Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Ich begann, wie ich es mir vorgenommen oder, wenn ihr wollt, nur eingebildet hatte, ein sogenanntes neues Leben. Mit neuen Kleidern – ich ließ mir einen der lächerlichen Schneider kommen, die um jene Zeit die sogenannten Herren der Welt einzukleiden pflegten – begann ich, eine Art des Lebens zu führen, die einem Fürsten angemessen erschien. Eine wahrhaft neue Art des Lebens. Ein paarmal war ich beim Schneider meiner geliebten Lutetia eingeladen. Ein paarmal lud ich ihn ein. Ihr werdet mir glauben, meine Freunde, daß ich heute, da alle meine alte Pein dermaßen von mir abgefallen ist, daß ich sie euch so offen gestehen kann, wie ich es nunmehr tue, daß ich also jetzt keineswegs aus Hochmut oder Eingebildetheit erzähle, ich sei damals äußerst sprachbegabt gewesen. Ich war sehr sprachbegabt. Innerhalb einer Woche sprach ich beinahe ein vollkommenes Französisch. Ich unterhielt mich jedenfalls fließend, wie man sagt, mit dem mondänen Schneider und mit all seinen Mädchen, die mich von der Reise her kannten. Ich unterhielt mich auch mit Lutetia. Gewiß, sie erinnerte sich meiner, besonders des Zwischenfalls an der Grenze wegen und auch wegen meines Namens und schließlich wegen der Stunde im Coupé. Ich war um jene Zeit nichts anderes als der Träger meines falschen Namens. Ich war ja längst nicht mehr ich selbst. Ich war nicht nur kein Krapotkin mehr, ich war auch kein Golubtschik mehr. Ich war wie zwischen Himmel und Erde. Mehr noch: wie zwischen Himmel, Erde und Hölle. In keinem von den drei Gebieten fühlte ich mich heimisch. Wo war ich eigentlich? Und was war ich eigentlich? War ich Golubtschik? War ich Krapotkin? War ich in Lutetia verliebt? Liebte ich sie oder eigentlich meine neue Existenz? War es überhaupt eine neue Existenz? Log ich, oder sagte ich die Wahrheit? – Um jene Zeit dachte ich manchmal an meine arme Mutter, die Frau des Försters Golubtschik, nichts wußte sie mehr von mir, verschwunden war ich aus dem engen Gesichtskreis ihrer armen, alten Augen. Nicht einmal mehr eine Mutter hatte ich noch. Eine Mutter! Welcher Mensch in der ganzen weiten Welt hatte keine Mutter? Verloren war ich und verwüstet! Aber ein solch Elender war ich damals noch, daß ich selbst aus meiner Niedertracht einen gewissen Stolz bezog und daß ich sie, die ich selber beging, zugleich als eine Art Auszeichnung betrachtete, die mir die Vorsehung angedeihen ließ.

Ich will mich bemühen, kurz zu werden. Es gelang mir, nach einigen höchst überflüssigen Besuchen bei dem Schneider der großen Pariser Welt und nachdem ich die meisten seiner neuen Kleider gesehen und gelobt hatte, die er selbst und alle Zeitungen ›Kreationen‹ nannten, jene besondere Art des Vertrauens der Lutetia zu gewinnen, das ein Versprechen und ein Gelöbnis zwischen zwei Menschen bedeutet. Eine ganz kurze Zeit später hatte ich das zweifelhafte Glück, Gast in ihrem Hause zu sein.

 

In ihrem Hause! Was ich da ›Haus‹ nenne, war ein armseliges Hotel, beinahe ein Stundenhotel, in der Rue de Montmartre. Ein enges Zimmer war's. Die braungelbe Tapete zeigte in unermüdlicher Wiederholung zwei Papageien, einen knallgelben und einen schneeweißen, die sich unaufhörlich küßten. Sie liebkosten sich. Diese Papageien hatten geradezu den Charakter von Tauben. Und auch die Tapete rührte mich; ja, gerade die Tapete. Es erschien mir Lutetias höchst unwürdig, daß sich just in ihrem Zimmer Papageien wie Tauben benahmen – und just Papageien. Damals haßte ich Papageien: Ich weiß heute nicht mehr, warum. (Nebenbei gesagt, hasse ich auch Tauben.)

Ich brachte Blumen und Kaviar mit, die zwei Gaben, die damals meiner Meinung nach einen russischen Fürsten kennzeichnen mochten. Wir sprachen miteinander, innig und lange und ausführlich. ›Sie kennen meinen Vetter?‹ fragte ich, harmlos und verlogen. ›Ja, den kleinen Sergej!‹ erwiderte sie, ebenso harmlos, ebenso verlogen. ›Den Hof hat er mir gemacht‹, erzählte sie weiter. ›Stundenlang! Orchideen hat er mir geschickt, denken Sie, mir allein, unter allen meinen Kolleginnen! Ich aber machte mir nichts aus ihm! Er gefiel mir einfach nicht!‹

›Mir gefällt er auch nicht!‹ sagte ich. ›Ich kenne ihn seit seiner frühesten Jugend, und schon damals gefiel er mir nicht.‹

›Sie haben recht‹, sagte Lutetia, ›er ist ein kleiner Schurke.‹

›Dennoch‹, begann ich, ›haben Sie sich mit ihm in Petersburg getroffen, und zwar, wie er mir selbst erzählt hat, in einem Chambre séparée bei der alten Gudaneff.‹

›Er lügt, er lügt‹, schrie Lutetia, wie nur Frauen schreien können, wenn sie eine offensichtliche Wahrheit ableugnen wollen. ›Nie war ich mit irgendeinem Mann in einem Chambre séparée! Nicht in Rußland, nicht in Frankreich!‹

›Schreien Sie nicht‹ sagte ich, ›und lügen Sie nicht! Ich selbst habe Sie gesehen. Ich habe Sie gesehen. Sie haben es bestimmt vergessen. Mein Vetter lügt nicht.‹

Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, begann Lutetia, jämmerlich zu weinen. Ich, der ich es nicht ertrage, eine Frau weinen zu sehn, ich lief hinunter und bestellte eine Flasche Cognac. Als ich zurückkam, weinte Lutetia nicht mehr. Sie tat nur so, als wäre sie von der Lüge, bei der ich sie ertappt hatte, äußerst angestrengt und bar aller Lebenskräfte. Sie lag auf dem Bett. ›Machen Sie sich nichts daraus!‹ sagte ich. ›Ich habe Ihnen eine Stärkung mitgebracht.‹

Sie erhob sich nach einer Weile. ›Sprechen wir nicht mehr von Ihrem Vetter!‹ sagte sie.

›Sprechen wir nicht mehr von ihm!‹ stimmte ich ein. ›Sprechen wir von Ihnen!‹

Und sie erzählte alles – all das, was ich damals merkwürdigerweise für absolute, äußerste Wahrheit hielt, so kurz, nachdem ich sie doch lügen gehört hatte! Sie war die Tochter eines Lumpensammlers. Früh verführt, das heißt im Alter von sechzehn Jahren, ein Alter, das ich heute nicht mehr ein ›frühes‹ zu nennen imstande bin, folgte sie einem Jockey, der sie geliebt und sie in einem Hotel in Rouen sitzengelassen hatte. Oh, es mangelte ihr nicht an Männern! Sie blieb nicht lange in Rouen. Und weil sie so auffallend schön gewesen war, hatte sie der mondäne Schneider bemerkt, der damals auf der Suche nach Modellen war, innerhalb des bescheidenen Volkes von Paris ... Und so war sie zu dem mondänen Schneider gekommen ...

Sie hatte viel getrunken. Sie log immer noch, ich fühlte es nach einer halben Stunde schon. Aber wo gibt es, meine Freunde, eine Wahrheit, die man gerne hören möchte aus dem Munde einer geliebten Frau? Und log ich nicht etwa selber? Lebte ich nicht vollkommen eingebaut, hatte ich mich nicht behaglich eingenistet in der Lüge, dermaßen, daß ich nicht nur eine eigene Lüge liebte, sondern auch alle fremden Lügen zumindest anerkennen und schätzen mußte? Natürlich war Lutetia ebensowenig die Tochter eines Lumpensammlers oder Hausmeisters oder Schusters oder was weiß ich, wie ich ein Fürst. Hätte sie damals geahnt, wer ich wirklich war, so hätte sie mir wahrscheinlich eingeredet, sie sei die uneheliche Tochter eines Barons. Da sie aber annehmen mußte, daß ich mich in den Baronen auskannte, und da sie die Erfahrung besaß, daß die hochgestellten Herren die Niedrigen und die Armen mit einer geradezu dichterischen Wehmut betrachten und das Märchen von dem Glück der Armut lieben, erzählte sie auch mir das Märchen von dem Wunder, das der Armut begegnet. Es klang übrigens, während sie sprach, kaum unglaubwürdig. Sie lebte ja schon seit langen Jahren in der Lüge, in dieser speziellen Lüge, und sie glaubte zeitweilig an ihre Geschichte. Eine Verlorene war sie, wie ich ein Verlorener. Die verlorenen Menschen lügen gleichsam unschuldig, wie die Kinder. Die verlorene Existenz bedarf des verlogenen Fundamentes. In Wirklichkeit war Lutetia die Tochter eines zu seiner Zeit angesehenen Damenschneiders, und der große mondäne Schneider, in dessen Diensten sie jetzt stand, hatte seine Mädchen nicht unter dem geringen Volk von Paris gesucht, sondern unter den Töchtern seiner Kollegen, natürlicherweise.

Und überdies, meine Freunde: Lutetia war schön. Schönheit erscheint immer glaubwürdig. Der Teufel, der die Urteile der Männer über die Frauen bestimmt, kämpft auf der Seite der Schönen und Gefälligen. Einer häßlichen Frau glauben wir selten die Wahrheit, einer hübschen alles, was sie erfindet.

Es ist schwer zu sagen, was mir eigentlich an Lutetia so gefiel. Sie unterschied sich auf den ersten Blick wenig von den anderen Mädchen des Schneiders. Auch sie war geschminkt und wie ein Wesen, zusammengesetzt aus Wachs und Porzellan, eine Mischung, aus der zu jener Zeit die Mannequins gebildet wurden. Heute freilich ist die Welt fortgeschritten, und die Damen bestehen in jeder Jahreszeit aus anderen, immer wechselnden Materien. Auch Lutetia hatte einen unnatürlich kleinen Mund, solange sie schwieg, er glich einer länglichen Koralle. Auch ihre Augenbrauen stellten zwei unnatürlich vollkommene Bögen dar, nach geradezu geometrischen Gesetzen konstruiert, und wenn sie die Augen senkte, sah man unwahrscheinlich lange, mit besonderer Kunst geschwärzte Wimpern, Vorhänge von Wimpern. Wie sie sich setzte, zurücklehnte, wie sie sich erhob und wie sie ging, wie sie einen Gegenstand anfaßte und wieder hinstellte, all das war selbstverständlich geübt und die Folge zahlreicher Proben. Ihre schlanken Finger sogar schienen von einem Chirurgen gedehnt und auf irgendeine Weise geschnitzt worden zu sein. Sie erinnerten ein wenig an zehn Bleistifte. Sie spielte mit ihren Fingern, während sie sprach, betrachtete sie aufmerksam, und es sah aus, als suchte sie ihr Spiegelbild in ihren blanken Nägeln. Nur selten war ein Blick in ihren blauen Augen zu finden. Statt der Blicke hatte sie Aufschläge. Wenn sie aber sprach und in den wenigen Sekunden, in denen sie sich vergaß, wurde ihr Mund breit und fast lüstern-gefräßig, und zwischen ihren blanken Zähnen erschien für den Bruchteil eines Augenblicks ihre wollüstige Zunge, lebendig, ein rotes und giftiges Tierchen. In den Mund hatte ich mich verliebt, meine Freunde, in den Mund. Alle Schlechtigkeit der Frauen haust in ihren Mündern. Das ist, nebenbei gesagt, ja auch die Heimat des Verrats und, wie ihr aus dem Katechismus wißt, die Geburtsstatt der Erbsünde ...

Ich liebte sie also. Ich war erschüttert von ihrer verlogenen Erzählung und ebenso erschüttert von dem kleinen Hotelzimmer und der Papageien-Tapete. Ihrer unwürdig, besonders gewissermaßen ihres Mundes unwürdig, war die Umgebung, in der sie lebte. Ich erinnerte mich an das Gesicht des Wirtes unten in der Loge, er sah aus wie eine Art Hund in Hemdsärmeln – und ich war entschlossen, Lutetia eine glücklichere, eine selige Existenz zu bereiten. – ›Würden Sie mir erlauben‹, fragte ich, ›daß ich Ihnen helfe? Oh, mißverstehen Sie das nicht! Ich habe keinerlei Ansprüche! Das Helfen ist meine Leidenschaft‹, so log ich, dieweil doch das Verderben mein Beruf war, ›ich habe nichts zu tun. Ich habe leider keinen Beruf. Würden Sie mir also erlauben ...?‹

›Unter welchen Bedingungen?‹ fragte Lutetia und setzte sich im Bett auf.

›Unter gar keinen Bedingungen, wie ich Ihnen schon sagte.‹

›Einverstanden!‹ sagte sie. Und da ich Anstalten machte, mich zu erheben, begann sie: ›Glauben Sie nicht, Fürst, daß ich mich hier unglücklich fühle. Aber unser Herr und Meister, den Sie ja kennen, ist sehr oft mißgelaunt – und ich habe das Unglück, von seinen Launen mehr abzuhängen als die anderen Frauen. Diese, wissen Sie‹, und jetzt begann ihre Zunge, Gift herzustellen, ›haben alle ihre noblen, reichen Freunde. Ich aber, ich ziehe es vor, allein und anständig zu bleiben. – Ich verkaufe mich nicht!‹ fügte sie nach einer Weile hinzu und sprang dabei aus dem Bett. Ihr Schlafrock, rosa mit blauen Phantasieblümchen, klaffte auseinander. Nein! – Sie verkaufte sich nicht: sie hatte sich mir nur angeboten.

 

Von nun an begann die verworrenste Zeit meines Lebens. Ich mietete eine kleine Wohnung in der Nähe der Champs-Élysées, eine der Wohnungen, die man in jenen Jahren ›kokette Liebesnester‹ nannte. Lutetia selbst richtete sie ein, nach ihrem Geschmack. Es gab wieder Papageien an den Wänden – die Art von Vögeln, die mir, wie schon gesagt, verhaßt ist. Es gab ein Klavier, obwohl Lutetia nicht spielen konnte, zwei Katzen, vor deren lautlosen und tückischen, überraschenden Sprüngen ich große Angst hatte, einen Kamin ohne Luftzug, in dem das Feuer sofort erlosch – und schließlich, sozusagen als eine besondere Aufmerksamkeit für mich, einen echten russischen Samowar aus Messing, den zu behandeln Lutetia mich ausersehen hatte. Es gab ein gefälliges Stubenmädchen in einer propren und gefälligen Kleidung – sie sah aus, als käme sie aus einer Spezialfabrik für Stubenmädchen – und schließlich, was mich empörte, einen echten, einen lebendigen Papagei, der mit unheimlicher Schnelligkeit und geradezu genialem Sinn meinen falschen Namen ›Krapotkin‹ gelernt hatte und der mich immer wieder also an meine Verlogenheit und Leichtfertigkeit erinnerte. Den Namen ›Golubtschik‹ hätte er bestimmt nicht so leicht erlernt.

Es wimmelte überdies in diesem ›koketten Nest‹ Lutetias von Freundinnen aller Art. Alle bestanden sie aus Porzellan und Wachs. Und ich hielt sie nicht auseinander: die Katzen, die Tapeten, den Papagei und die Freundinnen. Nur Lutetia erkannte ich noch. Gefangen war ich, dreifach und vierfach gefangen! Und zweimal im Tag begab ich mich freiwillig in mein süßes, ekelhaftes, verworrenes Gefängnis. Eines Abends blieb ich dort – es konnte ja nicht anders geschehen! Ich blieb die Nacht dort. Über dem Käfig des Papageis hing eine schläfrige Decke aus rotem Plüsch. Die tückischen Katzen schnurrten wohlig in ihren Körben. Und ich schlief, nicht mehr ein Gefangener, sondern auch ein für alle Zeiten Gefesselter; wie man so zu sagen pflegt, in den Armen Lutetias. Armer Golubtschik!

Im Morgengrauen erwachte ich, selig und zugleich unselig. Ich fühlte mich verstrickt und verworfen, und dennoch hatte ich noch nicht die Ahnung von Reinheit und Anständigkeit verloren. Diese Ahnung aber, meine Freunde, zart wie ein Lufthauch im frühen Sommermorgen, war stärker noch, trotz allem stärker als der starke Wind der Sünde, der mich umwehte. Unter der Macht dieser Ahnung eben verließ ich das Haus Lutetias. Ich wußte nicht, ob ich mich selig oder bekümmert zu fühlen hatte. Und in diesem Zweifel schwankte ich, ohne Plan und Gedanken, durch die frühen Straßen.

Lutetia kostete Geld, sehr schnell sah ich es, meine Freunde! (Alle Frauen kosten Geld, besonders die liebenden; diese mehr noch als die geliebten.) Und ich glaubte zu merken, daß Lutetia mich liebte. Ich war dankbar dafür, daß irgend jemand auf der Welt mich liebte. Lutetia war übrigens der einzige Mensch, der mir meinen Krapotkin ohne jeden Zweifel glaubte – der an meine neue Existenz glaubte, ja, sie bestätigte. Nicht ihr Opfer zu bringen war ich entschlossen, mir selbst wollte ich diese Opfer bringen. Mir selbst, dem falschen Golubtschik, dem echten Krapotkin.

Es begann also eine unheimliche Verworrenheit – nicht in meiner Seele – die bestand ja schon seit langem –, sondern auch in meinen privaten, in meinen materiellen Verhältnissen. Ich fing an, Geld auszugeben – mit vollen Händen, wie man sagt. Lutetia brauchte eigentlich nicht soviel. Ich selbst brauchte es, für sie brauchte ich es. Und sie begann zu verbrauchen, sinnlos und mit jener süchtigen, ja fluchartigen Leidenschaft, mit denen die Frauen Geld zu verbrauchen pflegen, das Geld ihrer Männer und ihrer Liebhaber – beinahe so, als sähen sie in dem Geld, das man für sie ausgibt, das man gar für sie verschwendet, ein bestimmtes Maß des Gefühls, das die liebenden Männer für sie haben. Ich brauchte also Geld. Sehr bald. Sehr viel. Ich ging, wie es meine Pflicht war, zu meinem sympathischen Vorgesetzten – Solowejczyk hieß er übrigens, Michael Nikolajewitsch Solowejczyk.

›Was haben Sie mir zu berichten?‹ fragte er. Es war gegen neun Uhr abends, und es schien mir, es sei niemand mehr, keine Seele, in dem großen, weiten Haus. Es war sehr still, und man hörte, wie aus einer unermeßlichen Ferne, die verworrenen Geräusche der großen Stadt Paris. Dunkel war es im ganzen Zimmer. Die eine Lampe mit grünem Schirm auf dem Schreibtisch Solowejczyks sah aus wie der lichte grüne Kern der abendlichen, kreisrunden Finsternis im Zimmer.

›Ich brauche Geld!‹ sagte ich, geborgen in der Finsternis und deshalb mutiger, als ich früher gedacht hatte.

›Für das Geld, das Sie brauchen‹, erwiderte er, ›müssen Sie Arbeit leisten. Wir haben mehrere Aufgaben für Sie! Es handelt sich nur darum, ob Sie imstande sind, oder besser: ob Sie imstande sein wollen, dergleichen Aufgaben durchzuführen!‹

›Ich bin zu allem bereit!‹ sagte ich. ›Ich bin dazu hergekommen.‹

›Zu allem? wirklich zu allem?‹

›Zu allem!‹

›Ich glaube es nicht‹, sagte der sympathische Solowejczyk. ›Ich kenne Sie nicht lange – aber ich glaube es nicht! Wissen Sie, um was es sich handelt? Es handelt sich um einen gemeinen Verrat, um einen gemeinen Verrat, sage ich. Um einen gemeinen Verrat an wehrlosen Menschen.‹ – Er wartete eine Weile. – Dann sagte er: ›Auch an wehrlosen Frauen! ...‹

›Ich bin es gewohnt. In unserm Beruf ...‹

Er ließ mich nicht ausreden. ›Ich kenne den Beruf!‹ sagte er und senkte den Kopf. Er begann, in den Papieren zu kramen, die vor ihm lagen, und man hörte nur das Rascheln der Papiere und das allzu gemächliche Ticken der Wanduhr.

›Setzen Sie sich!‹ sagte Solowejczyk.

Ich setzte mich, und nun war auch mein Angesicht im Lichtkreis der grünen Lampe, gegenüber dem seinen. Er hob den Blick und sah mich starr an. Es waren eigentlich tote Augen, von blinden Augen war etwas in ihnen, etwas Trostloses und bereits Jenseitiges. Ich hielt diese Augen aus, obwohl ich vor ihnen Angst hatte, denn es war nichts in ihnen zu lesen, kein Gedanke, kein Gefühl, und ich wußte dennoch, daß es eigentlich nicht blinde Augen waren, sondern im Gegenteil sehr scharfe. Ich wußte genau, daß sie mich beobachteten, aber ich entdeckte nicht den Reflex, den ja natürlicherweise jedes beobachtende Auge erzeugt. Übrigens war Solowejczyk der einzige Mensch, bei dem ich diese Fähigkeit festgestellt habe: die Fähigkeit nämlich, die Augen zu maskieren, wie viele andere ihr Angesicht maskieren können. Ich betrachtete ihn, es dauerte Sekunden, Minuten, mir schienen es Stunden zu sein. An seinen Schläfen lichtete sich leicht ergrautes Haar, und seine Kinnbacken bewegten sich unermüdlich, und es sah aus, als kaute er geradezu an seinen Überlegungen. Schließlich erhob er sich, trat zum Fenster, schlug den Vorhang ein wenig zurück und winkte mich heran. Ich trat zu ihm. ›Sehen Sie dort!‹ sagte er und zeigte mir eine Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. ›Kennen Sie ihn?‹ – Ich strengte mich an, ich sah genau hin, aber ich sah nichts anderes als einen verhältnismäßig kleinen, gutbürgerlich angezogenen Mann mit aufgeschlagenem Pelzkragen und braunem Hut und mit einem schwarzen Stock in der Rechten. ›Erkennen Sie ihn?‹ fragte Solowejczyk noch einmal. ›Nein!‹ sagte ich. ›Also, warten wir eine Weile!‹ – Gut, wir warteten. Nach einer Weile begann der Mann, auf und ab zu gehen. Nachdem er so seine zwanzig Schritte hin und zurückgegangen war, durchzuckte es mich wie ein Blitz, wie man so zu sagen pflegt. Meine Augen erkannten ihn nicht, mein Gehirn erinnerte sich nicht an ihn, aber mein Herz durchzuckte es, es pochte heftiger darin, und es war, als hätten plötzlich meine Muskeln, meine Hände, meine Fingerspitzen, meine Haare jenes Gedächtnis erhalten, das meinem Gehirn versagt geblieben war. Er war es. Das war der halb schleppende und halb tänzelnde Gang, den ich einmal, als ich noch jung und unschuldig gewesen war, in Odessa im Bruchteil einer Sekunde und trotz meiner Unerfahrenheit sofort gesehen hatte. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, daß ich bemerkt hatte, ein Hinken könnte ein Tänzeln sein und ein Fuß könnte sich verstellen. Ich erkannte also den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war kein anderer als Lakatos.

›Lakatos!‹ sagte ich.

›Also!‹ sagte Solowejczyk und trat vom Fenster zurück.

Wir setzten uns beide wieder einander gegenüber, genauso, wie wir vorher gesessen hatten. Den Blick auf die Papiere gesenkt, sagte Solowejczyk: ›Lakatos kennen Sie schon lange?‹

›Sehr lange‹, erwiderte ich, ›er begegnet mir immer wieder. Ich möchte sagen, immer in den entscheidenden Stunden meines Lebens.‹

›Er wird Ihnen noch oft begegnen – wahrscheinlich –‹, sagte Solowejczyk. ›Ich glaube selten und nur sehr widerwillig an übernatürliche Erscheinungen. Aber bei Lakatos, der mich von Zeit zu Zeit besucht, kann ich mich eines gewissen abergläubischen Gefühls nicht enthalten!‹

Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen? Es schien mir unerbittlich klar, daß ich unerbittlich gefangen war. Ein Gefangener Solowejczyks? Ein Gefangener Lutetias? Ein Gefangener des Lakatos gar?

Nach einer Pause sagte Solowejczyk: ›Er wird Sie verraten und vielleicht vernichten.‹

Ich nahm die aufgezeichneten Befehle entgegen, einen ansehnlichen Packen Papier, und ging.

›Auf Wiedersehn nächsten Donnerstag!‹ sagte Solowejczyk.

›Wenn es mir beschieden sein wird, Sie wiederzusehen!‹ erwiderte ich. Mein Herz war beklommen.

Als ich das Haus verließ, war Lakatos nicht mehr zu sehen. Weit und breit kein Lakatos, obwohl ich fleißig und gründlich nach ihm suchte, eifrig sogar. Ich hatte Angst vor ihm, und ich suchte nach ihm eben deshalb so eifrig. Ich fühlte aber schon, während ich ihn aufzustöbern versuchte, daß ich ihn nicht finden würde. Ja, ich war dessen sicher, daß ich ihn nicht finden würde.

Wie sollte man den Teufel finden, wenn man ihn sucht. Er kommt, er erscheint unverhofft, er verschwindet. Er verschwindet, und er ist immer da.

 


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