Joseph Roth
Der stumme Prophet
Joseph Roth

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IX

Also befindet er sich noch einmal vor der Herberge »Zur Kugel am Bein«. Sie steht immer wieder auf seinem Weg. Er läßt Berzejew in der großen, leeren Schenkstube warten und geht die Treppe hinauf, die zum Zimmer des alten Parthagener führt.

Friedrich sieht durchs Schlüsselloch, die Tür ist verschlossen. Auf dem grünen Kanapee schläft der alte Parthagener, wie immer am Nachmittag von zwei bis vier. Er schläft, wie um den Krieg zu widerlegen. Die alten Möbel stehen noch im Zimmer. Eine entfaltete Zeitung liegt auf dem Tisch, bewacht von der blauen Brille. Friedrich überlegt, ob er den Alten wecken soll. Es scheint gefährlich zu warten. Jeden Augenblick kann eine Patrouille die Schenke betreten. Er klopft. – Der Alte springt auf. »Wer dort?« – Es ist immer noch derselbe Ruf. Er öffnet die Tür. »Ah, Sie sind es! Wir haben Sie schon lange erwartet. Kapturak weiß seit einer Woche, daß Sie zusammen mit Ihrem Genossen Berzejew geflüchtet sind. Sie sind lange fort gewesen, armer junger Mann! Sie müssen viel mitgemacht haben! Aber nun sind Sie da! Haben Sie es eigentlich nötig gehabt?«

Es hat sich also nichts geändert! denkt Friedrich. Kapturak und Parthagener haben mich erwartet, als wäre ich hinübergegangen, eine »Partie« abholen. Und zu Parthagener: »Kapturak ist also hier?« »Und weshalb nicht! Er ist als Feldscher eingerückt. Haben Sie die große Fahne vom Roten Kreuz nicht auf unserem Dach gesehn? Wir sind sozusagen ein Spital ohne Kranke. Kapturak ist gleich in der ersten Woche mit der siegreichen Armee einmarschiert. Ein ganz gewöhnlicher Feldscher! Aber eigentlich bei der Spionage. Mit Beziehungen zum Armeekommando. Er bringt uns gesunde Soldaten, und wir behandeln sie nach verschiedenen Rezepten. Wir geben ihnen Zivilkleider und Papiere, Einspritzungen, Betäubungsmittel, Lähmungserscheinungen und Sehstörungen. Leider bin ich ganz allein. Meine Söhne sind eingerückt. Grad in dieser Zeit. Nicht daß ich Angst um ihr Leben hätte! Ein Parthagener fällt nicht im Krieg! Aber ich bin ein alter Mann und kann die vielen Deserteure nicht bewältigen.«

Es kamen immer mehr Deserteure zu Parthagener. Die Furcht vor einem Krieg, der erst hätte ausbrechen sollen, hatte sich in die weit größere Furcht vor einem Krieg, der schon da war, verwandelt. Der Alte saß in seiner Herberge und verkaufte Heilmittel gegen die Gefahr wie ein Apotheker Pulver gegen Fieber.

»Und wo ist Ihr Freund?« fragte der Alte.

»Er wartet unten.«

Parthagener setzte die Brille auf und strählte mit einem Kamm seinen schönen, weißen Bart vor dem Spiegel. Dann wendete er sich wieder um. Bis jetzt hatte er gleichsam privat gesprochen. Nunmehr wurde er der offizielle Herbergsvater, bereit, einem Fremden zu bieten, was er hatte: eine stille Würde und einen seelischen Komfort.

Am Vorabend, in der Dämmerung, kommt Kapturak. Er trägt eine Uniform und sieht viel friedlicher aus als in ruhigen Zeiten. Damals war er ein Abenteurer. Heute, mitten im großen Abenteuer, ist er ein braver Mann, der seinen bürgerlichen Beruf nicht aufgegeben hat. Es war still in der Schenke. Man hört manchmal den schweren Schritt einer Patrouille, die ihre Runde durch die Stadt macht. Man könnte vergessen, daß hier der Krieg zu Hause ist, nachdem er sich so lange vorbereitet hatte, hier, an dieser Grenze, die seine Heimat ist. Der alte Parthagener sitzt über einem großen Buch und rechnet. Berzejew schläft, den Kopf auf der Tischplatte. Man sieht von ihm nur sein wirres, braunes Haar.

»Sie bleiben zusammen mit ihm?« fragt Kapturak. Der Blick, den er in Berzejews Richtung schickt, ist körperlich wie ein ausgestreckter Zeigefinger.

»Er will über Rumänien, den Balkan, Italien nach der Schweiz. Ich möchte gerne über Wien.«

»Sie fahren beide morgen!« entscheidet Kapturak. »Als Schweizer Rotes Kreuz. Ich werde den Abmarsch vorbereiten.«

Sie schliefen im Gastzimmer. Ein paarmal erwachte Friedrich von fernen Schüssen, die mit langem Echo durch die stille Nacht knallten, und von dem fernen, blassen Schimmer der Scheinwerfer, die den Horizont und die Fenster für kurze Sekunden erhellten. Er sah sich im Traum einen schmalen Weg zwischen Feldern entlanglaufen. Der Weg führte in einen Wald. Es war Nacht. Ein breiter Streifen Licht aus einem Scheinwerfer huschte über die Felder hin, um den schmalen Pfad zu finden, auf dem Friedrich lief. Der Pfad hatte kein Ende. Man sah die dunkle Masse des Waldes ganz nahe. Aber der Weg machte unerwartete Biegungen, wich einem Stein und einer Wasserlache aus, und sooft Friedrich sich entschloß, ihn zu verlassen und geradewegs über die Felder zu laufen, verschwand der Wald vor seinen Blicken. Ein nackter, von weißen Scheinwerfern schamlos entkleideter Himmel lag flach und endlos über der Welt. Hastig suchte er wieder nach dem trügerischen Weg, und er lief, sorgfältig trotz aller Eile, einen Fuß vor den andern, um nur nicht seitwärts zu treten und den Wald vor den Augen zu verlieren.

Am Morgen geht er noch einmal durch die kleine Stadt. Die Läden sind geschlossen. An den Fenstern der niedrigen Häuser zeigt sich niemand. Auf dem quadratischen Marktplatz lagern Soldaten. Die Pferde wiehern. Aus riesigen Kochkesseln duftet es warm und fett. Die Trainwagen rollen unaufhörlich und scheinbar zwecklos über die holprigen Steine. Auf der steinernen Schwelle eines Hauses, dessen Tor geschlossen ist, sitzt ein Soldat. Er hält einen Sack zwischen den Knien, beugt seinen Kopf über ihn und sieht hinein. Wie Friedrich vorbeigeht, schließt er mit einem erschrockenen Griff den Sack und hebt den Kopf. Er hat ein blasses, breites Gesicht mit fahlen Brauen über schmalen, hellgrauen Augen. Seine Mütze liegt schief auf seinen Haaren und drückt ein Ohr zusammen. Seine gelbe Uniform aus harter Leinwand ist zu schmal, und seine breiten Schultern füllen noch ein oberes Stück der Ärmel aus. Er erinnert so an einen Irren in der Zwangsjacke. Ein langsamer Schrecken überzieht sein Gesicht. Seine viel zu kurzen Lippen, die sich niemals ganz schließen können, enthüllen das Zahnfleisch über den langen gelben Zähnen. Es sieht aus wie Lachen und Weinen, wie Freundlichkeit und Zorn. »Ich hab dich erschreckt!« sagt Friedrich. Der Soldat nickt. »Was hast du da im Sack? Fürchte dich nicht!« Der Soldat öffnet schnell und läßt Friedrich hineinblicken. Friedrich sieht silberne Löffel, Ketten, Leuchter und Uhren. »Was machst du damit?« Der Soldat zuckt die Schultern und legt den Kopf auf die Seite wie ein verlegenes Kind. Schließlich fleht er: »Gib mir deine Uhr!« »Du hast ja so viele!« sagt Friedrich, »ich habe keine.« »Laß mich sehen!« fleht der Soldat. Er steht auf und steckt die Hände in Friedrichs Taschen. Er findet Papiere, Bleistifte, eine alte Zeitung, ein Messer, ein Taschentuch. »Nein, du hast keine!« sagt der Soldat, »da, nimm dir eine!«, und er öffnet den Sack. »Ich brauche keine Uhr!« sagt Friedrich. »Doch! Du mußt nehmen!« beharrt der Mann und steckt ihm eine Uhr in die Rocktasche.

Friedrich entfernt sich. Der Soldat läuft ihm nach, den schlenkernden Sack in der Hand. »Halt!« ruft er. Und als Friedrich stehnbleibt: »Gib mir doch die Uhr wieder!« Er nimmt sie mit einer zitternden Hand entgegen. Offiziere kamen vom Frühstück, mit klirrenden Sporen, gegürteter Taille, mit der kriegerischen Eleganz, die aus dem Offizier ein Muster der Männlichkeit macht und ihm zugleich eine Ähnlichkeit mit weiblichen Mannequins verleiht. Sie wiegten sich in den Hüften, an denen die Pistolen wie Schmuckstücke in Etuis hingen. Die Soldaten in den Straßen grüßten. Und die Offiziere erwiderten lustig und leger. Wie sie so dahingingen, zwischen grüßender Ehrfurcht, stummer Dienstbereitschaft, verliebter Ergebenheit, erinnerten sie an gefeierte Damen der Gesellschaft, die durch einen Ballsaal schreiten.

Sanitätswagen kamen, aus denen man Verwundete mit weißen Verbänden herauszog wie Gipsfiguren aus Schubladen; ein sterbendes Pferd lag in der Straßenmitte, um das sich niemand kümmerte, ein Offizier ritt vorbei. Er ragte bis an den Rand der Häuser und schien wie ein blauer Gott die Welt zu visitieren.

Sie reisten noch an diesem Tag nach Rumänien. Berzejew fuhr weiter über Griechenland und Italien nach der Schweiz, Friedrich über Ungarn nach Wien. Sie sollten sich in Zürich treffen. Sie fuhren mit Rote-Kreuz-Binden und mit Legitimationen aus Kapturaks Fabrik als Mitglieder einer Schweizer Krankenkommission.


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