Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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IX

Eine Woche später bemerkte er, daß seine Frau den Ring mit dem falschen Saphir nicht mehr trug. Er sagte seiner Frau gar nichts.

Eine Woche lang schwieg er, gegen seine Frau und gegen den Josef Nowak. Dann aber sagte er unvermittelt zu diesem: »Haben Sie den Ring eingelöst?«

»Ja«, antwortete der Schreiber – er heuchelte frohe Genugtuung.

»Sie brauchten sich nicht zu schämen«, sagte Eibenschütz. »Ich täte Ihnen gern das Geld vorstrecken!«

»Offen gestanden«, murmelte der Schreiber – und er spielte jetzt Verwirrung wie vorher Freudigkeit.

»Aber mit Vergnügen, mit Wonne!« sagte der Eichmeister. Er gab dem jungen Mann ein hartes Fünf-Kronen-Stück, nachlässig, wie etwa einen Bleistift oder eine Zigarette. Dann hub er leutselig an: »Unter uns Männern, Herr Nowak, sagen Sie, wo treffen Sie denn in solch einem kleinen Städtchen die Dame? Das muß man doch sehen?«

Erheitert und aufgefrischt durch so viel Freundlichkeit seines Vorgesetzten, erhob sich der Vertragsbeamte vom Stuhl. Vor ihm saß Eibenschütz nicht unähnlich einem Schüler. Es war Spätherbst und später Nachmittag. Zwei ärarische Petroleumlampen, gestellt von der Bezirkshauptmannschaft, brannten milde unter ihren grünen, gütigen Schirmen.

»Sehen Sie, Herr Eichmeister«, begann der Schreiber, »im Frühling und im Sommer ist es sehr leicht. Man trifft sich da im Grenzwald. Ach, wenn ich Ihnen erzählen wollte, Herr Eichmeister, mit welchen Frauen ich da zusammengekommen bin! Aber Sie wissen, daß nirgends so sehr Schweigen geboten ist wie in diesen Affären. Im Herbst und im Winter ist es schwieriger, aus dienstlichen Gründen. Im ganzen Bezirk ist nur die Grenzschenke des ›wilden Leibusch‹: als Aufenthaltsstätte für Liebende geeignet. Und Sie wissen selbst, Herr Eichmeister, daß er ein sehr gefährlicher Mann ist und daß ich Sie oft dort vertreten muß. Das Amtsgewissen vor allem, das Amtsgewissen geht voran!«

»Das ist sehr brav«, sagte der Eichmeister Eibenschütz. Und er vergrub sich in seinen dienstlichen Papieren. Am Abend um sechs Uhr, als der Dienst zu Ende war, sagte der Eichmeister zu seinem Schreiber: »Sie können gehen! Und viel Glück bei den Damen!«

Der Schreiber machte eine Verbeugung, die beinahe wie der Knicks eines kleinen Schulmädchens aussah, und verschwand.

Der Eichmeister aber blieb noch länger sitzen, allein mit den zwei grünbeschirmten Lampen. Es schien ihm, als könnte er mit ihnen sprechen. Wie Menschen waren sie, eine Art lebendiger, milder, leuchtender Menschen. Er hielt eine stille Zwiesprache mit ihnen. »Halte deinen Plan ein«, sagten sie ihm, grün und gütig, wie sie waren. »Glaubt ihr wirklich?« fragte er wieder. »Ja, wir glauben es!« sagten die Lampen.

Der Eichmeister Eibenschütz pustete sie aus und ging nach Hause. Er ging durch einen spätherbstlichen, kalten Regen, der ihn noch einsamer machte, als er war, in ein Haus, in dem ihn eine Lüge erwartete, die noch düsterer war als dieser Abend, als dieser Regen.

Als er ankam, war zum erstenmal sein Haus finster. Er schloß die Tür auf. Er setzte sich auf das giftgrüne Plüschsofa im sogenannten »Salon« und wartete im Dunkeln. In diese Gegend kamen keine Zeitungen von gestern und vorgestern, sondern Zeitungen, die mindestens eine Woche alt waren. Eibenschütz kaufte sie niemals. Die Vorgänge in der Welt gingen ihn gar nichts an.

Das Dienstmädchen hatte ihn kommen hören. Jadwiga hieß sie. Sie kam herein, breit, selbstgefällig und mütterlich, in das Dunkel des Zimmers. Sie berichtete ihm, während sie die Tischlampe entzündete – gegen seinen Willen, aber er war zu müde, um es ihr zu verbieten –, daß die Frau einkaufen gegangen war – und bald zurückkommen würde. Und sie hätte auch hinterlassen, er möchte geduldig warten.

Er drehte den Docht der Lampe ab, so klein, daß es beinahe im Zimmer aussah wie Finsternis. Er dachte an seinen Plan.

Als seine Frau zurückkam, erhob er sich, küßte sie und sagte ihr, er wäre sehr unruhig gewesen, weil er sie so lange erwartet hatte. Sie hatte Pakete in beiden Armen. Sie legte sie ab. Sie setzten sich beide an den Tisch.

Sie aßen in einer scheinbar freundlichen und friedlichen Gemeinschaft. Der Frau Regina erschien es wenigstens also. Sie benahm sich gefällig, diensteifrig sogar. Von Zeit zu Zeit lächelte sie ihrem Mann zu. Er bemerkte, daß sie wieder ihren Ring mit dem falschen Saphir am Finger hatte.

»Du hast deinen Ring wieder!« sagte der Eichmeister. »Das freut mich!«

»Ich glaube«, sagte die Frau Regina und beugte sich über den Teller, »ich kriege endlich ein Kind!«

»Endlich?« fragte der Eichmeister Eibenschütz. »Du wolltest es ja nie! Weshalb jetzt?«

»Gerade jetzt!« sagte sie und schälte dabei sehr vorsichtig eine Orange.

»Ich habe heute«, begann er – während sie noch den Kopf über Messer und Frucht gesenkt hielt –, »mit meinem Schreiber, dem Josef Nowak, gesprochen. Er ist ein Schürzenjäger, bekannt im ganzen Bezirk. Er behauptet, er hätte im Frühling und im Sommer viele Frauen hier gehabt, im Grenzwald, natürlich sagt er nicht, welche. Im Herbst und im Winter – sagt er – sei es gefährlich für ihn, das Gasthaus Jadlowkers aufzusuchen, weil er mich amtlich dort oft vertritt.«

Die Frau aß gerade ihr letztes Viertel Orange. Sie erhob ihren Blick nicht. Sie sagte: »Schrecklich, die Frauen in dieser Gegend!«

»Er schenkt allen Ringe!« erwiderte der Eichmeister.

Sie ließ das letzte Stück Orange fallen und sah auf ihren Ring am linken Zeigefinger. Es entstand ein langes Schweigen.

»Dieser Ring stammt von Josef Nowak«, sagte plötzlich der Eichmeister. »Ich kenne ihn, ich habe ihn an seiner Hand gesehen.«

Auf einmal begann die Frau Regina heftig zu weinen. Sie streifte dabei, mitten im Schluchzen, den Ring vom Finger ab und legte ihn vor sich auf den Tisch und sagte: »Du weißt also alles?« – »Ja«, sagte er. »Du bist von ihm schwanger. Ich werde meine Maßregeln treffen.«

Er stand sofort auf, zog den Mantel an und ging hinaus. Er spannte das Wägelchen ein und fuhr los, nach Szwaby, zu Jadlowker.

X

Es war spätnachts, als er dort ankam. Und man verwunderte sich nicht wenig darüber. Denn noch nie hatte der Jadlowker den Eibenschütz später als am Nachmittag gesehen. Auch war niemals noch der Eichmeister so aufgeräumt und deshalb so absonderlich erschienen. »Welche Ehre!« rief Jadlowker aus, und er tänzelte trotz seinem ziemlichen Gewicht hinter der Theke hervor. »Welche Ehre!« Zwei Taugenichtse, die an einem Tisch in der Ecke saßen, jagte Jadlowker davon. Er breitete ein rot-blau geblümtes Tuch über das Tischchen und rief, ohne den Eichmeister nach seinen Wünschen zu fragen, zur Theke hinüber: »Met, ein Viertel, ein Teller Erbsen!«

Es herrschte ein großer Lärm in der Grenzschenke Jadlowkers. Russische Deserteure saßen da, eben erst von dem Grenzschmuggler Kapturak angebracht. Sie steckten noch in ihren Uniformen. Obwohl sie ungeheuerliche Mengen Tee und Schnaps tranken und große Handtücher um die Schultern gehängt bekommen hatten, um sich den Schweiß abzuwischen, machten sie dennoch den Eindruck von Frierenden – so heimatlos fühlten sie sich bereits, kaum eine Stunde entfernt von der Grenze ihrer Heimat. Der kleine Kapturak – man nannte ihn den »Kommissionär« – betreute sie mit Alkohol. Er bekam von Jadlowker fünfundzwanzig Prozent von jedem russischen Deserteur. Die unverhoffte Ankunft des Eichmeisters störte den Wirt Jadlowker gar sehr. Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, den Deserteuren, die doch den Wunsch hatten, ihre russische Uniformen zu wechseln, Stoffe und Anzüge anzubieten, für deren Verkauf er keine Lizenz hatte. Einerseits ärgerte ihn also die Anwesenheit des Eichmeisters, andererseits aber freute sie ihn. Endlich hatte er ihn, den Strengen, in der Nacht bei sich – und die Nacht war die große Freundin des Leibusch Jadlowker. Er rief seine kleine Freundin herunter.

Seit langen Jahren lebte er mit ihr. Es hieß, auch sie käme aus Rußland, aus Odessa, und sie hätte teilgehabt an mehreren Missetaten Jadlowkers. Ihrer Sprache, ihrem Wesen und ihrem Aussehen nach stammte sie ebenfalls aus der südlichen Ukraine. Schwarz, wild und sanft zugleich sah sie aus. Jung war sie, das heißt eigentlich: ohne irgendein Alter. In Wirklichkeit – was aber niemand in der Gegend wissen konnte – war sie eine Zigeunerin und stammte aus Jaslova in Bessarabien. Jadlowker hatte sie eines Nachts aufgetrieben und behalten. Eifersüchtig war er zwar von Natur, aber der Liebe der Schwarzen sicher und allzu sicher auch seiner eigenen Gewalt über Frauen und Männer. Viele Menschen gehorchten ihm in dieser Gegend, diesseits und jenseits der Grenze. Kapturak sogar, der allmächtige Kommissionär, der die Männer verkaufte wie Rindvieh, an die Reisegesellschaften für Auswanderer nach Kanada, Java, Jamaika, Porto Rico, Australien gar: auch Kapturak gehorchte dem Jadlowker. Gekauft hatte er die meisten Beamten, die ihm jemals hätten schaden können. Erworben hatte er lediglich noch nicht den Eichmeister Eibenschütz. Deshalb auch führte er seit Eibenschütz' Ankunft einen Kampf gegen ihn. Nach der Meinung Jadlowkers hatte jeder Mensch nicht nur eine schwache, sondern auch eine verbrecherische Stelle. Er konnte überhaupt nicht glauben – und wie hätte er auch anders leben können! –, daß irgendein Mensch in der Welt anders dachte und empfand als er, Jadlowker. Er war überzeugt, daß alle Menschen, die ehrlich lebten, verlogen waren, und er hielt sie für Komödianten. Die hervorragendsten Komödianten waren die Beamten, dann kamen die gewöhnlichen anständigen Menschen, die ohne Amt. Ihnen allen gegenüber mußte man Komödie und Anständigkeit spielen. So hielt es Jadlowker mit aller Welt. So hielt er es besonders, und mit einer ganz besonderen Anstrengung, mit dem Eichmeister Eibenschütz.


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