Jean Jaques Rousseau
Der Gesellschaftsvertrag
Jean Jaques Rousseau

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4. Kapitel

Von der Demokratie

Wer das Gesetz erläßt, weiß besser als jeder andere, wie es vollzogen und ausgelegt werden soll. Es scheint demnach keine bessere Verfassung geben zu können als diejenige, in der die vollziehende Gewalt mit der gesetzgebenden verbunden ist. In gewisser Hinsicht macht aber gerade dieser Umstand die demokratische Regierung unzureichend, weil bei ihr Dinge, die unterschieden werden müssen, es nicht sind, und weil Fürst und Staatsoberhaupt, die ja nur eine und dieselbe Person ausmachen, gleichsam eine Regierung ohne Regierung bilden.

Es ist nicht gut, daß der, der die Gesetze gibt, sie ausführt, auch nicht, daß der Volkskörper seine Aufmerksamkeit von den allgemeinen Zwecken abwendet, um sie auf besondere Gegenstände hinzulenken. Nichts ist gefährlicher, als der Einfluß der Privatinteressen in den öffentlichen Angelegenheiten, und der Mißbrauch der Gesetze von seiten der Regierung ist ein geringeres Übel als die Verdorbenheit des Gesetzgebers, die die unausbleibliche Folge einer Berücksichtigung der Privatabsichten ist. Da der Staat dann in seinem Wesen verdorben ist, wird jede Verbesserung unmöglich. Ein Volk, das mit der Regierungsgewalt nie Mißbrauch triebe, würde ebensowenig seine Unabhängigkeit mißbrauchen; ein Volk, das stets gut regierte, brauchte überhaupt nicht regiert zu werden.

Wenn man das Wort in der ganzen Strenge seiner Bedeutung nimmt, so hat es noch nie eine wahre Demokratie gegeben und wird es auch nie geben. Es verstößt gegen die natürliche Ordnung, daß die größere Zahl regiere und die kleinere regiert werde. Es ist nicht denkbar, daß das Volk unaufhörlich versammelt bleibe, um sich den Regierungsgeschäften zu widmen, und es ist leicht ersichtlich, daß es hierzu keine Ausschüsse einsetzen kann, ohne die Form der Verwaltung zu ändern.

Ich glaube in der Tat den Grundsatz aussprechen zu dürfen, daß, so oft die Regierungsgeschäfte unter verschiedene Behörden verteilt sind, die am wenigsten zahlreichen früher oder später die größte Macht erwerben, und wäre es auch nur die größere Leichtigkeit, die Geschäfte abzuwickeln, die sie auf natürlichem Wege dazu führt.

Wie viele schwer zu vereinigende Dinge setzt diese Regierungsform überhaupt voraus! Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder Bürger genügende Gelegenheit hat, alle anderen kennenzulernen; zweitens eine große Einfachheit der Sitten, die keine Veranlassung zu vielen schwierigen Arbeiten und Verhandlungen gibt, sodann fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte; endlich wenig oder gar keinen Luxus, denn der Luxus ist entweder die Folge des Reichtums oder macht ihn nötig; er verdirbt nicht nur den Reichen, sondern auch den Armen, jenen durch den Besitz, diesen durch die Lüsternheit; er verwandelt das Vaterland in eine Stätte der Weichlichkeit und Eitelkeit; er entzieht dem Staate alle Bürger, um die einen zu Sklaven der anderen und alle zu Sklaven des Vorurteils zu machen.

Aus diesem Grunde hat ein berühmter Schriftsteller die Tugend für das Prinzip der Republik erklärt:Esprit des lois, liv. III, chap. III. denn ohne die Tugend könnten alle die angegebenen Bedingungen nicht bestehen; aber da er nicht die nötigen Unterscheidungen machte, hat es dieser große Geist oft an Genauigkeit, bisweilen sogar an Klarheit fehlen lassen, und nicht eingesehen, daß die oberherrliche Gewalt überall dieselbe ist und folglich in allen wohlorganisierten Staaten das Prinzip mehr oder weniger, je nach der Regierungsform, das gleiche ist.

Schließlich will ich noch bemerken, daß keine Regierung in so hohem Grade Bürgerkriegen und inneren Erschütterungen ausgesetzt ist als die demokratische oder Volksregierung, weil keine andere so heftig und so unaufhörlich nach Veränderung der Form strebt und keine mehr Wachsamkeit und Mut zur Aufrechterhaltung ihrer bestehenden Form verlangt. Namentlich in dieser Verfassung muß sich der Staatsbürger mit Kraft und Ausdauer waffnen und jeden Tag seines Lebens im Grunde seiner Seele nachsprechen, was ein edler WoiwodeDer Woiwode von Posen, Lesczinski, der Vater des Königs von Polen und Herzogs von Lothringen. auf dem polnischen Reichstage sagte: Malo periculosam vitam quam quietum servitium. (Ich ziehe eine gefahrvolle Freiheit einer ruhigen Knechtschaft vor.) Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.


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