Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII

In dem Dorf Szwaby, das zum Bezirk Zlotogrod gehörte, war Leibusch Jadlowker mächtiger als der Wachtmeister der Gendarmerie selbst. Man muß wissen, wer Leibusch Jadlowker war: von unbekannter Herkunft. Man munkelte, daß er vor Jahren aus Odessa gekommen und daß sein Name eigentlich nicht der richtige sei. Er besaß die sogenannte Grenzschenke, und man wußte nicht einmal, auf welche Weise er in ihren Besitz gekommen war. Auf eine geheimnisvolle, niemals erforschte Weise war der frühere Besitzer, ein alter, silberbärtiger Jude, umgekommen. Man hatte ihn eines Tages erfroren aufgefunden, im Grenzwald, halb schon von Wölfen zerfressen. Kein Mensch, auch der Diener Onufrij nicht, hätte sagen können, warum und wozu der alte Jude mitten im Frost durch den Grenzwald gegangen war. Die Tatsache allein bestand, daß er, der keine Kinder hatte, einen einzigen Erben besaß, nämlich seinen Neffen Leibusch Jadlowker. Von Jadlowker ging das Gerücht, er sei aus Odessa geflüchtet, weil er einen Mann mit einem Zuckerhut erschlagen hatte. Im übrigen war es kaum ein Gerücht, es war beinahe eine Wahrheit. Leibusch Jadlowker erzählte selbst die Geschichte jedem, der es hören wollte. Er war – so erzählte er – Hafenarbeiter gewesen, und er hatte einen Feind unter seinen Kameraden. Und ihn, der ein bärenstarker Kerl gewesen sein sollte, erschlug eines Abends, während sie gemeinsam Zuckerhüte von einem Warenschiff abluden, Jadlowker mit einem jener Zuckerhüte, infolge eines Streits. Deswegen auch wäre er über die Grenze Rußlands geflüchtet.

Man glaubte ihm alles: daß er ein Hafenarbeiter gewesen war und daß er gemordet hatte. Man glaubte ihm nur eines nicht, nämlich seinen Namen: Leibusch Jadlowker – und man nannte ihn deshalb im ganzen Bezirk Zlotogrod einfach »Leibusch, den Wilden«.

Es gab Grund genug, ihn so zu nennen. Denn seine Grenzschenke war der Sammelplatz aller Taugenichtse und Verbrecher. Dreimal in der Woche lud selbst der berüchtigte russische Agent für die American Line die Deserteure der russischen Armee in der Grenzschenke Jadlowkers ab, damit sie von da aus weiter nach Holland, nach Kanada, nach Südamerika kämen.

Wie gesagt: Taugenichtse und Verbrecher verkehrten in der Grenzschenke Jadlowkers; Landstreicher, Bettler, Diebe und Räuber beherbergte er. Und dermaßen schlau war er, daß ihm das Gesetz nicht beikommen konnte. Immer waren seine Papiere und die seiner Gäste in Ordnung. Nichts Nachteiliges, nicht Unsittliches konnten über seinen Lebenswandel die beruflichen Spitzel berichten, die an der Grenze herumwimmelten wie Mücken. Es ging von Leibusch Jadlowker das Gerücht herum, daß er der Urheber aller Verbrechen im ganzen Bezirk Zlotogrod sei – und es waren nicht wenig Verbrechen: Morde kamen vor, Raubmorde und auch Brandlegungen – von Diebstählen nicht zu reden. Österreichische Deserteure, die nach Rußland, russische, die nach Österreich flüchteten, tauschte er gewissermaßen aus. Jene, die ihn nicht bezahlten, ließ er – so hieß es – wahrscheinlich erschießen, von den österreichischen oder von den russischen Grenzposten: je nachdem! Jadlowker hatte nicht nur auf eine rätselhafte Weise seine Konzession für die Grenzschenke bekommen, sondern auch eine für einen Spezereiwarenladen. Und unter »Spezerei« schien er etwas ganz Besonderes zu verstehen. Denn er verkaufte nicht nur Mehl, Hafer, Zucker, Tabak, Branntwein, Bier, Karamellen, Schokolade, Zwirn, Seife, Knöpfe und Bindfaden, er handelte auch mit Mädchen und mit Männern. Er verfertigte falsche Gewichte und verkaufte sie den Händlern in der Umgebung; und manche wollten wissen, daß er auch falsches Geld herstelle, Silber, Gold und Papier.

Natürlich war er der Feind des Eichmeisters Anselm Eibenschütz. Er begriff überhaupt nicht, wieso und warum ein sonst gesunder und vernünftiger Mann sich um Staat, Recht und Gesetz kümmern konnte. Er haßte den Eichmeister Eibenschütz, nicht weil dieser ein Eichmeister, sondern weil er ein unbegreiflich Ehrlicher war. Jadlowker war untersetzt, vierschrötig, kräftig, unbedenklich. Es wäre ihm keineswegs schwergefallen, den Eichmeister und den Gendarmen, wenn sie zu ihm kamen, um seine Maße und Gewichte zu prüfen, hinauszuwerfen. Dies aber nicht zu tun, gebot ihm sein sündhaftes Gewissen. Vielmehr trat er dem Eichmeister sehr freundlich entgegen, den Haß unterdrückend und ihn sogar zeitweilig ausschaltend. Man hätte dem Leibusch Jadlowker schwerlich so viel Kunst der Verstellung zugetraut – bärenstark und vierschrötig, wie er einmal war. Die Natur wollte es so, daß er schlau sei und auch stark.

Immer, wenn der Eichmeister Eibenschütz das Wirtshaus in Szwaby betrat, gab es Wurst und Rettich und Met und Schnaps und gesalzene Erbsen. Der neunziggrädige Schnaps war gesetzlich verboten, dennoch trank ihn der Wachtmeister mit emsigem Genuß. Franz Slama, der Wachtmeister der Gendarmerie, wurde leider leicht besoffen. Es war im Grunde gleichgültig, ohnehin verstand er ja nichts von Maßen und Gewichten. Und selbst, wenn er etwas davon verstanden hätte: Man konnte die falschen Maße und Gewichte bei Leibusch Jadlowker niemals zu sehen bekommen. Er ließ sie rechtzeitig verschwinden, auf eine unfaßbare Weise erfuhr er immer von der Ankunft des Eichmeisters einen Tag früher.

In jenen Tagen gerade erfuhr der Eichmeister Eibenschütz eine seltsame Veränderung im Benehmen seiner Frau Regina. Die gab nicht nur ihre Lust zu Zwistigkeiten auf, sie wurde zusehends zärtlicher. Er erschrak einigermaßen darüber. Denn wenn er sie auch immer noch liebte, gewissermaßen, weil sie bereits zu ihm gehörte, und – wie seinen neuen Beruf, an den er sich so schnell gewöhnt hatte, so begehrte er sie doch längst nicht mehr. Zu deutlich hatte sie ihm und zu lange Zeit gezeigt, daß er ihr gleichgültig war und zuweilen sogar verhaßt. Seit langem schon war er gewohnt, in der Nacht sofort einzuschlafen, wenn sie in die hart aneinandergerückten Betten stiegen, und längst mehr hatte er keinen Blick für ihren nackten Körper, wenn sie sich vor dem Spiegel auszog, vielleicht in der Hoffnung, er würde sie noch begehren. Manchmal fragte sie ihn, nackt, wie sie dastand, ob er sie liebe. Sie meinte eigentlich, ob er sie schön finde. »Ja, gewiß!« sagte er und ergab sich dem Schlaf, gleichsam, um den Gewissensbissen zu entgehen, die ihm seine Lüge noch hätte bereiten können.

Deshalb überraschte, ja erschreckte ihn die Zärtlichkeit, die plötzlich wiedererwachte, seiner Frau. Er schlief mit ihr, wie in früheren Jahren. Am Morgen dann war seine Unlust stark, und er gab ihr fast mit Widerwillen einen Kuß, bevor er fortging. Sie stellte sich schlafend, und er wußte genau, daß es ein Spiel war. Aber das Spiel gehörte zu ihr, und er liebte sie immer noch. Er sagte es ihr nicht.

Vergeblich grübelte er darüber nach, was sie wohl zu solch erneuter Leidenschaft gebracht haben möchte. Eines Tages sollte er die Wahrheit erfahren.

VIII

Eines Tages nämlich befand sich unter seinen vielen anonymen Denunziationsbriefen ein ungewöhnlicher, der folgendermaßen lautete:

»Geehrter Herr Eichmeister, obwohl eines der Opfer Ihrer Strenge und demzufolge in einen Prozeß verwickelt und das wegen eines einzigen Zehn-Kilo-Gewichtes, erlaube ich mir, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Frau Sie auf hinterhältige Weise hintergeht und schändlich. Und zwar mit Ihrem Herrn Schreiber, Herrn Josef Nowak. Verehrungsvoll ergebenst

X. Y.

Anselm Eibenschütz war ebenso langsam, wie er redlich war. Zu oft hatte er überdies erfahren, daß viele Denunziationen falsche Angaben enthielten. Er steckte den Brief in die Tasche und ging nach Hause. Zärtlich, wie gewohnt seit einigen Tagen, empfing ihn seine Frau. Sie hing sogar noch eine Weile länger an seinem Hals. »Ich habe dich heute besonders sehnsüchtig erwartet«, sagte sie flüsternd. Arm in Arm gingen sie an den Eßtisch. Während des Essens betrachtete er sie genau, und er bemerkte, was ihm offenbar bisher entgangen war, daß sie einen ihm unbekannten Ring am kleinen Finger trug. Er nahm ihre linke Hand und fragte: »Woher hast du den Ring?« – »Von meinem Vater«, sagte sie, »ich habe ihn nie getragen.« Es war ein billiger Ring, ein Männerring, mit einem künstlichen Saphir. Er sagte weiter: »Wozu hast du ihn plötzlich angezogen?« – »So, damit er uns Glück bringe«, sagte sie. »Uns?« – »Uns beiden!« bestätigte sie.

Plötzlich sah er auch, wie sie sich verändert hatte. Ein neuer, großer Schildpattkamm hielt ihren dichten, schwarzblau schimmernden Haarknoten zusammen. Große goldene Ohrringe, die sie lange nicht mehr getragen hatte, Ohrringe, an denen winzige, feine Goldplättchen hingen, zitterten sacht an ihren Ohrläppchen. Ihr dunkelbraunes Angesicht hatte seine ganz jugendliche, geradezu eine jungfräuliche rötliche Tönung wiedergefunden. Eigentlich sah sie wieder aus wie einst, wie als Mädchen, als er sie kennengelernt hatte, in Sarajewo, wo sie im Sommer bei ihrem Onkel, dem Waffenmeister, eingeladen war.

Mitten in diese seine Betrachtungen, die ihn ohnehin schon erschreckten, fiel ihr Wort unmittelbar, sozusagen ohne Sinn und Verstand. Es lautete: »Ich möchte endlich ein Kind haben.« Von wem? wollte er fragen, denn er dachte natürlich sofort an den Brief. Aber er sagte nur: »Warum jetzt? Du hast dir nie eins gewünscht. Du hast immer gesagt, eine Tochter würde keine Mitgift haben, und ein Sohn würde bestenfalls ein Eichmeister werden müssen wie ich.«

Sie senkte die Augen und sagte: »Ich liebe dich so sehr!«

Er stand auf und küßte sie. Er ging ins Amt.

Es war ein ziemlich weiter Weg, und er erinnerte sich unterwegs, oder er glaubte, sich plötzlich erinnert zu haben, daß er den Ring mit dem künstlichen Saphir einmal, lange war es her, an der Hand des Schreibers Josef Nowak gesehen hatte. Ihm, dem Eichmeister, waren tückische und schlaue Verhandlungen zuwider. Dennoch beschloß er jetzt, tückisch und schlau vorzugehen.

Der Schreiber erhob sich wie gewohnt, als der Eichmeister eintrat. Mit ungewohnter Freundlichkeit sagte der Eichmeister: »Guten Tag, lieber Nowak! Nichts Neues vorgefallen?« – »Nichts Neues!« sagte Nowak und machte dabei einen Bückling. Er blieb stehen, bis sich Eibenschütz gesetzt hatte.

Eibenschütz las eine Weile in Papieren, dann sagte er, mit einem Blick auf die Hände Nowaks: »Wo ist denn Ihr Ring mit dem Saphir geblieben, Herr Nowak? Es war ein sehr schöner Ring!«

Nowak schien nicht im geringsten verlegen. »Ich habe ihn versetzen müssen, leider versetzen müssen!«

»Warum, Geldschwierigkeiten?« fragte der Eichmeister. Da verließ zum erstenmal die Vorsicht den blonden und ehrgeizigen Vertragsbeamten, und er sagte: »Wegen einer Frauengeschichte!«

»Ja, ja«, sagte der Eichmeister, »als ich so alt war wie Sie, gab es auch noch Frauensachen!«

Zum erstenmal sah der Schreiber seinen Vorgesetzten so freundlich. Aber er zweifelte nicht daran, daß man ihn nicht ertappt hatte.

Diesmal täuschte er sich. Denn mit der Gründlichkeit, die ihm eigen war und die ihn zu einem so ausgezeichneten Prüfer der Gewichte und der Maße machte, beschloß Eibenschütz, der Sache genau nachzuspüren. Sein Herz war nicht mehr daran beteiligt. Er hatte nur eine flüchtige Vorstellung davon, daß seine Ehre beschädigt war – aber auch diese Vorstellung stammte lediglich aus der Militärzeit her und aus der Erinnerung an die Ehrbegriffe seiner Vorgesetzten, der Herren Offiziere. Es war nur, wie gesagt, eine flüchtige Vorstellung. Ihn, den Redlichen, trieb es vor allem, die ganze Wahrheit zu erforschen, man könnte sagen, Maß und Gewicht der Begebenheiten festzustellen und zu prüfen.

Infolgedessen ging er auch ganz langsam und mit gesenktem Haupt nach Hause. Und wenn ihn die Leute unterwegs grüßten, tat er so, als sähe er sie nicht, aus Angst, sie könnten ihn etwa ansprechen und stören.

Kurz bevor er sein Haus erreichte, hatte er bereits einen ganz bestimmten, sehr methodischen Plan. Und so, wie er nun einmal war, stand es fest, daß er genau nach den Plänen handeln mußte, die er sich zurechtgelegt hatte.


 << zurück weiter >>