Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Erlaßt mir, meine Freunde, die genauen Berichte über die gemeinen – ja, man kann, man soll sagen: gemeinen Taten, die ich im Verlauf der folgenden Jahre begangen habe. Ihr wißt alle, meine Brüder, was die Ochrana gewesen ist. Vielleicht hat sie sogar jemand unter euch am eigenen Leibe gespürt. Auf keinen Fall habe ich es nötig, sie genau zu beschreiben. Ihr wißt jetzt, was ich gewesen bin. Und wenn es euch nicht paßt, so sagt es mir bitte gleich, ich verlasse euch. Hat jemand etwas gegen mich? Ich bitte, es zu sagen, meine Herren! Nur glattweg zu sagen! Und ich gehe!«

Aber wir alle schwiegen. Nur der Wirt sagte: »Semjon Semjonowitsch, da du einmal angefangen hast, deine Geschichte zu erzählen, und da wir schließlich alle, so, wie wir hier sitzen, irgend etwas auf dem Gewissen haben, bitte ich dich, im Namen unser aller, fortzufahren.«

Golubtschik tat noch einen Schluck und erzählte weiter:

»Ich war nicht dumm, trotz meiner Jugend, und also war ich gar bald gut angeschrieben bei meinen Vorgesetzten. Zuerst – ich habe vergessen, es zu erzählen – schrieb ich einen Brief an meine Mutter. Ich sagte ihr, daß mich der Fürst gut aufgenommen habe und daß er sie herzlich grüßen lasse. Er habe mir – so schrieb ich weiter – einen großartigen Staatsposten verschafft, und von nun ab würde ich ihr monatlich zehn Rubel schicken. Für dieses Geld brauche sie sich aber beim Fürsten nicht zu bedanken.

Als ich diesen Brief schrieb, meine Freunde, wußte ich schon, daß ich meine Mutter niemals mehr sehen würde, und ich war auch, so merkwürdig es scheinen mag, sehr traurig darüber. Aber etwas anderes, Stärkeres – so schien es mir damals – rief mich, Stärkeres als die Liebe zur Mutter, nämlich der Haß gegen meinen falschen Bruder. Der Haß war so laut wie eine Trompete, und die Liebe zur Mutter war so leise und zart wie eine Harfe. Ihr versteht, meine Freunde! ...

Ich wurde also, so jung ich auch war, ein großartiger Agent. Ich kann euch nicht alle Gemeinheiten erzählen, die ich im Laufe jener Zeit begangen habe. Aber der und jener unter euch erinnert sich vielleicht noch an die Geschichte von dem jüdischen Sozialrevolutionär Salomon Komrower, genannt: Komorow – und dies war eine der schmutzigsten Taten meines Lebens.

Dieser Salomon Abramowitsch Komrower war ein zarter Jüngling aus Charkow, die Politik hatte ihn niemals beschäftigt, er lernte, wie es bei Juden gehörig ist, fleißig Talmud und Thora und wollte so eine Art Rabbiner werden. Seine Schwester aber war eine Studentin, sie studierte Philosophie in Petersburg, sie verkehrte bei den Sozialrevolutionären, sie wollte, wie es damals Mode war, das Volk befreien – – und sie wurde eines Tages verhaftet. Salomon Komrower, ihr Bruder also, hat nichts Eiligeres zu tun, als sich bei der Polizei zu melden und anzugeben, er sei schuld, und er allein, an den gefährlichen Umtrieben seiner Schwester. Gut! Man verhaftet auch ihn. Man setzt mich in der Nacht in seine Zelle. Es war in einem Kiewer Gefängnis, ich erinnere mich noch genau an die Stunde – es war knapp vor Mitternacht. Als ich eintrat, das heißt: hineingestoßen wurde, ging Salomon Komrower auf und ab, auf und ab, er schien mich gar nicht zu bemerken. ›Guten Abend!‹ sagte ich, und er antwortete mir nicht. Ich spielte, wie es meine Pflicht war, einen alten Verbrecher und legte mich seufzend auf die Pritsche. Nach einer Weile hörte auch Komrower auf zu wandern. Er setzte sich ebenfalls auf seine Pritsche; ich war derlei gewohnt. ›Politisch?‹ fragte ich, wie gewöhnlich. ›Ja!‹ sagte er. ›Wieso?‹ fragte ich weiter. Nun, er war dumm und jung, er erzählte seine ganze Geschichte. Ich aber, der ich immer an meinen falschen Bruder, den jungen Fürsten Krapotkin, dachte und an meine Rache, überlegte mir, ob hier nicht endlich eine Gelegenheit gegeben wäre, meinen stetig heißen Haß zu kühlen. Und ich begann, dem jungen, ahnungslosen Komrower einzureden, daß ich einen Ausweg für ihn und für seine Schwester wüßte: nämlich den, den jungen Fürsten als den Freund seiner Schwester anzugeben, und, so sagte ich dem ahnungslosen Juden, wenn einmal ein Name wie der Krapotkins mit im Spiel wäre, sei gar nichts mehr zu befürchten.

In der Tat, ich wußte damals keineswegs, daß der junge Fürst tatsächlich revolutionäre Kreise aufsuchte und daß er seit langem schon von meinen Kollegen genau überwacht worden war. Meine Gehässigkeit und meine Rachsucht hatten also gewissermaßen Glück, kann man sagen. Denn siehe da: Am nächsten Tag, nachdem man den Juden Komrower vernommen hatte, kehrte er in Begleitung eines sehr noblen jungen Mannes in Ingenieur-Uniform in die Zelle zurück. Er war, sozusagen, mein Bruder: der junge Fürst Krapotkin.

Ich begrüßte ihn, er erkannte mich natürlich nicht. Ich begann, mich mit gehässigem Eifer um ihn zu kümmern; der Jude Komrower, der dort in der Ecke auf seiner Pritsche lag, bedeutete mir gar nichts mehr. Und wie es einst Lakatos mit mir gemacht hatte, begann ich, eins ums andere, Verrat um Verrat aus dem jungen Fürsten herauszulocken, nur mit mehr Erfolg, als es damals Lakatos vergönnt gewesen war. Ja, ich erlaubte mir, den jungen Fürsten zu fragen, ob er sich noch an die Tabaksdosen erinnere, die sein Vater zu verschenken die Gewohnheit gehabt habe: Da wurde der Junge zum erstenmal rot, man sah es sogar im Halbdunkel der Zelle. So ist es nämlich: Der Mann, der vielleicht versucht hatte, den Zaren zu stürzen, wurde rot, als ich ihn an einen seiner Knabenstreiche erinnerte. Von nun an gab er mir bereitwillig Auskunft. Ich erfuhr, daß er, just infolge jener törichten Tabaksdosengeschichte, die eines Tages aufgekommen war, sich verpflichtet gefühlt hatte, eine gehässige Stellung gegen die menschliche Ordnung überhaupt einzunehmen. Er hatte also, wie so viele junge Menschen seiner Zeit, die Tatsache, daß man sein vulgäres Verbrechen entdeckt hatte, zum Anlaß genommen, ein sogenannter Revolutionär zu werden und die Gesellschaft anzuklagen. Er war immer noch hübsch, und wenn er sprach und gar wenn er mit seinen blanken Zähnen lächelte, erhellte sich gleichsam die Zelle, in der wir saßen. Von tadellosem Schnitt war seine Uniform. Von tadellosem Schnitt war sein Angesicht, war sein Mund, waren seine Zähne, waren seine Augen. Ich haßte ihn. Er verriet mir alles, alles, meine Freunde! Es hat keine Bedeutung mehr, ich will euch mit Einzelheiten nicht langweilen. Aber es half mir nichts, daß ich alles mitteilte. Nicht der junge Fürst Krapotkin wurde bestraft, sondern der völlig schuldlose Jude Komrower.

Ich sah noch, wie sie ihm die Kugel und die Kette um das linke Bein schmiedeten. Er ging nach Sibirien. Der junge Fürst aber verschwand eines Tages, schneller, als er gekommen war.

Alle Geständnisse, die mir der Fürst gemacht hatte, schrieb man dem jungen Komrower zu.

So war damals die Praxis, meine Freunde!

Ich war die letzte Nacht mit ihm in der Zelle. Er weinte ein bißchen, gab mir dann ein paar Zettel, an seine Eltern, an Freunde und Verwandte, und sagte: ›Gott ist überall. Ich habe keine Angst! Ich habe auch keinen Haß! Gegen niemanden! Sie waren mein Freund und ein Freund in der Not! Ich danke Ihnen!‹

Er umarmte und küßte mich. Heute noch brennt sein Kuß auf meinem Angesicht.«

Bei diesen Worten berührte Golubtschik mit dem Finger seine rechte Backe.

 

»Einige Zeit später wurde ich nach Petersburg versetzt. Ihr wißt nicht, was für eine Bedeutung solch eine Versetzung hatte. Man war unmittelbar dem gewaltigsten Mann Rußlands, dem Oberbefehlshaber der Ochrana unterstellt. Von ihm hing das Leben des Zaren selbst ab. Mein Vorgesetzter war kein geringerer als der Graf W., ein Pole, heute noch traue ich mich nicht, seinen Namen auszusprechen. Er war ein ungewöhnlicher Mensch. Alle, die wir in seine Dienste traten, mußten in seinem Zimmer vor ihm einen neuen Eid leisten. Ein mächtiges silbernes Kruzifix ragte zwischen zwei gelben Wachskerzen vom schwarzen Schreibtisch empor. Schwarze Vorhänge verhüllten die Tür und die Fenster. Hinter dem Schreibtisch, auf einem unverhältnismäßig hohen schwarzen Sessel, saß der Graf, ein kleines Männchen, mit einem kahlen, von Sommersprossen übersäten Schädel, mit fahlen, blassen Augen, die an getrocknete Vergißmeinnicht-Blumen erinnerten, mit dürren Ohren wie aus gelblicher Pappe, mit starken Backenknochen und einem halboffenen Mund, der große gelbe Zähne sehen ließ. Dieser Mann kannte jeden einzelnen von uns Beamten der Ochrana genau, er überwachte jeden unserer Schritte, obwohl er niemals sein Büro zu verlassen schien. Er war uns allen unheimlich, und wir fürchteten ihn mehr, als wir selbst gefürchtet wurden im Lande. Wir schworen eine lange Eidesformel vor ihm, in seinem verzauberten Zimmer, und bevor wir ihn verließen, sagte er immer zu jedem von uns: ›Also, achtgeben! Kind des Todes! – Ist dir dein Leben lieb?‹ – Darauf antwortete man: ›Jawohl, Exzellenz!‹ – und man war entlassen. Eines Tages wurde ich zu seinem Sekretär gerufen, der mir mitteilte, daß meiner und noch mehrerer meiner Kameraden eine besondere Aufgabe harre. Der große Schneider aus Paris, der Herr Charron nämlich – ich hörte den Namen zum erstenmal –, sei nach Petersburg eingeladen. Er wolle in einem der Petersburger Theater seine neuen Modelle vorführen. Einige Großfürsten interessierten sich für die Mädchen. Einige Damen aus der allerhöchsten Gesellschaft interessierten sich für die Kleider. Nun aber gelte es, so sagte der Sekretär, eine ganz besondere Art von Dienst einzurichten. Weiß man vielleicht, wer sich unter den Mädchen befindet, die jener Herr Charron mitbringen will? Können sie nicht Waffen, Bomben, unter ihren Kleidern verbergen? Und wie leicht hätten sie es! Sie kleiden sich natürlich immer wieder um, sie gehen von den Bühnen ab in ihre Loge, kommen wieder zurück, und ein Unglück ist bald geschehen. Herr Charron hat fünfzehn Mädchen angekündigt. Wir brauchen also fünfzehn Mann. Vielleicht werden sogar die Gesetze der üblichen Schamhaftigkeit dabei verletzt. Das müssen wir in Kauf nehmen. Ob ich dieses arrangieren und kommandieren wolle, fragte mich der Sekretär.

Diese besondere, ihr gebt zu, ziemlich ungewöhnliche Aufgabe, meine lieben Freunde, erfüllte mich mit Freude. Ich sehe jetzt, daß ich nicht umhinkann, mit euch von ganz vertraulichen Dingen zu sprechen. Ich muß euch also gestehen, daß ich bis zu jener Stunde niemals wirklich verliebt gewesen war, wie es so bei jungen Männern der Fall zu sein pflegt. Meine Beziehungen zu Frauen beschränkten sich darauf, daß ich, außer jener Zigeunerin, die mir mein Freund Lakatos verschafft hatte, nur ein paarmal in den sogenannten Freudenhäusern Mädchen sozusagen besessen und bezahlt hatte. Obwohl ich von Beruf schon verpflichtet und auch geeignet war, die Welt zu kennen, war ich damals doch noch jung genug, um mir, lediglich bei der Vorstellung, ich würde sogenannte Modelle aus Paris zu überwachen haben, einzubilden, ich sei auserwählt, ganz exquisite Damen der großen Pariser Welt in ihrer prachtvollen Nacktheit zu bespähen, vielleicht auch, sie zu ›besitzen‹. Ich sagte sofort, ich sei bereit, und ging daran, mir meine vierzehn Mitarbeiter auszusuchen. Es waren die elegantesten und jüngsten Burschen unserer Sektion.

Der Abend, an dem der Pariser Schneider mit seinen Modellen und unzähligen Koffern in Petersburg anlangte, brachte uns nicht wenig Pein. Wir waren also am Bahnhof, fünfzehn im ganzen, und es schien damals dennoch jedem einzelnen von uns, als wären wir fünf oder gar nur zwei. Unser allmächtiger Befehlshaber hatte uns den Auftrag gegeben, besonders scharf achtzugeben; und all dies lediglich wegen eines Schneiders. Wir mischten uns unter die vielen Leute, die ihre Angehörigen am Bahnhof erwarteten. In jener Stunde war ich überzeugt, daß ich eine großartige und wichtige Aufgabe erfüllte. Ich hatte nichts weniger zu tun, als, wer weiß, vielleicht dem Zaren das Leben zu retten.

Als der Zug eintraf und der weltberühmte Schneider ihm entstieg, sah ich sofort, daß sich unser allmächtiger Befehlshaber geirrt hatte. Dies war kein Mann, der im Verdacht stehen konnte, Attentate zu begehen. Er sah wohlgenährt aus, eitel und harmlos, und zeigte sich heftig bemüht, größtes Aufsehn zu erregen. Kurz und gut: es war kein ›subversives Individuum‹. Er war ziemlich groß gewachsen, aber infolge seiner seltsamen Kleidung schien er eher klein, sogar kurz zu sein. Denn seine Kleidungsstücke flatterten rings um ihn, statt ihn zu bedecken, und sie paßten ihm gar nicht, als hätte er sie von irgendeinem Freunde geschenkt bekommen. Er aber hatte sie sich selber ausgedacht, und deshalb erschien er uns, jedenfalls mir, sozusagen doppelt verkleidet. Ich wunderte mich darüber, daß der Hof des Zaren einen solch verkleideten Schneider aus Paris nach Petersburg bestellt hatte; und damals begann ich auch, zum erstenmal, an der Sicherheit zu zweifeln, an der Sicherheit der Herren, der großen Herren, zu deren Gesellschaft ich so gerne gehört hätte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich geglaubt, die großen Herrschaften könnten sich gar niemals irren und könnten niemals einen Komödianten nach Petersburg bestellen, damit er ihren Damen die Moden diktiere, die man in Rußland zu tragen habe. Aber nun sah ich es mit eigenen Augen. Der Schneider kam mit einem großen Gefolge an, und nicht nur mit einem weiblichen, was ja zu erwarten gewesen wäre. Nein! – er hatte auch ein paar junge Männer mitgebracht, junge, großartige Männer aus Paris, lauter elegante Leute, ausgestattet mit seidenen Krawatten und flotten Bewegungen. Sie hüpften freudig und leichtsinnig von den Trittbrettern der Waggons, nicht unähnlich verkleideten Spatzen oder Zeisigen, und wenig hätte gefehlt, und sie hätten zu zwitschern angefangen. In der Tat erschien mir die lärmende und fröhliche Art, in der sie miteinander sofort, unmittelbar nach ihrer Ankunft, zu reden anfingen wie eine sorglose und leichtfertige Unterhaltung zwischen menschenähnlichen Vögeln oder gewissermaßen gefiederten Menschen. Sie warteten eine Weile vor den Trittbrettern, hielten die Arme ausgestreckt und empfingen die fünfzehn Mädchen, die nach ihnen auszusteigen begannen, zierlich und umständlich und mit so ängstlichen Gesichtern und Bewegungen, als hätten sie nicht auf einen Bahnsteig zu treten, sondern sich in einen fürchterlichen Abgrund zu stürzen.

Unter den aussteigenden Frauen gefiel mir eine besonders. Sie trug, wie alle Mädchen, die der Schneider mitgebracht hatte, eine Nummer. Denn alle hatten an ihrer linken Brust eine Zahl, in roter Farbe auf blauem Grund gemalt, auf sauberen, viereckigen Seidenlätzchen. Aber es sah aus, als wären diese Ziffern eingebrannt, wie man Pferden oder Kühen Zeichen einbrennt. Obwohl sie alle so munter waren, taten sie mir unendlich leid: Ich hatte Mitleid mit ihnen, besonders aber mit jener, die mir sofort, auf den ersten Blick, gefallen hatte. Sie trug die Nummer 9 und hieß, wie ich hörte: Lutetia. Aber aus den Pässen, die ich gleich darauf im Paßbüro der Bahnhofspolizei durchsah, ergab sich, daß sie eigentlich Annette hieß, Annette Leclaire, und – ich weiß nicht, warum – dieser Name rührte mich besonders.

Es ist bei dieser Gelegenheit vielleicht nötig, euch ein zweitesmal zu versichern, daß ich vorher nie eine Frau wirklich geliebt hatte, das heißt, daß ich die Frauen noch gar nicht kannte. Ich war jung und kräftig, und gleichgültig war mir keine; aber mein Herz war keineswegs bereit, meinen Sinnen zu gehorchen. Und so stark meine Sehnsucht auch war, fast alle zu ›haben‹, so stark war doch auch meine Überzeugung, daß ich nicht imstande sein könnte, auch nur einer einzigen von ihnen anzugehören. Und dennoch sehnte ich mich, wie es ja die Art der jungen Männer sein muß, nach der einzigen Frau, das heißt, eigentlich nach einer einzigen, die meine Sehnsucht und mein Heimweh nach allen zu stillen imstande gewesen wäre. Zugleich ahnte ich, daß es wahrscheinlich dergleichen Frauen nicht geben konnte, und ich erwartete, eben wie es die Art der jungen Männer ist, das sogenannte Wunder. Dieses Wunder schien mir nun eingetroffen zu sein, in dem Augenblick, in dem ich Lutetia, die Nummer 9, erblickte. Wenn man, wie ich damals, ein junger Mensch voll von der Erwartung des Wunders ist, verfällt man allzuschnell dem Glauben, es sei bereits eingetroffen.

Ich verliebte mich also, wie man so zu sagen pflegt, auf den ersten Blick in Lutetia. Gar bald schien es mir, sie trüge ihre Nummer wie ein Schand- und Brandmal, und auf einmal erfüllte mich ein Haß gegen diesen exquisiten Schneider, der von den allerhöchsten Herrschaften eingeladen worden war, seine unglücklichen Sklavinnen vorzuführen. Selbstverständlich schien mir von all diesen unglücklichen Sklavinnen das Mädchen Lutetia mit der Nummer 9 die unglücklichste zu sein. Und als wäre der nichtswürdige, aber keineswegs verbrecherische Modeschneider in der Tat ein Sklavenhalter oder Mädchenhändler gewesen, begann ich, über die Mittel nachzusinnen, mit denen es mir gelingen könnte, das Mädchen 9 von ihm zu erretten. Ja, ich sah in dem Umstand, daß man mich dieses Schneiders wegen nach Petersburg geschickt hatte, einen besonderen ›Wink des Schicksals‹. Und ich war entschlossen, Lutetia zu retten.

Ich habe vielleicht vorhin vergessen zu erzählen, weshalb die Polizeibehörde eines ungewöhnlichen, aber immerhin unverdächtigen Schneiders wegen derartige Vorsichtsmaßregeln angeordnet hatte. Eine oder zwei Wochen vorher hatte man nämlich auf den Gouverneur von Petersburg ein Attentat versucht. Mißlungene Attentate pflegten, wie ihr alle wissen werdet, in unserem alten Rußland eine viel schrecklichere Wirkung auszuüben als gelungene. Gelungene Attentate waren gewissermaßen unwiderrufliche Gottesurteile. Denn, meine Freunde, man glaubte in jener Zeit noch an Gott, und man war sicher, daß nichts ohne seinen Willen geschehe. Aber, sozusagen, um dem Allmächtigen vorzugreifen, bevor er noch die Gelegenheit haben könnte, jemanden von den hohen Herrschaften umzubringen, traf man, wie man so zu sagen pflegt, sogenannte Vorsichtsmaßregeln. Es waren törichte, manchmal sogar unsinnige Vorsichtsmaßregeln. Man gab uns den Auftrag, die armen, hübschen Mädchen besonders scharf zu beobachten, in den Pausen, während sie sich umzukleiden hatten, und auch in ihrem privaten Leben tagsüber im Hotel. Wir hatten den Auftrag, die Männer zu beaufsichtigen, mit denen die Mädchen, aller Voraussicht nach, zu tun haben würden, und also waren wir in jenen Tagen eigentlich keine Polizei mehr, sondern eine Art von Gouvernanten. Mich aber beschämte diese Aufgabe keineswegs, sie machte mich sogar heiter. Was alles hätte ich damals, in den ersten glücklichen Stunden meiner Liebe, nicht für heiter angesehen? Mein Herz: Ich fühlte, daß ich es bis jetzt verleugnet hatte. Seit dem Augenblick, in dem die Liebe darin eingezogen war, glaubte ich, erfahren zu haben, daß es noch da war, mein Herz, und daß ich es bis zu dieser Stunde nur verleugnet und geschmäht und vergewaltigt hatte. Ja, es war, meine Freunde, ein unausprechlicher Genuß, zu fühlen, daß ich noch ein Herz besaß, und mein Verbrechen, es verunstaltet zu haben, zu erkennen. Ganz genauso, wie ich es jetzt darstelle, wußte ich das aber damals noch nicht. Aber ich fühlte schon damals, daß die Liebe anfing, mich gewissermaßen zu erlösen, und daß sie mir das große Glück bescherte, mit Leiden, mit Freude und sogar mit Genuß erlöst zu werden. Die Liebe nämlich, meine Freunde, macht uns nicht blind, wie das unsinnige Sprichwort behauptet, sondern, im Gegenteil, sehend. Ich erkannte plötzlich und dank einer sinnlosen Liebe zu einem gewöhnlichen Mädchen, daß ich bis zu dieser Stunde schlecht gewesen war, und auch, in welchem Grade ich schlecht gewesen war. Ich weiß, seit jener Zeit, daß der Gegenstand, der in menschlichen Herzen Liebe erweckt, gar keine Bedeutung hat im Vergleich zu der Erkenntnis, die uns die Liebe beschert. Wen und was immer man liebt: der Mensch wird dabei sehend und keineswegs blind. Ich hatte bis zu dieser Stunde niemals geliebt; wahrscheinlich deshalb also war ich ein Verbrecher, ein Spitzel, ein Verräter, ein Schurke geworden. Noch wußte ich nicht, ob mich das Mädchen lieben würde. Aber allein schon die Gnade, daß ich imstande gewesen war, mich so plötzlich auf den ersten Blick zu verlieben, machte mich meiner selbst sicher und schuf mir zugleich Gewissensbisse wegen meiner schändlichen Handlungen. Ich versuchte, dieser Gnade einer jähen Verliebtheit würdig zu werden. Auf einmal sah ich die ganze Niedertracht meines Berufes, und er ekelte mich. Ich begann damals zu büßen, es war der Anfang der Buße. Ich wußte damals noch nicht, um wieviel mehr ich später noch zu büßen haben sollte.

Ich beobachtete das Mädchen, das man Lutetia nannte. Ich beobachtete es, längst nicht mehr als ein Polizist, sondern als ein eifersüchtiger Liebhaber, längst nicht mehr von Berufs wegen, sondern von Herzens wegen sozusagen. Und es verschaffte mir eine ganz besondere Wollust, es zu beobachten und auch zu wissen, in jedem Moment, daß ich eine wirkliche Macht über sie hatte. So grausam, meine Freunde, ist die menschliche Natur. Selbst dann noch, wenn wir eingesehen haben, daß wir schlecht gewesen waren, bleiben wir schlecht. Menschen sind wir, Menschen! Schlecht und gut! Gut und schlecht! Nichts anderes als Menschen.

Ich litt wahre Höllenqualen, während ich das Mädchen beobachtete. Ich war eifersüchtig. Jeden Augenblick zitterte ich, ein anderer, einer meiner Kollegen, könnte durch einen Zufall den Auftrag bekommen, Lutetia statt meiner zu überwachen. Ich war damals jung, meine Freunde! Wenn man jung ist, kann es vorkommen, daß die Eifersucht am Beginn der Liebe steht; ja, man kann glücklich sein, mitten in der Eifersucht, und gerade durch die Eifersucht. Das Leid macht uns genauso selig wie die Freude. Fast kann man das Glück vom Leid nicht unterscheiden. Die wahre Fähigkeit, Glück vom Leid zu unterscheiden, kommt erst im Alter. Und dann sind wir bereits zu schwach, um das Leid zu meiden und das Glück zu genießen.

In Wirklichkeit – sagte ich es schon? – hieß die Geliebte meines Herzens natürlich nicht Lutetia. Es erscheint euch vielleicht ohne Bedeutung, daß ich es erwähne, für mich aber bedeutete es viel, daß sie zwei Namen trug, einen echten und einen falschen. Ich behielt lange Zeit ihren Paß in der Tasche. Ich brachte den Paß ins Polizeibüro, schrieb selbst die Daten ab, ließ, wie es bei uns üblich war, das Photo noch einmal aufnehmen, nahm zwei Kopien an mich und verwahrte sie in einem besonderen Umschlag. Beide Namen bezauberten mich, jeder in einer anderen Weise. Beide Namen hatte ich zum erstenmal gehört. Es ging vom echten Namen ein sehr warmer, geradezu ein inniger Glanz aus und ein prächtiger, geradezu kaiserlicher vom Namen Lutetia. Es war beinahe, als liebte ich zwei Frauen statt einer einzigen, und da sie beide eins waren, war es mir, als müßte ich die eine doppelt lieben. An den Abenden, an denen die Mädchen die Kleider des mondänen Schneiders – in den Zeitungen nannte man sie die ›Schöpfungen‹ oder gar die ›genialen Schöpfungen‹ – im Theater vorführten, mußten wir in den Ankleidezimmern der Damen stehn. Der Schneider erhob einen gewaltigen Protest dagegen. Er ging zu der Witwe des Generals Portschakoff, die um jene Zeit eine große Rolle in der Petersburger Gesellschaft spielte und die allein ihn eigentlich veranlaßt hatte, nach Rußland zu kommen. Die Generalin war trotz ihrer berühmten, bedeutenden Korpulenz unheimlich eilfertig. Sie besaß die erstaunliche Fähigkeit, an einem einzigen Vormittag zwei Großfürsten, den General-Gouverneur, drei Advokaten und den Intendanten der kaiserlichen Oper aufzusuchen, um sich über die Verfügung unserer Polizei zu beschweren. Aber, meine Freunde, was nutzte unter gewissen Umständen in unserem alten, lieben Rußland eine Beschwerde gegen eine Verfügung? Der Zar selbst hätte nichts ausgerichtet – er vielleicht am wenigsten.

Natürlich wußte ich von all den Unternehmungen der beflissenen Generalswitwe. Ich bezahlte sogar von meinem Gehalt einen Schlitten, um ihr überallhin folgen zu können, und, ebenfalls aus meiner Tasche, Trinkgelder für die Diener und Lakaien, die mir den Inhalt der Unterredungen in all den Häusern überbrachten. Ich verfehlte nicht, meine Erfahrungen sofort meinem Chef mitzuteilen. Ich wurde belobt, aber ich schämte mich, dieses Lob zu hören. Ich arbeitete, meine Freunde, nicht mehr für die Polizei. Ich stand in höheren Diensten; ich stand in den Diensten meiner Leidenschaft.

Ich war wohl in jenen Tagen der geschickteste von allen Beamten, denn ich besaß die Fähigkeit, nicht nur schneller zu sein als die eilfertige Generalin, sondern auch zugleich die sonderbare Fähigkeit, an allen Orten fast gleichzeitig zu erscheinen. Ich war damals imstande, nicht nur Lutetia, sondern auch die Generalin und den berühmten Schneider fast gleichzeitig zu überwachen. Nur einen sah ich nicht, meine Freunde, nur einen nicht: Ihr werdet bald hören, um wen es sich handelt. Ich sah also eines Tages, wie der berühmte Schneider, in einen weiten Pelz gehüllt, den er sich noch in Paris hatte bestellen lassen – denn es war kein russischer Pelz, sondern einer, wie man sich in Paris einen russischen Pelz vorstellt –, ich sah also, wie er in einer Art weiblicher Kapotte aus Persianer, mit einer Kapuze aus Blaufuchs, an der eine silberne Troddel hing, einen Schlitten bestieg und zur Generalin fuhr. Ich folgte ihm, erreichte noch vor ihm den Flur, nahm ihm den merkwürdigen Pelz ab – denn der Portier war seit einigen Tagen mein Freund geworden – und wartete im Vorzimmer. Die rüstige Generalswitwe erstattete ihm einen niederschmetternden Bericht. Es gelang mir auch, ihn zu erlauschen. Alle ihre Unternehmungen waren vergeblich gewesen. Ich lauschte mit Wollust. Gegen die Ochrana, also gegen mich gewissermaßen, konnte kein Großfürst etwas ausrichten, nicht einmal ein jüdischer Advokat. Aber es gab, wie ihr wißt, im alten Rußland drei unfehlbare Mittel – und die verriet sie ihm auch: Geld, Geld, Geld.

Der Schneider war bereit, Geld zu zahlen. Er verabschiedete sich, zog wieder seinen sonderbaren Pelz an und stieg in den Schlitten.

Am ersten Abend, an dem die Vorführung seiner ›Schöpfungen‹ stattfand, erschien er auch, freundlich, rundlich und doch zugleich vierschrötig, strahlend und in einem Frack mit weißer Weste, an der wunderliche rote Knöpfchen leuchteten, die an Marienkäferchen erinnerten; hinter den Kulissen, vor den Garderoben seiner Mädchen erschien er. Ach, er war unfähig, auch nur den Miserabelsten unter uns zu bestechen! Mit den Silbermünzen klimperte er in seinen weiten Frackhosentaschen wie ein Mönch mit einem Klingelbeutel, und trotz seiner ganzen Pracht sah er weniger aus wie einer, der bestechen will, denn wie einer, der um Almosen bittet. Selbst der Verwerflichste unter uns hätte nicht vermocht, von dem Schneider Geld anzunehmen. Es war klar: Mit Großfürsten konnte er vielleicht besser verkehren als mit Spitzeln. Er verschwand. Wir gingen in die Garderoben.

Ich zitterte. Wenn ich euch sage, daß ich damals Angst, wirkliche Angst empfand, zum erstenmal in meinem Leben die hohläugige Angst, werdet ihr mir aufs Wort glauben. Ich hatte Angst vor Lutetia, Angst vor meiner Begierde, sie im Hemd zu sehn, Angst vor meiner Wollust, Angst vor dem Unbegreiflichen, dem Nackten, dem Willenlosen, Angst vor meiner eigenen Übermacht. Ich wandte mich um. Ich kehrte ihr den Rücken zu, während sie sich umkleidete. Sie lachte mich aus. Während ich ihr also angstvoll den Rücken zukehrte, mochte sie wohl, mit dem hurtigen Instinkt der Frauen, der die Furcht und die Ohnmacht der verliebten Männer zuallererst wittert, erkannt haben, daß ich einer der unschädlichsten Spitzel des großen Zarenreiches sei. Aber was rede ich von Instinkt! Sie wußte doch wohl, daß es meine Aufgabe war, sie genau und sogar scharf zu beobachten, und sie sah doch, daß ich mich umgewandt und mich ihr also preisgegeben hatte! Schon war ich ihr ausgeliefert! Schon hatte sie mich durchschaut! Ach, meine Freunde, es ist besser, sich einem erklärten Feind auszuliefern, als eine Frau wissen zu lassen, daß man sie liebt. Der Feind vernichtet euch schnell! – Die Frau aber – ihr werdet bald sehen, wie langsam, wie mörderisch langsam ...

Gut! Ich stand also da, mit dem Angesicht zur Tür, und betrachtete die weiße, langweilige Klinke, als hätte ich den Auftrag erhalten, diesen harmlosen Gegenstand zu bewachen. Es war, ich erinnere mich genau, ein gewöhnlicher Klinkenknopf aus Porzellan. Nicht einmal ein Sprung war an ihm zu entdecken. Das dauerte lange. Indessen sang, flötete, pfiff und zwitscherte die Geliebte meines Herzens hinter meinem Rücken – und vor dem Spiegel, wie ich erriet – ebenso unbekümmerte wie liederliche Weisen, und heller Hohn war in ihrem Singen, in ihrem Flöten, in ihrem Pfeifen, in ihrem Zwitschern. Lauter Hohn! ... Auf einmal klopfte es an der Tür. Ich wandte mich sofort um und sah natürlich Lutetia. Sie saß vor dem ovalen, goldumrahmten Spiegel und versuchte, mit einer immensen Puderquaste, ihren Rücken zu pudern. Sie war bereits angekleidet. Sie trug ein schwarzes Kleid, der Rücken zeigte einen dreieckigen Ausschnitt, an den Rändern mit blutroten Samtstreifen eingesäumt, und sie versuchte, mit der rechten Hand, mit der übergroßen Quaste, ihren Rücken zu erreichen, um ihn zu pudern. Mehr noch, als mich ihre Nacktheit verwirrt hätte, blendete mich in diesem Augenblick der beinahe höllische – ich finde keinen andern Ausdruck –, also der beinahe höllische Zusammenhang dieser Farben. Seit jenem Augenblick glaube ich zu wissen, daß die Farben der Hölle, in die ich gewiß einmal gelangen werde, aus Schwarz, Weiß und Rot bestehen; und an manchen Stellen, an den Wänden der Hölle zum Beispiel, wird hie und da der dreieckige Ausschnitt eines Frauenrückens sichtbar; die Puderquaste auch.

Ich erzähle all dies zu lang, und es dauerte doch nur einen Augenblick. Bevor noch Lutetia Herein! rufen konnte, ging die Tür auf. Und ehe ich mich noch umgesehen hatte, begann ich schon zu ahnen, wer der Ankömmling war. Ihr werdet es erraten, meine Freunde! Wer war es? – Es war mein alter Freund, mein alter Freund Lakatos!

›Guten Abend!‹ sagte er auf russisch. Hierauf begann er eine längere französische Ansprache an Lutetia. Ich verstand sehr wenig. Mich schien er nicht erkannt zu haben oder nicht erkennen zu wollen. Lutetia wandte sich um und lächelte ihm zu. Sie sagte ein paar Worte, lächelte weiter, halb im Sessel umgewandt, die große Quaste in der Hand, ich sah sie doppelt, ihr lebendiges Bild und das Spiegelbild. Lakatos näherte sich ihr, er hinkte immer noch sichtlich. Er trug einen Frack und Lackstiefel, und eine rote Blume unbekannter Art loderte in seinem Knopfloch. Was mich betrifft, so war ich beinahe wie ausgelöscht. Ich hatte das sichere Gefühl, daß ich weder für Lutetia noch für Lakatos ein lebendiger Mensch sei. Fast hätte ich selbst an meiner Anwesenheit in dieser Garderobe gezweifelt, wenn ich nicht genau gesehen hätte, wie Lakatos seine Frackärmel emporzog – seine Manschetten schepperten leise – und wie er die Puderquaste aus Lutetias Händen mit zwei spitzen Fingern entgegennahm. Und als machte er sich daran, nicht etwa den Rücken einer Frau mit Puder zu bestreuen, sondern einen ganz neuen Frauenrücken zu formen, begann er, mit beiden Händen unbegreifliche Kreise in der Luft zu zeichnen, hierauf, sich zu bücken, dann, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und den ganzen Körper zu recken, um endlich, endlich den Rücken Lutetias mit der Quaste zu berühren. Er bestrich den Rücken geradezu, wie man zum Beispiel eine Mauer tüncht. Es dauerte lange, und Lutetia lächelte – ich sah ihr Lächeln im ovalen Spiegel. Endlich wandte sich Lakatos mir zu und so selbstverständlich, als wenn er mich vorher begrüßt und erkannt hätte, sagte er mir jetzt: ›Nun, alter Freund, Sie auch hier?‹ – Und er steckte dabei die Hand in die Hosentasche. Es klimperte und klingelte darin von Silber- und Goldmünzen. Ich kannte den Klang.

›So müssen wir uns wiederfinden!‹ sprach er weiter. – Ich antwortete nichts. Endlich, nach einem längeren Schweigen, fragte er: ›Wie lange noch wollen Sie diese Dame belästigen?‹

›Ich belästige sie gegen meinen Willen‹ sagte ich. ›Ich habe hier Dienst!‹

Er hob beide Arme gegen den Plafond und rief: ›Dienst! Dienst hat er!‹ Und wandte sich dann gegen Lutetia und sagte etwas leise auf französisch.

Er winkte mich heran, an den ovalen Spiegel, nahe zu Lutetia, und sagte: ›Alle Ihre Kollegen sind fort. Alle Damen bleiben unbehelligt. Verstanden?‹

›Ich habe Dienst!‹ erwiderte ich.

›Ich habe sie alle bestochen!‹ sagte Lakatos. ›Alle Damen sind unbehelligt! Wieviel verlangen Sie?‹

›Gar nichts!‹

›20, 40, 60?‹

›Nein!‹

›100?‹

›Nein!‹

›Ich habe den Auftrag, nicht weiterzugehn.‹

›Gehn Sie selbst!‹ sagte ich.

In diesem Augenblick ertönte das Klingelzeichen. Lutetia verließ die Garderobe.

›Du wirst es bereuen!‹ sagte Lakatos. – Er ging hinter Lutetia einher, und ich blieb einen Augenblick verwirrt und beklommen zurück. Es roch betäubend nach Schminke, Parfüm, Puder und Frau. Ich hatte vorher nichts von all diesen Gerüchen gespürt; oder ich hatte sie nicht gemerkt; was weiß ich? Auf einmal aber überfiel mich dieser vielfältige Geruch wie ein süßlicher Feind, und es war, als hätte ihn nicht Lutetia hinterlassen, sondern mein Freund Lakatos. Es war, als hätten vorher, bevor er angekommen war, die Parfüms, die Schminke, der Puder, die Frau gar nicht gerochen, sondern als hätte erst Lakatos alle diese Gerüche zum Leben erweckt.

Ich verließ die Garderobe. Ich sah im Korridor nach. Ich sah eine Bühnengarderobe nach der andern. Ich fand meine Kollegen nirgends. Ausgelöscht waren sie, verschwunden, verschlungen. Zwanzig, vierzig, sechzig oder hundert Rubel hatten sie genommen.

Ich stand hinter den Kulissen, zwischen den zwei diensthabenden Feuerwehrleuten, und ich sah seitwärts einen Teil des erlesenen und sogar durchlauchten Publikums, das sich hier versammelt hatte, um einen lächerlichen Schneider aus Paris zu begrüßen, und das sich zugleich vor seinen armseligen Mädchen fürchtete, die man ›Modelle‹ nannte. Dermaßen war also die große Welt beschaffen – dachte ich bei mir –, daß man einen Schneider bewundert und fürchtet zugleich. Und Lakatos? Woher kam er? Welcher Wind hatte ihn hierhergetrieben? Er machte mir angst. Ich fühlte deutlich, daß ich in seiner Gewalt war, ich hatte ihn längst vergessen, und er machte mir deshalb doppelte Angst. Das heißt: ich hatte ihn eigentlich niemals ganz vergessen; ich hatte ihn nur verdrängt, hinausgedrängt aus meinem Gedächtnis, aus meinem Bewußtsein. Also bekam ich doppelte Angst, oh, keine gewöhnliche, meine Freunde, so etwa, wie man Angst hat vor Menschen! Erst in dieser Stunde und an dieser sonderbaren Art meiner Furcht erkannte ich eigentlich, wer Lakatos war. Ich erkannte es, aber es war, als hätte ich auch noch Angst vor meiner eigenen Erkenntnis und als müßte ich um jeden Preis trachten, vor mir selber gewissermaßen diese Erkenntnis zu verbergen. Es war, wie wenn ich verurteilt wäre, eher gegen mich selbst zu kämpfen und mich vor mir selbst zu wehren, als gegen ihn zu kämpfen und mich vor ihm zu wehren. Dermaßen, meine Freunde, erliegt ein Mensch der Verblendung, wenn es der große Verführer will. Man fürchtet sich gar gewaltig vor ihm, aber man vertraut ihm viel mehr als sich selbst.

Während der ersten Pause stand ich wieder in der Garderobe Lutetias. Ich redete mir ein, es sei selbstverständlich meine Pflicht. In Wirklichkeit aber war es ein merkwürdiges Gefühl, gemischt aus Eifersucht, Trotz, Verliebtheit, Neugier – was weiß ich? Noch einmal erschien Lakatos, während Lutetia sich umkleidete und während ich, genau wie vorher, mit dem Rücken zu ihr stand und die Tür anstarrte. Obwohl ich ihm eigentlich den Weg versperrte, schien er mich ebensowenig zu beachten, als wäre ich kein Mensch, sondern etwa ein Kleiderkasten. Mit einem einzigen, eigentlich eleganten, rundlichen Schwung seiner Schultern und seiner Hüften wich er mir aus. Schon stand er hinter dem Rücken Lutetias, und so, daß sie ihn im Spiegel sehen mußte, vor dem sie eben saß. Sein Eintritt erzürnte mich dermaßen, daß ich sogar meine Scham überwand und meine Liebe vergaß und mich prompt umwandte. Da sah ich, wie Lakatos drei Finger an den gespitzten Mund legte, eine Art Luftkuß gegen das Spiegelbild der Frau abfeuerte. Dabei sagte er ununterbrochen ein und dasselbe französische Wort: ›Oh, mon amour, mon amour, mon amour!‹ Das Spiegelbild Lutetias lächelte. Im nächsten Augenblick – ich begriff nicht, ich begreife auch heute noch nicht, wie es geschah – legte Lakatos einen großen Strauß dunkler Rosen auf den Tisch vor dem Spiegel – und ich hatte ihn doch mit leeren Händen eintreten sehen! Lutetias Spiegelbild nickte leicht. Lakatos schickte noch einen Handkuß ab, wandte sich um, und mit der gleichen rundlichen Schleife, mit der er mir vorher beim Eintritt ausgewichen war, schwang er sich gleichsam um mich herum und verließ das Zimmer.

 


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