Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XXXI

Es wurde immer schlimmer. Nun war man schon im Anfang des Februars. Und immer noch hörte die Seuche nicht auf. Drei Leichenbestatter starben. Die Gemeindediener weigerten sich, in die Totenhäuser zu gehen. Es kam Anweisung von der Statthalterei, die Sträflinge als Leichenbestatter zu verwenden.

Es wurden aus dem großen Kerker in Zloczow die Sträflinge in den Bezirk Zlotogrod gebracht. Man band sie, je sechs, mit Ketten zusammen, mit langen Ketten, und klirrend und rasselnd stiegen sie in den Zug, von Gendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten begleitet. Man verteilte sie überall im Bezirk Zlotogrod, je sechs in jedem Flecken und im Städtchen zwölf. Man zog ihnen eine besondere Art von Mänteln mit Kapuzen an, alles mit Chloroform behandelt. In diesen sandgelben und sehr schrecklichen Kitteln, mit Geklirr und Gerassel, von den Gendarmen bewacht, traten sie in die Häuser und Hütten, und mit Geklirr und Gerassel trugen sie die Särge hinaus und luden sie auf die großen Leiterwagen der Gemeinde. Sie schliefen auf dem Boden in den Gendarmeriewachstuben.

Manchen von ihnen gelang es, an der Cholera zu erkranken. Sie kamen ins Krankenhaus, und es war dann so, als ob sie krank wären. Denn in Wirklichkeit waren sie gar nicht krank. Manchen gelang es sogar, scheinbar zu sterben. Das heißt, Kapturak veranlaßte die Gemeindeschreiber, falsche Tote einzutragen. Von allen Sträflingen starb in Wirklichkeit nur ein einziger, und der war alt und immer schon krank gewesen. Die Klügsten entkamen. Alle anderen blieben am Leben. Es war, als beschützten sie die Ketten und die Sehnsucht nach der Freiheit vor der Epidemie sicherer als die Vorsichtsmaßregeln des Bezirksarztes Doktor Kiniower. Auch die Deserteure, die aus Rußland kamen, steckten sich nicht an. Was können schon so winzige Bazillen gegen eine so große Sehnsucht des Menschen nach der Freiheit?

Unter den Sträflingen, die damals aus dem Zloczower Kerker nach Zlotogrod gekommen waren, befand sich auch Leibusch Jadlowker. Auch er sank eines Tages nieder, just, während er den Leichenwagen begleitete. Er wurde von der Kette losgebunden. Er schleppte sich ganz langsam, vom Gendarmen begleitet, zum Zlotogroder Krankenhaus. Der kleine Kapturak kam, wie zufällig, des Weges daher. Jadlowker machte sich den Spaß, noch einmal niederzufallen. Kapturak legte den Regenschirm weg, und er und der Gendarm stellten Jadlowker wieder auf. Kapturak nahm den Regenschirm in eine Hand, und den andern Arm steckte er unter den Arm Jadlowkers. Der Gendarm ging hinterdrein. Kapturak brauchte nichts zu sagen. Er verständigte sich mit dem Kranken durch schnelle Blicke und durch sehr deutlich nuancierte Druckarten des Armes. Wohin mit dir? fragte ein Druck. – Sehr gefährlich, antwortete der Armmuskel Jadlowkers. – Wir werden sehen, es kann sich alles glätten, sagte wieder der Arm Kapturaks, ein tröstlicher Arm.

So schleppten sie sich langsam zum Spital. Vor dem Eingang bekam Jadlowker noch eine Flasche Neunziggrädigen. Er verbarg sie hurtig und sicher.

XXXII

Es war eine sehr schwere Sache mit Jadlowker, und Kapturak zerbrach sich den Kopf, auf welche Weise man ihn sterben lassen könnte. Zu sehr bekannt war er in der Gegend als der Besitzer der Grenzschenke und auch sonst, einfach als Jadlowker. Der Wachtmeister Slama kannte ihn und der Eichmeister Eibenschütz. Aber ein glücklicher Zufall fügte es, daß der Wachtmeister Slama auf Grund seines Gesuches, das er beim Ausbruch der Cholera eingereicht hatte, nach Podgorce versetzt wurde. Er war Stabswachtmeister geworden und Kommandant eines Gendarmeriepostens.

Auf diese Weise war man wenigstens einen Feind los, aber es blieb noch der andere, der Eibenschütz. Jadlowker und Kapturak beschlossen, den Eichmeister Eibenschütz zu vernichten. Auf welche Weise vernichtet man den Eichmeister Eibenschütz?

Vor allem ging es darum, den Jadlowker zu verbergen. Von den Cholerakranken im Spital starb nach drei Tagen einer, es war der Bauer Michael Chomnik, um den kein Mensch sich kümmerte. Kein Hahn krähte nach ihm, und ihn begrub man unter dem Namen Leibusch Jadlowker, zweiundvierzig Jahre alt, Beruf Gastwirt, geboren in Kolomea. Nebenbei gesagt, waren auch diese Angaben falsch. Jadlowker hieß nicht Jadlowker, er war nicht zweiundvierzig Jahre alt und auch nicht in Kolomea geboren.

Unter dem Namen Michael Chomnik wurde Jadlowker aus dem Spital entlassen, als geheilt. Aber wo ihn unterbringen?

Kapturak holte ihn zuerst am Spitaltor ab und führte ihn vorderhand nach Hause. Er hatte eine geschwätzige Frau, der er nicht traute, die er haßte. Deshalb sagte er ihr: »Ein neuer Gast ist gekommen! Mein lieber Vetter Hudes. Er muß ein paar Tage hier wohnen.«

Gut! Was tut man nicht für einen Vetter? – Selbst in diesen Zeiten? Man stellte sechs Stühle zusammen, je drei auf einer Seite, und darauf bettete man den falschen Hudes.

Er rührte sich nicht aus dem Haus. Er schlief lange und aß viel. Kapturak hatte nur ein Zimmer und eine Küche. Man aß in der Küche. Obwohl er nur auf sechs Sesseln schlief, schien der falsche Vetter Hudes das ganze Zimmer einzunehmen. Die Stühle wurden niemals weggerückt. Sofort, nachdem er gegessen hatte, ging der Vetter Hudes ins Zimmer, um sich hinzulegen. Er schlief sofort ein, satt und unbedenklich und stark, wie er war. Er schnarchte, und man glaubte, daß die Wände bebten.

Was sollte man mit ihm machen? Kapturak wartete auf die Versetzung des Gendarmeriewachtmeisters Slama.

In den ersten Tagen des Februar war es soweit, und Slama hatte nur noch ein paar Tage bis zu seiner Abfahrt. Gewissenhaft, wie er war, ging er überall hin, um Abschied zu nehmen, trotz der Cholera, und sogar von jenen Leuten, die er gerne verhaftet hätte. Zuerst begab er sich in die Grenzschenke, um dem Eichmeister Eibenschütz adieu zu sagen. Und er erschrak, als er den Eichmeister wiedersah. Eibenschütz war verwandelt. Eibenschütz war einfach betrunken. Trotzdem tranken sie noch zwei, drei Gläschen und nahmen einen herzlichen Abschied voneinander. Der Eichmeister weinte ein wenig. Der Wachtmeister fühlte eine heftige Rührung.

Der kleine Kapturak saß daneben und zog sein Taschentuch und wischte sich die Augen. Es waren trockene Augen. Er dachte nur daran, wie er Jadlowker verbergen könnte. Bevor der Wachtmeister fortging, trat er näher und flüsterte: »Wißt ihr, der Jadlowker ist an der Cholera gestorben. Sagt nichts der Euphemia! Wir Hypothekare haben jetzt das Hotel!«

»Ich habe hier immer noch die Aufsicht, trotz der Cholera«, sagte der Eichmeister Eibenschütz. Und der Wachtmeister Slama knöpfte seinen Mantel zu, schnallte den Säbel um und stülpte den Helm auf und drückte dem Eichmeister noch einmal die Hand. »So, Jadlowker ist also tot!« sagte er mit einiger Feierlichkeit. Es war, als nähme er auch von dem vermeintlich Toten Abschied. Vor Kapturak salutierte er nur, mit zwei Fingern. Weg war er. Dem Eichmeister Eibenschütz schien es, als wäre er von Gott und der Welt verlassen. Er sehnte sich nach Sameschkin in diesem Augenblick. Aber der schlief oben mit der geliebten, sehr geliebten Euphemia.


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