Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Ja, meine Freunde, ich fuhr nach Odessa, ich hatte ein reines Gewissen, ich empfand keine Reue, ich hatte mein Ziel vor Augen, und nichts sollte mich aufhalten. Es war ein strahlender Frühlingstag, als ich ankam. Zum erstenmal sah ich eine große Stadt. Es war keine gewöhnliche russische große Stadt, sondern erstens ein Hafen; und zweitens waren die meisten Straßen und Anlagen, wie ich bereits gehört hatte, ganz nach europäischem Muster angelegt. Vielleicht war Odessa mit Petersburg, jenem Petersburg, das ich in meiner Vorstellung trug, nicht zu vergleichen. Aber auch Odessa war eine große, eine riesengroße Stadt. Sie lag am Meer. Sie hatte einen Hafen. Und sie war eben die erste Stadt, in die ich ganz allein, aus eigenem Willen gereist war, die erste wunderbare Station auf meinem wunderbaren Weg ›nach oben‹.

Ich tastete, als ich den Bahnhof verließ, nach meinem Geld unter dem Hemd. Es war noch vorhanden. Ich nahm ein Zimmer in einem kleinen Gasthaus, in der Nähe des Hafens. Es war meiner Meinung nach nötig, möglichst nahe vom Fürsten zu wohnen. Da er, wie ich gehört hatte, in einem Hause ›am Meer‹ wohnte, stellte ich mir vor, es liege auch in der Nähe des Hafens. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß mich der Fürst, sobald er nur erfahren haben würde, daß ich gekommen sei, nötigen müßte, bei ihm zu wohnen. Und dann hätte ich es nicht weit gehabt. Ich brannte vor Neugier, die Lage seines geheimnisvollen Hauses zu erfahren. Ich nahm an, daß alle Leute in Odessa wissen müßten, wo der Fürst wohnte. Aber ich wagte nicht, den Wirt meines Gasthofes zu fragen. Es war Angst, die mich hinderte, so offen Erkundigungen einzuholen, aber auch eine Art Wichtigtuerei. Schon kam ich mir selbst wie ein Fürst Krapotkin vor, und ich freute mich an der Vorstellung, daß ich sozusagen inkognito in einem viel zu billigen Hotel unter dem lächerlichen Namen Golubtschik abgestiegen sei. Ich beschloß, mich lieber beim nächsten Polizisten zu erkundigen.

Zuerst aber ging ich zum Hafen. Ich schlenderte langsam durch die lebendigen Straßen der großen Stadt, verweilte vor allen Schaufenstern, besonders vor jenen, in denen Fahrräder und Messer ausgelegt waren, und machte verschiedene Einkaufspläne. Morgen oder übermorgen konnte ich mir ja alles kaufen, was mir gefiel, sogar eine ganz neue Gymnasiasten-Uniform. So dauerte es lange, bis ich an den Hafen kam. Das Meer war tiefblau, hundertmal blauer als der Himmel und eigentlich auch schöner, weil man mit den Händen hineingreifen konnte. Und wie die unerreichbaren Wolken über den Himmel schwammen, so fuhren die schneeweißen großen und kleinen Schiffe, auch sie greifbar, über das nahe Meer. Ein großes, ein unbeschreibliches Entzücken erfüllte mein Herz, und ich vergaß sogar den Fürsten für eine Stunde. Manche Schiffe warteten im Hafen und schaukelten sachte, und wenn ich nahe herantrat, hörte ich den zärtlichen, unermüdlichen Anschlag des blauen Wassers an weißes, weiches Holz und schwarzes, hartes Eisen. Ich sah die Kräne wie große, eiserne Vögel durch die Luft schweben und ihre Lasten ausspeien in wartende Schiffe, aus weitgeöffneten, eisernen braunschwarzen Rachen. Jeder von Ihnen, meine Freunde, weiß, wie es ist, wenn man zum erstenmal in seinem Leben das Meer und den Hafen erblickt. Ich will euch nicht mit näheren Schilderungen aufhalten.

Nach einiger Zeit verspürte ich Hunger und ging in eine Konditorei. Ich war in einem Alter, in dem man, wenn man hungrig wird, nicht in ein Gasthaus, sondern in eine Konditorei geht. Ich aß mich satt. Ich glaube, daß ich damals Aufsehen mit meiner Genäschigkeit erregt habe. Ich fraß ein Zuckerwerk nach dem andern, ich hatte ja Geld in der Tasche, trank zwei Tassen stark gezuckerter Schokolade und wollte mich gerade entfernen, als plötzlich ein Herr an mein Tischchen trat und mir irgend etwas sagte, was ich nicht sofort verstand. Ich glaube, ich bin damals im ersten Augenblick sehr erschrocken gewesen. Erst als der Mann weitersprach, begann ich ziemlich langsam zu verstehen. Er sprach übrigens mit einem fremden Akzent. Ich merkte sofort, daß er kein Russe war, und diese Tatsache allein verdrängte meinen ersten Schrecken und weckte in mir eine Art Stolz. Ich weiß nicht recht, warum. Es scheint mir aber, daß wir Russen uns oft geschmeichelt fühlen, wenn wir Gelegenheit haben, mit einem Ausländer zu verkehren. Und zwar verstehen wir unter ›Ausländer‹ Europäer, jene Menschen also, die viel mehr Verstand haben dürften als wir, obwohl sie viel weniger wert sind. Es kommt uns zuweilen vor, daß Gott die Europäer begnadet hat, obwohl sie nicht an ihn glauben. Vielleicht aber glauben sie einfach deshalb nicht an Ihn, weil Er ihnen soviel geschenkt hat. Und also werden sie übermütig und glauben, sie hätten selbst die Welt erschaffen, und sind obendrein noch mit ihr unzufrieden, obwohl sie ja selbst, ihrer Meinung nach, die Verantwortung dafür haben. Siehst du – dachte ich bei mir – während ich den Ausländer betrachtete – es muß etwas Besonderes an dir sein, wenn dich ein Europäer so mir nichts, dir nichts anspricht. Er ist viel älter, vielleicht zehn Jahre älter als du. Wir wollen ihm höflich begegnen. Wir wollen ihm zeigen, daß wir ein gebildeter russischer Gymnasiast sind und kein gewöhnlicher Bauer ...

Ich betrachtete mir also den Fremden: Er war, was man so einen ›Stutzer‹ nennt. Er hielt ein ganz weiches, feines Panama-Strohhütchen in der Hand, eines, wie es gewiß in ganz Rußland nicht zu kaufen war, und ein gelbes Rohrstöckchen mit silbernem Knauf. Er trug ein gelbliches Röckchen aus russischer Rohseide, eine weiße Hose mit zarten blauen Streifen und gelbe Knopfstiefel. Und statt eines Gürtels schlang sich um sein zartes Bäuchlein eine halbe, ja weniger: eine Viertelweste aus weißem, geripptem Stoff, zusammengehalten von drei wundervollen, schillernden Perlmuttknöpfchen. Außerordentlich wirkte seine geflochtene goldene Uhrkette mit großem Karabiner in der Mitte und vielen zierlichen Anhängseln, einem Revolverchen, einem Messerchen, einem Zahnstocher und einem niedlichen, winzigen Kuhglöckchen; alles aus purem Gold. Auch an das Angesicht des Mannes erinnere ich mich ganz genau. Er hatte pechschwarze, in der Mitte gescheitelte Haare, sehr dicht, eine kurze, knappe Stirn und ein winziges Schnurrbärtchen, aufwärtsgezwirbelt, so daß die Endchen direkt in die Nasenlöcher krochen. Die Hautfarbe war eine blasse, bleiche, was man so eine »interessante‹ nennt. Das ganze Männchen kam mir damals sehr nobel vor, ein zierliches Herrchen aus europäischen Regionen. Wahrscheinlich, sagte ich mir, hätte er so einen gewöhnlichen Russen, wie sie hier in der Konditorei herumsitzen, gar nicht angesprochen. An mir aber sieht er sofort mit dem Kennerblick des Europäers, daß ich was Besonders bin, ein noch namenloser, aber echter Fürst, kein Zweifel.

»Ich sehe«, sagte das fremde Herrchen, »daß Sie hier in Odessa fremd sind, mein Herr! Ich bin es auch. Ich bin nicht aus Rußland. Wir sind also in einem gewissen Sinne Genossen, Schicksalsgenossen!«

»Ich bin erst heute gekommen«, sagte ich.

»Und ich vor einer Woche!«

»Woher kommen Sie?« fragte ich.

»Ich bin Ungar, ich komme aus Budapest«, antwortete er, »gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Ich heiße Lakatos, Jenö Lakatos.«

»Sie sprechen aber ganz gut Russisch!«

»Gelernt, gelernt, lieber Freund!« sagte der Ungar und pochte dabei mit dem Knauf seines Rohrstäbchens auf meine Schulter. »Wir Ungarn haben ein großes Sprachtalent!«

Es war mir unangenehm, sein Stäbchen auf meiner Schulter zu fühlen, ich schüttelte es ab, er entschuldigte sich und lächelte, und man sah dabei seine glänzenden, weißen und etwas gefährlichen Zähne und noch ein Stückchen vom roten Zahnfleisch darüber. Seine schwarzen Augen blitzten. Ich hatte noch nie einen Ungarn gesehn, wohl aber mir eine genaue Vorstellung von ihnen gemacht nach all dem, was ich aus der Geschichte von ihnen wußte. Ich kann nicht sagen, daß es geeignet war, in mir irgendeinen Respekt vor diesem Volk zu wecken, das meiner Meinung nach noch weniger europäisch war als wir. Es waren Tataren, die sich nach Europa hineingestohlen hatten und dort sitzengeblieben waren. Sie waren Untertanen des Kaisers von Österreich, der sie so wenig schätzte, daß er uns Russen zu Hilfe gerufen hatte, als sie einst rebellierten. Unser Zar hatte dem österreichischen Kaiser geholfen, die rebellischen Ungarn zu unterdrücken. Und vielleicht hätte ich mich mit diesem Herrn Lakatos auch nicht näher eingelassen, wenn er nicht plötzlich etwas Überraschendes, mir unwahrscheinlich Imponierendes begonnen hätte. Er zog nämlich aus dem linken Täschchen seiner gerippten Viertelweste ein flaches, kleines Flakönchen, bespritzte sich die Rockklappen, die Hände und die breite, blaue, weißpunktierte Krawatte, und sofort erhob sich ein süßer Duft, der mich fast betäubte. Es waren, wie ich damals wähnte, geradezu himmlische Wohlgerüche. Ich konnte ihnen nicht widerstehen. Und als er mir sagte, wir sollten zusammen Nachtmahl essen gehn, erhob ich mich sofort und gehorchte.

Merken Sie daran, meine Freunde, wie grausam Gott mit mir umging, als er mir diesen parfümierten Lakatos auf die erste Kreuzung stellte, die ich auf meinem Weg zu passieren hatte. Ohne diese Begegnung wäre mein Leben ein ganz anderes geworden.

Lakatos aber führte mich geradewegs in die Hölle. Er parfümierte sie sogar. Wir gingen also, der Herr Lakatos und ich. Erst als wir längere Zeit kreuz und quer durch die Straßen gegangen waren, bemerkte ich auf einmal, daß mein Begleiter hinkte. Er hinkte nur leicht, es war kaum zu sehen, es war eigentlich kein Hinken, sondern eher, als zeichnete der linke Fuß eine kleine Schleife, ein Ornament, auf das Pflaster. Niemals seither habe ich solch ein graziöses Hinken gesehn, es war kein Gebrechen, eher eine Vollkommenheit, ein Kunststück – und gerade diese Tatsache erschreckte mich sehr. Ich war damals, müßt ihr wissen, ungläubig und außerdem auch noch unermeßlich stolz auf meine Ungläubigkeit. Es schien mir, daß ich sehr gescheit sei, weil ich, trotz meinen jungen Jahren, bereits zu wissen glaubte, daß der Himmel aus blauer Luft bestehe und keine Engel und keinen Gott enthalte. Und obwohl ich das Bedürfnis hatte, an Gott und an die Engel zu glauben, und obwohl es mir in Wirklichkeit sehr leid tat, daß ich im ganzen Himmel nur blaue Luft sehen mußte und in allen Ereignissen auf Erden lauter blinde Zufälle, konnte ich doch auf mein hochmütiges Wissen nicht verzichten und nicht auf den Stolz, den es mir verlieh; dermaßen, daß ich, trotz meiner Sehnsucht, Gott anzubeten, dennoch gezwungen war, mich gleichsam selbst anzubeten. Als ich aber dieses graziöse, ja einschmeichelnde und liebenswürdige Hinken meines Genossen bemerkte, glaubte ich, im Nu zu fühlen, daß es ein Abgesandter der Hölle war, kein Mensch, kein Ungar, kein Lakatos, und ich erkannte auf einmal, daß meine Ungläubigkeit keine vollkommene war und daß jene Torheit, die ich damals meine ›Weltanschauung‹ nannte, sozusagen Lücken besaß. Denn hatte ich auch aufgehört, an Gott zu glauben, so waren die Furcht vor dem Teufel und der Glaube an ihn doch ganz lebendig und groß in mir geblieben. Und hatte ich auch vermocht, die sieben Himmel leerzufegen, so konnte ich doch die Hölle nicht von all ihren Schrecken säubern. Es war kein Zweifel, daß Lakatos hinkte, und ich gab mir zuerst alle Mühe, mir diese Tatsache auszureden, meinen eigenen Augen abzuleugnen, was sie so deutlich sahen. Hierauf sagte ich mir, daß auch Menschen selbstverständlich hinken können, ich erinnerte mich an alle Hinkenden, die ich kannte, an unseren Postboten Wassilij Kolohin zum Beispiel, an den Holzhacker Nikita Melaniuk und an den Schankwirt von Woroniaki, Stefan Olepszuk. Aber je deutlicher ich mir die bekannten Hinkenden ins Gedächtnis rief, desto deutlicher wurde auch der Unterschied zwischen ihrem Gebrechen und dem meines neuen Freundes. Manchmal, wenn ich glaubte, er könne es nicht bemerken und nicht übelnehmen, blieb ich unauffällig zwei, drei Schritte hinter ihm zurück und beobachtete ihn. Nein, es war kein Zweifel, er hinkte wirklich. Von hinten gesehen, war sein Gang noch merkwürdiger, seltsamer, zauberischer beinahe, es war, als zeichnete er mit dem linken Fuß wirklich unsichtbare, runde, kreisartige Zeichen auf den Boden, und sein linker gelber, spitzer und äußerst eleganter Knöpfelschuh schien mir plötzlich – aber nur sekundenlang – um ein bedeutendes länger zu sein als der rechte. Schließlich hielt ich es nicht aus, und um mir selbst zu beweisen, daß ich wieder einen sogenannten ›Rückfall‹ in meinen alten ›Aberglauben‹ erlitten hatte, beschloß ich, den Herrn Lakatos zu fragen, ob er wirklich hinke. Ich ging aber sehr vorsichtig zu Werke, überlegte die Frage ein paarmal und sagte schließlich: ›Haben Sie sich den linken Fuß verletzt, oder drückt Sie der Stiefel? Es scheint mir nämlich, daß Sie hinken.‹ Lakatos blieb stehen, hielt mich am Ärmel fest, damit auch ich stehenbleibe, und sagte: ›Daß Sie das erkannt haben! Ich muß schon sagen, junger Freund, ein Aug' haben Sie wie ein Adler! Nein! Wirklich! Sie haben ein merkwürdig gutes Auge! Bisher haben's nur wenige bemerkt. Aber ich kann's Ihnen ja sagen. Wir kennen uns nicht lange, aber ich fühle mich schon ganz als Ihr alter Freund, ein älterer Bruder, könnte man sagen. Also ich habe mir den Fuß nicht verletzt, und mein Stiefel paßt auch ganz ausgezeichnet. Aber ich bin so geboren, ich hinke, seitdem ich gehe, und mit den Jahren habe ich angefangen, sogar eine Art eleganter Kunst aus meinem Gebrechen zu machen. Ich habe reiten und fechten gelernt, ich spiele Tennis, ich mache Hoch- und Weitsprünge mit Leichtigkeit, ich kann stundenlang wandern und sogar auf Berge steigen. Auch schwimmen und radfahren verstehe ich auf das beste. Wissen Sie, lieber Freund, niemals ist die Natur gütiger, als wenn sie uns ein kleines Gebrechen beschert. Wenn ich tadellos zur Welt gekommen wäre, hätte ich wahrscheinlich gar nichts gelernt.‹

Während Lakatos all dies sagte, hielt er mich, wie erwähnt, am Ärmel fest. Er stand an eine Häuserwand gelehnt, ich ihm gegenüber, fast mitten auf dem ziemlich schmalen Bürgersteig. Es war ein heller, fröhlicher Abend, die Menschen gingen lässig und frohgemut an uns vorbei, die abendliche Sonne vergoldete ihre Gesichter, alle Welt erschien mir anmutig und selig, nur ich war's nicht, und zwar deshalb nicht, weil ich mit Lakatos zusammenbleiben mußte. Zuweilen glaubte ich, ich müßte ihn im nächsten Augenblick verlassen, und es war mir doch so, als hielte er mich nicht nur am Ärmel fest, sondern gewissermaßen auch an der Seele; als hätte er einen Zipfel meiner Seele erwischt und ließe ihn nicht mehr los. Ich konnte damals weder reiten noch radfahren, und auf einmal schien es mir sehr schändlich, daß ich beides nicht konnte, obwohl ich doch kein Krüppel war. Nur eben: Golubtschik hieß ich, das war schlimmer als ein Krüppel sein, für mich, der ich doch eigentlich ein Krapotkin war und das Recht hatte, auf den edelsten Rossen der Welt zu reiten und, wie man zu sagen pflegt, in allen Sätteln gerecht zu sein. Daß aber dieser Ungar, dieser Herr Lakatos, alle edlen und adligen Sportarten beherrschte, obwohl er doch als ein Hinkender geboren war, daß er nicht einmal Golubtschik hieß und keinesfalls der Sohn eines Fürsten war, beschämte mich ganz besonders. Dazu kam, daß ich, der ich immer schon meinen lächerlichen Namen wie ein Gebrechen getragen hatte, auf einmal zu glauben begann, gerade dieser Name sei imstande, aus mir ebenso einen Allerweltskerl zu machen, wie der lahme Fuß des Herrn Lakatos ihm verholfen hatte, alle edlen und adligen Sportarten zu beherrschen. – Ihr seht, meine Freunde, wie der Teufel arbeitet ...

Damals aber sah ich es nicht, ich ahnte es nur, aber es war schon mehr als eine Ahnung. Es war etwas zwischen einer Ahnung und einer Gewißheit. Wir gingen weiter. ›Jetzt wollen wir essen‹, sagte Lakatos, ›und dann kommen Sie zu mir, in mein Hotel. Es ist angenehm, wenn man in einer wildfremden Stadt etwas Nahes neben sich weiß, etwas Nahes, einen guten Freund, einen jüngeren Bruder.‹

Gut, wir gingen also essen. Wir gingen in die ›Tschornaja‹ – und, ja, wißt ihr, wohin, meine Freunde?«

Hier machte Golubtschik eine Pause. Er sah den Wirt an. Der Wirt sah mit seinen stark hervorquellenden, hellen Augen auf den Erzähler. Bei dem Wort »Tschornaja« war es, als entzündete sich in den Augen des Wirtes ein besonderes Licht, ein ganz besonderes. »Ja, die Tschornaja«, sagte er. »Eben die Tschornaja«, fing Golubtschik wieder an. »Dort gab es um jene Zeit ein Restaurant, das hieß genauso wie dieses hier, in dem wir jetzt sitzen, nämlich: ›Tari-Bari‹ – und der Wirt ist derselbe.«

Der Wirt, der dem Erzähler gegenübergesessen hatte, erhob sich jetzt, ging um den Tisch herum, breitete die Arme aus und umarmte Golubtschik. Sie küßten sich lange und herzlich. Sie tranken Brüderschaft; und auch wir alle, die Zuhörer, hoben die Gläser und leerten sie.

»Ja, so ist's!« begann Golubtschik wieder. »Dieser Wirt da, mein Bruder, seht ihr, Freunde, in seinem Restaurant hat sozusagen mein Unglück begonnen. Zigeunerinnen gab es dort, im alten ›Tari-Bari‹ in Odessa, großartige Geigenspieler und Zymbalisten. Und was für Weine, Kinder! Und alles bezahlte der Herr Lakatos. Und ich war zum erstenmal in meinem Leben in so einem Lokal. ›Trink nur, trink!‹ sagte der Herr Lakatos. Und ich trank.

›Trink nur!‹ wiederholte er. Und ich trank weiter.

Nach einiger Zeit, es mochte schon sehr spät sein, vielleicht lange nach Mitternacht – – aber in der Erinnerung ist es mir, als sei jene ganze Nacht eine einzige lange, lange Mitternacht gewesen –, fragte mich Lakatos: ›Was suchst du eigentlich in Odessa?‹

›Ich bin gekommen‹, sagte ich (aber ich lallte es damals wahrscheinlich), ›um meinen eigentlichen Vater zu besuchen. Er erwartet mich seit mehreren Wochen.‹

›Und wer ist dein Vater?‹ fragte Lakatos.

›Der Fürst Krapotkin.‹

Hierauf schlug Lakatos mit der Gabel an das Glas und bestellte noch eine Flasche Champagner. Ich sah, wie er sich unter dem Tisch die Hände rieb und wie darüber, über dem Tisch, über dem weißen Tischtuch, sein schmales Angesicht aufleuchtete, sich plötzlich rötete und voller wurde, als hätte er seine Wangen aufgepustet.

›Ich kenne ihn, Seine Durchlaucht meine ich‹, so begann Lakatos. ›Ich kann mir auch schon alles zusammenreimen. Er ist ein alter Fuchs, dein Herr Papa! Natürlich bist du sein illegitimer Sohn! Gnade dir Gott, wenn du auch nur den geringsten psychologischen Fehler machst! Mächtig und gefährlich mußt du auftreten! Er ist schlau wie ein Fuchs und feig wie ein Hase! Ja, mein Sohn, du bist nicht der erste, du bist nicht der einzige! Vielleicht irren Hunderte seiner unehelichen Söhne in Rußland herum. Ich kenne ihn. Ich habe Geschäfte mit ihm getätigt. Hopfengeschäfte! Ich bin nämlich von Beruf Hopfenhändler, mußt du wissen. Also, tritt morgen ein, und laß dich melden als Golubtschik, wohlverstanden! Und wenn man dich fragt, was du dem Fürsten zu sagen hast, so sag einfach: eine private Angelegenheit. Und stehst du drin, vor ihm, vor seinem schwarzen, großen Schreibtisch, der aussieht wie ein Sarg, und er fragt dich: Was wünschen Sie? – so sagst du: Ich bin Ihr Sohn, Fürst! – Fürst! sagst du. Nicht: Durchlaucht. – Und dann wirst du sehen. Ich traue deiner Klugheit. Ich führe dich hin. Und ich erwarte dich vor dem Schloß. Und ist er etwa unfreundlich, dein Herr Papa, so sag ihm, daß wir Mittel haben, Mittelchen. Und du hättest einen mächtigen Freund! Verstanden?‹

All dies verstand ich sehr wohl, es rann wie Honig in meinen Kopf, und ich drückte Herrn Lakatos die Hand unter dem Tisch, herzlich und fest. Er winkte eine der Zigeunerinnen heran, eine zweite, eine dritte. Vielleicht waren es noch mehr. Einer jedenfalls, jener, die sich an meine Seite gesetzt hatte, verfiel ich vollends. Meine Hand verfing sich in ihrem Schoß wie eine Fliege im Netz. Es war heiß, verworren, sinnlos, und dennoch eine große Seligkeit. Ich erinnere mich noch an den bleischweren, grauenden Morgen, an etwas Weiches, Warmes in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, an schrille Glocken im Korridor und ganz besonders an einen tief beschämenden, einen schamlosen Jammer vor dem neuen Tag.

Als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Als ich die Treppe hinunterging, sagte man mir, das Zimmer sei bezahlt. Von Lakatos fand ich nur einen Zettel: ›Viel Glück!‹ stand darauf – und: ›Ich muß sofort verreisen. Gehen Sie selbst hin! Meine Wünsche begleiten Sie!‹

Also ging ich allein zum Schloß des Fürsten.

 


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