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Ein Spaziergang nach Triest und Pola

Kultur und Kunst in den Alpen.

So berühmt wie Syrakus sind die beiden genannten Städte nicht. Aber wie beim künstlerischen Schaffen, so auch bei einer Reise, die keine Geschäftsreise ist, sondern ein Spaziergang: auch hier kommt es nicht allein darauf an, daß man zuletzt ein Ziel erreicht, jeder Schritt muß Ziel sein. Und vielleicht ist es so mit dem ganzen Leben, das man bekanntlich seit alttestamentlichen Zeiten her selber eine Reise zu nennen pflegt. Wer nicht in dem Goethe'schen Sinn reist und lebt, also nicht nach der Methode, durch die ein Kunstwerk wird, der mag am Ende ein Heiliger oder ein Held werden, ein Weiser ist er schwerlich. Ganz gewiß aber lebt und reist er nicht zu seinem Vergnügen, und ich fürchte, auch nicht zum Vergnügen Anderer.

Ich reiste zu meinem Vergnügen. Und ich ging, zu Fuß, von Kufstein aus. Das ist noch ein gemüthliches Nest. Das Aueracher Bräu dort kenne ich seit zwanzig Jahren, seither hat sich der Verkehr am Ort ins Unheimliche gesteigert, aber der alte Gasthof ist sich ganz gleich geblieben in seiner anspruchslosen aber soliden Behäbigkeit. Und eigentlich gilt das allen Tyroler Häusern, wenn man nicht solche dazu zählt, die zwar in Tyrol stehen (bei Toblach z. B.), aber deswegen doch keine Tyroler Häuser sind. Die großen Aktienhotel-Unternehmungen sind natürlich dieselben in der ganzen Welt. Das eigentliche Tyroler Gasthauswesen verrät schon in seinen Aushängeschildern seinen besonderen Charakter. Das sind nicht wie in der Schweiz, neumodisch-prunkvolle, französisch-internationale Hoteltitel, die überall wiederkehren, sondern es sind echte alte »Hausnamen«, die ein Stück Lokalgeschichte in sich schließen, die nicht gemacht sind, sondern den gleichen Ursprung haben wie die guten alten Ortsnamen selber.

Es sitzt sich schön zu Kufstein in dem Laubengärtchen vor dem Aueracher, nahe am unteren Stadtthor und nicht weit vom oberen. Und je unruhiger und nervöser die Touristen thun, die um einen herumwimmeln mit ihren gewaltigen Ausrüstungen für Hochtouren, um so süßer schmeckt einem die eigene Geruhsamkeit in dem Bewußtsein, nicht wie die Anderen schwere Aufgaben und Pflichten zu haben, Touristenpflichten, sondern nur einem einfachen Spaziergang entgegen zu sehen.

Im Angesicht des »Kaisers«, der waghalsigen Leuten gefährlicher sein soll als selbst der Montblanc, auf bescheidenen Wegen, über blumige Matten, an entzückenden Dörfern und Klöstern vorüber, wanderte ich nach Kitzbühl. Die Tyroler sprechen Kitzbichl. Warum es nur die Karten nicht so schreiben. Entsteht doch immer dadurch der schlechte Stil, daß man anders schreiben will als man spricht.

Wenn man in den Alpenländern abseits von der Straße auf kleinen Wegen wandert, begegnet einem nichts so oft, als ein wegsperrendes Thor, oft hundert Mal an einem einzigen Tag. Doch sind es willige Thore (wie das bekannte Heinesche), die sich nicht nur vor dem Herrn der Welt, sondern vor Jedermann gern öffnen. Nur muß man sich auskennen. Denn verschlossen sind sie alle. Sehr sinnreich sind sie verschlossen, und jedes hat einen andern Verschluß. Zwanzig Verschlußarten habe ich einmal gezählt, es kamen aber immer noch neue. Und man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll, über die unglaubliche Einfachheit der Mittel, oder über den Reichtum von Ideen – oder Einfällen, aufs Wort kommt's nicht an. Es gibt heut eine feine Menschenrasse, die von einem Werk der »Primitiven« tiefer ergriffen wird als von den größten Schöpfungen Raphaels oder Michel Angelo's, und so wird man leicht an den komplizirtesten modernen Maschinen gedankenlos vorübergehen, aber an diesen simplen Gatterthoren – vielleicht weil man selber seinen Witz daran üben muß – wird man unwillkürlich von Bewunderung hingerissen für den menschlichen Erfindungsgeist und seinem spielerisch-künstlerischen Trieb. Das macht die Simplizität der Sache. Der Künstler, dem es vor allem um Wirkung zu thun ist, mag leicht daraus ein ästhetisches Gesetz ableiten.

Wie die Gatterthore, so sind auch die Einzäunungen, durch welche die Thore führen, höchst beachtenswert. Ihrer gibt es aber nur zwei Hauptformen, den Kreuzstickelzaun im Salzburgischen und den Kringelzaun im Tyrolischen. Durch nichts unterscheiden sich die beiden Länder so scharf – für den, der sieht – als durch diese zwei Zaunformen. Nach ihnen kann man mit Sicherheit die Grenze bestimmen. Oder vielmehr, man konnte es bis vor einiger Zeit; denn auch hier, in dieser wenig berührten Welt, macht sich doch der Geist der neuen Zeit bereits geltend; und Schranken, die durch viele Jahrhunderte unverrückt geblieben waren, wie heilige und unverbrüchliche Gesetze, sie werden heut, wenn es zweckmäßig ist, oder auch nur, weil es so im Charakter der Zeit liegt, auf einmal willkürlich durchbrochen. Auch hier offenbart sich in primitiven Erscheinungen ein großes Gesetz: daß die Macht der Sitte abnimmt im Verhältniß wie die Bildung und Befreiung des Individuums zunimmt.

Noch auffallender zeigt sich das in den Trachten. Sie verschwinden entweder ganz vor dem Eindringen der modernen Kultur, oder sie verlieren wenigstens immer mehr von ihren lokalen Sonderheiten. Dagegen läßt sich nichts machen. In Freiburg oder Karlsruhe hat sich neuerdings ein Verein gebildet zur Erhaltung der Schwarzwälder Volkstrachten. Er wird, fürchte ich, wenig ausrichten, trotz der hohen Personen, die sich an seine Spitze gestellt haben. Vieles kann man machen von oben herunter, aber alles doch nicht. Es ist damit wie mit der Religion. Sie ist nicht viel wert, wo das Volk nicht religiöser ist als seine Priester, wo es nicht religiös wäre auch ohne Priester. Und wo der Staat oder Privatvereine die Religion recht absichtlich erhalten wollen, erhalten sie meist nur die Heuchelei. So ist die erste Voraussetzung einer wahren Volkstracht die Naivität des Volks. Das Volk muß es sich gar nicht denken können, daß man auch etwas anderes tragen kann. Eine Tracht, die in Vereinen und Versammlungen gepriesen und angepriesen würde, wäre gut für Komödianten, aber nicht fürs Volk.

Das Tollste aber ist: während man mit der einen Hand erhalten will, zerstört man mit der andern. Und da die andere Hand die allmächtige Polizei ist, hat man im Zerstören mehr Glück als im Erhalten. Jedermann kennt das Schwarzwälder Bauernhaus, entweder aus eigener Anschauung, oder aus Bildern von Hans Thoma und Emil Lugo. Dieses wunderbare Haus, das wie nichts anderes den Charakter des Schwarzwaldes und seiner Bewohner zum Ausdruck bringt, ohne das man sich eine Schwarzwälder Landschaft gar nicht denken kann, es ist von der Baupolizei auf den Aussterbeetat gesetzt; die garstigsten weißgetünchten Kästen treten schon überall, das schöne Landschaftsbild zerstörend, an seine Stelle. Wenn nun das Volk empfindet, daß in diese Häuser, die man ihm aufnötigt, seine alte Tracht nicht paßt, so bekundet es damit einfach mehr Gefühl für Stil als der »Verein zur Erhaltung der Volkstrachten«.

Diese Betrachtungen gehen eigentlich Tyrol nichts an, zum Glück; aber ich machte sie in Tyrol. Ich sah das Tyroler Haus und ich dachte mit Schmerz an den heimathlichen Schwarzwald. Das Schwarzwälder und das Tyroler Haus sind durchaus verschieden. Das eine hat viel mehr malerischen, das andere viel mehr architektonischen Charakter. Weniger wesentlich unterscheidet sich das Tyroler vom Schweizer Haus. Dieses ist geleckter und erstrebt größere äußere Zierlichkeiten in Formen und Farben; es liebt reichen Zierrath, verfällt nicht selten ins Spielerische und wird vielleicht gerade darum so viel nachgeahmt. Das Tyroler Haus dagegen wirkt einfacher, ruhiger, behäbiger und damit imposanter, um nicht zu sagen stilvoller. Es verschmäht fast durchweg alle aufgenagelte und aufgeleimte Verzierung. Nur sein Giebel hat, dem antiken Giebel entsprechend, ausnahmslos eine charakteristische Krönung. Ein strenges Gesetz aber bestimmt den Neigungswinkel der Giebelsparren. Er ist an jedem Haus unabweichlich derselbe, und darum wirkt die ganze Bauerei hier so gar nicht bäuerisch, sondern wirkt würdevoll und groß.

Unsere Zeit hat ein Wort erfunden, mit dem sie gewaltig um sich wirft, das Wort »Kunstgewerbe«. Die Sache selber kennt man schon etwas länger. Neu sind nur die Kunstgewerbeschulen und der Lärm um sie herum. Als Schulmeister, der ich nun einmal bin, möchte ich über nichts Pädagogisches verächtlich sprechen, und wo es an Tradition fehlt, wie im heutigen Deutschland, da mögen Schulen auch durchaus berechtigt sein. Aber mehr wert ist eine gute Tradition. Die nennt man ja auch Schule, gute Schule, nur mit einem andern Sinn des Wortes. Beide, Handwerk und Kunst, sind übel daran ohne Tradition.

In den österreichischen Alpenländern gibt es keine Kunstgewerbeschulen, aber Tradition gibt es, und man begegnet ihr auf Schritt und Tritt. Die Kunstgewerbler, wie sie sich selber modern geschmackvoll nennen, könnten dort manches lernen.

Nur Eines. Die Bemalung der Zimmerwände. Denn die sogenannten Tapeten kennt man nicht in jenen Alpenländern.

Wie verfahren nun unsere Tapeziere? Von den Tapeten selber, wohlgemerkt, und ihrem ästhetischen Wert oder Unwert ist nicht die Rede. Nur von ihrer Behandlung durch den Tapezierer. Er behandelt sie so, als ob ein Zimmer nicht vier Wände hätte, sondern nur eine einzige, und als ob die Thüren und Fenster erst nachträglich durchgebrochen worden wären, nach dem Tapezieren. Er klebt seine Tapeten nicht nur über die vier Ecken weg, als ob keine Ecken da wären, er klebt sie auch überall bis hart an das Holz der Thür- und Fensterrahmen. Sogar in feinen Häusern stößt man auf dieses Verfahren und – stößt sich kaum daran. Es ist dennoch Barbarei.

Viel künstlerischer verfährt der Dorfmaler in jenen Alpenländern. Er hat die gute Tradition des 18. Jahrhunderts. Er hat darum Flächengefühl und behandelt vier Flächen nicht als eine. Darum macht er zunächst aus jeder der vier Wände eine Geschlossenheit, ein begrenztes Feld, ein »Panneau«, indem er in gehörigem Abstand von den Wandgrenzen seine Stäbe zieht. Wenn aber die Wand Thüren und Fenster hat, so verfährt er derart, daß diese Thüren und Fenster nicht in sein Feld, in sein Panneau einschneiden; er bleibt einfach mit seinem einrahmenden Stab von den Thür- und Fensterrahmen eben so weit ringsherum entfernt wie von den Wandgrenzen. Denn er weiß, oder wenn er's nicht weiß, so weiß es seine Tradition: daß eine Thüre zwar in einer Wand stehen darf, aber nicht in einer Tapete, einer wirklichen oder einer vorgespiegelten. Er verfährt also mit einem Wort nach den Gesetzen des wahren Tapezierens, die vor unserer Papierkleberei allgemein gültig waren. Und er erzielt so, mit dem einfachsten Mittel von der Welt, eine künstlerische Vornehmheit, wovon unsere Papierkleber keine Ahnung zu haben scheinen. Er hat Tradition. Und wie er dann die Formen und Farben verwendet, das steht ebenfalls auf der Höhe der Tradition.

* * *

Alle diese Betrachtungen machte ich nicht zwischen Kufstein und Kitzbühl. Ich war dabei viel weiter gewandert. Die hohen Tauern mit dem Großglockner und dem Groß-Venediger lagen sogar schon hinter mir.

Ueber diese Allerhöchsten wag ich auch kaum ein Wort zu sagen. Sie ragen zu sehr über alles Menschliche hinaus. Nur Byron, der Pathetische, hat sich mit seiner Poesie in diese Regionen gewagt. Unsern Goethe forderten die Uralpen nur zu kühlen wissenschaftlichen Betrachtungen aus, mit seiner Poesie blieb er bei den Menschen, und das Liedl »Uf'm Bergli bin i g'sässe« war ihm offenbar lieber als der ganze Haller'sche Odenschwung. Auch Böcklin, der Schweizer, hat vielleicht in den Gletscherwelten einige Farbenerscheinungen studirt – es ist das sogar sehr wahrscheinlich – aber mit seinem Pinsel hat er nur in frühester Jugendzeit daran gerührt. Wenn er Landschaften malt, so ist es, abgesehen vom Meer und seinen Küsten, am liebsten eine grüne Wiese mit Pappeln, an denen ein Bach hinfließt, oder ein bunter Frühlingsgarten, oder ein stilles Thal mit einem herbstlichfarbigen Buchwald am sanften Hügel. Die Hochgebirgswelt in unmittelbarer Nähe zu malen, dazu haben sich fast immer nur Mittelmäßigkeiten für fähig gehalten.

Zwischen den Schneewüsten des Hohen Tauern, in unendlichen Felseneinsamkeiten, kam ich einmal an einer niedern Steinhütte vorüber, die etwa wie eine große Hundshütte aussah. Ein Mensch streckte seinen Kopf aus der Thüre, ein Jünglingsgesicht, das an Wildheit des Ausdrucks alles übertraf, was man sich vorstellen mag. Aber auch die Wilden können bekanntlich gute Menschen sein, sogar bessere Menschen; der Hirtenknabe grinste mich freundlich an und ich betrachtete mir seine Wohnung, die kaum Raum genug bot, daß sich ein Mensch darin ausstrecken konnte. Der Jüngling hatte aber an seiner Thüre vier Gemsen angenagelt, aus frischem Tannenholz geschnitzelt, daran die verschiedenen Sprungstellungen gar nicht ungeschickt wirkten. Bei solchen Wilden fängt also bereits die Kunst an. Und aus der Langenweile scheint sie geboren – aus der Muße eben, so daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn eine Zeit ohne Muße es trotz aller Kultur nur zu einer gequälten Kunst bringen kann.

In der Großglockner Gegend wimmelte es von Hochtouristen. Gott mag wissen, was das daheim zum Teil für gedrückte Leutlein sind; aber hier, wie verachten sie da den einfachen Spaziergänger! Jedes Handwerk hat seinen Stolz. Und diese Menschen stecken sich fraglos die höchsten Ziele. Das liest man nicht nur auf ihren nervösen Gesichtern (mir war die wilde Harmlosigkeit jenes Hirtenknaben lieber); das zeigen besonders ihre furchtbaren Ausrüstungen. Was will da ein Spaziergänger machen? » spernere sperni« hat der hl. Bernhard von Clairvau für den höchsten Gipfel der christlichen Weisheit erklärt. Dieser Weisheitsgipfel schien mir leichter zu erklimmen als der Gipfel des Großglockners. Zu ihm, dem Weisheitsgipfel, nahm ich also meine Zuflucht. Und ich schrieb, ausnahmsweise, Verse in mein Wanderbuch. Die letzte Strophe hieß:

Ich aber, ohne Pickel und Leinen,
Gänzlich in ihre Verachtung verdammt,
Weiter wandernd auf Trümmergesteinen,
Freu' mich des Großen, freu' mich des Kleinen,
Freu' mich der Sonne, die drüber flammt.

* * *

Am wenigsten flammte die Sonne, als ich vom Plöcken aus, über den Cäsar gezogen sein soll, in das Land Italien hinunterschaute. Zwei italienische Zollwächter spielten Bogia, ohne nach mir umzusehen. Ich wollte mein Italienisch probiren, ich sagte: Il cielo d'Italia non e troppo azzuro. O no, Signor, antwortete der Eine, ha dell'aqua. Und sie spielten ihr Bogia in großem Eifer weiter.

Mit meinem Italienisch hätte ich mich nicht so zu beeilen brauchen. In dem nächsten Ort des Königreichs, in dem Dorfe Timan, sprach zu meiner Verwunderung noch alles deutsch. Aber auch weiter den Tagliamento hinunter klangen die Reden zunächst nicht sehr italienisch; der Gruß lautete: bon di. Aber Alles grüßte. Groß und Klein, was da, wo man buon giorno sagt, viel weniger Sitte ist.

Wenn Timau auch sprachlich deutsch ist, seiner Bauart und seinem ganzen Aussehen nach ist es sehr italienisch. Auch die ganze italienische Wirtschaft kann man hier schon gründlich kennen lernen. Ich bin durch ganz Tyrol, Steiermark und Kärnten nicht ein einziges Mal angebettelt worden, hier kam mir schon lang vor dem Dorf ein ganzer Haufen verlumpter Kinder entgegen und streckten ihre Händlein aus mit: Bitte, ain Kraizer. In der engen Dorfgasse kamen sie rottenweise, wie die Ratten, aus den niedrigen schmutzigen Steinhäusern. Ich blieb hartherzig, um sie nicht noch mehr zu locken, erst am Ende des Dorfes vertheilte ich meinen Kupfervorrat. Doch meine Vorsicht war umsonst gewesen, mein Spendiren wurde im Dorf bemerkt, und im Nu war der ganze Haufen hinter mir drein, Hunderte. Ich kam mir vor wie der Rattenfänger von Hameln. Es war unbegreiflich, wo die Fratzen alle gesteckt haben mochten; um sie zu befriedigen, hätte ich einen Rucksack voll Kreuzer haben müssen.

Vom Karst und wie ich dem Vergilius begegnet bin.

In den österreichischen Alpen begegnet man kaum einem Vergnügungsfuhrwerk. Was hier fährt, ist fast nur Bauer oder Geschäftsmann. In Italien dagegen sieht man keinen Fußgänger mehr, ganz gewiß keinen, der zu seinem Vergnügen geht. Was sich hier ein klein wenig rühren kann, das fährt, und man sieht auf den ersten Blick, daß das Fahren sportsmäßig betrieben wird. Paluzza ist ein elender Ort, der von Armut strotzt, aber als ich die schmutzigen Mauern hinter mir hatte und die Thalstraße weiter zog, kam ich mir eine Zeit lang vor wie auf einem Korso, ein solches Kutschiren von Herren und Damen war auf dem ganzen Weg. Auf hohen zweiräderigen Fahrzeugen rasselten sie daher, und man sah ihnen an, wie sie stolz darauf waren. Was sie vorgespannt hatten, war durchweg nur eine erbärmliche Mähre; dennoch ging's in scharfem Trab trotz der beträchtlichen und anhaltenden Steigung. Man begriff gar nicht, wie so ein armes Tier das leisten konnte. Bei manchen ging's auch gewiß nicht lange mehr. So eine halbverhungerte Kreatur muß einmal plötzlich zusammenbrechen. Aber was lag daran. Einstweilen ging's noch, und scharf. Mit dem ganzen italienischen Staatswagen steht es ja nicht viel anders. Nur der Vergleich mit der Mähre paßt nicht, ganz gewiß nicht; dennoch ...

Ueber Udine war ich mit der Bahn gefahren, von Monfalcone ging ich wieder zu Fuß. Der Ort liegt am letzten Vorsprung des Gebirges. Hier beginnt die Ebene, die gesegnetste an südlicher Fruchtbarkeit, die man sich nur denken kann. Darüber hinweg sieht man den Schimmer des Meeres, und etwas näher erkennt man bei klarem Wetter deutlich einen dunklen Punkt in der sonnendurchflimmerten Landschaft: die Kathedrale von Aquileja.

Das ist heute ein fast vergessener Ort; ehemals aber war Aquileja für das Imperium romanum ein zweites Alexandrien. In politischer Beziehung war es sogar wichtiger. Hier kreuzten sich die vier größten Straßen der Welt.

Und große Erinnerungen weckt auch das spätere kirchliche Aquileja mit seinen allmächtigen Patriarchen, deren Kathedrale allen Stürmen der Zeit getrotzt hat und heute in dem verödeten Dorf aufragt gleich einem ungeheuren Mausoleum begrabener Herrlichkeit und Größe.

Auf der Straße nach Duino, wo man schon dem Meer ganz nahe kommt, bricht einmal plötzlich ein breiter Fluß aus dem Felsen, der, kaum geboren, eine alte Getreidemühle treibt. Ich war darüber nicht sehr erstaunt, ich wußte, daß solche Erscheinungen dem Karst eigentümlich seien und sich aus den vielen Durchhöhlungen dieser seltsamen Formation erklären. Ein älterer Herr saß, ganz in Andacht verloren, auf dem Gestein in der Nähe der Straße. Als er mich auf meiner Karte suchen sah, redete er mich leutselig an in der gemeinsamen Muttersprache. Er ist es, sagte er, der Timavus des Virgil. Und ringsum sind Virgil's Felsen. Sie stehen auf geweihtem Boden. Ganz sicher ist hier der Dichter gewandelt. An dieser Stelle stand vielleicht sein berühmter Heroentempel.

Nun war ich erst erstaunt. Daß es im Karst so klassische Orte gäbe, hatte ich nicht geahnt. Um so mehr dankte ich dem Herrn mit dem glattrasirten Schauspielergesicht und dem schwarzen weichen Filz über den wohlgepflegten weißen Locken. Diese schöne Haartracht verschwindet immer mehr. Am meisten findet man sie noch bei den Philologen der älteren Generation. In der Zeit, als es mit dem Zopf so stund, da wurde der Zopf symbolisch. Aber eine solche Symbolisirung scheint sich nicht wiederholen zu wollen, man hat zu schlechte Erfahrungen damit gemacht. Die Herren schnitten sich damals ihren Zopf ab, und heut scheeren sie sich die Locken kurz; aber ...

Speziell zu Virgil haben die deutschen Philologen ein eigenes Verhältniß. Sie behandeln ihn heute geringschätzig. Und diese Geringschätzung ist jedenfalls echt, echter als die Lobsprüche, die wir Deutschen vielleicht nur den Romanen nachreden. Dagegen sind die Franzosen fast bei der ungeheuerlichen, mittelalterlichen Schätzung des Dichters stehen geblieben, die uns unbegreiflich erscheinen will. Aber beide haben wohl ihre guten Gründe. Ich denke mir, daß die Einen den Dichter vor allem mit dem Ohr lesen und die Anderen mit der Phantasie. Da ist er den Einen dann sehr viel und den Anderen ist er wenig oder nichts. Das ist der Unterschied zwischen zwei Rassen. Und nur wo man mit dem Ohr zu lesen versteht, lernt man fürs Ohr schreiben. Mehr als in irgend etwas anderem unterscheiden sich die Deutschen und Romanen in ihrem Verhältniß zu Virgil.

Unterdessen näherte ich mich Duino, das sich, auf einem Vorgebirge erbaut, mit scharfem Profil vor mir in die Luft zeichnete: mit seinen schwarzen Burgresten eines alten gothischen Königsschlosses, die am äußersten Vorsprung unmittelbar aus der blauen Fluth auftauchen, und seiner späteren Burg der Fürsten Hohenlohe, die in der Mitte der Stadt wie eine Krone über sie emporragt.

Von Duino führt eine wundervolle Straße zwischen Fels und Meer nach Triest. Aber mich lockte die hohe geheimnisvolle Wüste des Karst.

Und es war ein schönes Wandern da droben, auf der kahlen Höhe über dem Meere, in der strahlenden Sonne, in der reinen würzigen Luft.

Von nichts, über das man so oft hört, macht man sich eine so falsche Vorstellung, wie von diesem vielbesprochenen Karstgebirge. Ein Gebirge kann man es schon kaum nennen. Das Ganze macht fast den Eindruck einer Hochebene. Der ganze ungeheuere Steinklotz zwischen Görz, Mitterburg und Fiume ist unzerteilt thälerlos und zeigt nur, gleich einem versteinerten Meer, sanft wellenförmige Hebungen und Senkungen. Dennoch macht kein noch so hohes Steingebirge der Alpen einen so mächtigen Eindruck auf die Phantasie. Man hat hier die Empfindung, als wandle man auf einer toten fossilen Erde, auf einem Gerippe ehemaligen Lebens, wo man nicht einmal die Spuren eines Verwitterungsprozesses zu entdecken vermag, weil aller Verwitterungsstaub entweder vom Wind hinweggeführt wird, oder, in dem durchhöhlten Gestein, in geheimnißvolle Tiefen rinnt. Auf Erdkrume stößt man nur an vertieften Stellen, besonders auf dem Boden jener schachtartigen Versenkungen, die, mit ihren lotrechten Wänden ringsum, den Karst vor allem charakterisiren.

Denn bei aller Erstarrung herrschen hier unheimliche Bewegungen. Fast jedes Jahr kommt es vor, daß größere und kleinere Strecken der Oberfläche in schwindelnde Tiefe hinuntersinken. Es wird da ein Geschichtchen erzählt von einem Bauern, er besäete im Frühjahr sein Feld mit Weizen; als er aber kam, um zu ernten, fand er an Stelle seines Ackers nichts als ein ungeheures Loch.

Man trifft noch auf andere, labyrinthartige Felsengänge, besonders in der Nähe der Küste. Das sind die alten venetianischen Steinbrüche. Denn der Kalkfelsen des Karst liefert einen ausgezeichneten Baustein, und es gibt darum auch zahlreiche moderne Steinbrüche. Sie gehen wenig in die Tiefe, sind aber von großer Ausdehnung und sehen von der Ferne aus wie weißleuchtende Schneefelder.

Bei Prosecco hatte ich zuerst wieder den Anblick des Meeres. Es lag in überraschender Tiefe drunten, ruhig hingebreitet, wie leichtgekräuselter blauer Seidentaffet, mit hoher buchtenreicher Küste, mit vielen scharf einschneidenden felsigen Vorgebirgen. Der blendendweiße Kegel gerade unter einem ist Schloß Miramar auf dem Vorgebirge von Grignano. Die Wüste und die Wildniß hat man hier hinter sich; man ist in den denkbar größten Gegensatz eingetreten. An diesen Abhängen des unwirtlichen Karst wachsen Feigen, Oliven und Wein im üppigsten Durcheinander, und durch diesen ununterbrochenen Garten zieht die Straße nach Triest hinunter, das sich amphitheatralisch um seine Hafenbucht her ausbreitet.

An der blauen Adria.

Triest hat also eine so schöne Lage, wie nur eine Stadt der Welt. Aber da sind nun die Winde. Von der Bora und ihren Wirkungen erzählt man einem hier die tollsten Dinge. Davon habe ich nichts erlebt, doch ein fünftägiger heftiger Sirocco, der einem den heißen Staub in Nase und Auge trieb, war auch nichts angenehmes.

Da that man denn am besten, sich aufs Meer zu flüchten und ein wenig Odyssee zu spielen. Das ist hier ein angenehmes Spiel. Die Adria ist ja ein frommes Meer, und leichte kleine Dampfer fahren täglich nach allen Richtungen hinaus: nach Miramar, wo nothwendig jeder hin muß, obwohl es nicht viel Gescheites da zu sehen gibt; nach Barcola oder wo sonst die vornehme Welt badet; nach Grado, von wo man Aquileja in einer halben Stunde erreicht; nach Muggia, wo der österreichische Lloyd seine Riesendampfer baut; nach Capodistria, dem hochaufragenden, das nicht weniger stolz ist auf seinen kleinen »Markusplatz«, als Venedig auf seinen großen; nach Isola, dem meerumspülten, mit seinem Refosco, diesem tintenschwarzen Wein, dem man seine feine süße Herbigkeit und seine berauschende Kraft nicht ansieht; nach Pirano, dessen schlanke gothische Kirche, von der Ferne gesehen, in der blauen Fluth zu schwimmen scheint; und weiter nach Rovigno, mit seinem uralten Dom der hl. Eufemia, die sich, sonderbarerweise, auf dem Glockenturme als Windfahne drehen muß, so daß die tanzlustigen hübschen Mädchen des Ortes ein gutes Vorbild daran haben; endlich nach Pola, mit seinen zierlichen antiken Tempeln und Ehrenpforten im korinthischen Stil, mit seiner unversehrten riesigen Arena.

Der Augustustempel ist ein entzückendes Paradigma römischer Tempelarchitektur. Graziösere Ornamente als der umlaufende Fries sie aufzeigt, kann man sich nicht denken. Und zahlreiche Bruchstücke ähnlich wertvoller ornamentaler Skulpturen sind im Innern des Tempels aufgestellt. Wenn einem diese Formen, durch die ewige gedankenlose Nachahmung einer zum hundertsten Mal aufgewärmten Renaissance, auch fast zum Ekel geworden sind: dort, wo sie einem in ihrer ursprünglichen Frische entgegentreten, hat man doch wieder seine Freude daran und macht sich so seine eigenen Gedanken über die japanisch moderne Formenphantastik von heute. Der Tempel hatte eine Inschrift von ehernen Buchstaben, die wer weiß wohin verstreut sein mögen. Doch nach den Löchern der Nägel, womit die Lettern befestigt waren, kann man sich die Inschrift zusammenbuchstabiren, sie lautete: Romae et Augusto Caesari Divi F. Patri Patriae.

Die zierliche Schönheit dieses Tempelchens bewundert man, aber eine große Empfindung vermag uns das nicht einzuflößen.

Ich hatte wieder das deutliche Gefühl, daß diese ganze antike Architektur eigentlich kein großes Symbol der religiösen Idee darstellt. In diesem Betracht steht gewiß die Gothik höher. Dieser Tempel zu Pola, obwohl er der Roma selbst gewidmet war, wirkt doch nicht viel anders als eine hübsche Spielerei. Die Arena ist nicht nur größer, sie wirkt auch größer, und man sieht aus diesen paar Bauresten zur Genüge, was den alten Römern, die die Welt erobert haben, die Hauptsache war, nicht die Religion, sondern eine mächtige Weltlichkeit. Dieser dienten die Bauten, in denen die Römer eine ihnen würdige Größe ausgedrückt haben: die Amphitheater, die Thermen, die Wasserleitungen, die großen Straßen.

Auf den ölreichen Höhen, zwischen Capodistria und Pirano, wo unten in den Buchten die seltsam aussehenden Salzgärten liegen, sieht man über die unendliche blaue Flut hinweg ein unbestimmtes Dunkles, in dem etwas aufragt wie ein ungeheurer Pfeil, der in den Himmel schießt. Das ist Venedig und sein Campanile. Wer möchte da nicht hinüberfahren!

Leider haben (übrigens aus guten Gründen) die Dampfschiffe die dumme Gewohnheit, immer nur bei Nacht zu fahren. Darüber ärgerte ich mich erst, dann freute ich mich, denn auf dieser Fahrt ging mir zum erstenmal die Schönheit des südlichen Sternhimmels auf. Die Sterne leuchteten wie Flammen über dem nächtlich schwarzen Meer, das zu schlafen schien, so ruhig war es, und die Milchstraße verlor sich nicht trüb im Unendlichen, sie hing wie droben in der Luft, körperhaft, gleich einer zerfetzten über die Welt hinflatternden silbernen Fahne.

Ueber Venedig darf man eigentlich nicht reden. Davon ist, in Vers und Prosa, in Oel und Wasserfarbe, schon viel zu viel geschwärmt worden, und Heinrich Leuthold hätte sein witziges Epigramm, das da schließt »Und läßt noch sein eigenes Wasser«, mit einer andern Einleitung auch manchem Besinger von Venedig widmen können.

Nur eine Bemerkung über Architektur möchte ich mir erlauben. Man rühmt in Venedig, vom Dogen-Palast abgesehen, fast nur die großen Renaissancepaläste, besonders die späten Prunkbauten des Sansovino und seiner Nachfolger. Ich war von den bescheideneren Bauten der ältesten Renaissance, die nirgends erwähnt sind, mehr erbaut. Diese stehen meistens nicht am großen Kanal, man findet sie besonders an den kleinen Plätzen der inneren Stadt. Sie sind schön durch ihre Einfachheit. Sie wollen noch nicht prunken. Ihre Schönheit ist keine ornamentale, sondern eine innere, bedingt durch die Reinheit der Verhältnisse und Maße. An ihnen hatte ich meine Freude. Und vor allem war ich entzückt von der profanen Gotik dieser Stadt, in der freilich das orientalisch-arabische stärker zum Ausdruck kommt, als das fränkisch-christliche der abendländisch mittelalterlichen Kirchenarchitektur. Als Venedig noch ganz gotisch war, da muß es schön gewesen sein, einheitlich schön, da muß es märchenhaft gewirkt haben.

Diese Gotik hat vor den schwerfälligen Massen der Hochrenaissance nicht nur die graziöse Leichtigkeit voraus, sondern auch eine gewisse Naivität und innere Wahrhaftigkeit. Sie entwickelte sich von innen nach außen. Das Aeußere entstand als ein Ausdruck des Innern. Fenster und Thüren verteilte man nicht nach dem starren Gesetz der Symmetrie, man brachte sie da an, wo ein inneres Bedürfniß sie verlangte, und der ganze Bau war eine schöne Wahrhaftigkeit.

In der Hochrenaissance dagegen baute man vor allem Fassaden, je protzenhafter, je besser. Meistens schien die Fassade nur den Zweck zu haben, einen dahinterstehenden wüsten Kasten zu verdecken. Die beiden stehen fast zusammenhanglos nebeneinander. Mag dann die Fassade auch wirklich schön sein, ihr kulissenhafter Charakter benimmt ihr das Beste von ihrem Wert. Doch gilt dies allerdings nicht von den großen Staatspalästen, besonders nicht von den alten Prokuratien, die Einfachheit und Reichtum, Zierlichkeit und Größe, Leichtigkeit und Masse in wunderbarer Harmonie vereinigen. Diese Fassade halte ich, innerhalb des Stils, für die schönste der Welt.

Von Slovenen und Magyaren.

Zu Venedig redet einen fast alles deutsch an, was etwas verdienen will. Zu Triest thut das kein Italiener. Hier möchten sie lieber den Deutschen noch verbieten, deutsch zu reden. Doch beklagen sich die Deutschen hier nicht, denn der Haß der Italiener gilt hier in erster Linie den Slovenen, wenn man beim Stärkeren dem Schwächeren gegenüber von Haß reden kann. Wie in Böhmen zwischen Deutschen und Tschechen, in Steiermark zwischen Deutschen und Slovenen, in Kroatien zwischen Kroaten und Ungarn, so herrscht hier in Triest und im ganzen »Küstengebiet« ein Kampf auf Leben und Tod und eine giftige Gehässigkeit zwischen Italienern und Slovenen. »Wir dürfen nicht den Mund aufthun,« sagte mir ein slovenischer Student, »so fallen die Italiener schon mit Knüppeln über uns her. Wir dürfen kein Wort wagen, so schlagen sie uns tot.« Nun, ich habe Niemand totschlagen sehen, und habe slovenische Worte genug gehört, nicht nur sagen, sondern auch singen. Der Gesang fand allerdings in geschlossenen Häusern statt, aber bei offenen Fenstern. Ob die Fenster deswegen offen standen, daß die Italiener sie nicht einschmeißen konnten, oder damit der Gesang weithin gehört werde, kann ich nicht entscheiden. Etwas demonstrativ klang vielleicht dieses Chorsingen in den stillen Sommernächten. Aber schön war es. Und ein heiliger Ernst, eine süße Melancholie lag in der Musik dieser Gesänge. Die Slovenen haben nicht nur Lieder, sie haben auch schöne Lieder.

Etwas anspruchsvoll mögen sie als Nation sein. Zu Tolmino im oberen Isonzothal traf ich mit zwei Herren zusammen, die sehr nach Agitatoren aussahen. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, und sie bemühten sich, mäßig zu sein im Ausdruck. Dennoch stellten sie die Forderung auf: Die Regierung des Königreichs Italien müßte für die Slovenen drüben über der Grenze slovenische Schulen unterhalten. Ich fand die Forderung ungeheuer, sie fanden sie natürlich und gerecht. Das war in dem nämlichen Tolmino, wo Dante in seiner göttlichen lingua toscana einen Gesang seiner Göttlichen Komödie gedichtet hat. Diese slovenischen Agitatoren aber sind Politiker von heute. Als solche meinen sie, alles sei gleich, und sei also auch gleich, ob eine Nation und Sprache eine Göttliche Komödie oder eben nur ein paar Volkskalender und Volkslieder hervorgebracht hat. Die Volkskalender rühmten sie mir.

In Tolmino begegnete mir's zum ersten Mal, daß ich von allem Inschriftlichen um mich nichts mehr lesen konnte. Es war fast ein unheimliches Gefühl. Nirgends ein italienisches, nirgends ein deutsches Wort, nicht einmal an den Gasthäusern. Diese sprachliche Sauberkeit gefiel mir eigentlich und auch der nationale Stolz, der daraus hervorsah. Um so eifriger machte ich mich daran, das Slovenische zu studiren. Ein Wort sah ungefähr so aus: Peckeriej. Ich dachte, sollte ich so schnell verstehen? Wirklich entdeckte ich hinter den Fensterscheiben einige ausgestellte Brote. Und so wußt' ich auch gleich Bescheid, als ich das etwas fremdartige Wort Mleckeriej las; ein Karren Milch, der gerade ins Thor gefahren wurde, half meinem Sprachtalent glücklich nach.

Liebe und gastfreundliche Leute sind die Slovenen des Isonsothals und noch ohne jede Spur eines industriellen Sinnes; ich wäre gern länger bei ihnen geblieben. Man wird als Deutscher hier mit besonderer Zuvorkommenheit behandelt, obwohl die steiermärkischen Gegenden, wo Slovenen und Deutsche sich am liebsten auffressen möchten, gar nicht ferne liegen. Aber das Volk hat von sich aus keine Freude an solchen Zuständen, in die es immer erst hineingehetzt werden muß. »Früher war's schöner in diesen Ländern«, sagte mir der slovenische Bürgermeister von Preth oder Breth, »der Teufel weiß, wo die Hetzerei hergekommen ist.« Der Mann war dennoch ein Halbstudirter, er erklärte mir, daß die Regierung, wenn sie selber kein Brett vor der Stirne hätte, den Ort in deutscher Sprache als ›Brett‹ anschriebe; denn das slovenische Log bedeute ein Gehölz ober Holz und also zuletzt auch ein Brett; ja das Wort komme sogar in der deutschen Sprache vor als Loch oder Lohe, wie der Name des deutschen Reichskanzlers beweise. Solche Wissenschaft hatte der Mann aufgeschnappt; er beherrschte wie fast Jedermann dort drei Sprachen und er fand es nicht wünschenswert, daß nichts mehr in der Welt gesprochen werden solle als slovenisch.

Ich konnte ihm nur beistimmen.

Und ich fand die Menschen je länger je lieber. Aber ich mußte heimwärts. Durch die Flitscher Klause und den Predil zog ich über die Karnischen Alpen, und bald wanderte ich wieder in Gegenden deutscher Zunge. Einmal fuhr ich einige Zeit lang mit einem jungen Bauern, einem Mann von 30 Dienstboten, wie er erzählte. Er brachte das Gespräch auch auf die Politik und meinte treuherzig (es war in Kärnthen), daß es eben doch das einzig richtige sein würde, wenn alle deutschen Völker beisammen wären in einem Reich – eine Aeußerung, die ich mehr wie zehn Mal auch von einfachen tyroler Bauern gehört habe. Mein Großbauer beschäftigte sich viel mit Politik. Und er ließ sich dieselbe viel Geld kosten. Er war auf nicht weniger als 9 Zeitungen abonnirt. Ich nannte einige Blätter, ob er die auch lese. Nein. Nur solche Zeitungen las er, die nichts gegen die katholische Religion schrieben. Auf die katholische Religion ließ er nichts kommen. Das war einmal seine Religion, die ließ er sich von Niemand beschimpfen.

So sind dort die Menschen. Dabei wissen einige Wortführer der deutschnationalen Bewegung nichts Gescheiteres zu thun, als fortwährend diese religiösen Empfindungen zu verletzen und sich damit selbst, in bestimmten Landesteilen, den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Es ist eine schlimme Fatalität, daß österreichische Protestanten meinen, nur sie seien ehrliche Deutsche, und wer sich nicht zuerst zu ihnen bekenne, dem sei es auch nicht Ernst mit seinem Deutschtum. Damit wird innerhalb der deutschen Reihen eine gegenseitige Gehässigkeit genährt, die den nationalen Feindseligkeiten nichts nachgibt, und die die ganze deutsche Bewegung aufs tiefste gefährden muß.

Daß, in anderem Sinn, eine noch größere Schuld den katholischen Klerus trifft, ist allzubekannt, um erst betont werden zu müssen.

Nur noch eine kleine Schlußscene in einem Wagen der Südbahn zwischen Wörgl und Kufstein. Man besprach die Aufschriften in magyarischer Sprache. Ein Oesterreicher meinte, die Waggons gingen ja bis München mit ihren magyarischen Inschriften, das sei ein Skandal; sie als Oesterreicher könnten ja nichts machen, aber wir Reichsdeutschen sollten uns wenigstens die magyarischen Taferl nicht gefallen lassen.

Oh, warum denn, rief ein älterer Herr, das Ungarisch, das kann doch bei uns nichts schaden, das kann Niemand lesen. Wenn nur die deutschen Aufschriften und Vorschriften nicht so oft unser Gefühl verletzten.

Ich machte darauf aufmerksam, daß im Waggon eine Vorschrift nur in deutscher Sprache zu lesen sei, nämlich die: »Es ist verboten, auf den Boden zu spucken ...«

»Natürlich«, rief jener Oesterreicher, »dös is ganz in Ordnung. Nur dö Deutschen dörfen nit spucken, dö Ungarn dörfen spucken, dö dörfen uns auf die Köpfe spucken ...«


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