Joseph Roth
Der stumme Prophet
Joseph Roth

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XII

Für morgen abend war seine Abreise festgesetzt. Er hatte noch mehr als vierundzwanzig Stunden Zeit. Savelli hatte ihm Geld, Briefe und Aufträge mitgegeben. Er sollte sich zuerst bei Frau K. melden und bei ihr wohnen. Bei der ersten sicheren Gelegenheit, die sich ergeben würde, mit einem Teil des Geldes zurückkommen, das man hier dringend erwartete. Er hatte einen Koffer voller Zeitungen, sie lagen in den Taschen, in den Ärmeln, im Unterfutter fremder Anzüge, die man ihm mitgegeben hatte.

Er fürchtete sich nicht. Ein Strom Ruhe erfüllte ihn wie einen Sterbenden, der ein langes und gerechtes Leben hinter sich weiß. Er konnte untergehn, namenlos, vergessen, aber nicht spurlos. Ein Tropfen im Meer der Revolution.

»Ich habe einen herzlichen Abschied von R. genommen«, erzählte er mir. »Dieser R., den alle unzuverlässig nennen, den eigentlich niemand leiden kann, weiß mehr als die andern. Er vergißt nicht die Gebrechen der Menschen über der Gesinnung. Er kennt die verborgene Vielfalt, aus der wir alle zusammengesetzt sind. Man traut ihm nicht ganz, denn er ist vielseitig. Er traut sich übrigens selbst nicht, seiner unbestechlichen Vernunft nicht.«

Er ging zu Grünhut Abschied nehmen.

»Wohin reisen Sie?«

Es war ein paar Augenblicke still. Grünhut ging zum Fenster. Es war, als sähe er nicht auf die Straße, sondern nur in die Fensterscheibe, die aufgehört hatte, durchsichtig zu sein.

»Was fällt Ihnen ein?« schrie Grünhut mit weinerlicher Stimme. »Ich frage nicht, zu welchem Zweck Sie fahren, ich kann es mir denken. Aber warum Sie?« »Ich weiß es selbst nicht genau.«

Zurück zur Fensterscheibe.

Ich sehe ihn zum letztenmal, dachte Friedrich.

Seine Gedanken, die er schon dem Tod entgegengerichtet hatte, machten plötzlich kehrt.

»Sie wissen nicht, Sie wissen nicht«, sagte Grünhut. »Sie sind jung. Glauben Sie vielleicht, daß Sie noch zweimal in die Lage kommen werden zu sagen: Ich fahre weit weg? Glauben Sie, das Leben ist unendlich? Es ist kurz und hat ein paar armselige Situationen zu verschenken, und die muß man zu schätzen wissen. Zweimal können Sie sagen: Ich will, einmal: Ich liebe, zweimal: Ich werde, einmal: Ich sterbe. Das ist alles. Sehn Sie mich an. Ich bin gewiß kein beneidenswerter Mann. Aber ich will nicht sterben. Ich kann vielleicht doch noch einmal sagen: Ich will, oder: Ich werde. Keine große Aussicht vorhanden, aber ich warte. Ich will für niemanden und für nichts leiden. Der winzige Schmerz, den Sie fühlen, wenn Sie sich in den Finger stechen, ist immer noch gewaltig im Verhältnis zu der Kürze Ihres Lebens. Ja, und zu denken, daß es Menschen gibt, die sich die Hand abhacken lassen und sich die Augen ausstechen lassen für eine Idee, für eine Idee! Für die Menschheit, im Namen der Freiheit. Es ist entsetzlich.

Ich verstehe schon, daß Sie nicht zurückkönnen. Man begeht irgendeine Tat, man muß sie einfach begehn. Dann macht man uns verantwortlich, man gibt uns eine Order für eine sogenannte Heldentat, und man wirft uns in den Kerker für ein sogenanntes Verbrechen. Wir können nichts verantworten. Wir sind höchstens verantwortlich für das, was wir unterlassen. Wollte man uns dafür zur Verantwortung ziehn, so bekämen wir hundertmal am Tag Hiebe und säßen hundertmal im Kerker und würden hundertmal aufgehängt.«

Er ging wieder zur Fensterscheibe. Und den Rücken zu Friedrich gewendet, sagte er ganz leise: »Also gehn Sie, und kommen Sie zurück. Ich habe schon manchen gehn gesehn.«

Im Nebenzimmer bei der Frau Tarka hörte man plötzlich Stimmen.

»Still«, flüsterte Grünhut, »bleiben Sie ganz still sitzen. Eine neue Kundschaft. Gestern war der Maler hier. Ich wußte schon, daß heute jemand kommen würde. Bleibt nicht lang. Erste Konsultation. Bleiben Sie hier, bis sie fort ist.«

Bald hörte man die Tür. »Schnell, ehe die Madame hereinkommt«, sagte Grünhut. Ein flüchtiges Handschütteln, als hätte Grünhut vergessen, daß es ein Abschied für immer war.


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