Joseph Roth
Der stumme Prophet
Joseph Roth

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IX

Deshalb vielleicht folgte Friedrich dem Befehl, nach Moskau zu kommen. Er stand in Savellis Büro. Es war in dem oft beschriebenen und, man kann sagen, meistgefürchteten Gebäude von Moskau gelegen. Ein helles und kahles Zimmer. Die üblichen Porträts von Marx und Lenin fehlten an den hellgelben Wänden. Drei weite, bequeme, lederne Sessel, zwei vor dem breiten Schreibtisch und einer hinter ihm. Diesen nahm Savelli ein, das Fenster im Rücken, das Gesicht der Tür zugewandt. Auf der schimmernden, gläsernen Platte über dem Schreibtisch lag nichts mehr als ein einzelner leerer, gelber Oktavbogen. Die Platte spiegelte den matten Himmel wider, den das Fenster aufnahm. Es konnte einigermaßen überraschen, wenn man in diesem kahlen Zimmer, das noch seine Einrichtung zu erwarten schien, in dem Savelli aber schon länger als zwei Jahre lebte, auf einen dichten, sanften, roten Teppich trat, der nicht nur das Geräusch des Gehens, sondern überhaupt alle Geräusche aufzusaugen bestimmt war. Savelli sah immer noch so aus wie an jenem Morgen, an dem er die Grenze überschritten hatte. Er verändert sich ebensowenig, hatte R. von ihm gesagt, wie ein Prinzip.

»Setzen Sie sich«, sagte Savelli zu Friedrich.

»Dauert es denn so lange?«

»Ich möchte nicht sitzen, während Sie stehen.«

»Ich möchte es uns beiden nicht bequem machen.« Savelli stand auf.

»Sie können«, begann Savelli, »wenn Sie wollen, Gesellschaft haben. R. geht morgen weg. Er geht nach Kemi, fünfundsechzig Kilometer von Solowetzk. Es sind, wie Sie wissen, nette Inseln, fünfundsechzig Grad nördlicher Breite, sechsunddreißig Grad Länge östlich von Greenwich. Die Ufer sind felsig und romantisch geklüftet. Achttausendfünfhundert Romantiker befinden sich schon dort. Verachten Sie nur das Kloster nicht, das aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt. Es hat sogar vergoldete Kuppeln. Nur die Kreuze haben wir entfernt. Das dürfte R. traurig machen.«

»R. ist nicht meine Gesellschaft«, erwiderte Friedrich. »Sie irren sich, Savelli. R. war in einer sehr wichtigen Zeit Ihr Freund und nicht der meine. Sie wissen ja, daß ich zu Berzejew will.«

»In den Freundschaften kenne ich mich nicht aus. R. hat einen Dienst gehabt wie Sie und ich, nicht mehr. Er will ihn nicht mehr machen ebenso wie Sie.«

»Man hat auch Verdienste.«

»Nicht unsere Sache. Wir sind nicht unsere eigenen Geschichtsschreiber. Ich habe nie ein Verdienst gehabt. Ich bin nur ein Werkzeug.«

»Das haben Sie mir schon einmal gesagt.«

»Ja, vor etwa zwanzig Jahren. Ich habe ein gutes Gedächtnis. Es war damals noch ein guter Bekannter von Ihnen dabei. Wollen Sie ihn sehen?«

Savelli ging zur Tür und sagte etwas leise zu dem Posten. Die Tür blieb halb offen. Ein paar Minuten später erschien in ihrem Rahmen Kapturak. Als wäre er nur zu diesem Zweck gekommen, begann er:

»Parthagener ist endlich gestorben. Und ich lebe, wie Sie sehen.«

Er fing an, im Zimmer herumzugehen, als müßte er es beweisen. Die Mütze auf dem Kopf, die Hände auf dem Rücken.

»Es ist nicht wahr, sehen Sie, daß Genosse Savelli undankbar ist. Erinnern Sie sich? Fünfzigtausend Rubel hätte ich einmal für ihn bekommen können.«

»Und was verdienen Sie hier?«

»Allerhand Erfahrungen, Erfahrungen. Die Spesen in der Eisenbahn bringen nicht viel. Manchmal begleite ich gute Bekannte im Schlafwagen. Erinnern Sie sich, wie wir einmal zu Fuß gelaufen sind. Heute könnt' ich es nicht mehr. Sehen Sie her!« Kapturak nahm die Mütze ab und zeigte sein dichtes, schneeweißes Haar, so weiß, wie es einmal der Bart Parthageners gewesen war.

Er begleitete Friedrich nach P. Friedrich fuhr nicht mehr im Zwischendeck, auch nicht in einem vergitterten Waggon. Man gab ihm Kapturak mit, nicht weil man ihm mißtraute, sondern als Führer und weil Savelli einen gewissen Sinn für eine deutliche Pointierung der Ereignisse besaß, die von seiner Willkür abhingen.


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