Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XVII

In Zloczow hatten der Eichmeister Eibenschütz und der Wachtmeister Slama sehr viel und sehr Unangenehmes zu besorgen. Ganz ermattet von der Reise, kamen sie an. Es war sehr schwer gewesen, den wilden und ziemlich gewichtigen Leibusch Jadlowker, obwohl er gefesselt war, in den Wagen zu bringen. Der Gendarm mußte ihm auch die Füße fesseln. Unterwegs spie Jadlowker bald dem Gendarmen, bald dem Eichmeister ins Gesicht. Er saß eingeklemmt zwar zwischen den beiden, aber er war kräftiger als beide Männer, und er stieß gegen sie mit dem Ellenbogen dermaßen heftig, daß sie beide fürchten mußten, von dem kleinen Wägelchen hinunterzufallen. Nach drei Stunden solch mühseliger Fahrt kamen sie endlich in Zloczow an. Der Gendarm Slama pfiff, und zwei Gemeindepolizisten und noch ein Gendarm kamen, um die Einlieferung des Leibusch Jadlowker zu bewerkstelligen. Es war bereits sechs Uhr abends, als sie alle keuchend, verschwitzt das Bezirksgericht erreichten. Der Untersuchungsrichter war schlechter Laune und hatte gerade Schluß gemacht und wollte nach Hause gehen. Er nahm trotzdem ein flüchtiges Protokoll auf. Er bestellte den Wachtmeister Slama und den Eichmeister Eibenschütz für den nächsten Morgen. Sie verbrachten die Nacht schlaflos in einem Schuppen in der Herberge »Zur goldenen Krone«, wo alle Zimmer besetzt waren und wo man Beamte ohnehin nicht gerne sah und beherbergte.

Am nächsten und auch am übernächsten Tage gab es nichts anderes als Protokolle, Vernehmungen und wieder Protokolle. Es ging dem Eichmeister Eibenschütz nicht gut, gar nicht gut. Er hatte das Gefühl, daß er eine große und schwere Sache erlebt habe, und was hätte es ihn eigentlich bekümmern müssen? Was ging ihn eigentlich der Jadlowker an? Gewiß, man war ein Mensch, man brachte nicht gern jemanden ins Unglück! Das sagte sich auch der Eichmeister Eibenschütz, und das sagte er auch dem Wachtmeister Slama. War es nicht möglich, die ganze Angelegenheit noch ungeschehen zu machen? »Nein, es ist nicht möglich«, sagte Slama. Die Protokolle, der Untersuchungsrichter, all die Verhöre und schließlich das Geständnis Jadlowkers selbst, daß er Gott gelästert hatte und, was noch schlimmer war, den Staat und seine Beamten.

Unterwegs, als sie so brüderlich zurückfuhren nach Zlotogrod, der Eichmeister und der Wachtmeister, stieg in Eibenschütz ein leiser Neid gegen den Gendarmeriewachtmeister Slama auf, der so selbstverständlich alles nahm, was ihm in den Weg gekommen war. Er kannte die Gesetze genausogut wie der Eichmeister. Auch er, der Slama, mußte wissen, daß auf Gotteslästerung und Beamtenbeleidigung mindestens zwei Jahre Zuchthaus standen. Aber was machte sich der Slama daraus? Und das Merkwürdige bestand eben darin, daß sich der Slama nichts daraus machte.

Der Abend dämmerte schon, als sie auf die breite Landstraße nach Zlotogrod einbogen. Ein sachtes Windchen wehte dem Wägelchen entgegen und kämmte die Mähne des Schimmels. Knapp drei Kilometer vor Zlotogrod gab es einen abzweigenden Landweg, der führte nach dem Grenzwäldchen. Nach dem Grenzwäldchen, das hieß auch nach Szwaby, zur Grenzschenke. Der Eichmeister, der die Zügel hielt, verlangsamte den Lauf. Er wartete, bis es ganz dunkel wurde, dann sagte er: »Wie wäre es, wenn wir nach Szwaby führen? Dann könnten wir der Euphemia berichten, was mit Jadlowker passiert ist. Es wäre eigentlich nur eine menschliche Tat.«

Dem Wort »menschliche Tat« konnte der Wachtmeister der Gendarmerie nicht widerstehen. Und obwohl der seine Frau wiedersehen wollte und obwohl er morgen schon seinen neuen Dienstweg hatte, sagte er: »Gut, nach Szwaby also!«

Eibenschütz und Slama hatten sich gerade an den Tisch gesetzt, als Euphemia herankam. Sie blieb stehen, sie stützte sich mit beiden Fäusten auf den Tisch, sie sah abwechselnd den Eichmeister und den Wachtmeister an und sagte: »So habt ihr ihn also hingerichtet. Und ihr kommt noch hierher!« – Sehr leise sagte sie das. Sie wandte sich um und ging weg, kehrte aber sofort um, setzte sich an den Tisch und schnalzte mit den Fingern und bestellte zu trinken. Von ungefähr begegnete ihr Knie unter dem Tisch dem Knie des Eichmeisters. Im Nu zog er es zurück, aber er wußte auch sofort, daß er damit nichts aus der Welt schaffte. Geschehen war geschehen! Jetzt hörte er deutlich das goldene Klirren der Ohrringe, es klingelte draußen, es klingelte auch drinnen in seinem Herzen. Er sagte laut: »Nun, jetzt sind Sie uns nicht mehr böse! Der Jadlowker wird Zuchthaus bekommen! Aber er ist selber schuld!« Es war ihm, während er so oben über dem Tisch daherredete, als wäre er zwei, ein oberer und ein unterer Eibenschütz. Oben trank und sprach er. Unten aber, im guten Dunkel unter dem Tisch und unter dem Tischtuch, suchte sein sehnsüchtiges Knie die neuerliche Berührung mit Euphemia. Er streckte zage einen Fuß vor, aber er traf nur den Stiefel des Wachtmeisters, sagte »Pardon!« und sah aus den Augenwinkeln, wie Euphemia lächelte. Das verwirrte ihn zwar, gab ihm aber auch etwas Mut ein. Also sagte er: »Es tut uns beiden sehr leid, Frau Euphemia. Wir konnten aber nicht anders. Es tut uns besonders leid, weil Sie jetzt so allein bleiben!«

»Ich glaube nicht, daß ich lange allein bleibe«, antwortete sie, »zumindest Sie beide werden sich meiner annehmen.« Dabei sah sie nur den Eichmeister an.

Sie erhob sich und ging der Treppe zu, die Treppe hinauf. Durch allen Lärm der Schenke hörte man noch das leise, süße Rascheln ihres vielgefältelten, breiten dunkelroten Rocks.

Es war späte Nacht, als sie nach Hause fuhren, nach Zlotogrod, der Eichmeister und der Gendarm.

Unterwegs sagte Slama: »Die hätte ich auch gerne!«

»Ich auch!« sagte Eibenschütz und bereute es sofort.

»Haben Sie sie denn noch nicht?« fragte der Gendarm.

»Was fällt Ihnen ein?« sagte der Eichmeister.

»Ach, und warum nicht?« sagte der Gendarm.

»Ich weiß nicht«, sagte Eibenschütz.

»Auf jeden Fall«, schloß der Gendarm, »ist es gut, daß wir ihn los sind, den Jadlowker. Ich schätze: zwei Jahre!«

Eibenschütz knallte aus Verlegenheit mit der Peitsche. Der Schimmel setzte sich in Galopp. Das Wägelchen glitt weich und hurtig durch den feuchten, sandigen Boden des Landweges. Die Sterne glänzten mächtig und still. Das Windchen wehte. Der Schimmel schimmerte im Dunkelblau der Nacht vor den Augen des Eichmeisters Eibenschütz. Zwei Jahre – dachte er – zwei Jahre Glück sind ein Leben wert, zwei Leben, drei Leben. Er hörte das sanfte Klingeln.

XVIII

In Zloczow machte man dem Jadlowker keineswegs einen kurzen Prozeß, wie man sagt, sondern, im Gegenteil, einen sehr langen. Angeklagt war er wegen Ehrenbeleidigung, wegen Amtsbeleidigung, wegen gewalttätigen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und, was das schlimmste war, wegen Gotteslästerung. Der Prozeß dauerte so lange, weil die Richter des Landesgerichts lange schon keinen so interessanten Prozeß gehabt hatten. Die Bezirksgerichte jener Gegend hatten viel zu tun. Lappalien und Prozesse. Der hatte jenem kein Geld gezahlt. Jener hatte den geohrfeigt. Die Bezirksgerichte in jener Gegend hatten viel zu tun. Denn es gab zum Beispiel Menschen, eine gewisse Sorte von Menschen, die sich ohrfeigen ließen, freiwillig und mit Wonne. Sie besaßen die große Kunst, ein paar Männer, die ihnen aus dem oder jenem Grunde böse gesinnt waren, so lange zu reizen, bis sie Ohrfeigen bekamen. Hierauf gingen sie zum Bezirksarzt. Der stellte fest, daß man ihnen weh getan hatte, und manchmal auch, daß ihnen ein Zahn ausgefallen war. Das nannte man: »Visum rapport«. Hierauf klagten sie. Sie bekamen Recht und Entschädigung. Und davon lebten sie jahrelang.

Dies nur nebenbei. Das war auch nur die Sache der Bezirksgerichte. Die Landesgerichte aber hatten beinahe gar nichts zu tun in jener Gegend. Wenn ein Mord oder gar ein Raubmord vorkam, so wurde er von der Polizei nicht aufgedeckt. Aber es gab überhaupt wenig Mörder oder gar Raubmörder in jener Gegend. Es gab nur Betrüger. Und da sie fast alle Betrüger waren, zeigte keiner den andern an. Das Landesgericht hatte also so wenig zu tun, daß es das Bezirksgericht nahezu beneidete. Also war es froh, als es den Fall Jadlowker zu behandeln hatte.

Vor allem galt es, viele Zeugen zu vernehmen. Denn alle Inhaber der Standplätze auf dem Markt meldeten sich als Zeugen. Sie bekamen nämlich die Hin- und Rückreise bezahlt und außerdem die Zeugengebühr, eine Krone, sechsunddreißig Heller.

Da sie der Meinung waren, daß sie die volle Zeugengebühr nicht erhalten könnten, wenn sie etwas Günstiges für den Angeklagten Jadlowker aussagen würden, sagten sie nur Ungünstiges. Sogar die Frau Czaczkes, die doch eigentlich den ganzen Prozeß verursacht hatte, sagte aus, sie sei vom Eichmeister Eibenschütz sowohl als auch vom Gendarmeriewachtmeister Slama äußerst gütig und menschlich behandelt worden.

Der Staatsanwalt erhob die Anklage wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und wegen Gotteslästerung.

Der Eichmeister Eibenschütz und der Wachtmeister der Gendarmerie hatten es unter Diensteid bestätigt.

Der Verteidiger Jadlowkers dagegen gab den Geschworenen zu bedenken, daß ein Eichmeister, eigentlich ein Angestellter der Gemeinde, kein Recht hatte, den Jadlowker nach der Konzession zu fragen. Ferner hatte sich der Eichmeister an der Person des Jadlowker vergriffen, indem er sich anmaßte, ihn zu verhaften und ihn sogar zu fesseln. Drittens ferner hätte Jadlowker mit seiner Gotteslästerung gar nicht Gott im allgemeinen, den allmächtigen Gott gemeint, sondern den Gott im besonderen: nämlich den Gott der Beamten: »Euer Gott!« hätte er gesagt.

Es erwies sich aber leider außerdem, daß Jadlowker aus Odessa geflüchtet war und daß er einst, vor vielen Jahren, einen Mann mit einem Zuckerhut erschlagen hatte.

Für den Gang der Gerichtsverhandlung unbedeutend, wenn auch nicht ohne Eindruck, war die Zeugenaussage der Freundin Jadlowkers, des Fräulein Euphemia Nikitsch. Die Feierlichkeit des Gerichts verhinderte sie nicht, mit einer geradezu maliziösen Freundlichkeit auszusagen, daß sie ihren Freund, den Leibusch Jadlowker, immer schon für einen jähzornigen und vor allem ungläubigen Menschen gehalten hätte.

Ohnmächtig, zwischen zwei Wächtern, saß der arme Jadlowker auf der Anklagebank. Nicht nur, daß er sich nicht verteidigte, es fiel ihm auch gar nicht ein, daß er sich überhaupt verteidigen könnte. Man hatte sein ganzes Leben durchstöbert. Man hatte herausgebracht, daß er aus Rußland eingewandert war. Man hatte ferner herausgebracht, daß er einst, vor vielen Jahren, einen Mann in Odessa umgebracht hatte, mit einem Zuckerhut.

Er aber hatte mehrere und nicht einen umgebracht, und deshalb schwieg er. Er hieß auch gar nicht Jadlowker, sondern Kramrisch. Er hatte nur die Papiere und selbstverständlich auch den Namen eines seiner Opfer angenommen.

Man verurteilte ihn schließlich zu zwei Jahren Zuchthaus, verschärft durch einen Fasttag in der Woche, am Freitag, an dem er seine Missetat begangen hatte.

Still und entschlossen ließ er sich abführen.


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