatte auch kein Wort während der ganzen Fahrt nach Mortons Haus geäußert, obgleich Helmstedt mehrere Male versucht hatte, ihr freundlich zuzusprechen.

Das alles ging an seinem inneren Blick vorüber, und dann trat wieder Paulinens Bild vor ihn, wie sie seine Frau empfangen und diese, als sie in deren verweinte Augen gesehen, beiseite genommen und ihr zugesprochen hatte gleich einem unzufriedenen Kinde – und wie, als Ellens Mißmut vor ihrer Liebenswürdigkeit wenigstens auf Augenblicke hatte weichen müssen, ein Lächeln ihr Gesicht verklärt hatte, das ihn an die Zeit erinnerte, wo er sie in Neuyork zuerst gesehen.

Mit einem halb unterdrückten Seufzer strich er sich über das Gesicht und sprang dann auf, als wolle er jetzt alle Erinnerungen von sich abschütteln. Er sah nach der Uhr; jedenfalls war es schon zu spät, um heute noch mit den Geschäften zu beginnen – lieber machte er noch einen Gang durch die Straßen, die er früher so oft durchwandert hatte.

Am nächsten Morgen war er frühzeitig aus dem Bette, kleidete sich sorgfältig an und begann das Studium des Neuyorkers Wohnungsanzeigers. »Abraham Meier« hieß nach den hinterlassenen Angaben des Pedlars der Mann, bei welchem der Erbe des Verstorbenen in Pflege war. Aber wie viele hundert Meier, Maier, Mayer und Meyer, und wie viele Abrahams darunter gab es! Helmstedt hatte lange nachzusehen, war schon einmal, ohne zu finden, was er suchte, zu Ende gekommen und hatte wieder mit größerer Vorsicht von vorn begonnen, ehe er einen Meier, der Pfandleiher war und Abraham hieß, entdeckte. Er notierte sich die Adresse genau, suchte aus seiner Brieftasche eine beglaubigte Abschrift der letzten Verfügung des Pedlars hervor und machte sich nach zehn Uhr auf den Weg nach Pearlstreet.

Das Haus war schnell gefunden, aber der Eingang war zu Helmstedts Verwunderung verschlossen. Er klopfte, nachdem er sich vergebens nach einem Klingelzuge umgesehen hatte, mehrere Male stark an; aber erst nach der dritten Wiederholung des Klopfens öffnete sich die Tür gerade weit genug, um ein verstörtes Mädchengesicht heraussehen zu lassen.

»Ich wünsche Mr. Abraham Meier zu sprechen«, sagte Helmstedt.

»Ich glaube nicht, Sir, daß Sie ihn jetzt sprechen können; was wollen Sie von ihm?«

»Ich habe mit ihm wegen des Manuel Goldstein zu reden.«

»Wegen des Manuel?« erwiderte das Mädchen, und es zuckte sonderbar in ihrem Gesichte; »warten Sie, ich werde es Mr. Meier sagen.« Damit schloß sie den Eingang wieder und ließ Helmstedt, der nicht recht wußte, was er aus dem ganzen Benehmen machen sollte, auf der Straße stehen. Bald indessen öffnete sich die Tür von neuem, und das Mädchen lud ihn mit einer stummen Gebärde zum Eintreten ein. Sie ging ihm voran, die Treppe hinauf, und öffnete dort den Parlor. Nach einigen Minuten des Harrens, in welchen Helmstedt die Bilder samt der übrigen Einrichtung betrachtet und seine stillen Glossen darüber gemacht hatte, erschien Abraham Meier. Er war sichtlich aufgeregt, sein Haar in Unordnung und sein Blick unstet.

»Guten Morgen, Sir!« sagte er; »ist schon etwas entdeckt worden, was zur Aufklärung dienen könnte?«

»Entdeckt worden?« erwiderte Helmstedt verwundert; »Sie nehmen mich wahrscheinlich für die unrechte Person, Sir!« fuhr er lächelnd fort. »Sehe ich Mr. Abraham Meier vor mir?«

Der Pfandleiher starrte ihn eine Weile an und rieb sich dann mit der Hand die Augen. »Ah so,« sagte er, »entschuldigen Sie mich; ich dachte, Sie kämen wegen des Manuel; wenigstens sagte das Dienstmädchen so etwas.«

»Ist mit dem jungen Menschen etwas vorgegangen?« fragte Helmstedt, aufmerksam werdend; »ich komme allerdings nur seinethalben hierher. Ich weiß nicht, ob Sie davon unterrichtet sind, daß der alte Isaak Hirsch vor etwa zwei Monaten in Alabama gestorben ist. Er hatte in seinem letzten Willen den Manuel Goldstein zu seinem Erben eingesetzt und mir dessen Vormundschaft übertragen. Ich kam heute morgen, um die ganze Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen.« Er zog die Abschrift der letzten Zeilen des Pedlars hervor und reichte sie dem Pfandleiher hin.

Meier hatte den Worten des Redenden anfangs nur wie notgedrungen zugehört; bald aber drückte sich ein wachsendes Interesse in seinem Gesichte aus; er griff, als Helmstedt geendet hatte, nach dem Papier und las bis zum Schlusse, starrte aber dann noch immer hinein, als beschäftige ihn ein besonderer Gedanke.

»Sie sagen also, der Isaak Hirsch sei gestorben und habe eine Erbschaft hinterlassen?« sagte er endlich aufsehend; »aber«, unterbrach er sich, »wollen Sie nicht Platz nehmen, Sir?« Er holte geschäftig einen Stuhl herbei und setzte sich, als sich Helmstedt niedergelassen hatte, diesem gegenüber. »Es ist wohl nicht der Rede wert, was der alte Mann erspart gehabt«, fuhr er in einem Tone fort, der jedenfalls Gleichgültigkeit ausdrücken sollte, während indessen seine unruhig sich bewegenden Augen kaum die Antwort erwarten zu können schienen.

»Es mögen gegen zehntausend Dollars in Gelddepositen sein, welche dem Manuel zugute kommen werden«, entgegnete Helmstedt.

»Dem Manuel zugute kommen?« rief der Pfandleiher, wie plötzlich an etwas momentan Vergessenes sich erinnernd. »Du großer Gott, das ist ja eben die Geschichte! Der Manuel ist ja verschwunden gewesen seit gestern mittag, und heute morgen haben sie ihn tot im North-River aufgefischt. Sein Kopf ist ja so jämmerlich zerschlagen gewesen, daß niemand gewußt hätte, wer er war, wenn er nicht sein Memorandum, worin sein Name und seine Wohnung steht, bei sich gehabt hätte – und da haben sie mir vor zwei Stunden die Leiche ins Haus gebracht. – Zehntausend Dollars! Der arme Junge! Man hätte so viel dem alten Hirsch niemals zugetraut! Das fällt also nun an seinen zweitnächsten Erben! Und Sie haben das Geld in Ihrem Verwahr, Sir?«

Auf Helmstedt hatte die ihm so plötzlich gewordene Nachricht, welche den ganzen Zweck seiner Reise vernichtete, eine Wirkung ausgeübt, welche ihm im ersten Augenblicke die Sprache nahm und ihn Meiers letzte Worte ganz überhören ließ.

»Das ist heute morgen geschehen? Und der Tote ist rekognosziert und in Ihrem Hause?« fragte er endlich.

»Vor zwei Stunden wurde die Totenschau beendigt, und wir alle in unserer Familie sind noch ohne rechten Verstand. Ich hielt Sie bei Ihrer Ankunft für einen Herrn von der Polizei, der uns irgendeinen Aufschluß über das Unglück zu geben beabsichtigte. Wenn Sie den Körper sehen wollen – er liegt im Hintergebäude, aber es ist ein schlimmer Anblick.«

Helmstedt drückte eine Weile die Hand vor die Augen, ohne zu antworten. Endlich erhob er sich langsam. »Bei dieser traurigen Sachlage«, sagte er, »habe ich in Ihrem Hause freilich nichts weiter zu tun und will Sie nicht länger stören.«

»Aber erlauben Sie mir doch,« rief Meier und stand rasch von seinem Stuhle auf, »was soll denn weiter geschehen? Es muß doch etwas getan werden wegen der Hinterlassenschaft, von welcher hier in dem Papiere steht! Die Sache geht mich vielleicht näher an, als Sie wissen!«

»Versteht sich, wird etwas getan werden, Sir!« erwiderte Helmstedt, welchen das Wesen des Pfandleihers unangenehm zu berühren anfing, »und ich will Ihnen gern sagen, was ich zu tun gedenke. Ich werde zuerst nach der Polizeioffice gehen, um mich über den Stand der Dinge in betreff des Todes meines Mündels zu unterrichten. Läßt sich an seinem Ableben nicht mehr zweifeln, so werde ich die gesamte Hinterlassenschaft bei der hiesigen Stadtbehörde deponieren, bis die Erbansprüche irgendeiner oder der anderen Person erwiesen sind.«

»Das ist sehr gut – sehr gut!« sagte Meier und rieb sich die Hände; »aber Sie erlauben mir wohl – es ist doch in dem Papier hier nichts über den Betrag der Hinterlassenschaft gesagt; jedenfalls wird doch bei dieser Deponierung irgendein Nachweis über die Richtigkeit der Summe geliefert werden müssen –«

Helmstedt hob den Kopf empor und sah dem Pfandleiher mit einem so stolzen Blick ins Auge, daß diesem der Nachsatz im Munde erstarb. »Was in der Sache notwendig ist, wird sich zeigen, wenn die Zeit dafür gekommen ist,« versetzte der junge Mann; »jetzt aber würden Sie mich verbinden, wenn Sie mir jede Antwort auf irgendeine weitere Frage ersparten.« Er schritt nach dem Ausgange des Zimmers und ohne ein weiteres Wort die Treppe hinab.

»Ich wollte nichts sagen, womit ich sie beleidigen konnte«, stotterte Meier, ihm bis zur Parlortür folgend. Helmstedt aber schien nicht zu hören, öffnete die Haustür und verschwand in der Straße.

Eine kurze Strecke war er rasch und noch im Gefühle der Beleidigung, die er sich angetan glaubte, fortgegangen; bald aber wurde sein Schritt langsamer – er begann zu überlegen, welche Maßregeln bei der unerwarteten Wendung der Dinge die geeignetsten für ihn seien. Er wurde durch ein gewaltiges: How do you do, Sir? (Wie befinden Sie sich, Herr?) aus seinen Gedanken gerissen und sah aufsehend den Mann vor sich, welchen er gestern am Hafen vor der Verhaftung geschützt hatte.

»Sie nehmen es doch nicht übel, Sir, daß ich Sie so ohne weiteres auf der Straße anrede?« fuhr dieser fort. »Sie machten aber eben ein so trübseliges Gesicht, daß ich fragen mußte, ob Ihnen irgend etwas in die Quere gekommen sei.«

Helmstedt mußte trotz seiner Verstimmtheit über den treuherzigen Ton der Erkundigung lächeln.

»Mir selbst ist nichts besonders Schlimmes passiert,« erwiderte er; »desto mehr aber einem anderen, der mich angeht. Sie haben vielleicht schon von dem Vorfall heute morgen, der Leiche des Judenknaben, gehört, die aus dem North-River gezogen worden ist – das war ein Mündel von mir, wegen dessen ich die weite Reise von Alabama hierher gemacht, und den ich nun tot finde.«

Charley hatte bei Erwähnung der Leiche die Augen weit aufgerissen und fuhr sich mit der Hand hinter das Ohr.

»Ihr Mündel, Sir? – Und erleidet denn jemand Schaden durch die Geschichte?« fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

»Wohl niemand als der Tote selbst; wenn man so sagen kann,« erwiderte Helmstedt; »es war ihm vor kurzen: erst ein ganz hübsches Vermögen zugefallen, welches ich heute für ihn anlegen wollte – das geht nun in andere Hände.«

Charley begann sich aufs neue hinter dem Ohr zu kratzen.

»Ja – aber«, sagte er, als könne er mit einem Gedanken nicht fertig werden, »das ist ja eine ganze Teufelsgeschichte! Sagen Sie, Mister – ich habe Ihren Namen wieder vergessen – wollen wir nicht einmal an die Ecke hier gehen und ein Glas Bier trinken?«

Helmstedt glaubte jetzt den Grund von Charleys großer Teilnahme erraten zu haben und nickte lächelnd, um ihn so auf die kürzeste Art los zu werden. Als der Riese aber in der Bierhalle sein Glas Bier hinuntergestürzt, als sei es ein Fingerhut voll, und Helmstedt bezahlen wollte, hielt ihn jener zurück.

»Das dürfen Sie nicht tun, Sir, ich habe Sie eingeladen,« sagte er und zog ein wohlgefülltes Portemonnaie aus der Tasche; »ich freue mich, daß Sie es nicht verschmäht haben, mit dem Charley zu trinken. Ich wollte auch eigentlich etwas anderes«, begann er, nachdem er bezahlt, mit gedämpfter Stimme wieder und führte den jungen Mann beiseite. »Wollen Sie mir nicht genau den Namen und den Ort, wo Sie zu Hause sind, aufschreiben? Ich möchte Ihren Namen nicht gern wieder vergessen, und dann – ja, dann kann man ja auch nicht wissen, was vorfällt – ich meinte nur so«, fuhr er wie in halber Verlegenheit fort, als ihn Helmstedt verwundert ansah. »Wollen Sie?«

Helmstedt zog bereitwillig sein Notizbuch hervor, riß daraus ein Blatt Papier und schrieb seine volle Adresse darauf.

»Dank Ihnen, Sir, dank Ihnen!« rief jener und steckte den Zettel sorgfältig zu seinem Gelde; »ich denke, Sie werden noch einmal von Dutch Charley hören.«

Helmstedt, als er seinen Weg weiter fortsetzte, schüttelte wohl einige Male den Kopf, wenn er an seinen sonderbaren Gesellschafter dachte, hatte aber bald den Vorfall über der Sorge für seine nächstgebotenen Verrichtungen vergessen.

* * *

An demselben Morgen um acht Uhr war Seifert in das Astorhaus getreten. Sein Gesicht war bleicher als gewöhnlich, das Halstuch saß locker und verschoben um seinen Hals, und Rock und Hut waren staubig. Er ging nach dem Bar-Room, stürzte hier ein großes Glas voll Brandy hinunter und schritt dann die Treppe nach Murphys Zimmer hinauf. Der Advokat saß, mit einer Zeitung beschäftigt, am Fenster und sah dem Eintretenden mit gespannten Augen entgegen, ohne ein Wort zu sagen.

»Well, Sir,« sagte dieser, den Hut beiseite stellend, »die Sache wäre somit fertig. Der Erbe ist vor etwa einer Stunde tot aus dem Wasser gezogen worden, und Sie haben jetzt freien Weg. Ich komme soeben vom Polizeistationshaus, wo der Coroner den Körper als den des Manuel Goldstein identifiziert und sein Urteil abgegeben hat, das freilich die Angelegenheit in etwas rätselhaftem Lichte erscheinen läßt, da der ganze Kopf zerschlagen war und einen wirklich schauerlichen Anblick bot.

Der Advokat starrte den Erzähler an, als sehe er ein Gespenst.

»Was ist das? Tot aus dem Flusse gezogen?« sagte er, sich langsam erhebend, mit einer Stimme, die wie von einem plötzlichen Schrecken gelähmt schien. »Sie sind wahnsinnig, Seifert, oder Sie wollen mich wahnsinnig machen. Treiben Sie keine schlechten Späße; die ganze Geschichte bis jetzt hat mich ohnedies mehr aufgeregt, als ich mir jemals hätte träumen lassen!«

»Sie sind eben ein Kind, wie ich schon früher gesagt, und hätten an Unternehmungen wie die begonnene gar nicht denken sollen«, erwiderte Seifert lächelnd und begann sich seines Rockes wie seines Halstuches zu entledigen. »Sie erlauben mir wohl, bei Ihnen etwas Toilette zu machen; mein Hotel ist zu weit weg, und ich kann mich wirklich in diesem Aufzuge nicht länger in den Straßen zeigen. Ich habe die ganze Nacht die Kleider nicht vom Leibe gebracht und kaum eine Stunde auf einem Stuhle in einer schmutzigen Kneipe geschlafen.«

Er wollte sich nach dem Waschtische wenden, aber der Advokat faßte mit weit aufgerissenen Augen seinen Arm.

»Seifert, haben Sie. den jungen Menschen wirklich–?!«

»Ich?« erwiderte dieser, und über sein Gesicht flog ein Ausdruck, als belustige ihn die Szene. »Nein, Sir, mit derartigen Geschäften gebe ich mich selbst nicht ab. Daß er aber tot ist, werden Sie heute schon in allen Abendblättern lesen.«

Murphys Hand preßte sich krampfhaft um seines Gefährten Arm. »Seifert, ich habe das nicht gewollt – so weit nicht, und das wußten Sie – meine Hand ist rein an dem Morde, wenn er begangen worden ist.«

Des anderen Gesicht begann sich in finstere Falten zu legen. »Ich heiße Wells, Sir, und ich muß Ihnen gestehen, daß mich Ihr jetziges Jammergesicht den Augenblick bereuen läßt, wo ich Ihnen meine Hilfe für Ihr Unternehmen zusagte. Meinen Sie etwa, wenn Sie den Teufel vor Ihren Wagen spannen, Sie können ihn immer lenken wie ein wohleingefahrenes Pferd, können verhindern, daß er einmal einen unbeabsichtigten Sprung macht? Unser Zweck ist erreicht, das ist vorläufig die Hauptsache – und werden Ihre Nerven für den Augenblick rebellisch, so trinken Sie ein paar tüchtige Schluck Brandy, das wird Ihnen die richtige Anschauung der Dinge zurückgeben.« '

Damit drehte er sich herum und begann sein Reinigungsgeschäft, während Murphy ihn noch einen Augenblick anstarrte und sich dann nach dem Fenster drehte.

Seifert hatte mit aller Sorgfalt vor dem Spiegel sein Haar frisiert und sein Halstuch gebunden, sodann seinen Rock gebürstet und seinen Hut geglättet. »Sagen Sie mir nur einmal, Verehrter,« begann er sodann, sich umdrehend, »den Fall gesetzt, der Erbe, dieser Jugendjunge, wäre nicht tot, sondern nur verschwunden; würde es denn nicht eine lange Zeit dauern, ehe er als gesetzlich verschollen erklärt und die nächsten Erben in Besitz der Hinterlassenschaft gebracht würden? Zweitens: Könnten Sie für irgendeinen Zufall stehen, der ihn während dieser Zeit wieder zum Vorschein brächte und alle gehabte Mühe samt den verwandten Kosten zu nichts machte? Drittens: Falls er verschwunden bliebe, würde nicht vielleicht während dieser Zeit das Recht des alten Besitztitels, um dessen Erlangung es sich doch bei uns nur handelt, verjähren, da nach den meinerseits eingezogenen Erkundigungen dergleichen Gesetze in jedem Staate bestehen?«

Murphy hatte während Seiferts Rede langsam den Kopf gehoben und sich halb umgedreht.

»Und«, fuhr der erstere fort, »wenn ich Ihnen nun sage und bereit bin, irgendeinen Eid darauf zu leisten, daß ich niemals an eine Ermordung des jungen Menschen gedacht noch in irgendeiner Weise dazu beigetragen habe – wurden Sie dann nicht das Unglück, an dem wir beide kein Haar breit teilhaben, und das nun einmal geschehen ist, segnen, da es uns jede Sorge vom Halse nimmt?«

Murphys Gesicht begann Heller zu werden. »Mr. Wells,« sagte er nach einer Weile, »Sie hätten Advokat werden sollen. – Aber lassen Sie einmal dieses unangenehme Lächeln,« fuhr er fort, als sich bei seiner Bemerkung ein beißender Hohn auf Seiferts Gesicht lagerte; »sagen Sie mir, des Geschäftserfolges halber – denn ein Eid wäre bei Ihnen, der an nichts glaubt, doch nur eine taube Nuß – haben Sie aus keinerlei Weise, weder direkt noch indirekt, zu dem Tode dieses Manuel Goldstein beigetragen?«

»Ich gebe Ihnen Vollmacht, mich zu übervorteilen und zu betrügen, wie Sie können, wenn meinerseits auf irgendeine Art zu dem Todesfalle geholfen wurde!« rief Seifert, die Hand wie zum Schwüre hebend; »ist Ihnen das genug?«

»Ich will Ihnen glauben«, erwiderte der Advokat und setzte sich, die Hand eine Weile vor die Augen drückend, auf das Sofa. »Wollten Sie noch etwas Weiteres sagen?« fragte er dann.

»Well, Sir, der erste Schritt wäre getan – aber auch nur der erste Schritt!« begann Seifert wieder. »Der nächste Erbe ist, wie Sie wissen, die Frau des hiesigen Pfandleihers Meier. Ich kenne aber diesen Meier. Bekommt er nur den geringsten Wind von dem Vorhandensein und dem Werte des bewußten Besitztitels, so dürfen Sie sicher sein, daß er ihn mit unbesiegbarer Zähigkeit festhalten wird, und je mehr Sie ihm dafür bieten, je weniger wird er, in der Hoffnung auf noch größeren Gewinn, zu einem Übereinkommen geneigt sein. Ich habe indessen unsere Angelegenheit so vorbereitet, daß ich den Mann jetzt ziemlich in meiner Hand habe, daß er mich fürchtet, und ich glaube, mich für eine teilweise Abtretung des Papiers seinerseits verpflichten zu können. Nur ist hier noch ein kleiner Punkt«, fuhr er höflich lächelnd fort. »Sie werden einsehen, daß ich in meiner Lage das Ende des zu erwartenden Prozesses nicht abwarten kann, ohne wenigstens etwas Geld für mich in die Hand zu bekommen. Ich bitte Sie deshalb vorläufig um etwa fünfhundert Dollars Vorschuß, worauf ich ohne weitere Ansprüche bis zum Ausgang der Verhandlungen mich gedulden werde.«

»Das kann ich nicht, Sir, das habe ich jetzt kaum noch zur Disposition!« rief der Advokat, lebhaft aufspringend. »Bedenken Sie, wie Sie mich schon abgezapft haben!«

» Ich Sie, Mr. Murphy?« sagte Seifert mit verwunderter Miene. »Hat denn meine Tasche schon einen Dollar Ihres Geldes gesehen, den ich mein Eigen genannt hätte? Sie scheinen ganz zu vergessen, daß in Unternehmungen wie das unsrige jeder Handgriff teuer, und ohne daß über den Preis gefeilscht werden darf, bezahlt werden muß«

»Ich sage Ihnen, ich zahle jetzt nichts mehr! unterbrach ihn Murphy und warf sich wieder auf das, Sofa. »Wollen Sie Partner in unserem Geschäfte sein, so warten Sie auch, bis etwas dabei herausspringt – ich habe so alle die nötigen Mittel hineingeschossen und Sie nichts –«

»Als meine Arbeit und Gefahr, die das Zehnfache Ihrer paar hundert Dollars aufwiegen!« fügte Seifert scharf hinzu. »Indessen«, fuhr er kalt, fort, »handeln Sie, nach Belieben; ich hoffe, mich selbst bezahlt machen zu können, da ich sehe,' wie hier die Sachen stehen.

Er setzte den Hut auf und wandte sich nach der Tür.

»Wo wollen Sie hin?« rief! Murphy.

»Das darf Sie wohl jetzt wenig kümmern, Sir, da Sie meinen, mich so brevi manu abschütteln zu können!« war die Antwort. Seifert legte die Hand auf das Türschloß, und Murphy sprang auf, des Davongehenden Hand erfassend.

»Sie wollen zum Pfandleiher Meier und diesem die Kenntnis der Angelegenheit verkaufen!« sagte der Advokat mit mühsam niedergehaltener Stimme.

»Vielleicht, Sir,« erwiderte Seifert, und sein Gesicht nahm eine steinerne Undurchdringlichkeit an; »vielleicht gibt es aber auch Leute, die mir für die Mitteilung der ganzen Spekulation jetzt, wo das Haupthindernis, der bevormundete Erbe, beseitigt ist, noch etwas mehr zahlen, als ich von Ihnen verlangte.«

Beide Männer standen einen Augenblick Aug' in Auge gewurzelt.

»Ist dies das letzte Geld, das Sie verlangen?« fragte endlich der Advokat mit halb heiserer Stimme, und ein böser Blick stahl sich unter seinen Wimpern hervor.

»Bis zum Ausgange des Prozesses, ja, Sir! Und daß dieser schnell beginnen kann, dafür werde ich sorgen«, erwiderte der andere. »Eins aber lassen Sie sich zu Ihrem eigenen Heil sagen: denken Sie nie daran, den Seifert hinters Licht zu führen oder ihn, wenn Sie sich sicher fühlen, wie ein gebrauchtes Werkzeug beiseite werfen zu wollen. Ehrlichkeit um Ehrlichkeit – im anderen Falle aber erinnern Sie sich, immer, daß ich keinen Zug tue, ohne mich genügend zu decken.«

Murphy warf einen finstern, kurzen Blick in seines Gefährten Gesicht und wandte sich dann wieder nach dem Fenster. »Ich werde Ihnen das Geld schaffen,« sagte er, ohne sich umzusehen; »was wollten Sie wegen eines schnellen Beginnens des Prozesses sagen?«

»Eins nach dem anderen, Sir; lassen Sie uns zuerst den Geldpunkt ordnen!« erwiderte jener, noch immer das Türschloß in der Hand.

Der Advokat machte eine Bewegung der Ungeduld, zog dann seine Brieftasche hervor und warf aus dieser eine Bankanweisung auf den Tisch. »Hier ist, was Sie verlangen,« sagte er; »jetzt habe ich noch kaum soviel, um meine Hotelrechnung zu bezahlen und die Reisekosten nach Hause zu bestreiten.«

»Wird auch nicht viel mehr notwendig sein. – Sie hätten sich übrigens, wo es sich um Erwerbung von Hunderttausenden handelt, besser vorsehen sollen«, erwiderte Seifert und prüfte lange und aufmerksam das hingeworfene Papier. »Dies genügt für jetzt«, fuhr er fort, die Anweisung sorgsam in sein Portemonnaie bergend und dann den Hut abnehmend. »Jetzt, da wir wieder in Ordnung sind, lassen Sie mich Ihnen noch einige Worte sagen und kehren Sie mir Ihr freundliches Gesicht wieder zu.«

Murphy nahm langsam auf dem Sofa Platz und stützte, ohne aufzusehen, die Stirn in die Hand. Seifert beobachtete ihn einige Augenblicke. »Wissen Sie, Mr. Murphy,« begann er sodann und holte sich einen Stuhl herbei, »aus einer verdrießlichen Trompete kommt nie ein fideler Ton, wie die Deutschen sagen, und mit einem Gesicht, wie Ihr jetziges ist, werden wir nie ein flottes Geschäft machen.«

»Lassen Sie mein' Gesicht sein, wie es will,« winkte der Advokat, »und sagen Sie mir einfach, um was es sich handelt.«

»Wie Sie wollen, Sir, aber es ist Torheit, sich über die notwendigen Kosten eines Geschäfts zu ärgern, wenn man es einmal begonnen. Die Frage ist also; wie der Pfandleiher Meier, oder vielmehr dessen Frau, welche jetzt die eigentliche Erbin ist, am schnellsten für unseren Zweck willig zu machen ist. Well, als ich mich nach unserer Ankunft hier nach Leuten umsah, durch welche der frühere Erbe beseitigt werden könnte, wollte es der Zufall, daß ich auf einen Menschen stieß, der mit besagtem Meier oft in einem Geschäftsverkehr gestanden, welcher wenigstens in den Augen der Polizei nicht ganz sauber ist. Meier macht einfach den Diebeshehler. Ich gab ihm zuerst Andeutungen, daß ich sein ganzes Treiben kenne; als er aber trotz seiner Betroffenheit von nichts Unrechtem wissen wollte, schickte ich zwei von den Menschen, welche gestohlene Waren bei ihm versetzt hatten, in sein Office, um die Sachen wieder einzulösen. Die Kerls mußten die Rolle von ehrlichen Leuten spielen; sie erzählten, ihm, daß sie erst durch die Zeitung erfahren hätten, daß die Güter, welche sie ihm gebracht, gestohlenes Eigentum seien; sie wären durch die dritte Hand in ihren Besitz gekommen, und sie müßten die Waren wieder zurück haben, um bei der Polizei. Anzeige davon zu machen und nicht selbst in den Verdacht des Diebstahles zu kommen. Ich kam gleich zu Anfang der Verhandlung wie durch Zufall hinzu. Meier war bleich wie eine Kalkwand, leugnete aber, nur zu wissen, von was die Männer sprachen, und wollte es auf eine Durchsuchung seines Hauses ankommen lassen: er hatte sich jedenfalls der verdächtigen Gegenstände schon längst entledigt. Als jetzt die beiden Kerls drohten, sofort nach der Polizei zu gehen und selbst Anzeige zu machen, warf ich mich biederherzig dazwischen und sagte ihnen, sie möchten doch zuerst dem Pfandleiher Zeit zum Nachdenken lassen, er werde sich vielleicht noch besinnen; morgen möchten sie wiederkommen – und so gingen die beiden, nachdem ich gewichtig mein Notizbuch gezogen und mir zwei x=beliebige Namen als die ihrigen hatte nennen lassen, ab. Ich aber begann nun dem Meier eine Strafrede zu halten – und ich weiß jetzt noch nicht, hat er mich für einen gutmütigen Polizeispion oder für einen halben Pfaffen genommen – sagte ihm, daß ich selbst seine heimlichen Geschäfte schon längst kenne, daß jetzt zwei bestimmte Zeugen gegen ihn vorhanden seien, und daß er sich bei einer Anzeige nimmermehr von der Verurteilung als Diebeshehler losmachen könne. Ich muß wohl sehr eindringlich gesprochen haben, denn Madame Meier kam aus der Hinterstube weinend herbei und mit ihrem: ›Siehst du, siehst du, Abraham!‹ mir gerade gelegen. Ich wurde natürlich von dem Intermezzo ziemlich gerührt und erklärte dem Pfandleiher, der ohne ein weiteres Wort reden zu können, mit weißen Lippen dastand, daß nur in Rücksicht auf seine arme Frau ich mir noch einmal überlegen werde, was ich in der Sache zu tun habe, ohne meine Pflicht und mein Gewissen zu verletzen – und ging weg. Das war vorgestern; ich vermute aber, daß das Meiersche Ehepaar seit dieser Zeit wenig geschlafen haben wird, und daß ihnen bei jeder Öffnung ihrer Tür ein Schrecken durch die Glieder gefahren ist. – Hoffentlich, Sir,« fuhr Seifert fort und zog ein Gesicht voll ironischer Treuherzigkeit, »werden Sie aus dieser kurzen Skizze ersehen, daß ich ehrlich und umsichtig meine Pflicht als Partner erfüllt habe und wohl Ihr geschätztes Vertrauen verdiene, das Sie mir so wenig angedeihen lassen wollen.«

Murphy rieb sich die Stirn. »Das Ehepaar soll also für den Preis Ihres Schweigens zu einem Übereinkommen wegen des Besitztitels vermocht werden,« sagte er, »der Plan ist so übel nicht, wenn er vorsichtig ausgeführt wird. Jedenfalls aber müßten wir ans Werk gehen, ehe die öffentliche Aufmerksamkeit sich der Hinterlassenschaft zuwendet und Smith und Johnson den fraglichen Besitztitel als noch zu dem Eigentume des Verstorbenen, gehörig in die Masse abliefern.«

»Ganz meine Ansicht, Sir!« nickte Seifert. »Ich habe für heute nachmittag und morgen früh ein kleines Privatgeschäft im Lande abzumachen – wir müssen doch erst die Leiche des jungen Menschen unter die Erde kommen lassen, ehe wir fernere Schritte tun – morgen nachmittag aber werden Sie mich hier zur weiteren Arbeit bereit finden.«

Er erhob sich und nahm seinen Hut. Der Advokat sah auf. »Ich hoffe, Sie werden nicht auf sich warten lassen«, sagte er, und um seine Augen spielte es, wie ein unbestimmter Verdacht.

»Ich fehle nie, wo es sich um mein Interesse handelt«, lächelte Seifert in seiner eigentümlichen Weise. Vergessen Sie nur nie, mich daran festzuhalten.«


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