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Aus Flandern und Brabant

Vlämisches Französisch und Französisches Vlämisch.

Indem ich Ostende mit Trouville maß, kam es ein wenig zu kurz, oder vielmehr, ich kam zu kurz. Das Meer ist überall dasselbe; aber was Trouville so reizvoll, so freudig macht, das ist seine Landschaft: seine üppig grünen Gefilde in der Nähe und seine farbigen Profile von Vorgebirgen in der blauen Ferne.

Die ruppigen Dünen zwischen Blankenberghe und Ostende sind dafür ein schlechter Ersatz. Stimmungsvoll werden sie erst, wo sie sich, wie gegen Dünkirchen hin, in die Breite ausdehnen. Hier sind die unstandhaften Sandgebilde weithin von einer goldig schimmernden Kruste überzogen, einem leuchtenden Gewebe aus Moos und Flechten, und bilden eine unabsehbare Wüste und Einsamkeit, wo Niemand als nur die stille heilige Poesie zu wohnen und heimlich zu lauschen scheint auf die Grüße, die ihr der Ozean von ferne zuraunt, auf das ewig alte und ewig neue Lied der Wellen und der Winde.

In Ostende berührt eines sehr unangenehm: dieses seltsame Franzosentum, dem man hier auf allen Wegen begegnet, dieses nachgemachte, nachgeäffte, dieses falsche, dieses Talmi-Franzosentum, und dieses grauenhafte Französisch von Leuten, die sich gern bei jeder Gelegenheit über die deutsche Sprache lustig machen, über ihre Härte und Unschönheit, über ihre großen Wörter und was weiß ich noch – womit diese Leute wahrscheinlich der Gefahr ausweichen wollen, selber für Deutsche oder etwas ähnliches genommen zu werden.

Ich frage ein Kind aus Antwerpen, ob es auch Vlämisch könne. Es verneint. Ich wundere mich.

Oh! ruft das Kind leidenschaftlich, je ne le parle jamais, le flamand, je le déteste!

– Aber dein Vater und deine Mutter sprechen es doch. Ich hörte es erst vorhin.

– Sie sprechen es nie mit mir. Nur die Dienstboten sprechen vlämisch mit mir.

So das siebenjährige Kind. Es war ein Mädchen, das man aber am Strand nur in Knabenkleidern sah, und ich nannte es meinen kleinen Amor. Aber ich betrachtete ihn manchmal mit gemischten Gefühlen, den kleinen Amor, der so lebhaft seine Muttersprache verabscheute. Und ich konnte, wenn ich wollte, die Mutter bewundern, die ihr Kind für zu gut hielt für ihre eigene Sprache.

Muttersprache, Mutterlaut,
Wie so wonnesam so traut ...

Hier wird's recht zur Ironie, das herzinnige Lied.

Einmal kam ich mit einer andern Dame aus Antwerpen ins Gespräch. Sie hatte eine Riesenperson als Amme neben sich, die das Kind hielt, ein Kind von zehn Monaten. Mit diesem sprach die Mutter französisch, die Amme vlämisch. Ich konnte mich nicht enthalten, über das zweisprachige Baby eine Bemerkung zu machen. Was wollen Sie, antwortete die Mutter, wie um sich zu entschuldigen, man kann das Vlämisch nicht vermeiden, die Ammen und Bonnen können nichts anders. Dabei sprach sie selber ein Französisch, daß zwei halbwüchsige Jungen aus Paris unwillkürlich mit Lachen herausplatzten. Sie fühlten ihre Unart und wurden über und über rot. Aber sie hatten sich nicht anders helfen können.

Wir Deutschen können uns hier erinnern, daß es auch für uns eine Zeit gab, wo die Vornehmen, wo die Edelsten der Nation es unter ihrer Würde hielten, unsere Sprache zu sprechen. Und sie werden wahrscheinlich das Französische nicht besser gesprochen haben, als die braven Bürgersleute aus Flandern und Brabant.

Bei uns hat sich das geändert. Und die vlamischen Patrioten, diejenigen Belgier, die die ›vlämische Bewegung‹ machen, mögen aus dieser Thatsache Mut und Hoffnung schöpfen.

Ihre Aufgabe ist nicht leicht. Ob sie ihnen gelingen wird? Ob sie selber daran glauben?

Viele Vläminger, mit denen ich die Frage erörterte, glaubten nicht daran, sie waren alle ausgesprochene Gegner der Bewegung.

Ich sprach aber auch mit einem › Hoofdmannen der vlamischen Beweging‹, mit dem Dichter Pol de Mont in Antwerpen. In ihm fand ich einen großen Optimisten. Er ist, wie es einem Poeten wohlansteht, voller Glauben und hegt die kühnsten Hoffnungen. Er sprach mit einer Wärme und einer Begeisterung, die, wenn sie sich ausbreiteten, Wunder wirken müßten. Und wer weiß, er mag vielleicht doch am letzten Ende recht behalten gegen die Pessimisten.

Sehr seltsam und – sehr bedeutsam ist es, daß der erste und wirksamste Förderer der vlamischen Sprachbewegung von seinem Vater her eigentlich ein Franzose war. Ein Franzose oder Halbfranzose erweckte die Vlamen zum nationalen Bewußtsein.

Hendrick Conscience beherrschte sogar selber das Vlämische nur sehr mangelhaft. Er schrieb seinen ersten Roman in der ersten Hälfte französisch, um ihn dann nachträglich ins Vlämische zu übersetzen, und er verwendet in seinen zahlreichen Büchern einen unglaublich geringen Vorrat vlämischer Wörter.

Doch gerade diese Not wurde zu einer Tugend. Ihr verdankte er seine Popularität, überhaupt seine Wirkung. Es klingt komisch, aber hätte er vlämisch mit vlämischen Wörtern geschrieben, so hätten ihn die Vlamen nicht gelesen, sie hätten ihn einfach nicht verstehen können.

Also ein Franzose mußte zu allererst den Vlamen beweisen, daß man in ihrer Sprache Bücher schreiben kann. Und die Thatsache steht nicht einzig da. Einer der populärsten Männer des heutigen Flandern, der Begründer des vlämischen Konservatoriums, nennt sich Benoît.

* * *

Außer den innerpolitischen Verhältnissen des Landes und verschiedenen äußerlichen, insbesondere praktischen Gründen, sind es zwei moralische Thatsachen, die die Aufgabe der vlämischen Bewegung außerordentlich erschweren.

Da ist zunächst der eigentümliche Umstand, daß die Vlamen Germanen sind – deutsche Germanen.

Wenn sie Romanen wären, hätten sie eben gar keinen Kampf nötig. Sie wären dann nie so weit gekommen. Nur ein Volk von germanischer, von deutscher Rasse konnte dahin gebracht werden, die eigene Sprache aufzugeben und, wenigstens in den höheren Ständen, eine fremde zu sprechen, – womit gleichsam ein Kopf sich abtrennen wollte von seinem Rumpf, um sich einem anderen fremden Organismus anzugliedern.

Ich schiebe hier zwei Beobachtungen ein.

Ein Hôtel in der Nähe von Ostende hatte bei einer besonderen Gelegenheit festlich geflaggt. Unter den Fahnen zählte ich über ein Dutzend französische. Es waren außerdem mehrere englische, amerikanische, russische, sogar italienische dabei. Aber keine einzige deutsche. Der Wirt war ein Deutscher. Er stammte aus einer deutschen Residenz. Seine Gäste waren zum größten Teil Deutsche. Keiner beschwerte sich.

So verstehen die Deutschen den Patriotismus. Es gibt wohl eine Empfindlichkeit, die aus Schwäche fließt; aber allzugroßer Mangel an Empfindlichkeit ist immer Stumpfheit.

Zuhause, in seiner deutschen Fürstenresidenz, würde der brave deutsche Gastwirt wahrscheinlich jeden für einen Reichsfeind erklärt haben, der an dem üblichen offiziellen Fanfarenpatriotismus keinen Geschmack gefunden hätte.

Und nun ein belgisches Beispiel.

Da wurde eines Tages zu Eccloo das Denkmal des vlämischen Dichters Ledeganck eingeweiht. Die Vlamen setzen nämlich allen ihren Dichtern Denkmäler. Der ganze Generalstab des vlämischen Lagers war versammelt. Auch Prinz Albrecht › onze Vlaamsche Prins‹, wie die vlämischen Zeitungen sich ausdrückten, war anwesend. Und die Bürgerwehr » vordt in het Vlaamsch bevolen«. Es wurden eine Menge patriotischer Reden gehalten, natürlich in vlämischer Sprache. Ein Universitätsprofessor aus Lüttich, ein Wallone, sagte zu mir: Diese Flamländer mit ihren Dichtern; Denkmäler setzen sie ihnen, aber lesen thun sie sie nicht. Für ihr Lesebedürfniß lassen sie die Franzosen sorgen. Und in der That, man braucht sich nur die Buchläden anzusehen, zu Brüssel, zu Gent, zu Brügge, zu Antwerpen, und man wird finden, daß der Wallone nicht übertrieben hat.

Man macht ja sogar bei uns ähnliche Beobachtungen.

Uns fehlt eben vor allem eines: ein starkes Temperament.

Diesem fatalen Fehler der deutschen Germanen, mehr als den politischen Verhältnissen, ist die Lage der Dinge zuzuschreiben, die zu überwinden die vlämischen Patrioten übernommen haben.

Als in der Revolution von 1830 die Niederlande auseinandergerissen wurden, da war wieder einmal, wie so oft bei den Germanen, das Religionsgefühl stärker, als das Rassengefühl. Dieses schlief den Schlaf des Gerechten, und das Volk von Flandern und Brabant ging, ächt germanisch, nicht mit den Stammesbrüdern, sondern mit den Religionsgenossen, woraus diese, nämlich die Wallonen, die Folgerung zogen, daß sie von nun an mit dem vlämischen Volkstum nicht mehr zu rechnen brauchten.

Es ist die alte Geschichte vom schlafenden Michel.

Heute freilich sehen die Vlamen ein, daß sie die Gefoppten waren bei jener famosen Revolution, und heut ist die Wiedervereinigung mit Holland bei Manchen ein heimlicher oder auch offen ausgesprochener Wunsch.

* * *

Ich habe oben angedeutet, daß noch eine zweite Thatsache der vlämisch nationalen Bewegung große Schwierigkeit bereitet. Das ist die heutige Politik Deutschlands. Nicht die äußere, sondern die innere. Diese ist nicht danach angethan, um für den deutschen Geist Propaganda zu machen. Wie oft ich mit Belgiern, es seien Vlamen ober Wallonen, auf Deutschland zu sprechen kam, immer klang es mehr oder weniger aus ihren Reden heraus: wie sollen wir mit einem Reich sympathisiren, wo der Soldat mehr gilt als der Bürger, wo die freie Meinungsäußerung und die feinste geistige Kulturarbeit jeden Augenblick von der Polizeimacht bedroht werden kann, wo ein fast mittelalterliches Junkertum dem Geist der modernen Zeit Hohn sprechen darf ...

Diese Abneigung, man könnte fast sagen, diese Furcht vor dem politischen Deutschland, beeinflußt mehr oder weniger auch die Gefühle gegenüber dem deutschen Volk und Geist als solchem. Viele vlämische Belgier empfinden antideutsch nur aus diesem Grunde. Und diese alle stehen der national-vlämischen Bewegung wenn nicht feindlich, so doch lau gegenüber. Denn es ist nur natürlich, daß diese ganze Bewegung im tiefsten Untergrund als ein Erwachen und Erstarken des germanischen Rasseninstinkts gegenüber dem romanischen empfunden wird.

Sie wird vor allem in Frankreich so verstanden. Und Frankreich sieht darum nicht müßig zu. Es ermuntert und unterstützt die Gegenbewegung, wo es nur kann. Man sieht in Belgien fast noch mehr rote Bändchen im Knopfloch, als in Frankreich selbst, wo doch auch schon kein Mangel ist in dieser sinnigen Verzierung des starken Geschlechts.

Meine seltsame Unterhaltung mit dem König der Belgier und anderes.

Die Politik bringt mich auf den König der Belgier. Er wohnte meine ganze Zeit über in Ostende, und ich habe mich sehr für ihn interessirt.

Wir Deutschen denken uns einen König so ganz und gar anders. Wir sind in diesem Stück fast wie die kleinen Kinder. Nur übersetzen wir den Purpurmantel in eine zweifarbige Uniform, das Scepter in einen Schleppsäbel und die Krone in eine Pickelhaube. Anders thun wir's nicht. Anders können wir uns einmal, wie die kleinen Kinder auch, einen König nicht leicht vorstellen. Wenn man nun sagt, der Mann dort in der gelben Flanellhose und der grauen Joppe, mit dem Strohhütchen auf dem Kopf und dem Regenschirm in der Hand, sei ein König, wir mögen es kaum glauben.

Man konnte den König der Belgier täglich so sehen. Täglich ging er so spazieren auf dem Deich zwischen Ostende und Mariakerke. Er wurde dann von den meisten Leuten gegrüßt, so gegrüßt, wie man einen Privatmann auch grüßt. Mir fiel die Art auf, wie er dankte. Der König faßte seinen runden Strohhut nicht am Rande an, sondern er lüftete den Hut, indem er den Kopfteil desselben, von oben her, mit der ganzen Hand umspannte, wie ein armer Teufel, dessen Strohhut zehn Jahre dauern muß. Eine schreiende Knabenstimme rief einmal: Hé, le roi, il boîte comme un diable. Der König hielt an, um nach dem Jungen zu sehen, dann ging er weiter. Er hinkt sehr stark, wie wenn ihm eine Hüfte ganz ausgerenkt wäre.

Ich hatte selbst ein kleines Erlebniß mit dem König, wobei ich an gewisse Erzählungen über Ludwig I. denken mußte. Ich saß am Rande des Deichs und schrieb. Der König kam des Wegs mit der Prinzessin Klementine am Arm. Als er mich bemerkte, verließ er die Prinzessin und schritt auf mich zu. Förmlich auf den Leib rückte er mir, höchstens einen halben Schritt Abstand hielt er. Und eine gute Weile richtete er seinen Blick auf mich. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß der Mann ein König ist, hätte ich höflich gefragt, was er von mir wünsche. So schwieg ich.

Man ist eben doch nicht gewohnt, nur so mit Königen zu reden. Und Vieles, was wir intellektuell überwunden haben, oder überwunden zu haben glauben, ist noch mächtig in uns als unbewußtes Gefühl. Wir haben in vielen Stücken mehr Volksglauben in uns, als wir ahnen ...

Ich wartete also, ob der König mich anredete. Er sagte aber nichts, sondern kehrte an die Seite der Prinzessin zurück.

Das Volk von Ostende macht sich nicht viel aus seinem König, weil es ihn eben täglich sieht. Deswegen ist aber dieses Volk nicht anders als wie das Volk allerorten.

Einmal kam der Lord-Mayor von London nach Ostende und wurde im Stadthaus offiziell empfangen. Er erschien mit ziemlichem Gefolge und ganz in dem Aufzuge, wie ihn die illustrirten Zeitungen beim Jubelfest seiner Königin darstellten. Und auch jenes Zeichen seiner Würde, ich weiß nicht wie man es heißt, wurde ihm vorangetragen, jenes ungeheure Ding aus Gold oder Messing, das wie ein monströser Scepter in der Sonne funkelte. Und es war ein großes begeistertes Zusammenlaufen und Jauchzen und Vivatrufen.

Das Volk ist so. Das Volk will so etwas überall. Ueberall besteht der große Haufen aus Kindern. Und man sieht bei einer solchen Gelegenheit deutlich, was alles zum Volke gehört.

Mir sind die kleinen Kinder meistens lieber. Am Meer besonders sind sie bezaubernd. Sie sind das Erfreulichste, das Erquickendste des ganzen Badelebens. Ihre eigene Glückseligkeit ist eben absolut echt. Die Erwachsenen hingegen langweilen sich meistens, wie sie sich auch geberden mögen. Und so großartig wirksam tritt der Spieltrieb der Kreatur, der ja zugleich Kunsttrieb ist, nirgends in die Erscheinung als bei den Kindern am Meeresstrand. Welcher Eifer! Welche Unermüdlichkeit! Welch ein Glück!

Und das Ganze, welch eine Schönheit!

Da haben zwei ganz Kleine eine Grube gemacht im Sand. Und halb nackt, wie sie sind, und unerschrocken patschen sie ins Meer, den rollenden Wogen entgegen, und schöpfen Wasser mit ihren kleinen Blechkübeln und füllen ihre Grube, immerfort, hin und her, mit ihren molligen speckigen Körperchen unter ihren großen schneeweißen Hauben. Und wie ernst sie dabei sind. Man dichtet ihnen unwillkürlich Flügel an. Man denkt unwillkürlich an die bekannte Legende vom heiligen Augustinus.

* * *

Im Hotel bei Tisch hatte ich zu meiner großen Genugthuung auch ein Kind an meiner Seite, wenn auch ein etwas größeres – eine Pariserin. Oft kam noch eine Freundin dazu, dann waren es zwei, zwei Kinder nämlich. Wirklich wie Kinder nahmen sie sich aus im Vergleich zu den deutschen Frauen. Sie mußten immer tändeln, immer spielen, immer lachen. Den deutschen Frauen gefielen sie nicht. Dieselben beschäftigten sich dennoch viel mit ihnen: wer sie wohl sein mochten, ob sie auch wirklich verheiratet seien. Die letztere Frage schien ihnen vor allem wichtig. Sie kehrte immer und immer wieder. Und wochenlang erging man sich in allen möglichen Vermutungen über die ahnungslosen und sorglosen Töchter Lutetia's.

Mir war meine Tischnachbarschaft sehr angenehm. Ich höre Pariserinnen für mein Leben gern plaudern. Es ist schon etwas anderes, als das Französisch der Antwerpener Damen. Die Pariserinnen ahmten diese manchmal spottend nach. Das war drollig.

Meine Nachbarin gestand mir dennoch, daß sie das Französisch der Vlamen gerne höre. Es mache ihr manchmal Ohrenweh; aber ihrem Herzen thue es wohl.

Sie sprach als echte Französin. Sie begriff, daß fremde Völker, die unsere Sprache reden unter Verleugnung der eigenen, unsere Vasallen sind, vielleicht nicht dem Körper, aber dem Geiste nach.

Die Franzosen sind in diesem Punkt feinfühliger als wir.

Soviel über Modernes und die neu-vlämische Bewegung, über das Besinnen oder Nichtbesinnen des vlämischen Geistes auf sich selber und auf die Gesetze nationaler Krystallisation, welche die politische Geschichte unsers Jahrhunderts in ihrer Physiognomie und Eigenart vor allem bestimmten. Wir werden darüber die alt-vlämische Bewegung nicht vergessen, die große Kulturarbeit dieser Provinzen in den vergangenen Jahrhunderten, wodurch sie, die äußerlich engbegrenzten, einen so weiten Raum einnehmen in der Geschichte der geistigen Kultur Europa's. Die Spuren dieser schöpferischen Regsamkeit stellen sich einem in dem kleinen Land zu sehr auf Schritt und Tritt in den Weg, als daß man sie übersehen könnte.

Von alter Bau- und Bürgerherrlichkeit.

Man besucht von Ostende aus bequem einige Hauptorte der altflandrischen Herrlichkeit, die sonst weit abliegen von den heutigen Mittelpunkten des pulsirenden Lebens in Belgien. Die Straßenbahn, von Ostende nach der französischen Grenze führend, bietet dazu eine gemütliche Gelegenheit. Sie befördert etwas langsam; um so gründlicher kann man sich dabei alles ansehen: die weite fruchtbare Ebene und die winzigen Wohnungen der Menschen, die manchmal in ihrem blendend weißen Anstrich wie Kinderspielzeug aussehen. Man kann dabei die Hausinschriften lesen und gemächlich vlämisch studiren.

Die Bahn geht zwei Stunden lang ununterbrochen hinter den Dünen hin. Das ist sehr eigenartig. Man sitzt da immer wie vor einem Theatervorhang. Man erwartet jeden Augenblick, daß der Vorhang sich auseinanderthue und das leuchtende Schauspiel des weiten Meeres erscheine. Es geschieht zwar nie, aber die Phantasie bleibt dafür um so mehr in Spannung.

Dann kommt Furne.

Das ist so still, wie ausgestorben. Aber gern wird Jedermann hier Halt machen, wo die feinen Renaissance-Loggien und die altflandrischen Tapeten und Kamine des Stadthauses das Auge entzücken, wo die Kirche von St. Walpurg, obwohl nur im Chor ausgebaut, mit den stolzesten Kathedralen der Welt wetteifert, wo der Speisesaal im Hôtel de la Noble Rose dem vornehmen Namen des Hauses vollkommen entspricht und in seinem wahrhaft künstlerischen Geschmack um so mehr überrascht, je weniger man an dem fast bäuerisch gewordenen Platz so etwas erwartet hat.

Von Furne nach Ypern braucht das »Zügle«, wie wir in Schwaben sagen, noch einmal zwei Stunden. Man sieht jetzt, da es südlich ins Land hineingeht, keine Dünen mehr, sondern nur noch Ebene und Ebene.

Ypern entschädigt reichlich für die lange Fahrt. Seine Kathedrale ist nicht nur von überraschender Gesammtwirkung, sie ist auch überaus reich an entzückenden Einzelheiten der gotischen Kunst.

Nichts hat sich an den gotischen Kathedralen so selten erhalten als die ursprünglichen Thüren, während doch sogar die zerbrechlichen Fenster oft genug bis ins dreizehnte Jahrhundert und weiter zurück gehen. Die Kirche zu Ypern hat aber noch ihre alten Türen. Sie sind reiche spätgotische Schnitzwerke und als solche kostbare Denkmäler einer Zeit, die alles, das Kleinste und das Größte, reich und schön gestalten mußte. Und das waren wahrhaftig keine Zeiten der Ruhe und des Friedens.

Die Tuchhallen von Ypern sind weltberühmt. Sie sind eine der größten Schöpfungen, die der gotische Stil zu weltlichen Zwecken geschaffen hat. Sie erinnern an Venedig. Bei ihrem Anblick glaubt man gern, daß man in dem heute so unbedeutenden Nest, im dreizehnten Jahrhundert, einmal über 200 000 Einwohner gezählt hat.

Und das Gefühl einer eigentümlichen Ehrfurcht überkommt einen in dem kleinen Ort vor dem großen Werk. Man versucht, sich diese fleißigen Bürger vorzustellen, diese braven Tuchmacher, als Einzelne so schlicht und einfach, in ihrer Gesammtheit so reich, so stolz, so mächtig, diese Zunftmeister, die, möchte man sagen, es rechtzeitig begriffen haben, daß ihre lebendige und dermalige Herrlichkeit vergehen müsse wie ihr Fleisch und Blut, und die ihr deshalb, wie die Pharaonen des alten Egypten, ein Denkmal setzen wollten aus Stein, ein ungeheures, für ewige Zeiten.

Die Statuen der Hauptfassade aber, die vierzehn Grafen von Flandern, sind neue Werke. Die alten sind von Geusen, Sanskulotten und anderen Idealisten zerstört worden. Auch am Genter Stadthaus haben die Jakobiner die wunderbaren Bildwerke verstümmelt, hunderte an Zahl. Sie waren eben nicht weniger Bilderstürmer, als der fromme Kaiser Leo der Isaurier im achten und die frommen Reformatoren im sechzehnten Jahrhundert.

Denn Ideen wirken wie die Natur nicht nur schöpferisch, sondern auch zerstörend. Das Wort tötet nicht nur oft den Geist, noch öfter tötet der Geist das Werk. Ceci tuera cela, drückt es Victor Hugo aus in seiner Notre-Dame de Paris.

Den gotischen Tuchhallen zu Ypern steht das Stadthaus im Renaissancestil würdig zur Seite, und es ist ein Beweis dafür, daß die älteste und feinste Renaissance die Gotik noch achtete und sich mit ihr in Harmonie zu bringen suchte. Diese Bemerkung drängt sich einem auch bei der Betrachtung anderer Werke auf, z. B. bei dem Archivgebäude zu Brügge, oder am Kölner Rathaus, oder am Hôtel de Cluny zu Paris. Und nicht zum wenigsten in Venedig. Erst, als die Renaissance selber bereits vergröbert, als sie bereits barock geworden war, stellte sie sich überall tollpatschig mitten in die Gotik hinein und that, als ob diese nicht da wäre, wie in so vielen Kathedralen Frankreichs und der spanisch-katholisch gewordenen Provinzen von Flandern und Brabant.

* * *

Zu Ypern und noch mehr zu Furne ist man nahe an der französischen Grenze. Und es ist gar nicht uninteressant, etwa nach Dünkirchen hinüberzufahren. Man ist auch noch an diesem Ort in Flandern. Wer das nicht aus der Geschichte und Geographie weiß, braucht nur die Stationsnamen unterwegs und die Firmenschilder in den Straßen der Stadt zu lesen. Oder er braucht nur auf dem Markt seine Ohren aufzumachen. Das Volk vom Lande spricht in dieser französischen Stadt nicht französisch, sondern vlämisch.

Das Volk als solches ist eben immer ein Stück Natur, das gerade diese besondere Sprache redet, wie eine Pflanze gerade diese besondere Art Blüte trägt. Und so hat sogar in Frankreich, so hat sogar dieser eindringlichen und einschmeichlerischen französischen Sprache gegenüber, das Volk als solches sein angeborenes vlämisches Idiom bis heute treu bewahrt; das gebildete Bürgertum des belgischen Flandern aber hat sich ein künstliches Französisch angelernt.

Die Stadt der van Eyck und des Hans Memling.

Noch bequemer als die genannten Orte erreicht man von Ostende aus die beiden berühmtesten Städte des alten Flandern: Brügge und Gent.

Brügge ist das flandrische Nürnberg.

Aber so wahr der Vergleich ist, so falsche Vorstellungen kann er leicht erwecken. Man könnte nun meinen, Brügge sehe aus wie Nürnberg. Wer mit dieser Voraussetzung nach Brügge kommt, oder überhaupt mit der Vorstellung alter süddeutscher Städtebilder, ob er sie nun zu Ulm oder zu Frankfurt, zu Rothenburg oder Heilbronn gewonnen hat, der wird im ersten Augenblick sehr enttäuscht sein. Die Stadt wird seinem Auge gar nicht mittelalterlich vorkommen. Sie ist eben nicht aus Holz gebaut. Sondern besteht aus Backsteinen, aus nichts als aus Backsteinen. Die Häuser sehen deshalb ganz anders aus, als alte süddeutsche Häuser mit ihrem Fachwerk, mit ihren schwindelig hohen vorgeneigten Holzgiebeln, mit ihren vorstehenden Dächern. Die Einstöckigkeit und die gestaffelten Steingiebel geben diesen Häusern einen Charakter, der auf einen Süddeutschen befremdend wirkt. Sie verleihen dieser Stadt, bei dem gänzlichen Fehlen des Holzes und den hellen Farben in rot und gelb, fast etwas Italienisches. Die vielen malerischen Wirtshausschilder der alten süddeutschen Städte fehlen natürlich auch. Die Straßenbilder sind also ganz andere, als in unseren Städten daheim.

Nicht nur für das Ohr, auch für das Auge spricht diese Stadt eine nicht sofort verständliche Sprache.

Am interessantesten sind natürlich die Straßen, die den zahlreichen Kanälen entlang ziehen. Sie sind überall von Grün belebt, sie bieten jeden Augenblick überraschende Perspektiven, und die unzähligen hochbuckeligen Steinbrücken, aus denen Gras und Blumen und manchmal sogar Sträucher und Bäume hervorwachsen, wirken eigentümlich malerisch. In den schwarzen Wassern der Tiefe spiegeln sich selten Menschen. Wenn Nixen auf ihrem Grunde wohnen, nur selten wird ein menschlicher Laut sie stören. Gibt es wirklich solche Märchenwesen in den dunkeln Tiefen? Sie scheinen manchmal weiße Hände heraufzustrecken. Oder sind das nur weiße Wasserlilien, die auf der schwarzen Flut schwimmen, auf den stehengebliebenen toten Wassern des toten Brügge, de la Bruges morte, wie sein moderner Dichter Georges Rodenbach es nennt, der nun auch tot ist.

* * *

Eine erfreuliche Erscheinung fiel mir in Brügge und Gent auf. In allen Straßen begegnet man vormittags einer Menge von Milchkarren, die mit Hunden oder kleinen schwarzen Eseln bespannt sind. Diese Köter und kümmerlichen Langohre ziehen eine überraschende Pracht hinter sich her. Die Milchkannen sind hier keine plumpen, formlosen Gefäße aus schmutzig-grauem Eisenblech mit häßlichen Buckeln und Dallen; sie haben großartige alte Formen und leuchten im hellen Goldglanz des edlen Kupfers. Auch in vielfach anderer Gestalt blinkt einem das schöne Metall überall aus den Häusern entgegen und zeigt uns, wie hier ein anspruchsvoller Geschmack, aus großer, reicher Zeit erwachsen, sich auch in ungünstigen Jahrhunderten nicht wieder ganz verloren hat – ebenso wie sich zum Teil auch die großen Privatvermögen aus der Vergangenheit in die Gegenwart herein erhalten haben.

* * *

Den bedeutendsten und erbaulichsten Eindruck machen Gent und Brügge als Wiegenstädte der altflandrischen Kunst. Ihr Reichtum, ihre Machtstellung, ihr historischer Ruhm, das alles ist hin; wir können höchstens davon lesen oder hören. Aber wie hier die ersten und wundersamsten Blüten der frommen germanischen Kunst aufgeblüht sind, diese weltüberraschenden Offenbarungen von Farbenpracht und Farbenzartheit, wovor sogar das sonnenlichte farbige Italien in Bewunderung ausbrach: das können wir noch sehen mit eigenen Augen und können unsere heilige Freude daran haben; denn das sind ewige unverwelkliche Blüten.

Im Memling-Museum des Johanniterhospitals zu Brügge beobachtete ich einen Künstler (oder auch nur ästhetischen Menschen); ich beobachtete ihn stundenlang vor diesen wenigen, aber einzigen Werken, vor den lieblichen Mädchengesichtern des Ursulaschreins, vor der unvergleichlich holdseligen Madonna mit dem Apfel, vor der naiven Einfachheit und Unübertrefflichkeit des Newenhofen'schen Bildnisses, vor der Anbetung der Könige, vor der mystischen Vermählung der heiligen Katharina. So deutlich wie diesem habe ich selten einem Menschen angesehen, daß er ein großes Glück erlebte.

Und dann kamen andere Leute, ein Herr und eine Dame, die vor dem Ursulaschrein lachen und schlechte Witze machen konnten. Ich beobachtete meinen Mann, ich sah ihm an, daß er Mühe hatte, sich zurückzuhalten, um nicht die Rolle Jesu zu spielen in dem Heiligtume zu Jerusalem.

Warum nur auch in aller Welt läuft in den berühmten Galerien so viel Gesindel herum, das nichts sieht, gar nichts, und keine Ahnung davon hat, daß ein Kunstwerk ein Genuß sein kann, ein einfach sinnlicher Genuß. Ich glaube, sie nennen das Bildung.

Neben Memling's Anmut und Zartheit und lieblich freudiger Farbigkeit wirken die Brüder van Eyck fast derb naturalistisch. Aber sie hatten vielleicht, wie die drei Obergestalten des Genter Altars zu beweisen scheinen, mehr als Memling ein dunkles Gefühl von großer Form, von monumentaler Auffassung, – die übrigens auch Memling einmal überraschend kund thut. Das Bild ist heute in Antwerpen zu sehen. Es ist eine lange Tafel mit dem Weltheiland in der Mitte und singenden und musizirenden Engeln auf beiden Seiten, ein Werk von reiner großer Schönheit, vielleicht Memling's großartigste Schöpfung. Die Stadt Antwerpen, die das Bild erst vor Kurzem aus dem Dunkel irgend eines spanischen Klosters zurückerwarb, ist mit dieser Erwerbung (auch pekuniär) glücklicher gewesen als Berlin mit seinen Flügeln des Genter Altarbildes.

Einmal that ich der guten Stadt Brügge Unrecht. Auf dem Burgplatz, wo das Archivgebäude in edelster Renaissance (mit decenten Vergoldungen) und das spätgotische figurenreiche und formenüppige Rathaus, mit der Kapelle zum heiligen Blut, ein bezauberndes architektonisches Ganzes bilden, auf diesem ausgezeichneten Platz, inmitten eines mehrfachen Kranzes von Linden, stieß ich auf eine unansehnliche weiße Statue, einen Gypsabguß, mit einem Loch im hohlen Knie und mehreren anderen Verwundungen: es fehlte nur der Hund, der die Löcher und Wunden beleckte, und das Bild des pestbeuligen heiligen Rochus wäre vollständig gewesen. Zu meinem Erstaunen, und ich muß schon sagen, zu meiner Entrüstung, las ich auf dem Sockel: Jan van Eyck. Wahrlich, ich dachte wenig schmeichelhaft von den Bürgern des heutigen Brügge. Wie kann man aber auch ein solches Jammerbild öffentlich aufstellen, und noch dazu auf einem so wunderbaren Platz.

Dennoch waren meine Gedanken ungerecht. Ich begegnete noch an demselben Nachmittag zwei anderen Standbildern des großen Künstlers. Da gibt es ein riesiges Erzbild von Pirkery, das an Würdigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Es ist eher allzu opulent ausgefallen. Der Meister steht fast paschamäßig auf seinem hohen Sockel. Der marmorene Memling desselben Bildhauers auf dem alten Woensdaymarkt ist mir lieber. Ich weiß wenig öffentliche Standbilder der modernen Zeit, die ich diesem Memling gleichstellen würde. Es ist ein Werk von zartester Charakteristik.

Aber vielleicht habe ich über den van Eyck zu viel gesagt. Die beiden Bilder bringen doch wohl den künstlerischen Gegensatz der zwei Meister glücklich zum Ausdruck.

* * *

Bei den Stadthäusern zu Brügge und Gent denkt man unwillkürlich an die anderer Städte, die zum Teil noch schöner sind und reicher an Figuren, wie das zu Brüssel, oder das zu Oudenarde, oder das zu Löwen. Man überdenkt voll staunender Bewunderung den ungeheuren Reichtum an entzückenden plastischen Kunstwerken, die alle von den Façaden dieser Stadt-Häuser beherbergt werden, eine ganze wimmelnde Menschheit aus Stein, im Einzelnen oft kaum zu sehen und zu unterscheiden. Wie herrlich müßte es sein, wenn man zu Brüssel ein Museum errichtete, ähnlich dem Trokadero zu Paris, wo die besten dieser unzähligen Einzelwerke, die dann immer noch nach Tausenden zählten, in getönten Gypsabdrücken aufgestellt würden. Es müßte eine überraschende Versammlung werden von graziösen Gestalten und charakteristischen Köpfen.

* * *

Gent und Brügge haben beide noch heute den erstaunlichen Umfang wie zur Zeit ihrer Blüte. Aber das Leben, das in ihnen pulsirt, ist verarmt. Sie liegen still, schlafähnlich. Nur die hohen Belfriede (die in keiner flandrischen Stadt fehlen) lassen ihre Glockenspiele noch eben so laut und lustig ertönen, wie in der alten Zeit.

Diese lustige Musik steht in merkwürdigem Kontrast zu dem schweigsamen und ruhigen Wesen der Bewohner. Im Grund ist aber der Sinn dieser Musik auch gar nicht lustig. Hinter dem frivolen Geklingel steckt eigentlich ein furchtbarer Ernst. Die Flüchtigkeit unseres Lebens wird uns hier von Stunde zu Stunde, ja meistens von Viertelstunde zu Viertelstunde, mit einer Eindringlichkeit in die Ohren gerufen, die nichts zu wünschen übrig läßt. Ich begreife, daß es Leute gibt, denen diese Musik nicht nach dem Geschmack ist.

Das Jesuitentüpferl und Peter Paul Rubens.

Die Kathedralen der flandrischen Städte (und auch viele gewöhnliche Kirchen aus der gotischen Zeit) haben alle im Innern große und schöne Verhältnisse. Ein an deutsche Gotik gewöhntes Auge wird überrascht durch die breite Spannung der Gewölbe, durch die weiten lichten Räume im Allgemeinen. Etwas ernüchternd wirkt die gelblich graue Tünche, womit, die Kathedralen von Lüttich und Brügge ausgenommen, alle gleichmäßig bedeckt sind. Und das ist nicht etwa das Ergebniß einer neueren farbenfeindlichen Zeit, das war, scheint es, immer so; diese grauen Kircheninnern fallen schon in den Bildern von Memling und Roger von der Weyden auf, deren reiche und leuchtende Farbigkeit sie auffallend und oft störend durchbrechen.

Diese gotischen Kathedralen haben alle, ohne Ausnahmen, ein merkwürdiges jesuitisches – sagen wir – Tüpfelchen auf's ›I‹ bekommen: die Kanzel. Die Jesuiten, die ein protestantisches Prinzip, nämlich die Wichtigkeit der Predigt, zu dem ihrigen gemacht haben, haben ihrer Herrschaft über Belgien in jeder bedeutenden Kirche ein eigenartiges Denkmal gesetzt: eine Kanzel. Man findet sie ausnahmslos an allen Orten, diese Jesuitenkanzeln, diese üppigen Holzskulpturen, diese Rokoko-Kunststücke, oft geschmacklos, immer aber überraschend kühn und reich, und manchmal von phantastischer Schönheit. Wohl die schönste von allen ist in Antwerpen zu sehen.

Diese Jesuitenkanzeln erinnern mich daran, daß ich noch von der zweiten großen flandrischen Kunstblüte zu sprechen hätte. Ich kann nur keinen rechten Uebergang finden zu dieser so anders gearteten Kunst, die nicht aus heimischem Boden erwachsen, und die nur in sehr beschränktem Sinn von heimischem Geiste beseelt ist. Und ich würde befürchten, so geradeswegs von den van Eyck und Memling herkommend, dem herrlichen Rubens nicht ganz gerecht zu werden, dem großen Meister der spanischen Periode in der niederländischen Geschichte, dem Manne, der ein großes Genie, ein großer Künstler und ein noch größerer Virtuos war, ein Schnellmaler und ein Allesmaler, ein Gewaltskerl, dessen berühmteste Kirchenbilder sich ausnehmen wie prunkvolle Theatervorstellungen, oder ebenso prunkende Theaterdekorationen, und der mit seinem überwältigenden Genie Palast und Kirche auf zwei Jahrhunderte hinaus ausschließlich beherrschen konnte ...

Tempora mutantur et ars mutatur in illis.


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