Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wo ich den Mistral kennen lernte, aber nicht den Frédérique Mistral

Kein Land der Welt hat so viel vernachlässigte Winkel, so viel märchenhafte Versteckplätze der Romantik, wie das so moderne Frankreich.

Dazu gehört auch die Stadt Arles. Wie vergessen vom Jahrhundert, wie im schönen Erinnerungstraum, mit nur halb wachem Augenaufschlag, liegt die einst so glanzvolle Römerstadt am Rand der Einöde, an der Grenzscheide zweier Steinwüsten, über welche hin die schlammigen Wogen der Rhone schauerliche Mären raunen und der Mistral seine einschläfernden Lieder summt.

Ich war in der Sylvesternacht spät am Bahnhof ausgestiegen, der einzige Fremde, und hatte mich umsonst nach einem Gasthofwagen umgesehen. In den engen stockfinstern Gassen, durch die ich wanderte, herrschte eine unheimliche Stille. Als ich aber am andern Morgen, schon spät am Tage, mein Zimmerfenster im Hôtel du Nord öffnete und auf den Markt hinuntersah, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Ich hatte in Arles viel antikes Gerümpel erwartet, sonst nichts. Ueber die zwei seltsamsten Merkwürdigkeiten der Stadt war ich ganz in Unwissenheit gewesen. Ich hatte nicht gewußt, daß sich hinter den armseligen, zerfallenden Mauern ein Frauentypus von seltener Schönheit und Rassenreinheit aus den ersten Dämmerungen der Geschichte her forterhalten hat; ich hatte auch nicht gewußt, daß es in Frankreich, wo die Mode despotischer herrscht als in irgend einem Lande der Welt, eine Stadt gäbe, eine große Stadt, wo die Frauen in althergebrachter Tracht gekleidet gehen.

Aus allen Häusern rings um den Markt kamen sie zum Kirchgang hervor. Sie trugen alle dasselbe schwarze Kleid, von den kräftigen Hüften in großen Falten niederfließend und zu leichter Schleppe verlängert. Ueber dem tief ausgeschnittenen, schwarzgesteppten Mieder leuchtete das blendendweiße Busentuch, und darüber hing, mit goldenen Spangen an den Achseln befestigt, ein schwarzes Schultertuch oder ein langer Mantel mit steifgestepptem Kragen, auch er von übermäßiger Länge, und von der Hand zu zierlicher Faltung aufgerafft.

Es ist eine Tracht, die die ernste stille Schönheit der Arleserin aufs glücklichste zur Geltung kommen läßt. Und ich sah überall denselben eigentümlichen Schönheitscharakter: Große reine Linien, das Kinn zart emporgerichtet, der Mund nicht klein, aber mit reizvoll gezeichneten Winkeln, die klassische Nase gerade so groß, um die haarscharfe Grenze strenger Schönheit nicht zu überschreiten, die großen mandelförmigen Augen von weitgeschweiften mächtigen Brauen überdunkelt; dazu dunkelbleiche zarte Gesichter mit ernstem traumhaft stillem Ausdruck und ein blauschwarzes Haar, das, an den Schläfen wellig heruntergekämmt, die Blässe und Zartheit des Gesichts noch erhöht und verstärkt. Auf dem Hinterhaupt endlich tragen sie, die ganze schöne Kopfform freilassend, wie ein Krönchen wirkend, ein winziges Käppchen von gestepptem Sammet, mit weißer Seidenfüllung, mit zwei breiten reichgestickten Bändern, die wie eine Art Stola, wie eine Art orientalischer Priesterbinde über die Schulter auf die Brust herabhängen.

So sah mein erstauntes Auge die Frauen und Mädchen von Arles über die Schwelle ihrer Wohnungen treten. Die Nachbarinnen begrüßten sich, bildeten Gruppen und schritten über den Markt. Ganze Haufen Zuaven, die gleichfalls über den Platz schlenderten, bildeten dazu, in ihrer orientalisch üppigen, weithin leuchtenden Uniform, einen merkwürdigen Kontrast.

Um mir das seltene Schauspiel noch näher anzusehen, eilte ich ebenfalls nach der Kirche, nach dem Dom von St. Trôphime. Hier erlebte ich noch andere Ueberraschungen. Das Portal der Kathedrale übte auf mich eine geradezu verblüffende Wirkung.

Lange vor dem Aufblühen der Gotik, dieser realistischen, lebenskecken, ja lebensfrohen Laienkunst des Mittelalters, haben hier gelehrte Mönche und Priester eine Kunst zu höchster Entfaltung gebracht, die von jener durch eine tiefe Kluft des Empfindens getrennt ist, die von einem ganz anderen Geiste belebt scheint, und vor der man sich kaum Rechenschaft zu geben vermag, was so tief ergreifend in ihr wirkt.

Sie ist auch historisch schwer zu verstehen. Denn sie erinnert kaum an die naiv spielende Fortsetzung der antiken Traditionen in der ersten christlichen Kunst. Mit ihren großen strengen Typen, die aller Individualität, aller lebendigen Bewegung bar sind, mit ihrer gewaltigen, an's Phantastische streifenden Tiersymbolik, gemahnt sie eher an persische und alt-assyrische Darstellungsweise. Die Kunstgeschichte hat verschiedene Namen dafür. Wir nennen diesen Stil den romanischen, die Romanen aber, insbesondere die Franzosen, heißen ihn den sächsischen. Es ist, als wolle ihn ein Volk dem andern in die Schuhe schieben. Man heißt ihn aber auch den byzantinischen Stil, und dieser Name weist allerdings halb auf den Orient hin.

In Deutschland besitzen wir, wenn nicht mehr, so doch viel gewaltigere architektonische Monumente dieses Stils; die Skulptur aber tritt dagegen zurück. Schon im nördlichen Frankreich wird die Skulptur erst in der gotischen Zeit bedeutend. Nur im tiefsten Süden, wo die Gotik fast aufhört, hat die byzantinische Skulptur ihre höchste Herrlichkeit entfaltet. Das Portal von St. Trôphime ist eine ihrer seltensten und überraschendsten Offenbarungen.

Mancherlei ließe sich über diese beiden Stilarten philosophiren. Jedenfalls drückt der eine ein anderes Christentum aus als der andere. Diejenigen Zeiten und Menschen, die den gotischen Stil herausgebildet und zur Blüte gebracht haben, müssen das Christentum bereits anders verstanden haben, als die Schöpfer des romanischen Stils.

* * *

Eine Stunde später hatte ich die Welt von Arles tief zu meinen Füßen.

Von den Kolossalbauten, die die Römer im südlichen Gallien errichtet haben, ist das Amphitheater zu Arles am schlimmsten von der Zeit mitgenommen worden. Es ist lange nicht so gut erhalten wie die gleichartigen Monumente von Orange und von Nîmes. Aber an Größe und Ausdehnung übertrifft es Beide. Auch seine Lage und seine Umgebung sind günstiger und erhöhen aufs glücklichste jene ungeheure Wirkung. Das Amphitheater von Nîmes liegt mitten in der Stadt. Es kann deshalb fast von keiner Seite im richtigen Abstand gesehen werden und verliert dadurch seine beste Wirkung. Das Amphitheater von Arles liegt ringsum frei.

Und ich stand droben am obersten Rand des architektonischen Ungetüms. Ein Standpunkt, interessant genug, obwohl sich mir weder Stiergefechte noch Löwenkämpfe in der Arena drunten darboten. Nur einige zerlumpte Kinder spielten im Sande. Aber da lag gleich links vor mir das Theater Konstantins. Einst von seltener Größe und Pracht, glich es jetzt einem weiten wüsten Trümmerfeld. Zerschlagene Säulenschäfte, Kapitäle, Reliefstücke und halbe Sockel, und tausend Marmorornamente lagen sonnenüberglänzt in willkürlichem Durcheinander auf dem Plan der Orchestra und die noch erhaltenen blendendweißen Sitzreihen hinauf. Nur zwei korinthische Säulen ragten in schlanker Schönheit einsam zwischen der Verwüstung empor.

Darüber hinaus bot sich dem Auge ein Anblick anderer Art, ein weites Feld, scheinbar übersäet von gestürzten Steinmälern, in Wahrheit aber von ausgegrabenen altchristlichen Sarkophagen, vielen Tausenden an Zahl. Das ist die Todtenstadt von Arles, die Nekropolis der alten Arelas, an Umfang größer als die heutige Stadt der Lebendigen. Alyskamp heißen sie's. Es ist die Umkehrung von Champs Elysée und bedeutet doch dasselbe. Die beiden Wörter verhalten sich zu einander wie das Chamar von Besançon zu Champ de Mars der französischen Schriftsprache.

* * *

Jeder Sextaner kennt die Geschichte von Herkules, der, die Rinder des Gerion heimtreibend, durch diese Gegend kam, wo er von den Einwohnern, den Liguriern, mit Steinwürfen verfolgt wurde. Diese Steine sieht man noch heute. Die Ligurier müssen aber ein unglaublich großes Volk gewesen sein; die geworfenen Steine bedecken nicht nur die Insel Camarque, zwischen den beiden Mündungsarmen der Rhone, sie bilden auch weit hinaus eine unabsehbare Geröllwüste, La Crau genannt. Auch über sie hin schweift das Auge von der Zinne des Amphitheaters. Auf der Insel Camarque aber, die als Ganzes in einem grauen Tone schimmert, gewahrt das Auge zahlreiche farbige Punkte und Flecken, in Ruhe oder in eigentümlichen sprunghaften Bewegungen. Das sind die berühmten wilden Stiere der Insel Camarque.

Jedes Jahr im Mai feiert Arles ein Fest. Dann werden zuerst drüben auf der Insel, an ihrer Nordspitze, Tribünen erbaut und Zelte aufgeschlagen, für die Väter der Stadt und die Vornehmen in der Mitte, für das Bürgervolk in weitem Bogen. Hier werden die Stiere zusammengetrieben, und mit eigentümlichen Wurfschlingen werden sie gefangen und festgemacht. Bereitstehende reichgeschmückte Boote bringen die gefesselten Tiere nach Arles in die Arena. Ein dichtgedrängtes schwarzes Gewimmel füllt dann die unzähligen Stufen, wie zur Zeit der Imperatoren, und tausend schöne Hände beklatschen das wildblutige Schauspiel drunten in der Arena. Das Volk hier ist in vieler Beziehung klein geworden, modern geworden, christlich geworden; aber in einem ist es antik geblieben. Es kennt keine Sentimentalität; es hat einen harten und grausamen Sinn ganz wie die Alten.

Diesen antiken Sinn des Südländers kann man auch noch da nachweisen, wo ihn kein Mensch vermutet. Ich will nicht von Zola's Brutalität reden, sie ist Jedermann bekannt. An Daudet möchte ich erinnern. Der Name wird hier überraschen. Aber wir finden bei Daudet ein Wort, das ihm eigentümlicher angehört als irgend ein anderes. Es ist das Wort raté. Daudet meint damit schwache oder schwächliche Naturen, Menschen, die keine Tugend haben, im römischen Sinne des Wortes, keine virtus, und die darum auch keinen Erfolg haben, die es zu nichts bringen in der Welt, arme Teufel mit einem Wort. Sie kommen in allen seinen Büchern vor, diese armen Schwartenhälse. Es sind oft wahrhaft mitleidswürdige Gesellen, aber ihr Schöpfer behandelt sie mit einer Härte und Grausamkeit, die bei deutschen Dichtern einfach unerhört ist. Und doch ist Daudet der sentimentalste französische Schriftsteller. Gerade mit seiner Sentimentalität im Ton hat er sein Glück gemacht bei den Deutschen. Dieser Ton aber ist öfter Pose als Poesie. Es wundert mich, daß noch nie ein Kritiker auf diesen charakteristischen Zug des Humoristen von Tarascon aufmerksam gemacht hat.

* * *

Ich war von meinem Standpunkt über der Welt niedergestiegen und wandelte kreuz und quer durch die Ruinen des Theaters. Ich bewunderte die feine Ornamentik der unzähligen Marmorblöcke und freute mich der Sonne und der Pracht des Himmels. Auch der Venus von Arles mußte ich gedenken.

Ich war ihr früher zu Paris in den kalten Gewölben des Louvre begegnet. Sie war aber noch nicht zur Pariserin geworden. Das war eine zu verschiedene Rasse. Wo ich jetzt stand, war sie vor 300 Jahren aus jahrtausendlanger Verschüttung ausgegraben und an König Ludwig für ein neues Rathaus umgetauscht worden.

Sie werden erschrockene Gesichter gemacht haben, die frommen Väter der Stadt, als sie, wer weiß wonach gruben, und vor ihren Augen plötzlich die Schaumgeborene in leuchtender Nacktheit dem dunkeln Erdenschoß entstieg. Der König in Paris, der damals noch nicht fromm geworden war, befreite die Stadtväter aus dieser Verlegenheit. Die Venus kehrte Arles den Rücken, und auf dem Markte der Stadt erhob sich ein neuer prachtvoller Tempel der Stadtratsweisheit. Also nicht von Pallas-Athene, sondern von Aphrodite ist in Arles das Hans der Vernünftigkeit erbaut. Dem Telemach, wie ihn Fenelon darstellt, hätte das für eine schlimme Vorbedeutung gegolten, für die Frauen der Stadt Arles war es sichtbarlich eine gute.

Wie ich also sinnend zwischen den blendend weißen Ruinensteinen hinwandelte, kam mir eine Arleserin entgegen. War es wirklich die schönste Tochter der Stadt, oder lag es nur an dieser Umgebung, daß es mich beim Anblick der zarten bleichen Erscheinung mit mächtigem Schauer überlief? Und da ging mir auch der Sinn dieses Kostüms auf, und ich begriff, daß hier die Schönheit ewig in Trauer gehen mag.

Am anderen Ende des Theaters wollte ich durch eine enge Winkelgasse, an der Thorseite der Kathedrale von St. Trôphime, in die Stadt zurückkehren. Aber ein offenstehendes fein profilirtes Pförtchen reizte mich. Ich trat ein, und ich stand in den alten Kreuzgängen von St. Trôphime. Ich hatte nichts davon geahnt und war von dem Bilde, das sich mir darbot, um so mehr überrascht. Die heidnische und christliche Kunstweise waren hier in ihrem schreiendsten Gegensatz hart aneinander gerückt. Dort Größe und Erhabenheit und wundervolle Schönheit der Linien, hier kleinliche Verhältnisse und unzulängliche Formen, aber unendlicher innerlicher Lebensreichtum. Die ganze ›Weltgeschichte‹, von der Schöpfung bis auf den meißelnden Künstler herunter, von bunter Tier- und Pflanzengestaltung umrankt, ein ganzes mystisches Epos: so tritt es dem erstaunten Beschauer in lebendiger Bewegtheit aus dem Stein entgegen, nicht in großen Bildungen, sondern Miniaturmalereien ähnlich die Architektur umrahmend, als Ornament, als Arabeske, oder auch als wesentlicher Theil sich einfügend, wie die bildgewordene Initiale in den Text. Das sind kleine unscheinbare Säulchen, aber die Kronen ihrer Kapitäle quellen über von wimmelnden Gestalten. Alles ist hier unendlich eng und zugleich unendlich reich. Und dieses schüchterne Heiligtum, zwischen hohen Feuermauern ringsum eingeklemmt, ist recht das Symbol einer weltscheuen, einer nach innen gekehrten, einer christlichen Kunst. Denn das war noch nicht die Kunst der Renaissance, die Kunst Leo's des Zehnten.

Ich saß betrachtend auf einer der Schwellen. Zitternde Mittagssonne lag über dem eigentümlichen Schacht, den das Ganze bildet. In dem abgestandenen hohen Gras zu meinen Füßen standen umgeknickt noch einige halbdürre Astern vom letzten Herbst, und in einem Winkel, zwischen Stein und Rasen, schauten bereits die jungen blauen Augen der Frühlingsveronika hervor. Ein leuchtender Zitronenvogel gaukelte zwischen den phantastischen Steinbildern. Kein Laut der Welt drang in die märchenhafte Einsamkeit. Ich saß lang und gedachte der seltsamen Schönheit im Trauergewand draußen zwischen den weißen Marmorruinen, des klassisch schönen Weibes, dessen bleiches Antlitz sich zu mir hergehoben, aus dessen dunkelüberschattetem Auge mich ein stummer Blick bis in die Seele getroffen. Fast bang schaute ich nach dem engen Pförtchen, das hinaus führte in die freie heidnische Ruinenwelt. Auf einmal nahten Tritte. Aber es war nicht die Gestalt von vorhin. Es war ein altes häßliches Weib. Wie eine graue Eidechse schlüpfte es durch das niedere Mauerloch. Mit der einen Hand auf einen Stab gestützt, mit der andern an einem Rosenkranz fingernd, so schlurfte es die Gänge entlang und verschwand in dem nächtig lichtlosen Kreis der Kathedrale.


 << zurück weiter >>