Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Und damit ist eigentlich meine Geschichte zu Ende«, sagte Golubtschik, der Mörder. »Ich hätte euch aber noch andere Weisheiten zu sagen ...«

Es wurde hell, man spürte es durch die zugemachten Türläden. Durch die seltenen Ritzen drang der siegreiche, goldene Sommermorgen zage und dennoch kräftig herein – und man hörte die erwachenden Geräusche der Pariser Straßen und vor allem das lärmende Jubeln der morgendlichen Vögel.

Wir schwiegen alle. Längst waren unsere Gläser geleert.

Auf einmal klopfte es hart und trocken gegen den geschlossenen Rolladen. »Das ist sie!« rief Golubtschik, ›unser Mörder‹ – und im nächsten Augenblick war er verschwunden; er hatte sich unter dem Tisch verborgen.

Der Wirt des »Tari-Bari« ging behäbig zur Tür. Er öffnete sie. Er steckte – und es schien uns eine Ewigkeit zu dauern – den großen Drehschlüssel in das Schloß, und langsam, langsam und lärmend stieg der eiserne Rolladen empor. Der junge Tag drang voll und siegreich in unser übernächtiges Gestern. Entschlossener noch als der Morgen drang eine ältliche, dürre Frau in den Laden ein. Sie ähnelte mehr einem übergroßen, hageren Vogel als einer Frau. Eine tiefe, häßliche Narbe über dem linken Auge versuchte ein allzu dünner, zu kurzer, schwarzer Schleier, lieblos am linken Rand des lächerlichen Hütchens angebracht, vergeblich zu verdecken. Und ihre schrille Stimme, mit der sie fragte: »Wo ist mein Golubtschik? Ist er hier? Wo ist er?«, erschreckte uns alle dermaßen, daß wir, auch wenn wir gewollt hätten, nicht imstande gewesen wären, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie verstreute noch ein paar häßliche und unmenschlich flinke Vogelblicke – und verschwand hierauf.

Erst eine Weile später kroch Golubtschik unter dem Tisch hervor. »Sie ist fort!« sagte er erleichtert. »Das ist Lutetia.« Und gleich hierauf: »Auf Wiedersehn! Meine Freunde! – Auf morgen abend!« Mit ihm ging auch der Chauffeur. Draußen wartete schon der erste Gast. Er drückte ungeduldig auf die Hupe.

 

Der Wirt blieb allein mit mir. »Welche Geschichten hört man doch bei Ihnen«, sagte ich.

»Ganz gewöhnliche, ganz gewöhnliche«, erwiderte er. »Was ist schon seltsam im Leben? Ganz gewöhnliche Geschichten hat es zu verteilen. Es wird Sie nichts hindern wiederzukommen, wie?«

»Ganz gewiß nicht!« sagte ich.

Als ich diese Worte aussprach, war ich auch überzeugt, daß ich den Wirt und das Gasthaus und den Mörder Golubtschik und die anderen Stammgäste alle noch oft wiedersehen würde. Ich ging.

Der Wirt hielt es für nötig, mich bis über die Schwelle zu begleiten. Es sah aus, als zweifelte er noch ein wenig an meiner Absicht, sein Lokal auch weiterhin, wie bisher, zu besuchen. »Werden Sie auch wirklich wiederkommen?« fragte er noch einmal. »Aber selbstverständlich!« sagte ich. »Sie wissen ja, ich wohne schräg gegenüber, im Hotel des Fleurs Vertes!« »Ich weiß, ich weiß«, sagte er, »aber, es ist mir plötzlich, als seien Sie schon weit fortgezogen.«

Diese unvermuteten Worte erschreckten mich zwar nicht, aber ich war durch sie stark betroffen. Ich fühlte: sie enthielten irgendeine größere, mir nur noch verhüllte Wahrheit. Es war ja nichts anderes als eine konventionelle Höflichkeit, daß der Wirt des »Tari-Bari« mich, einen alten Stammgast, nach einer durchzechten Nacht bis auf die Straße begleitete. Dennoch hatte diese Handlung etwas Feierliches, ungewohnt, ich möchte sagen: ungerechtfertigt Feierliches. Schon kamen von den Hallen die ersten Wagen zurück. Sie rollten munter dahin, obwohl die Kutscher auf den Böcken, ermüdet von der nächtlichen Arbeit, schliefen und die Zügel in ihren schlafenden Händen auch zu schlafen schienen. Eine Amsel kam zutraulich knapp vor die großen, schlappen Filzschuhe des Wirtes gehüpft. Sie blieb seelenruhig, wie in Nachdenken versunken, neben uns stehn, und so, als interessierte sie unser Gespräch. Allerhand morgendliche Geräusche erwachten. Tore öffneten sich knirschend, Fenster klirrten sachte, kehrende Besen schlurften mit strengem Kratzen über Pflastersteine, und irgendwo jammerte ein Kind, das man jäh aus dem Schlaf gerissen haben mochte. Das ist ja ein Morgen wie alle Morgen, sagte ich mir in meinem Innern. Ein gewöhnlicher Pariser Sommermorgen! – Und laut sagte ich zum Wirt des »Tari-Bari«: »Aber ich ziehe ja gar nicht weg! Fällt mir ja gar nicht ein!« – Und ich stieß dabei ein kleines, zaghaftes Lachen aus – es hätte eigentlich ein starkes, überzeugendes sein sollen; es kam leider nur so kümmerlich heraus: eine wahre Mißgeburt von einem Lachen ...

»Na, dann also auf Wiedersehen!« sagte der Wirt, und ich drückte seine weiche, fleischige, eigentlich käsige Hand.

Ich sah mich nicht mehr nach ihm um. Wohl aber fühlte ich, daß er wieder in sein Gasthaus zurückgegangen war. Es war natürlich meine Absicht, die Straße zu überqueren, um mein Hotel zu erreichen. Ich tat es dennoch nicht. Es schien mir, daß der Morgen noch zu einer kleinen Wanderung locke und daß es unangebracht, wenn nicht häßlich sei, in ein kärgliches Hotelzimmer zu einer Zeit zu gehn, von der man nicht sagen konnte, sie sei zu früh oder zu spät. Es war kein früher Morgen mehr, und es war noch kein später. Ich beschloß, ein paarmal um den Häuserblock herumzugehen.

Ich wußte nicht, wie lange ich so herumgewandert war. Ich behielt, als ich endlich vor meinem Hotel stand, von dem ganzen morgendlichen Spaziergang nichts mehr in der Erinnerung als ein paar nicht gezählte, keineswegs gezählte Glocken verschiedener unbekannter Türme. Die Sonne lag schon kräftig und durchaus heimisch im Vestibül. Mein Hotelwirt, in rosa Hemdsärmeln, machte den Eindruck, als schwitzte er jetzt bereits so, wie er an andern Tagen nur in der Mittagsstunde zu schwitzen pflegte. Jedenfalls hatte er, obwohl er im Augenblick gar nichts tat, ein sehr beschäftigtes Aussehn. Ich erfuhr auch sofort, warum.

»Endlich ein Gast!« sagte er und zeigte auf drei Koffer, die er neben seinem Schreibtisch aufgestapelt hatte. »Sehn Sie sich nur die Koffer an«, fuhr er fort, »und Sie werden gleich wissen, was für ein Gast es ist!«

Ich sah mir das Gepäck an. Es waren drei gelbe, schweinslederne, großartige Koffer, und ihre messingnen Schlösser leuchteten wie geheime, versperrte goldene Münder. Über jedem der Schlösser standen in blutroter Schrift die Initialen: »J.L.«

»Er hat das Zimmer zwölf«, sagte der Wirt. »Knapp neben Ihnen. Feine Gäste setze ich immer nebeneinander.«

Damit gab er mir den Schlüssel.

Ich behielt den Schlüssel eine Weile in der Hand und gab ihn dann zurück. »Ich möchte unten den Kaffee trinken«, sagte ich. »Ich bin zu müde, um noch hinaufzugehen!«

Ich trank den Kaffee im winzigen Schreibzimmer, zwischen einem längst ausgetrockneten Tintenfaß und einer Majolikavase, gefüllt mit Zelluloidveilchen, die an Allerseelen erinnerten.

Die gläserne Tür ging auf, und herein trat, nein tänzelte, ein eleganter Herr. Von ihm ging seltsamerweise ein starker Veilchenduft aus, so daß ich einen Augenblick dachte, die Zelluloidveilchen in der Majolikavase seien plötzlich lebendig geworden. Bei jedem Schritt vollzog der linke Fuß dieses Herrn – ich sah es deutlich – eine zierliche Schleife. Er war ganz hellgrau-sommerlich gekleidet, geradezu in einen silbernen Sommer gehüllt. Blauschwarz leuchteten seine straff in der Mitte gescheitelten Haare, die so aussahen, als ob nicht ein Kamm, sondern eine Zunge sie geglättet hätte.

Er nickte mir zu, freundlich und zugleich reserviert.

»Auch einen Kaffee!« rief er durch die Tür, die er offengelassen hatte, zum Wirt hinaus.

Dieses »auch« ärgerte mich.

Er bekam seinen Kaffee. Er rührte lange, übermäßig lange, mit dem Löffel in der Tasse herum.

Ich wollte mich eben erheben, da begann er, mit einer Stimme, die klang wie Samt und Flöte, wie eine Flöte aus Samt:

»Sie sind auch fremd hier, nicht wahr?«

Es klang in meinen Ohren wie ein Echo. Ich erinnerte mich, daß ich diese gleiche Frage heute – oder war es gestern? – schon gehört hatte. Ja, ja! Diese Frage, der Mörder Golubtschik hatte sie erwähnt, mochte sie in der Nacht erwähnt haben, oder vielleicht auch hatte sie nicht wörtlich so gelautet! Zugleich entsann ich mich des Namens: »Jenö Lakatos«, und ich sah auch die blutroten Initialen auf den gelben Koffern: »J. L.«

Statt dem Herrn zu antworten, fragte ich ihn also: »Wie lange wollen Sie hierbleiben?«

»Oh, ich habe Zeit!« sagte er. »Ich verfüge ganz über meine Zeit!« Der Wirt kam herein, mit einem leeren Meldeformular. Er bat den neuen Gast, seinen Namen einzuschreiben.

»Schreiben Sie«, sagte ich – obwohl er mich gar nicht gefragt hatte und in einer Art Anfall von Ungezogenheit, über die ich mir heute noch keine Rechenschaft geben kann –, »in der Rubrik Familienname: Lakatos; in die Rubrik Vorname: Jenö.« Und ich erhob mich und verbeugte mich und ging.

Am selben Tage noch verließ ich meine Wohnung in der Rue des Quatre Vents. Den Golubtschik habe ich nie mehr wiedergesehn, auch nie mehr einen von den Männern, die seine Geschichte gehört hatten.


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