Joseph Roth
Der stumme Prophet
Joseph Roth

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III

Eine Woche später schickte man ihn in die »Grenzschenke«, eine »Partie« übernehmen. Der Zug war um elf Uhr nachts angekommen, die Grenze überschritt man erst um drei Uhr morgens. Vier Deserteure schliefen nebeneinander, eine liegende Doppelreihe, auf dem Fußboden, die Köpfe auf ihren Bündeln. Hinter der Theke saß der taubstumme Wirt. Er riß die Augen weit auf, weil sie ihm die Ohren ersetzten und er mit ihnen hören konnte. Aber jetzt gab es nichts zu hören. Kapturak war in einem Sessel eingenickt. An der Tür lehnte drohend und hager der schwarze Kaukasier Savelli. Er wollte sich nicht setzen, er fürchtete einzuschlafen. Er traute Kapturak nicht. Die Regierung wäre bereit gewesen, einen hohen Preis für Savelli zu zahlen. Wer weiß, ob Kapturak nicht die Absicht hatte, ihn auszuliefern.

Die Abenteuerlichkeit dieser nächtlichen Stunde genoß kein anderer außer Friedrich. Den Leuten, die sich seit Jahren mit dem Schmuggel befaßten, war sie gewohnt und gewöhnlich. Die Deserteure, die jetzt die Müdigkeit überwältigt hatte, erinnerten sich erst nach langen Jahren und in fernen Länden an die Unheimlichkeit dieses Orts zwischen dem Tod und der Freiheit und an die Stelle der kreisrunden Nacht, in deren Mitte nur diese eine Schenke beleuchtet war, der helle Kern einer großen Finsternis. Nur Friedrich lauschte dem regelmäßigen, langsamen Schlag einer Uhr, die ihre eigenen Sekunden zählte, als bestünde die Zeit aus den kostspieligen Tropfen eines edlen und seltenen Metalls. Er allein betrachtete die großen und trägen Fliegen an der breiten Petroleumlampe, deren Docht bis auf einen schmalen Saum herabgedreht war und deren breiter Schirm aus braunem Karton die obere Hälfte des Zimmers verdunkelte. Und er allein empfand den fernen Pfiff einer Lokomotive, der durch die Nacht erscholl, wie den ängstlichen Hilferuf eines Menschen.

Gegen zwei Uhr morgens ertönte ein anderer Pfiff, ein abgebrochener, furchtsam unterdrückter. Kapturak hörte ihn. Er sprang auf und weckte die Schlafenden. Jeder nahm sein Bündel auf den Rücken. Sie gingen hinaus. Die Nacht war trüb und feucht, der Boden naß. Man hörte die Schritte jedes einzelnen. Sie gingen durch einen Wald. Kapturak blieb stehen. »Niederlegen!« flüsterte er, und alle legten sich leise hin. Ein Zweig knackte.

Nach einer Weile sprang Kapturak auf und fing an zu laufen. »Mir nach!« schrie er. Hinter ihm sprangen alle über einen Graben. Sie liefen noch bis an den Rand des Waldes. Hinter ihnen knallte ein Schuß und verhallte mit langem Echo.

Sie waren außerhalb des Landes. Die Männer gingen langsam, schweigend, schwer. Man hörte den Atem eines jeden. Friedrich konnte sie nicht sehen, aber er erinnerte sich gut an ihre Gesichter, einfache, stumpfnasige Bauerngesichter, Augen unter winzigen Stirnen, massive Rümpfe und schwere Gliedmaßen.

Er liebte sie, denn er fühlte ihr Unglück. Er dachte an die unzähligen Grenzen des riesigen Reiches. In dieser Nacht wanderten Hunderttausende aus, sie gingen aus dem Unglück ins Unglück. Die unermeßliche, schweigende Nacht war von flüchtenden Menschen bevölkert, stumpfe, arme Gesichter, massive Rümpfe, schwere Gliedmaßen.

Im Osten begann es hell zu werden. Wie auf einen Befehl blieben plötzlich alle stehen und wandten sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren, als wäre die Nacht, die sie verließen, ihre Heimat gewesen und der Morgen erst die Grenze. Sie blieben stehen und nahmen Abschied von der Heimat, von einem Hof, von einem Tier, einer Mutter, der von hundert Desjatinen und jener von einem einzigen Streifen Acker, vom Schlag einer bestimmten Glocke. Sie standen da, als handelten sie nach einem Ritus. Auf einmal stimmte Savelli mit einer harten, klaren Stimme ein Soldatenlied an. Alle fielen ein und sangen mit. Sie hatten noch eine gute Stunde bis zur Herberge Parthageners.


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