Jean Jaques Rousseau
Der Gesellschaftsvertrag
Jean Jaques Rousseau

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4. Kapitel

Von den römischen Comitien

Aus den ältesten Zeiten Roms besitzen wir keine ganz sicheren Denkmäler; es hat sogar einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß das meiste, was davon erzählt wird, dem Fabelreiche angehört,Das Wort Rom, das von Romulus hergeleitet wird, stammt aus dem Griechischen und bedeutet Stärke (rome), und der Name Numa kommt wahrscheinlich ebenfalls aus dem Griechischen und läßt sich mit Gesetz (nomos) übersetzen. Wie unwahrscheinlich, daß die beiden ersten Könige dieser Stadt schon im voraus Namen führten, die ihren Taten so genau entsprachen. und gewöhnlich fehlt uns gerade der lehrreichste Teil der Annalen der Völker, die Geschichte ihrer Entstehung, fast ganz. Täglich lehrt uns die Erfahrung, aus welchen Ursachen die Revolutionen der Staaten entstehen; da sich jedoch keine Völker mehr bilden, so können wir über die Art ihrer Entstehung nur Mutmaßungen hegen.

Die Gebräuche, die man eingeführt findet, beweisen wenigstens, daß sie einen Ursprung gehabt haben. Von den Überlieferungen, die auf diese Urquellen zurückführen, müssen diejenigen als die sichersten betrachtet werden, die die meiste Gewähr und die stärksten Gründe für sich haben. Diesen Grundsatz habe ich mich zu befolgen bemüht, indem ich untersuchte, wie das freieste und mächtigste Volk der Erde seine höchste Gewalt ausübte.

Nach der Erbauung Roms wurde die sich bildende Republik, das heißt das Heer des Erbauers, das aus Albanern, Sabinern und Fremden bestand, in drei Klassen geteilt, die nach dieser Einteilung den Namen Tribus erhielten. Jede Tribus wurde wieder in zehn Curien und jede Curie in Decurien geteilt, denen man Curionen und Decurionen genannte Oberhäupter an die Spitze stellte.

Außerdem hob man aus jeder Tribus eine Schar von hundert Reitern oder Rittern, Centurie genannt, aus, woraus ersichtlich ist, daß diese für einen kleinen Flecken kaum notwendigen Einteilungen zuerst lediglich militärischer Natur waren. Allein eine Ahnung ihrer zukünftigen Größe scheint die kleine Stadt dahin gebracht zu haben, sich schon im voraus eine der Welthauptstadt ziemende Verfassung zu geben.

Diese erste Teilung hatte jedoch bald einen Übelstand zur Folge. Während die Tribus der Albaner (Ramnenses) und die der Sabiner (Tatientes) stets auf derselben Stufe verharrten, nahm die der Fremden (Luceres) durch das beständige Zuströmen neuer Ansiedler unaufhörlich zu, so daß die letzte endlich die beiden anderen zusammengenommen überflügelte. Diesem gefährlichen Mißverhältnis trat Servius Tullius durch eine veränderte Einteilung entgegen, indem er nach Abschaffung der Stammeseinteilung eine andere nach den Stadtteilen, die jede Tribus bewohnte, einführte. Aus den bisherigen drei Tribus bildete er deren vier, deren jede einen der römischen Hügel einnahm und nach ihm den Namen führte. Indem er so der bestehenden Ungleichheit abhalf, beugte er auch noch für die Zukunft jeder anderen vor; und damit diese Einteilung nicht bloß für die Stadtteile, sondern auch für die Menschen gültig wäre, verbot er den Einwohnern, aus einem Stadtviertel in ein anderes zu ziehen, was eine Vermischung der einzelnen Stämme unmöglich machte.

Ferner verdoppelte er die drei alten Centurien der Ritter und fügte deren zwölf neue, aber immer unter den alten Namen, hinzu, ein einfacher und kluger Ausweg, durch den er endgültig einen Unterschied zwischen dem Ritterstande und der großen Volksmasse festsetzte, ohne diese in Aufregung zu versetzen.

Zu den vier städtischen Tribus fügte Servius noch fünfzehn andere hinzu, die ländliche Tribus genannt wurden, weil sie aus den Bewohnern des in ebenso viele Bezirke eingeteilten Landes gebildet waren. In der Folge traten noch ebensoviel neue hinzu und schließlich zerfiel das römische Volk in fünfunddreißig Tribus, die auch bis zum Ende der Republik beibehalten wurden.

Aus dieser Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Tribus ging eine beachtenswerte Wirkung hervor, weil sie beispiellos dasteht und Rom ihr nicht nur die Erhaltung seiner Sitten, sondern auch die Zunahme seiner Macht verdankt. Man sollte meinen, die städtischen Tribus würden sich Macht und Ehre bald allein angemaßt und nicht gesäumt haben, die ländlichen herabzuwürdigen: das Gegenteil trat ein. Man weiß, wie sehr die alten Römer das Landleben liebten. Zu dieser Vorliebe für dasselbe hatte sie jener weise Gesetzgeber erzogen, der die ländlichen Arbeiten und die kriegerischen Übungen auf das engste mit der Freiheit verband und Künste, Gewerbe, Ränke, Reichtum und Sklaverei gleichsam in die Stadt verbannte.

Auf diese Weise gewöhnte man sich, da alle berühmten Männer Roms auf dem Lande lebten und das Feld bestellten, nur hier die Stützen der Republik zu suchen. Der Stand der Landleute, zu dem die würdigsten Patrizier gerechnet wurden, stand in allgemeiner Achtung. Ihr einfaches und arbeitsames Leben fand vor dem müßigen und weichlichen Leben der Städter den Vorzug, und mancher, der in Rom nur ein unglücklicher Proletarier gewesen wäre, wurde als Landmann zu einem geachteten Bürger. Nicht ohne Grund, sagte Varro, errichteten unsere hochherzigen Vorfahren auf dem Lande die Pflanzschule jener kräftigen und heldenmütigen Männer, die sie im Kriege verteidigten und im Frieden ernährten. Plinius erklärt ganz bestimmt, daß die ländlichen Tribus wegen der zu ihnen gehörenden Männer geehrt wurden, während man die Feiglinge, die man herabwürdigen wollte, zum Schimpf in die städtischen verwies. Als sich der Sabiner Appius Claudius in Rom niederlassen wollte, wurde er mit Ehrenerweisungen überhäuft und in eine ländliche Tribus eingeschrieben, die in der Folge den Namen seiner Familie annahm. Endlich traten auch die Freigelassenen sämtlich in die städtischen und nie in die ländlichen Tribus ein, während der ganzen Dauer der Republik kam kein Beispiel vor, daß irgendein Freigelassener, selbst wenn er römischer Bürger geworden, zu einem Staatsamt gelangt wäre.

Dieser Grundsatz war vortrefflich, wurde aber so weit getrieben, daß mit der Zeit eine Änderung, und sicherlich eine mißbräuchliche, in der Verfassung hervorging.

Erstens gestatteten die Zensoren, nachdem sie sich schon längst das Recht einer willkürlichen Versetzung der Bürger aus einer Tribus in die andere angemaßt hatten, den meisten, sich in jede beliebige einschreiben zu lassen. Dieses Verfahren führte sicherlich zu nichts Gutem und raubte der Zensur eines ihrer wesentlichen Aufgabengebiete. Dazu trat noch ein anderer Umstand. Da sich die Großen und Mächtigen sämtlich in die Landtribus einschreiben ließen, während die Freigelassenen, die Bürger geworden waren, mit der großen Volksmasse in den städtischen blieben, so hatten die Tribus überhaupt keinen festen Ort und festes Gebiet mehr, sondern waren alle derartig vermischt, daß man die Mitglieder einer jeden nur nach den Listen zu bestimmen vermochte, so daß der Begriff des Wortes Tribus vom Sachlichen auf das Persönliche überging oder vielmehr fast zu einem leeren Begriff wurde.

Es kam ferner vor, daß die städtischen Tribus, da sie ja näher lagen, in den Comitien zahlreicher vertreten waren und den Staat jedem verkauften, der sich herbeiließ, die Stimmen des sie bildenden Pöbels zu erkaufen.

Da jede Tribus von dem Gründer wieder in zehn Curien eingeteilt war, so zerfiel das ganze damals noch innerhalb der Stadtmauern eingeschlossene römische Volk in dreißig Curien, deren jede ihre eigenen Tempel, Götter, Beamte, Priester und Feste, die sogenannten compitalia hatte, die sich mit den späteren paganalia der ländlichen Tribus vergleichen lassen.

Da sich bei der neuen Einteilung unter Servius Tullius die Zahl dreißig nicht gleichmäßig unter den von ihm eingeführten vier Tribus verteilen ließ und er keine Änderung vornehmen wollte, wurden die Curien von den Tribus unabhängig und ergaben eine andere Einteilung der Stadtbewohner. Dagegen war von Curien keine Rede mehr weder bei den ländlichen Tribus noch beim Landvolk, aus dem sie sich zusammensetzten; und da die Tribus eine rein bürgerliche Einrichtung geworden waren und ein anderes Verfahren für die Truppenaushebung sich eingeführt hatte, erwiesen sich die militärischen Einrichtungen des Romulus als überflüssig. So kam es, daß zwar jeder Bürger in eine Tribus eingeschrieben war, aber bei weitem nicht jeder in eine Curie.

Servius Tullius machte noch eine dritte Einteilung, die mit den beiden vorhergehenden in keinerlei Beziehung stand und in ihren Wirkungen die wichtigste von allen wurde. Er teilte das ganze römische Volk in sechs Klassen, die sich weder nach der Abstammung noch nach der Verwandtschaft, sondern nach dem Vermögen richteten, so daß die ersten Klassen die Reichen, die letzten die Armen und die mittleren diejenigen umfaßten, die sich nur eines bescheidenen Vermögens zu erfreuen hatten. Diese sechs Klassen zerfielen wieder in einhundertdreiundzwanzig Unterabteilungen, die Centurien hießen und unter jene derart verteilt waren, daß die erste Klasse allein deren über die Hälfte in sich begriff, während die letzte nur eine einzige Centurie bildete. Demnach gehörten der Klasse, die die wenigsten Menschen zählte, die meisten Centurien an, und die ganze letzte Klasse wurde nur als eine Unterabteilung betrachtet, obgleich sie allein mehr als die Hälfte der Einwohner Roms umfaßte.

Damit das Volk die Folgen dieser letzten Einrichtung nicht so leicht durchschaute, suchte ihr Servius ein militärisches Äußere zu geben. In die zweite Klasse fügte er zwei Centurien von Waffenschmieden und in die vierte zwei von Kriegsbaumeistern ein; in jeder Klasse schied er, mit Ausnahme der letzten, die Jüngeren von den Älteren, das heißt die zum Waffendienst Verpflichteten von den mit Rücksicht auf ihr Alter gesetzlich davon Entbundenen; eine Unterscheidung, die mehr als die des Vermögens eine öftere Wiederholung des Zensus oder der Volkszählung notwendig machte; endlich bestimmte er, daß die Versammlung auf dem Marsfelde stattfinden sollte, wo alle im dienstfähigen Alter Stehenden mit ihren Waffen zu erscheinen hatten.

Der Grund, weshalb man nicht auch in der letzten Klasse die Einteilung zwischen Jüngeren und Älteren vornahm, lag wohl darin, daß man dem Pöbel, aus dem sie bestand, nicht die Ehre zugestehen wollte, die Waffen für das Vaterland zu tragen; man mußte einen eigenen Herd besitzen, um das Recht zu seiner Verteidigung zu erlangen, und unter jenen unzähligen Lumpenkerlen, mit denen heutzutage die Heere der Könige prunken, ist vielleicht nicht ein einziger, der nicht zu jener Zeit, als die Soldaten noch Verteidiger der Freiheit waren, aus einer römischen Kohorte mit Verachtung gejagt worden wäre.

Gleichwohl unterschied man in der letzten Klasse noch die Proletarier von den sogenannten capite censi. Erstere, die doch nicht völlig besitzlos waren, brachten dem Staate wenigstens Bürger zu, im Falle dringender Not sogar bisweilen Soldaten. Letztere dagegen, die durchaus nichts besaßen und nur nach Köpfen gezählt werden konnten, wurden als gar nicht vorhanden betrachtet, und Marius war der erste, der sich herbeiließ, sie anzuwerben.

Ohne hier zu entscheiden, ob diese dritte Einteilung an sich selbst gut oder schlecht war, so glaube ich doch behaupten zu können, daß nur die einfachen Sitten der ältesten Römer, ihre Uneigennützigkeit, ihre Vorliebe für Ackerbau, ihr Widerwille gegen Handel und Gewinnsucht sie durchführbar machen konnten. Wo ist heutzutage ein Volk, bei dem die verzehrende Habgier, der unruhige Geist, das Gewebe von Listen, die unaufhörlichen Veränderungen, der beständige Wechsel des Vermögens einer solchen Verfassung auch nur eine zwanzigjährige Dauer gewähren könnten, ohne den ganzen Staat umzustürzen. Auch verdient bemerkt zu werden, daß in Rom die Sitten und die Zensur weit größeren Einfluß als diese Einrichtung hatten, um Mißstände in Rom zu bereinigen, und daß sich mancher Reiche in die Klasse der Armen verwiesen sah, weil er seinen Reichtum zu auffallend zur Schau gestellt hatte.

Aus diesem allem läßt sich leicht ersehen, weshalb fast immer nur fünf Klassen erwähnt werden, obgleich es wirklich sechs gab. Da die sechste weder Soldaten für das Heer noch Stimmberechtigte für das MarsfeldIch sage für das Marsfeld, weil sich dort die Comitien centurienweise versammelten; nach den beiden andern Einteilungen versammelte sich das Volk auf dem Forum oder auch anderswo, und in diesem Falle hatten die capite censi ebensoviel Einfluß und Macht wie die ersten Bürger. lieferte und in der Republik fast gar keine Verwendung fand, so kam sie selten für irgend etwas in Betracht.

Der Art waren die verschiedenen Einteilungen des römischen Volkes. Jetzt wollen wir sehen, welche Wirkung sie in den Versammlungen hervorbrachten. Diese gesetzlich berufenen Versammlungen hießen Comitien; gewöhnlich wurden sie auf dem Forum oder dem Marsfelde abgehalten und zerfielen nach den drei Einteilungsformen, nach denen sie berufen wurden, in Comitien nach Curien, nach Centurien und nach Tribus. Die comitia curiata waren von Romulus, die c. centuriata von Servius Tullius und die c. tributa von den Volkstribunen eingeführt worden. Nur in den Komitien erhielt ein Gesetz Bestätigung, konnte eine obrigkeitliche Person gewählt werden; und da es keinen Bürger gab, der nicht in eine Curie, eine Centurie oder eine Tribus eingeschrieben war, so folgt daraus, daß kein Bürger vom Stimmrechte ausgeschlossen und das römische Volk rechtlich und tatsächlich wirklich Staatsoberhaupt war.

Damit die Comitien auf gesetzlichem Wege versammelt würden und ihre Beschlüsse Gesetzeskraft erhielten, mußten drei Bedingungen erfüllt werden: erstens mußte die obrigkeitliche Behörde oder Person, die sie berief, die dazu nötige Vollmacht besitzen; zweitens mußte die Versammlung an einem gesetzlich erlaubten Tage stattfinden, und drittens mußten sich die Auguren günstig ausgesprochen haben.

Der Grund der ersten Vorschrift bedarf keiner weiteren Erläuterung; die zweite ist eine polizeiliche Bestimmung; so war es nicht gestattet, die Comitien an Feier- und Markttagen abzuhalten, an denen die Landleute Geschäfte halber nach Rom kamen und deshalb nicht Zeit hatten, den Tag auf dem Forum zuzubringen. Durch die dritte hielt der Senat ein stolzes und unruhiges Volk am Zügel und mäßigte zu rechter Zeit die Hitze der aufrührerischen Tribunen, wenn dieselben auch mehr als ein Mittel fanden, sich von diesem Zwange zu befreien.

Die Gesetze und die Wahl der Oberen waren nicht die einzigen Gegenstände, die von der Abstimmung der Comitien abhingen. Da das römische Volk die wichtigsten Regierungsgeschäfte an sich gerissen hatte, kann man behaupten, daß in diesen Versammlungen das Schicksal Europas entschieden wurde. Die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, über die sich diese Versammlungen auszusprechen hatten, veranlaßte die verschiedenen Formen, die sie annahmen.

Um sich über diese verschiedenen Formen ein richtiges Urteil zu bilden, genügt es, sie zu vergleichen. Durch die Gründung der Curien beabsichtigte Romulus, den Senat durch das Volk und das Volk durch den Senat im Zaume zu halten, während er über alle gleichmäßig herrschte. Durch diese Form gewährte er dem Volke mithin die ganze Macht der Überzahl, um der des Einflusses und des Reichtums, die er den Patriziern ließ, das Gleichgewicht zu halten. Allein trotzdem war der Vorteil, den er den Patriziern ganz im Geiste der Monarchie durch den Einfluß ihrer Klienten auf die Mehrheit der Stimmen ließ, ungleich größer. Die bewundernswerte Einführung von Patronen und Klienten war ein Meisterwerk der Politik und Menschlichkeit, ohne die das dem Geiste der Republik so völlig widerstreitende Patriziat unmöglich hätte von Dauer sein können. Rom allein gebührt die Ehre, der Welt dieses schöne Beispiel gegeben zu haben, aus dem nie ein Mißbrauch entstand, und das dennoch nie befolgt wurde.

Da die Einteilung in Curien unter den Königen bis auf Servius Tullius bestanden hatte und die Regierung des letzten Tarquinius nicht als rechtmäßig betrachtet wurde, so bezeichnete man später die von den Königen erlassenen Gesetze unter dem Namen leges curiatae.

Da in der Republik die Curien auf die vier städtischen Tribus beschränkt waren und zu ihnen nur noch der städtische Pöbel gehörte, so konnten sie weder dem Senate, der an der Spitze der Patrizier stand, noch den Tribunen gefallen, die, wenn auch Plebejer, doch an der Spitze der wohlhabenden Bürger standen. Sie gerieten deshalb in Verruf; die Verachtung ging so weit, daß ihre dreißig Lictoren, sobald sie versammelt waren, alles entschieden, was den comitia curiata selbst zugestanden hätte.

Die Einteilung nach Centurien war für die Aristokratie so günstig, daß man im ersten Augenblicke nicht begreift, wie der Senat aus den diesen Namen führenden Comitien, in denen die Konsuln, die Zensoren und die übrigen curulischen Würdenträger gewählt wurden, nicht immer siegreich hervorging. Von den einhundertdreiundneunzig Centurien, die die sechs Klassen des ganzen römischen Volkes bildeten, umfaßte die erste in der Tat achtundzwanzig, und da die Stimmen nur centurienweise gezählt wurden, so überwog schon diese erste Klasse allein alle übrigen an Stimmenzahl. Stimmten ihre sämtlichen Centurien überein, so unterblieb deshalb jede weitere Einsammlung der Stimmen; was die kleinste Zahl festgesetzt hatte, galt für die Entscheidung der Menge, und man darf wohl behaupten, daß in den comitiis centuriatis die Entscheidung der Staatsangelegenheiten in weit höherem Grade von der Mehrheit der Taler als von der Mehrheit der Stimmen ausging.

Aber dieser übertriebene Einfluß wurde durch zwei Mittel abgeschwächt: erstens befanden sich gewöhnlich die Tribunen und stets viele Plebejer in der Klasse der Reichen und hielten dem Ansehen der Patrizier in dieser ersten Klasse die Waage.

Das zweite Mittel bestand darin, daß man die Centurien nicht der Reihenfolge nach abstimmen ließ, wobei man den Anfang immer mit der ersten hätte machen müssen, sondern eine durch das Los bestimmte, und dieseDiese durch das Los bestimmte Centurie wurde praerogativa genannt, weil sie die erste war, die man um ihre Stimme befragte; und daher ist das Wort Prärogative entstanden. schritt dann allein zur Wahl, worauf dann alle übrigen Centurien auf einen andern Tag der Reihe nach zusammenberufen wurden, die Wahl wiederholten und gewöhnlich bestätigten. So entzog man den Einfluß des Beispiels der Rangordnung, um es nach dem Grundsatz der Demokratie dem Zufall zu überlassen.

Diese Sitte hatte noch einen anderen Vorteil zur Folge, und zwar den Vorteil, daß die auf dem Lande wohnenden Bürger zwischen den beiden Wahlen Zeit gewannen, sich nach dem Verdienste des vorläufig ernannten Kandidaten zu erkundigen, damit sie ihre Stimme mit voller Sachkenntnis abgeben konnten. Allein unter dem Vorwande, eine Beschleunigung der Wahlen herbeizuführen, wurde die Aufhebung dieser Sitte durchgesetzt, und beide Wahlen fanden an einem und demselben Tage statt.

Die tribusweise abgehaltenen Comitien waren im recht eigentlichen Sinne die Ratsversammlung des römischen Volkes. Nur von den Tribunen durften sie berufen werden; die Tribunen selbst wurden von ihnen erwählt und ließen über die Volksanträge abstimmen. Der Senat durfte ihnen weder beiwohnen, geschweige denn in ihnen abstimmen. Gezwungen, sich Gesetzen zu fügen, über die sie nicht hatten mit abstimmen dürfen, waren die Senatoren in dieser Hinsicht weniger frei als die geringsten Bürger. Diese Ungerechtigkeit ging aus einem höchst bedenklichen Mißverständnisse hervor und wäre schon allein hinreichend gewesen, die Beschlüsse eines Körpers, an dem nicht alle seine Glieder beteiligt waren, ungültig zu machen. Hätten alle Patrizier nach dem Rechte, das sie als Staatsbürger besaßen, diesen Comitien beigewohnt, so würden sie, da sie dadurch einfache Privatleute geworden wären, keinen wesentlichen Einfluß auf die nach Köpfen stattfindende Abstimmung ausgeübt haben, da ja der geringste Proletarier eine ebenso große Macht wie der Vorsitzende des Senates hatte.

Man sieht also ein, daß außer der Ordnung, die aus diesen verschiedenen Einteilungen für die Feststellung des Abstimmungsergebnisses unter einem so großen Volke hervorging, diese selbst keineswegs zu gleichgültigen Förmlichkeiten herabsanken, sondern daß jede besondere Wirkungen je nach der Absicht hatte, um derentwillen man ihr den Vorzug gab.

Ohne mich noch ausführlicher darüber zu äußern, ist doch aus den vorhergehenden Erörterungen so viel ersichtlich, daß die Comitien nach Tribus der Volksregierung und die nach Centurien der Aristokratie günstiger waren. Was nun die Comitien nach Curien anlangt, in denen ausschließlich der Pöbel Roms die Mehrheit bildete, so mußten sie, weil sie nur zur Begünstigung der Tyrannei und allerlei böser Anschläge dienten, um so mehr in Verruf kommen, als die Aufrührer selbst ein Mittel verschmähten, das ihre Absichten allzu deutlich verriet. So viel steht fest, daß die volle Majestät des römischen Volkes nur in den Comitien nach Centurien als den allein vollzähligen vorhanden war, da in den Comitien nach Curien die ländlichen Tribus, und in den Comitien nach Tribus der Senat und die Patrizier fehlten.

Die Stimmeneinsammlung war bei den Römern in der ersten Zeit ebenso einfach wie ihre Sitten, wenn auch nicht ganz so einfach wie in Sparta. Jeder gab seine Stimme laut ab, während ein Schreiber sie der Reihe nach aufschrieb. In jeder Tribus galt die Stimmenmehrheit für das Votum der Tribus, die Stimmenmehrheit innerhalb einzelner Tribus für das Votum des Volkes, und in gleicher Weise wurde bei den Curien und den Centurien verfahren. Diese Sitte war gut, solange noch Redlichkeit unter den Staatsbürgern herrschte und jeder sich schämte, öffentlich für eine ungerechte Sache oder einen ungerechten Menschen zu stimmen; als das Volk jedoch verdorben war und man die Stimmen kaufte, zog man geheime Abstimmungen vor, um die Käufer in Mißtrauen zu halten und den Betrügern zu ermöglichen, nicht als Verräter zu erscheinen.

Ich weiß, daß Cicero diese Änderung tadelt und ihr zum Teil den Untergang der Republik zuschreibt. Allein obgleich ich fühle, ein wie großes Gewicht hier der Ausspruch eines Mannes wie Cicero haben muß, so vermag ich seine Ansicht doch nicht zu teilen; ich bin vielmehr überzeugt, daß man das Verderben des Staates gerade dadurch beschleunigte, daß man nicht genug ähnliche Veränderungen vornahm. Wie sich die Lebensordnung gesunder Leute nicht für kranke eignet, so darf man auch ein verdorbenes Volk nicht nach denselben Gesetzen regieren wollen, die für ein noch gesundes Volk angemessen sind. Die Richtigkeit dieses Satzes beweist nichts besser als die Dauer der Republik Venedig, deren Schattenbild noch besteht, und zwar einzig und allein deshalb, weil ihre Gesetze nur für schlechte Menschen passen.

Man verteilte also unter die Bürger Täfelchen, auf die jeder sein Votum schreiben konnte, ohne daß ein anderer erfuhr, wie er stimmte; ferner führte man für das Einsammeln der Täfelchen, das Auszählen der Stimmen, das Vergleichen der Wahlresultate usw. neue gesetzliche Formen ein, was freilich nicht hinderte, daß die Treue der mit diesen Geschäften betrauten Beamten oft verdächtigt wurde. Um dem Parteihader und dem Stimmenhandel ein Ende zu machen, erließ man endlich Verordnungen, deren große Zahl ihre Fruchtlosigkeit beweist.

In den letzten Zeiten der Republik sah man sich oft genötigt, zu außerordentlichen Maßregeln seine Zuflucht zu nehmen, um der Unzulänglichkeit der Gesetze abzuhelfen; bald ersann man Wunder, ein Mittel, das wohl auf das Volk Eindruck machen konnte, aber nicht auf die, die es regierten; bald berief man auf der Stelle eine Versammlung zusammen, ehe noch die Bewerber Zeit zu Umtrieben hatten; bald verbrachte man eine ganze Sitzung mit lauter Reden, sowie man gewahrte, daß das bereits gewonnene Volk im Begriff stand, einen unheilvollen Beschluß zu fassen. Aber die Ehrsucht machte schließlich doch alle diese Maßregeln vergeblich; dabei ist es fast unglaublich, daß dieses riesige Volk unter so vielen Mißbräuchen fortfahren konnte, Obrigkeiten zu wählen, Gesetze zu erlassen, Prozesse zu entscheiden, Privat- und Staatsangelegenheiten zu ordnen, und zwar mit beinahe ebenso großer Leichtigkeit, wie es der Senat selbst nur hätte tun können.


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