Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XXIX

Es ging alles gut, oder halbwegs gut, bis zu jenem Tage, an dem das Unwahrscheinliche geschah. Es war nämlich so, als ob der Winter plötzlich aufgehört hätte, ein Winter zu sein. Er hatte einfach beschlossen, kein Winter mehr zu sein. Mit Entsetzen hörten die Einwohner des Bezirks das Eis über der Struminka krachen, kaum eine Woche nach Weihnachten. Laut einer alten Sage, die in der Gegend umging, bedeutete dieses Krachen des Eises ein großes Unglück für den kommenden Sommer. Alle Menschen waren sehr erschrocken, und mit verstörten Gesichtern gingen sie einher.

Nun, sie hatten recht. Die alte Sage hatte recht. Es begann nämlich, ein paar Tage nach dem Krachen des Eises, eine fürchterliche Krankheit in der Stadt zu wüten, eine Krankheit, die sonst nur in heißen Sommern aufzutreten pflegte: Es war die Cholera.

Es taute an allen Enden und Ecken, man hätte sagen können, der Frühling sei schon gekommen. In den Nächten regnete es. Es regnete sachte und gleichmäßig, es sah aus wie ein Trost des Himmels, aber es war ein falscher Trost des Himmels. Schnell starben die Menschen dahin, kaum waren sie drei Tage krank gewesen. Die Ärzte sagten, es sei die Cholera, aber die Leute in der Gegend behaupteten, es wäre die Pest. Es ist aber auch gleichgültig, was für eine Krankheit es war. Jedenfalls starben die Leute.

Als das Sterben gar kein Ende mehr nehmen wollte, begann die Statthalterei, viele Ärzte und Medikamente nach dem Bezirk Zlotogrod zu schicken.

Es gab aber viele, die sagten, Ärzte und Medikamente würden höchstens schaden und die Verordnungen der Statthalterei seien noch schlimmer als die Pest. Das beste Mittel, sich das Leben zu – bewahren so sagten sie –, sei der Alkohol. Es begann also ein gewaltiges Trinken. Gar viele Leute, die man sonst dort nicht gesehen hatte, kamen jetzt nach Szwaby in die Grenzschenke.

Auch der Eichmeister Eibenschütz begann, in unmäßiger Weise zu trinken. Und zwar nicht so sehr deshalb, weil er die Krankheit und den Tod fürchtete, sondern weil ihm die allgemein gewordene Sucht zu trinken sehr gelegen war. Es lag ihm keineswegs daran, der großen Seuche zu entgehen, sondern vielmehr seinem eigenen Leid. Ja, man könnte sagen, daß er geradezu die Seuche begrüßte. Denn sie bot ihm Gelegenheit, seinen eigenen Schmerz zu mildern, und ihm schien es, er sei so riesengroß, wie es keine Seuche sein könne. Er sehnte sich eigentlich nach dem Tode. Die Vorstellung, daß er eines der vielen Opfer der Cholera werden könnte, war ihm sehr angenehm, ja sogar vertraut. Aber wie den Tod erwarten, wenn man nicht wußte, ob er wirklich kommen würde, ohne sich zu betäuben?

Also trank der Eichmeister Eibenschütz.

Alle, die noch am Leben blieben, ergaben sich dem Schnaps, von den Deserteuren nicht zu reden. Drei Gläubiger Jadlowkers hatte die Cholera schon dahingerafft, und übrig blieb nur der kleine Kapturak, der unverwüstliche Kapturak. Auch er trank, sein gelbes, zerknittertes Gesicht rötete sich nicht, nichts konnte ihm etwas anhaben, weder die Bazillen noch der Spiritus.

Freilich starben nicht alle, aber viele lagen krank darnieder.

In der Grenzschenke spielten nur noch der Eichmeister, der Gendarm Slama, der Gauner Kapturak und der Maronihändler Sameschkin. Man konnte ihn überhaupt kaum noch einen Maronihändler nennen. Er verkaufte nämlich fast gar keine Kastanien mehr. Wie sollte man auch Kastanien in einer Gegend verkaufen, in der die Cholera herrschte? Und welch eine Cholera!

Die Leute starben wie die Fliegen. Das sagt man so, in Wirklichkeit sterben die meisten Fliegen langsamer als die Menschen. Es dauerte drei oder acht Tage, je nachdem, dann wurden die Menschen blau. Die Zungen hingen aus den offenen Mündern. Sie taten noch ein paar Atemzüge, und schon waren sie hinüber. Was nützten die Ärzte und die Medikamente, die man von der Statthalterei geschickt hatte? Eines Tages kam von der Militärbehörde der Befehl, das Regiment der Fünfunddreißiger möge unverzüglich den Bezirk Zlotogrod räumen, und jetzt entstand ein noch größerer Schrecken. Bis jetzt hatten die armen Leute geglaubt, der Tod sei gleichsam nur zufällig durch ihre Häuser und Hütten gegangen. Nun aber, da man die Garnison verlegte, war es auch von Staats wegen beschlossen und besiegelt, daß die »Pest«, wie sie es nannten, eine dauernde Angelegenheit war. Der Winter wollte gar nicht wieder anfangen. Man sehnte sich nach dem Frost, den man sonst so gefürchtet hatte. Es kam kein Frost, es kam kein Schnee, es hagelte höchstens bisweilen, und meist regnete es. Und der Tod ging um und mähte und würgte.

Eines Tages ereignete sich etwas ganz Seltsames. Es fiel nämlich ein paar Stunden lang ein roter Regen, ein Blutregen, sagten die Leute. Es war eine Art rötlichen, ganz feinen Sandes. Er lag zentimeterhoch in den Gassen und fiel von den Dächern. Es war, als bluteten die Dächer. Da erschraken die Leute noch mehr als damals bei der Verlegung der Garnison. Und obwohl noch eine Kommission von der Statthalterei nach dem Bezirk Zlotogrod geschickt wurde und obwohl diese gelehrten Herren den Leuten in der Gemeindestube erklärten, der Blutregen sei ein roter Sand, der von weit her, aus der Wüste, durch ein besonderes, aber der Wissenschaft bekanntes Phänomen hierhergekommen sei, wich die fürchterliche Angst nicht aus den Herzen der Leute. Und sie starben noch schneller und jäher als vorher. Sie glaubten, das Ende der Welt sei angebrochen; und wer hätte da noch Lust zum Leben haben können?

Die Cholera verbreitete sich mit der Schnelligkeit eines Feuers. Von Hütte zu Hütte, von Dorf zu Marktflecken, von da ins nächste Dorf. Unversehrt blieben nur die einzelstehenden Gehöfte und das Schloß des Grafen Chojnicki.

Unversehrt blieb auch die Grenzschenke in Szwaby, obwohl so viele Menschen dort ein- und ausgingen. Es schien, als erstürben die Bazillen sofort im Dunst des Alkohols, der die Schenke umwölkte.

Was aber den Eichmeister Eibenschütz betraf, so trank er keineswegs etwa aus Angst vor der Epidemie. Im Gegenteil: Er trank nicht, weil er sich vor dem Sterben fürchtete, sondern weil er am Leben bleiben mußte, am Leben bleiben, ohne Euphemia. Seit einiger Zeit sah er sie überhaupt nicht. Kapturak und Sameschkin versorgten gemeinsam den Laden. Es kamen überdies nur wenige Kunden. Weiß Gott, was Euphemia ganze Tage lang allein in ihrem Zimmer machte. Was machte sie nur?

Eines Nachts, nachdem er sehr viel getrunken hatte, Met und Neunziggrädigen durcheinander, faßte der Eichmeister Eibenschütz den wirren Entschluß, in ihr Zimmer zu gehen. Sein Zimmer war es doch eigentlich. Er konnte es anders nicht mehr aushalten. Je verworrener seine Gedanken wurden, desto klarer stand vor seinen Augen das Bild der Euphemia. Er hätte sie beinahe mit den Händen greifen können, die nackte Euphemia, so, wie sie vor ihm dalag. Wenigstens anrühren will ich sie, dachte er sich, nur anrühren! Gar keine von den Wonnen, die ihr Körper enthält. Aber anrühren, anrühren!

»Anrühren! Anrühren!« sagte er auch laut vor sich hin, während er die Treppe hinauftorkelte. Die Tür war offen, er trat ein, Euphemia drehte ihm den Rücken zu. Sie saß da im halbdunklen Zimmer und sah zum Fenster hinaus. Was mochte sie draußen zu betrachten haben? Es regnete wie alle Tage. In der finsteren Nacht, im Regen, was suchte sie eigentlich hinter den Fenstern? Ein winziges Naphthalämpchen brannte. Es stand hoch oben auf dem Kleiderschrank. Es erinnerte Eibenschütz an einen trüben und törichten Stern.

Warum wandte sie sich nicht um? War er so leise eingetreten? Er war unfähig, sich darüber Rechenschaft zu geben, wie er eingetreten war. Er wußte jetzt nicht einmal mehr, wann es gewesen sein konnte. Er schwankte zwar, aber es schien ihm, daß er stehe. Seit Ewigkeiten stand er so da.

»Euphemia!« rief er.

Sie wandte sich um, sie stand sofort auf, sie kam zu ihm. Sie legte die Arme um seinen Hals, rieb ihre Wange an der seinen und sagte: »Nicht küssen! Nicht küssen!« Sie ließ ihn wieder los. »Es ist traurig, du!« sagte sie. Ihre Arme hingen schlaff am Körper, zwei verwundete Flügel. Sie erschien Eibenschütz jetzt überhaupt wie ein großer, schöner, verwundeter Vogel. Er wollte ihr sagen, sie sei ihm das Teuerste auf der Welt und er wolle für sie sterben. Aber er sagte nur, gegen seinen Willen: »Ich fürchte nicht die Cholera! Ich fürchte nicht die Cholera!« Und dabei hatte er so viel schöne, zärtliche Worte im Herzen für Euphemia. Aber die Zunge gehorchte nicht. Die Zunge gehorchte nicht.

Er fühlte plötzlich, daß ihm schwindelte, und er lehnte sich gegen die Tür. In diesem Augenblick wurde sie aufgestoßen, und Eibenschütz fiel nieder. Er wußte alles, was vorging. Er sah genau, wie Sameschkin eintrat, zuerst eine Sekunde erstaunt stehenblieb, dann hörte er, wie Sameschkin mit seiner fröhlich grölenden Stimme fragte: »Was macht er hier?« und wie Euphemia antwortete: »Du siehst ja! Er hat sich geirrt, er ist besoffen.«

Ich bin also besoffen, dachte der Eichmeister Eibenschütz. Er fühlte sich unter den Armen angefaßt, Sameschkin war es sicher nicht, es waren starke Arme, und zur Tür, die noch halb offenstand, hinausgeschleppt. Er fühlte, wie man ihn wieder losließ, und er hörte noch deutlich, daß ihm Sameschkin eine gute Nacht wünschte.

Das ist wahrhaftig eine gute Nacht, dachte er. Und er schlief ein, wie ein Hund, quer vor der Tür der geliebten Euphemia, neben den Stiefeln Sameschkins.

XXX

Am Morgen, sehr früh, weckte ihn der Diener Onufrij. Er hatte einen Brief für den Eichmeister, einen Brief mit einem Amtsstempel. Der Eichmeister Eibenschütz erhob sich, zerschlagen und müde, wie er war, von der harten, kalten Diele. Er schämte sich ein wenig vor dem Diener Onufrij, weil er hier, vor der Schwelle Euphemias, geschlafen hatte. Er erhob sich und las den Brief mit dem Amtsstempel. Dieser Brief war vom Bezirksarzt Doktor Kiniower abgesandt und enthielt folgenden Text:

»Sehr geehrter Herr Eichmeister, pflichtgemäß teile ich Ihnen mit, daß Ihr Kind gestern abend gestorben ist. Ihre Frau ist in Lebensgefahr. Sie wird, meiner Meinung nach, die folgende Nacht nicht mehr überstehen.

Hochachtungsvoll
Doktor Kiniower«

Der Brief war kaum leserlich, auf einem Rezeptblatt geschrieben, in hastiger, medizinischer Schrift. Dennoch erschütterte sie den Eichmeister Eibenschütz.

Er ließ einspannen, er fuhr nach Hause.

Er fand seine Frau im Bett, in dem gleichen Bett, in dem er mit ihr immer geschlafen hatte. Jetzt war es von Medizinen aller Art umstellt, und es roch nach Kampfer, betäubend und erschütternd. Sie erkannte ihn sofort. Sie war vollkommen verändert. Sie sah bläulich aus, ihre Lippen waren beinahe violett. Er erinnerte sich genau an diese Lippen, als sie noch rot gewesen waren wie Kirschen, und daß sie ihn geküßt hatten. Er fürchtete sich nicht vor der Krankheit. Was brauchte er den Tod zu fürchten? Seine Frau selbst hatte Angst, ihm die Hand zu geben, eine kraftlose, gelbe Hand, ein paarmal streckte sie sich ihm entgegen, als hätte sie keinen eigenen Willen. Einmal sagte die Frau, offenbar mit großer und letzter Kraft: »Mann, ich habe dich immer geliebt. Muß ich sterben?« Es erschütterte den Eichmeister Eibenschütz, daß sie ihn nicht beim Vornamen, sondern nur »Mann« nannte. Er wußte auch nicht, weshalb es ihn so ergriff.

Das tote Kind war längst hinausgebracht worden, die Frau wußte nicht einmal, daß es gestorben war. Die Nonne saß reglos am Fußende des Bettes, den Rosenkranz mit dem Kreuz in der Hand. Sie war still wie ein Heiligenbild, nur ihre Lippen bewegten sich, und von Zeit zu Zeit hob sie die Hand und schlug das Kreuz. Am Kopfende saß Eibenschütz. Er beneidete die Nonne um ihre Unbeweglichkeit. Er mußte immer wieder aufstehen und ein paar Schritte machen und zum Fenster gehen und in die Trübsal des Regens hinausblicken. Er hätte gern seiner Frau etwas Gutes tun wollen. Musik machen zum Beispiel. Als Knabe hatte er einmal Geige gespielt. Manchmal ging ein Schüttern durch den Körper der Sterbenden. Das ganze breite Bett schüttelte und quietschte. Manchmal erhob sie sich steil, wie eine tote Kerze sah sie aus in der glatten weißen Jacke. Bald fiel sie wieder zurück, wie eine umgestürzte Sache umfällt, nicht wie ein Mensch.

Der Doktor kam. Er konnte nicht mehr helfen. Er konnte nur erzählen, daß das einzige Krankenhaus des ganzen Bezirks längst überfüllt sei. Die Kranken lagen auf dem Boden. Man mußte die Neuerkrankten in den Häusern lassen. Er roch eindringlich nach Kampfer und Jodoform. In einer Wolke aus Gestank ging er einher.

Er ging. Und es wurde sehr einsam im Zimmer. Die Nonne stand plötzlich auf, um die Kissen zu richten, und das war wie ein großes Ereignis. Sie setzte sich sofort wieder hin und erstarrte. Der Regen sang leise auf den Fensterbrettern. Manchmal hörte man auch draußen schweres Räderrollen. Es fuhren die zwei Lastfuhrwerke der Gemeinde vorbei, hoch beladen mit Särgen und schwarz überdeckt. Die Kutscher trugen schwarze Kapuzen, und das regennasse Schwarz schimmerte, und obwohl es noch Tag war, waren die Laternen hinten an dem Wagen angezündet. Sie blinkten trübe und baumelten und schaukelten, und man glaubte auch zu hören, daß sie klirrten, obwohl es der schweren Räder wegen unmöglich war. Die schweren Pferde trugen überdies ein Gehänge von viel zu zarten Glöckchen, die sachte wimmerten. Manchmal fuhr der halboffene Wagen der Pfarrei vorüber. Der Priester saß darin mit dem Allerheiligsten. Der lahme Gaul trottete langsam dahin, die Räder knirschten deutlich hörbar im zähen Schlamm. Sehr selten huschte ein Fußgänger vorbei, überdacht von einem Regenschirm. Auch der sah aus wie eine festgespannte Leichenplache. Im Zimmer tickte die Uhr, die Frau atmete, die Nonne flüsterte.

Als der Abend zu dämmern begann, entzündete die Schwester eine Kerze. Einsam stand sie, unwahrscheinlich groß und einsam in der Mitte des Zimmers, in der Mitte auf dem runden Tisch. Ihr Licht war spät und gütig. Es schien dem Eichmeister, sie sei das einzig Gütige in der Welt. Plötzlich erhob sich die Frau. Sie streckte beide Arme nach dem Mann aus und fiel sofort mit einem sehr schrillen Schrei zurück. Die Schwester beugte sich über sie. Sie schlug das Kreuz und drückte der Toten die Augen zu.

Eibenschütz wollte näher treten, aber die Nonne wies ihn zurück. Sie kniete nieder. Ihr schwarzes Kleid und ihre weiße Haube sahen auf einmal sehr mächtig aus. Sie erinnerte an ein schwarzes Haus mit einem verschneiten Dach, und dieses Haus trennte Eibenschütz von seinem toten Weibe. Er drückte seine heiße Stirn gegen die kühle Scheibe und begann, heftig zu schluchzen.

Er wollte sich schneuzen, suchte nach dem Taschentuch, fand es nicht, griff aber nach der Flasche, die er seit Wochen stets bei sich trug, zog sie hervor und tat einen tiefen Schluck.

Sein Schluchzen erlosch sofort. Er ging leise hinaus, ohne Hut und Mantel, und stand da, im faulen, fauligen Geriesel des Regens. Es war, als regnete ein Sumpf hernieder.


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