Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XIX

Dem Eichmeister Eibenschütz aber war es, als hätte man ihn und nicht den Leibusch Jadlowker verurteilt. Weshalb – das wußte er nicht, das wußte er keineswegs. Er nahm sich vor, niemals mehr nach der Grenzschenke zu gehen. Er sah sich trotzdem um, nach der Frau Euphemia. Aber sie war verschwunden, auf eine merkwürdige Weise verschwunden. Er fuhr sehr schweigsam mit dem Wachtmeister Slama nach Hause. Der Weg war weit, etwa dreizehn Kilometer. Unterwegs schwieg der Eichmeister, obwohl der Gendarm oft und oft Anstalten machte zu reden. Den Wachtmeister Slama nämlich hatte der Prozeß äußerst munter gemacht, den Eichmeister Eibenschütz indessen äußerst niedergeschlagen.

Er befand sich in einer seltsamen Verfassung, der Anselm Eibenschütz: Er gedachte mitleidig, ja mit wahrer Trauer des armen Jadlowker; zugleich aber auch konnte er sich nicht verhehlen, daß ihm die zwei Jahre Zuchthaus, die Jadlowker bekommen hatte, eigentlich sehr froh machten. Er wußte nicht genau, warum, oder er wußte eigentlich genau, warum, und er wollte es sich nur nicht zugestehen.

Er kämpfte mit sich selbst darüber, ob er es sich, nämlich sein genaues Wissen, zugestehen sollte oder nicht. Allerhand törichtes Zeug schien unterwegs der Gendarmeriewachtmeister Slama zu reden. Niemals vorher – so schien es Eibenschütz – hatte Slama soviel Torheiten gesagt.

Der Abend war schon eingebrochen. Sie rollten dahin auf der breiten, sandigen Landstraße zwischen zwei Wäldern. Sie rollten dahin in westlicher Richtung. Die untergehende Sonne, rötlich und gütig, schimmerte ihnen geradewegs in die Augen und blendete sie. An beiden Seiten des Weges leuchteten die Tannen der Waldränder, gleichsam von innen heraus, als hätten sie das rötliche Gold der Sonne getrunken und strahlten es jetzt aus. Man hörte das unermüdliche Pfeifen, das Trillern, das Zwitschern, das Flöten der Vögel, und man roch den scharfen Harzgeruch, den unerbittlichen süßen und herben, der den beiden unendlichen Wäldern entströmte. Dieser Duft war scharf und süß und bitter zugleich. Den Eichmeister Eibenschütz erregte er, und er streichelte sanft mit der Peitsche die rechte Flanke des Schimmels, um ihn anzutreiben. Wozu antreiben? Wo jagte er dahin? Nach Hause? Hatte er ein Haus? Hatte er noch ein Haus? Kreischte nicht ein fremder Säugling durch sein Haus? Der Säugling Nowak? – Ach, was weiß ein armer Eichmeister! Nackt, ganz nackt kam sich Eibenschütz vor, es war ihm, als hätte ihn das Schicksal ausgezogen. Er schämte sich, und das schlimmste war, daß er eigentlich nicht wußte, weshalb er sich schämte. Hatte er früher den Schimmel angetrieben, so bemühte er sich jetzt, seinen Galopp zu zügeln. Schon glänzten die Sterne am Himmel, sehr fern und ganz unverständlich. Von Zeit zu Zeit warf Eibenschütz einen Blick empor. Er versuchte, sich einen Trost zu holen, er biederte sich ihnen an gewissermaßen. In früheren Jahren hatte er sie niemals beachtet, geschweige denn geliebt. Jetzt war es ihm auf einmal, als hätten sie immer teilgenommen an seinem Leben, von ferne zwar, aber immerhin teilgenommen, wie manchmal sehr entfernte Verwandte.

Nun erreichten sie das Städtchen Zlotogrod.

»Soll ich Sie absetzen?« fragte Eibenschütz den Gendarmen.

»Ja gewiß«, sagte der Wachtmeister, »ich bin müde.«

Der Gendarmeriewachtmeister Slama wohnte am Rande von Zlotogrod, dort, wo der Weg nach Szwaby abzweigte. Eine verwitterte Holztafel zeigte mit einem weißen Pfeil den Weg nach Szwaby an, der weiße Pfeil leuchtete, grell beinahe, durch die hellblaue Nacht.

Der Eichmeister Eibenschütz verabschiedete sich von dem Gendarmen.

Er wollte eigentlich nach Hause fahren, der Eichmeister. Aber der Pfeil, der Pfeil, der leuchtete zu sehr. Und also lenkte Eibenschütz sein Wägelchen nach Szwaby in die Grenzschenke.

XX

Auf die Grenzschenke hatte Jadlowker mehrere Hypotheken aufgenommen. Das stellte sich jetzt heraus. Sofort, nachdem er verurteilt worden war, erhob sich im Städtchen Zlotogrod und überhaupt im ganzen Bezirk die Frage, wer die Grenzschenke in Szwaby übernehmen sollte – vorübergehend, versteht sich, offiziell vorübergehend – in Wirklichkeit aber für immer. Denn die Grenzschenke war ein gutes Geschäft, und seit langem schon beneidete man den Leibusch Jadlowker um ihren Besitz. Heute abend versammelten sich die fünf Hypothekengläubiger, ohne daß sie sich verabredet hätten, in der Grenzschenke in Szwaby. Alle fünf kamen sie beinahe zu gleicher Zeit, alle fünf waren sie erschrocken, einander hier zu treffen. Der Reichste unter ihnen war Kapturak.

Er war es, der die Deserteure heranführte, er handelte ja mit ihnen. Er allein wußte, was die Geschäfte der Schenke genau eintrugen, er war es auch, der jenseits der Grenze, auf dem russischen Gebiet, eine ebensolche Schenke besaß. Die anderen Hypothekengläubiger aber waren Laien: ein Korallenhändler namens Piczenik; ein Fischhändler namens Balaban; ein Droschkenkutscher namens Manes; und ein Milchhändler namens Ostersetzer.

Alle vier waren weit weniger klug als der kleine Kapturak. Fräulein Euphemia Nikitsch saß am Tisch, sie gehörte zum Gasthof, auch auf sie bezogen sich die Hypotheken. Alle fünf Gläubiger sahen sie zwar nicht an, während sie unterhandelten, aber alle fünf wußten, daß sie da sei, vorhanden sei und daß sie zuhöre. Alle fünf gefielen ihr nicht, nicht der allzu dürre Piczenik, nicht der allzu dicke Balaban; nicht der Grobian, der Kutscher Manes; und nicht der Ostersetzer, weil er pockennarbig war und sein Bart spärlich und kärglich wie der Bart eines Ziegenbocks. Am besten gefiel ihr noch, der Euphemia, der winzige Kapturak. War er auch klein und häßlich, so war er doch schlauer und reicher als die anderen. Neben ihn setzte sie sich. Man trank auf das Wohl des verurteilten Jadlowkers. Alle stießen mit den Gläsern an.

In diesem Augenblick vernahm man das Klingeln eines Wagens, und Euphemia wußte sofort, daß es der Wagen des Eichmeisters war. Sie erhob sich. In Wahrheit liebte sie ihn. Sie liebte auch das Geld, die Sicherheit, die Schenke, den Laden, der an sie angeschlossen war, und auch den armen Jadlowker, der jetzt im Zuchthaus saß, aber diesen nur in Erinnerung an die guten Stunden, die sie mit ihm genossen hatte. Denn ein dankbares Gemüt hatte sie, wie so viele leichtfertige Menschen. Erinnerungen machten sie überhaupt wehmütig und zärtlich. Sie sprang auf, als sie den Wagen des Eichmeisters hörte.

Schon trat er ein, groß und stattlich wie er war, fast war es, als würden alle anderen ausgelöscht. Sein buschiger, blonder, geradezu wuchtiger Schnurrbart glänzte stärker als die drei Petroleumlampen in der Mitte des Zimmers. Auch alle fünf Gläubiger sprangen auf. Er begrüßte sie kaum. Er setzte sich einfach hin, bewußt seiner Macht und so, als stünde hinter ihm, unsichtbar, aber immer gegenwärtig, der Wachtmeister der Gendarmerie Slama, mit aufgepflanztem Bajonett und mit der schimmernden Pickelhaube.

Das Gespräch erlosch. Bald erhoben sich die Hypothekengläubiger und gingen. Sie sahen verprügelt aus, und sie erinnerten an Hunde.


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