Joseph Roth
Der stumme Prophet
Joseph Roth

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Zweites Buch

I

Es war Abend. Das Wasser plätscherte leise und zärtlich um den Dampfer, der auf der Wolga dahinschwamm. Im Zwischendeck hörte man das harte, regelmäßige Stampfen der Maschinen. Die schaukelnden Laternen wischten Lichter und Schatten über die zweihundert Menschen, die sich hier niedergelassen hatten, jeder auf dem Platz, wo er zufällig stehengeblieben war, als er das Schiff betreten hatte. An den stillen Stationen schwiegen die Maschinen, und man hörte die tiefen Rufe der Schiffer, der Lastträger und den schnalzenden Anschlag des Wassers an Holz.

Die meisten Gefangenen lagen ausgestreckt auf dem Boden. Hundertzwanzig von den zweihundert Passagieren des Zwischendecks waren gefesselt. Sie trugen Ketten an den Gelenken der rechten Hand und des rechten Fußes. Die nicht Gefesselten sahen neben den Geketteten fast wie Freie aus. Manchmal erschien ein Polizist, ein neugieriger Matrose. Die Gefangenen kümmerten sich weder um ihre Wächter noch um ihre Besucher. Obwohl es ganz früh am Abend war und in einer halben Stunde das Essen verteilt werden sollte, schliefen die meisten, müde von den langen Märschen, die sie bis jetzt zurückgelegt hatten. Der Staat führte sie auf dem billigen und langsamen Wasserweg, nachdem er sie lange hatte wandern lassen. Übermorgen sollten sie in Eisenbahnen verfrachtet werden. Sie sammelten einen großen Vorrat an Schlaf.

Manche unter ihnen kannten sich schon aus. Sie machten diesen Weg nicht zum erstenmal. Sie besaßen Erfahrungen, richteten sich praktisch ein und erteilten den Neulingen Ratschläge. Unter ihren Kameraden erfreuten sie sich einer gewissen Autorität. Mit den Gendarmen verband sie eine Art intimer Feindschaft.

Man rief sie zum Essen wie zu einer Hinrichtung. Sie stellten sich hintereinander auf, zwischen ihnen klirrten die Ketten. Es sah aus, als wären sie alle an einer einzigen langen aufgeschnürt. Mit regelmäßigem, plätscherndem Aufschlag fiel ein Löffel in den Kessel, dann vernahm man das leise Gurgeln eines leise zurückfließenden Suppenstrahls, dann fiel eine feuchte Masse auf hartes Blech. Schwere Füße scharrten, eine Kette schlürfte klirrend, und immer wieder löste sich aus der Reihe ein anderer, als wäre er abgefädelt worden. Der niedrige Raum erfüllte sich mit dem Dampf, der aus zweihundert Blechgeschirren und Mündern stieg. Alle aßen. Und obwohl sie selbst die Löffel zu den Lippen führten, sah es aus, als würden sie von fremden Armen gefüttert, die nicht zu ihren Körpern gehörten. Ihre Augen, die weit früher gesättigt waren als ihre Eingeweide, hatten schon den stieren Blick der Sattheit, der auch die Hausväter am Familientisch kennzeichnet, jenen Blick, der schon in die Gefilde des Schlafes vordringt.

»Wenn ich die Menschen während der Fütterung betrachte«, sagte Friedrich zu Berzejew, einem früheren Oberleutnant, »bin ich überzeugt, daß sie nichts mehr nötig haben als eine Kugel am Bein, einen Löffel in der Rechten und ein Blechgeschirr in der Linken. Das Herz ist so nahe dem Darm, Zunge und Zähne grenzen so hart an das Gehirn, die Hände, die Gedanken niederschreiben, können so gut ein Lamm erwürgen und einen Bratspieß drehen, daß ich ratlos vor den Menschen stehe wie vor einem legendären Drachen.«

»Sie sprechen wie ein Dichter«, erwiderte Berzejew, lächelte und zeigte zwischen dem schwarzen Bart zwei Reihen leuchtender Zähne, die wie ein Beweis für Friedrichs Behauptung aussahen. »Ich kann solche Worte nicht finden. Aber ich habe auch gesehn, daß der Mensch rätselhaft ist, und vor allem: daß man ihm nicht helfen kann.«

Beide erschraken sie. Waren sie nicht hier, weil sie ihnen helfen wollten? Sie wandten sich voneinander ab.

»Gute Nacht«, sagte Berzejew.

Draußen wurde die Wache abgelöst.


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