Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Das Haus meines Vaters, des Fürsten Krapotkin, stand einsam, stolz und weiß am Rande der Stadt. Obwohl es eine breite, gelbe, gut erhaltene Landstraße vom Strande trennte, schien es mir damals, es liege eigentlich hart am Ufer. So blau und mächtig war das Meer an jenem Morgen, an dem ich dem Hause des Fürsten entgegenging, daß es aussah, als schlüge es eigentlich immer mit seinen zärtlichen Wellen an die steinernen Treppen des Schlosses und als sei es nur zeitweilig zurückgewichen, um die Straße frei zu lassen. Überdies war, lange noch vor dem Schloß, eine Tafel angebracht, auf der geschrieben stand, daß allen Fuhrwerken die Weiterfahrt verboten sei. Es war gewiß, daß der Fürst in seiner sommerlichen, hochmütigen Ruhe nicht gestört sein wollte.

Zwei Polizisten standen nahe dieser Tafel, sie beobachteten mich, während ich sie kühl und stolz anblickte, als hätte ich sie selber hierher befohlen. Wenn sie mich damals gefragt hätten, was ich hier zu suchen habe, ich hätte ihnen geantwortet, daß ich der junge Fürst Krapotkin sei. Eigentlich wartete ich auf diese Frage. Sie aber ließen mich passieren, folgten mir nur noch eine Weile mit ihren Blicken, ich spürte ihre Augen im Nacken. Je näher ich dem Hause Krapotkins kam, desto unruhiger wurde ich. Lakatos hatte versprochen, mich hierher zu begleiten. Nun hatte ich nur noch seinen Zettel in der Tasche. Laut und lebendig tönten in mir noch seine Worte wider: Sag ihm nicht Durchlaucht, sondern Fürst! – Er ist schlau wie ein Fuchs und feig wie ein Hase! – Immer langsamer, ja schleppender wurden meine Schritte, und auf einmal fühlte ich auch die grausame Hitze des Tages, der sich seiner Höhe näherte. Der Himmel war blau, das Meer zu meiner Rechten reglos, die Sonne in meinem Rücken unbarmherzig. Gewiß lag ein Gewitter in der Luft, und man merkte es nur noch nicht. Ich setzte mich eine Weile an den Wegrand. Aber als ich wieder aufstand, war ich noch müder als zuvor. Sehr langsam, die Kehle trocken, mit brennenden Füßen schleppte ich mich vor die strahlende Treppe des Hauses. Weiß waren die steinernen, flachen Stufen wie Milch und Schnee, und obwohl sie mit allen Poren die Sonne tranken, strömten sie mir doch eine wohltätige Kühle entgegen. Vor dem braunen, zweiflügeligen Portal stand ein mächtiger Schweizer in einem langen, sandgelben Mantel, mit einer großen schwarzen Mütze aus Bärenpelz (trotz der Hitze) und einem großen Zepter in der Hand, dessen goldener Knauf blitzte, eine Art Sonnenapfel. Ich stieg die flachen Stufen langsam empor. Der Schweizer schien mich erst zu erblicken, als ich knapp vor ihm stand, klein, verschwitzt und sehr armselig. Aber er rührte sich auch dann nicht, als er mich erblickt hatte. Nur seine großen blauen Kugelaugen ruhten auf mir wie auf einem Wurm, einer Schnecke, einem Nichts, und als wäre ich nicht ein Mensch wie er, ein Mensch auf zwei Beinen.

So sah er zu mir eine Weile schweigsam herunter. Es war, als fragte er mich nur deshalb nicht nach meinem Begehr, weil er von vornherein wußte, daß ein so elendes Geschöpf die menschliche Sprache gar nicht verstehen konnte. Auf meinen Scheitel, durch meinen Mützendeckel, brannte die Sonne fürchterlich und tötete die paar letzten Gedanken, die noch in meinem Gehirn rumorten. Bis jetzt hatte ich eigentlich weder Angst noch Bedenken empfunden. Ich hatte einfach nicht mit dem Schweizer gerechnet, noch weniger mit einem, der gar nicht den Mund auftat, um nach meinem Begehr zu fragen. Immer noch stand ich klein und jämmerlich vor dem gelben Koloß und seinem gefährlichen Zepter. Immer noch ruhten seine Augen, die so rund waren wie seine Zepterkugel, auf meiner erbarmungswürdigen Gestalt. Mir fiel keine passende Frage ein, meine Zunge lag trocken, unendlich groß und lastend in meinem Munde. Mir fiel damals ein, daß er eigentlich vor mir salutieren oder gar die schwere Mütze abnehmen müßte, der Zorn kochte in meiner Brust über so viel Schamlosigkeit eines Lakaien, eines Lakaien, der in meines eigenen Vaters Diensten stand. Ich muß ihm befehlen – dachte ich schnell –, die Mütze abzunehmen. Aber statt ihm diesen Befehl zu erteilen, zog ich selber vor ihm meine Mütze und stand nun noch elender da, barhäuptig und wie ein Bettler. Als hätte er just darauf gewartet, fragte er mich nunmehr mit einer überraschend dünnen, fast weiblichen Stimme nach meinem Begehr. – »Ich möchte zum Fürsten!« sagte ich, sehr zag und leise. – ›Sind Sie angemeldet?‹ – ›Der Fürst erwartet mich.‹ – ›Bitte!‹ sagte er etwas lauter und schon mit einer männlichen Stimme.

Ich trat ein. Im Vestibül standen zwei sandgelb livrierte Lakaien, mit silbernen Litzen und Knöpfen, von den Stühlen auf, sie erhoben sich wie durch einen Zauber, als wären sie steinerne Löwen gewesen, wie man sie manchmal vor herrschaftlichen Treppen sehen kann. Ich war wieder Herr über mich geworden, ich zerdrückte meine schöne Mütze in der Linken, das gab mir ein wenig mehr Festigkeit. Ich sagte, ich wolle den Fürsten sehn und er erwarte mich, und es sei eine private Angelegenheit. Man führte mich in einen kleinen Salon, da hing das Porträt des alten Krapotkin, wie ich aus der metallenen Plakette ersah, meines Großvaters also. Ich fühlte mich schon ganz zu Hause, obwohl mein Großvater ein sehr böses, gelbes, hageres und fremdes Gesicht machte. Ich bin Blut von deinem Blute! dachte ich. Mein Großvater! Ich werde euch zeigen, wer ich bin. Ich bin nicht Golubtschik. Ich bin euer! Oder, vielmehr, ihr seid mein!

Indessen hörte ich ein zartes silbernes Glöckchen läuten, nach einigen Minuten öffnete sich die Tür, und ein Diener verbeugte sich vor mir. Ich stand auf. Ich trat ein. Ich stand im Zimmer des Fürsten.

Er mußte vor nicht langer Zeit aufgestanden sein. Er saß hinter seinem mächtigen schwarzen Schreibtisch, der wirklich aussah wie ein Sarg, in dem man Zaren begräbt, bekleidet mit einem weichen silbergrauen, flauschigen Morgenrock.

Sein Angesicht hatte ich nicht genau in der Erinnerung behalten; jetzt erst gewahrte ich es. Es war mir jetzt, als sähe ich den Fürsten zum erstenmal in meinem Leben, und diese Erkenntnis bereitete mir einen unheimlichen Schrecken. Es war also gewissermaßen nicht mehr mein Vater, nicht der Vater, auf den ich mich vorbereitet hatte, sondern in der Tat ein fremder Fürst, der Fürst Krapotkin eben. Er erschien mir grauer, magerer, hagerer und länger und größer, obwohl er saß, als ich, der ich vor ihm stand. Als er gar fragte: ›Was wünschen Sie von mir?‹, verlor ich vollends die Sprache. Er wiederholte noch einmal: ›Was wünschen Sie von mir?‹ – Jetzt hörte ich genau seine Stimme, sie war heiser, und ein wenig böse klang sie, es war, so schien es mir damals, eine Art Bellen, als verträte der Fürst selber gewissermaßen einen seiner Hofhunde. In der Tat erschien plötzlich, ohne daß irgendeine der zwei Türen, die ich im Zimmer des Fürsten bemerkte, aufgegangen wäre, ein riesiger Wolfshund; ich wußte nicht, woher er kam, vielleicht hatte er hinter dem mächtigen Sessel des Fürsten gewartet. Der Hund blieb unbeweglich, er stand zwischen mir und dem Tisch, sah mich an, und auch ich sah ihn unverwandt an und konnte nicht den Blick von ihm wenden, obwohl ich doch den Fürsten, und nur ihn, anschauen wollte. Plötzlich begann der Hund zu knurren, und der Fürst sagte: ›Ruhe, Slavka!‹ Er knurrte selbst beinahe wie der Hund. ›Also, was wünschen Sie, junger Mann?‹ fragte der Fürst zum drittenmal.

Ich stand immer noch hart an der Tür. ›Treten Sie näher!‹ sagte Krapotkin.

Ich ging einen winzigen, einen armseligen winzigen Schritt vor und holte Atem. Dann sagte ich:

›Ich bin gekommen, um mein Recht zu fordern!‹

›Welches Recht?‹ fragte der Fürst.

›Mein Recht als Ihr Sohn!‹ sagte ich, ganz leise.

Es war eine kurze Weile still. Dann sagte der Fürst: ›Setzen Sie sich, junger Mann!‹, und er wies auf einen breiten Stuhl vor dem Schreibtisch.

Ich setzte mich, das heißt: Ich verfiel eigentlich diesem verhexten Stuhl. Seine weichen Armlehnen zogen mich an und hielten mich fest, ähnlich jenen fleischfressenden Pflanzen, die sorglose Insekten anziehen und vollends vernichten. Ich blieb sitzen, ohnmächtig, und da ich saß, kam ich mir noch schmachvoller vor als die ganze Zeit, in der ich gestanden hatte. Ich wagte nicht, meine Arme auf die Lehnen zu legen. Sie sanken wie gelähmt hinunter, sie hingen zu beiden Seiten des Lehnstuhls hinab, und auf einmal fühlte ich, wie sie sacht und äußerst blöde zu baumeln begannen, und ich hatte doch nicht die Kraft, sie festzuhalten oder gar wieder an mich zu ziehen. Auf meine rechte Wange schien die Sonne stark und blendend, nur mit dem linken Auge konnte ich den Fürsten sehen. Ich ließ aber beide Augen sinken und beschloß abzuwarten.

Der Fürst bewegte ein silbernes Tischglöckchen, der Diener kam. ›Papier und Bleistift!‹ befahl Krapotkin. Ich rührte mich nicht, mein Herz begann, sehr stark zu pochen, und meine Arme schlenkerten heftiger. Der Hund streckte sich behaglich aus und fing an zu grunzen.

Man brachte das Schreibzeug, der Fürst hub an: ›Also, Ihr Name?‹ – ›Golubtschik!‹ sagte ich. ›Geburtsort?‹ – ›Woroniaki.‹ – ›Der Vater?‹ – ›Tot!‹ – ›Den Beruf meine ich‹, sagte Krapotkin, ›nicht den Gesundheitszustand!‹ – ›Er war Förster!‹ – ›Noch andere Kinder vorhanden?‹ – ›Nein!‹ – ›Wo besuchen Sie das Gymnasium?‹ – ›In W.‹ – ›Sind die Zeugnisse gut?‹ – ›Ja!‹ – ›Wollen Sie weiterlernen?‹ – ›Jawohl!‹ – ›Denken Sie an einen bestimmten Beruf?‹ – ›Nein!‹

›So!‹ sagte der Fürst und legte Papier und Bleistift weg. Er stand auf, nun sah ich unter seinem auseinanderklaffenden Morgenrock eine ziegelrote Hose aus türkischer Seide, wie mir damals schien, und kaukasische, perlenbestickte Sandalen an seinen Füßen. Er sah genauso aus, wie ich mir damals einen Sultan vorstellte. Er näherte sich mir, gab dem Hund einen Tritt, das Tier schob sich knurrend zur Seite. Dann stand er hart vor mir, und ich fühlte seinen starken, harten Blick auf meinem gesenkten Scheitel wie eine Messerspitze.

›Stehen Sie auf!‹ sagte er. Ich erhob mich. Er überragte mich um zwei Köpfe. ›Sehen Sie mich an!‹ befahl er. Ich reckte den Kopf empor. Er betrachtete mich eine lange Weile. ›Wer hat Ihnen gesagt, daß Sie mein Sohn sind?‹ – ›Niemand, ich weiß es schon lange, ich habe es erlauscht und erraten!‹ – ›So‹, machte Krapotkin, ›und wer hat Ihnen gesagt, daß Sie irgendein Recht von mir zu fordern haben?‹ – ›Niemand – ich selbst glaube es.‹ – ›Und welches Recht?‹ – ›Das Recht, so zu heißen.‹ ›Wie zu heißen?‹ ›So‹, wiederholte ich, denn ich wagte nicht, zu sagen: ›so wie Sie!‹ – ›Krapotkin wollen Sie heißen, he?‹ – ›Ja!‹ – ›Hören Sie, Golubtschik‹, sagte er, ›wenn Sie wirklich mein Sohn sind, so sind Sie mir schlecht geraten, das heißt, dumm, total dumm.‹ Ich fühlte Spott, aber auch zum erstenmal ein wenig Güte in seiner Stimme. ›Sie müßten sich selbst sagen, junger Golubtschik, daß Sie dumm sind. Gestehen Sie es?‹ – ›Nein!‹ – ›Nun, ich werde Ihnen erklären: In ganz Rußland habe ich wahrscheinlich viele Söhne, wer kann es wissen? Ich war lange Jahre jung, viel zu lange war ich jung. Sie selbst haben vielleicht schon Söhne. Auch ich war einmal Gymnasiast. Meinen ersten Sohn bekam die Frau des Schuldieners, meinen zweiten die Tochter desselben Schuldieners. Der erste dieser zwei Söhne ist ein ehelicher Kolohin, der zweite ein unehelicher Kolohin. An diese beiden Namen, wenn es überhaupt zwei Namen sind, erinnere ich mich, weil es eben die ersten waren. Meinen Förster Golubtschik aber hatte ich ganz vergessen, wie so viele andere, wie so viele andere. Es können doch nicht hundert Krapotkins in der Welt herumlaufen, wie? Und nach was für einem Recht und Gesetz? Und gäbe es selbst diesbezüglich ein Gesetz, wer garantiert mir, daß es wirklich meine Söhne sind? He? Und dennoch sorge ich für sie alle, soweit sie meiner Privatkanzlei bekannt sind. Da ich aber auf Ordnung halte, habe ich sämtliche diesbezüglichen Adressen meinen Sekretären angegeben. Und nun? Haben Sie was daran auszusetzen?‹

›Ja!‹ sagte ich.

›Was denn, junger Mann?‹

Jetzt konnte ich den Fürsten ganz gelassen ansehn. Ich war nun ruhig genug, und wenn unsereins ruhig wird, wird es auch frech und unverschämt, und also sagte ich: ›Mich gehen meine anderen Brüder gar nichts an. Mir handelt es sich nur darum, daß ich mein Recht finde.‹

›Welches Recht? – Sie haben gar kein Recht. Fahren Sie nach Haus. Grüßen Sie meinetwegen Ihre Mutter. Lernen Sie fleißig. Und werden Sie was Rechtes!‹

Ich machte keinerlei Anstalten wegzugehn. Ich begann, hartnäckig und ungezogen: ›Einmal waren Sie in Woroniaki und haben mir Männchen aus Holz geschnitzt und dann –‹, ich wollte von seiner Hand sprechen, die hart, hager und väterlich mein Gesicht gestreichelt hatte – da flog plötzlich die Tür auf, der Hund sprang empor, begann jubelnd zu bellen, das Angesicht des Fürsten verklärte sich, es leuchtete auf. Ein junger Mensch, kaum älter als ich, ebenfalls in Gymnasiasten-Uniform, sprang herein, der Fürst breitete die Arme aus, küßte den jungen Mann mehrere Male auf beide Wangen, dann endlich wurde es still, der Hund wedelte nur noch mit dem Schwanz. Da erst erblickte mich der junge Mann. ›Herr Golubtschik!‹ sagte der Fürst. ›Mein Sohn!‹

Der Sohn lachte mich an. Er hatte ganz blitzende Zähne, einen breiten Mund, einen gelblichen Teint und eine feine, harte Nase. Er sah dem Fürsten nicht ähnlich, weniger ähnlich als ich, dachte ich damals.

›Nun, leben Sie wohl!‹ sagte der Fürst zu mir. – ›Lernen Sie gut!‹ Er streckte mir die Hand hin. Dann aber zog er sie zurück, sagte: ›Warten Sie!‹ und ging zum Schreibtisch. Er zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine schwere goldene Tabaksdose. – ›Hier‹, sagte er, ›nehmen Sie das zum Andenken! Gehen Sie mit Gott!‹

Er vergaß, mir die Hand zu geben. Ich dankte nicht, nahm die Dose, verneigte mich und verließ das Haus.

Aber kaum war ich wieder draußen, vorbei an dem Schweizer, den ich in einer Art Verwirrung und Angst sogar grüßte und der mir nicht einmal mit einem Blick erwiderte, als ich bereits genau zu fühlen glaubte, daß mir ein großer Schimpf angetan worden war. Die Sonne stand schon hoch im Mittag. Ich fühlte Hunger – und schämte mich seltsamerweise dieses Gefühls: Es erschien mir niedrig und vulgär und meiner unwürdig. Man hatte mich gekränkt, und siehe da: Ich war nur hungrig. Ich war eben vielleicht doch nur Golubtschik, nichts mehr als ein Golubtschik.

Ich ging die hellbesonnte, glatte, sandige Straße zurück, auf der ich vor kaum zwei Stunden hierhergekommen war, ich ließ den Kopf buchstäblich hängen, ich hatte die Empfindung, er könnte sich nie mehr aufrecht halten, er war schwer und wie geschwollen; als hätte man ihn verprügelt, meinen armen Kopf. Die zwei Polizisten standen immer noch an der gleichen Stelle. Auch jetzt sahen sie mir lange nach. Eine Weile, nachdem ich sie passiert hatte, vernahm ich einen schrillen Pfiff. Er kam von links, vom Ufer des Meeres her, der Pfiff erschreckte, aber er erfrischte mich auch gewissermaßen, ich hob den Kopf und erblickte meinen Freund Lakatos. Munter stand er da, sein hellgelbes, sonniges Röckchen schimmerte fröhlich, sein Stöckchen wedelte mir entgegen, sein feines, ebenso sonniges Panamahütchen lag neben ihm, auf dem Kies. Er hob es eben auf und näherte sich mir. Munter und ohne sichtbare Beschwer nahm er die ziemlich steile Anhöhe, die an dieser Stelle die Straße vom Meer trennte, und in wenigen Minuten stand er schon neben mir und reichte mir seine glatte Hand.

Erst in diesem Augenblick merkte ich, daß ich immer noch in meiner Rechten die Tabaksdose des Fürsten hielt, und ich verbarg sie, so flink ich konnte, in meiner Tasche. So schnell ich aber auch diese Bewegung vollführt hatte, meinem Freund Lakatos war sie nicht entgangen, ich merkte es an seinem Blick und an seinem Lächeln. Er sagte zuerst gar nichts. Er tänzelte nur fröhlich neben mir einher. Dann, als die ersten Häuser der Stadt vor uns auftauchten, fragte er: ›Nun, es ist gelungen, hoffe ich?‹ – ›Nichts ist gelungen‹, erwiderte ich, und eine große Wut erfüllte mich gegen Lakatos. ›Wenn Sie mich begleitet hätten‹, sprach ich weiter, ›wie Sie mir gestern versprochen hatten, wäre alles ganz anders gekommen. Sie haben gelogen! Warum schrieben Sie mir, daß Sie verreisen müssen? Warum sind Sie überhaupt noch da?‹ – ›Wie?‹ rief Lakatos, ›habe ich etwa nichts anderes zu tun? Glauben Sie, ich kümmere mich um Ihre Affären? Ich bekam in der Nacht ein Telegramm, ich solle abreisen. Es stellte sich aber heraus, daß ich noch bleiben könne. Nun ging ich, als ein guter Freund, hierher, um zu hören, was aus Ihnen geworden ist.‹ – ›Nun‹, sagte ich, ›nichts ist aus mir geworden, oder noch weniger, als ich gewesen war.‹ – ›Er hat Sie nicht anerkannt? Er hat keine Angst vor Ihnen? Er hat Sie nicht eingeladen?‹ – ›Nein!‹ – ›Er hat Ihnen die Hand gegeben?‹ – ›Ja‹, log ich.

›Und was noch?‹ – Ich zog die Dose aus der Tasche. Ich hielt sie in der ausgestreckten, flachen Hand, blieb stehen und ließ sie Lakatos betrachten. Er rührte sie nicht an, er strich nur mit den Augen um sie sorgfältig herum. Er schnalzte dabei mit der Zunge, spitzte die Lippen, pfiff ein wenig, hüpfte einen Schritt vor, dann einen zurück und sagte schließlich: ›Großartiges Stück! Ein Vermögen wert! Darf ich es anfassen?‹ – Und schon tippte er mit seinen spitzen Fingern auf die Dose. Wir befanden uns bereits knapp vor den ersten Häusern der Stadt, ein paar Leute kamen uns entgegen, Lakatos flüsterte hastig: ›Stecken Sie's ein!‹, und ich verbarg die Dose.

›Nun, war er allein, der alte Fuchs?‹ fragte Lakatos. ›Nein!‹ sagte ich, ›sein Sohn kam ins Zimmer!‹ – ›Sein Sohn?‹ sagte Lakatos. ›Er hat keinen. Ich will Ihnen etwas sagen, ich habe vergessen, Sie gestern darauf aufmerksam zu machen! Es ist nicht sein Sohn. Es ist der Sohn des Grafen P., eines Franzosen. Seit der Geburt dieses Jungen lebt die Fürstin in Frankreich; verbannt sozusagen. Den Sohn mußte sie abliefern. So ist es. Ein Erbe muß einmal sein. Wer sollte dieses Vermögen sonst zusammenhalten? Sie etwa? Oder ich?‹

›Wissen Sie das bestimmt?‹ fragte ich, und mein Herz begann, heftig zu schlagen, aus Freude, aus Schadenfreude, aus Rachsucht, und plötzlich fühlte ich einen brennenden Haß gegen den Jungen, eine vollkommene Gleichgültigkeit gegen den alten Fürsten. Alle meine Gefühle, meine Sehnsucht, meine Wünsche, hatten auf einmal ein Ziel, ich rüstete mich plötzlich aufs neue, ich vergaß, daß ich soeben eine Schmach erlitten hatte, oder vielmehr: Ich glaubte zu wissen, wer allein schuld war an meiner Schmach. Wenn – so dachte ich in jener Stunde – dieser Junge nicht ins Zimmer getreten wäre, ich hätte den Fürsten für mich sicherlich gewinnen können. Dieser Junge aber muß einen Wink erhalten haben, er muß gewußt haben, wer ich bin, deshalb kam er so plötzlich hereingestürmt, der Fürst ist alt und töricht geworden, dieser sein falscher Sohn umgarnt ihn tückisch, dieser Franzose, Sohn einer würdelosen Mutter.

Es schien mir damals, während ich solches überlegte, als würde mir immer wohler und leichter, das Feuer des Hasses erwärmte mein Herz. Ich glaubte endlich, den Sinn meines Lebens und sein Ziel erfaßt zu haben. Der tragische Sinn meines Lebens bestand darin, daß ich das unglückliche Opfer eines tückischen Jungen war. Das Ziel meines Lebens bestand darin, daß ich von dieser Stunde an die Pflicht hatte, den tückischen Jungen zu vernichten. Eine große, warme Dankbarkeit gegen Lakatos erfaßte mich und zwang mich, ihm stumm und fest die Hand zu drücken. Er ließ meine Hand nicht mehr los. So gingen wir, Hand in Hand, fast zwei Kindern ähnlich, dem nächsten Restaurant entgegen. Wir aßen ausgiebig, mit kräftigem Appetit. Wir sprachen nicht viel. Lakatos zog einige Zeitungen aus der Rocktasche, es war wie ein Zauber, ich hatte diese Blätter bis jetzt gar nicht bemerkt. Als wir mit dem Essen fertig waren, rief er nach der Rechnung, schob sie mir zu, und immer noch in seine Zeitung vertieft, sagte er, ganz nebenbei: ›Zahlen Sie bitte vorläufig! Wir verrechnen dann!‹

Ich griff in die Tasche, langte nach meiner Börse, öffnete sie und sah, daß sie mit einigen Kupfermünzen gefüllt war, statt des Silbergelds, das ich mitgenommen hatte. Ich suchte noch im mittleren Fach, erinnerte mich genau an die zwei Zehn-Rubel-Stücke, die darin gelegen hatten, kramte noch eine Weile, Angst befiel mich, der Schweiß trat mir auf die Stirn. Gestern nacht hatte man mich bestohlen, es war sicher. Lakatos begann indessen, die Zeitung zusammenzufalten. Nach einer Weile fragte er: ›Gehen wir?‹, sah mich an und schien zu erschrecken. – ›Was ist los?‹ sagte er. ›Ich habe kein Geld mehr!‹ flüsterte ich.

Er nahm mir die Börse aus der Hand, betrachtete sie und sagte endlich: ›Ja, die Weiber!‹

Dann zog er Geld aus der Brieftasche, zahlte, nahm mich beim Arm und begann: ›Das macht nichts, das macht bestimmt nichts, junger Mann! In Not geraten wir keineswegs, wir haben da einen Schatz in der Tasche. Dreihundert Rubel unter Brüdern. Zu diesen Brüdern wollen wir eben jetzt wandern! Dann aber, junger Mann, genug für diesmal mit den Abenteuern! Fahren Sie sofort nach Haus!‹

Arm in Arm mit Lakatos ging ich nun zu den Brüdern, von denen er gesprochen hatte.

Wir gingen in das Viertel nahe am Hafen, wo in winzigen und halb verfallenen Häusern die armen Juden wohnen. Es sind, glaube ich, die ärmsten und, nebenbei gesagt, auch die kräftigsten Juden der Welt. Tagsüber arbeiten sie im Hafen, sie arbeiten wie Kräne, sie schleppen Lasten auf die Schiffe und löschen die Ladungen, und die Schwächeren unter ihnen handeln mit Früchten, Kürbiskernen, Taschenuhren, Kleidern, reparieren Stiefel, flicken alte Hosen, nun, was eben alles arme Juden machen müssen. Ihren Sabbat aber feiern sie, vom Anbruch der Freitagnacht an, – und Lakatos sagte: ›Gehen wir etwas schneller, denn heute ist Freitag, und die Juden hören bald auf, Geschäfte zu machen.‹

Während ich so an Lakatos' Seite dahinging, erfaßte mich eine große Angst, und es war mir, als gehörte mir die Tabaksdose gar nicht, die ich nun versetzen ging: als hätte sie mir Krapotkin gar nicht geschenkt, sondern als hätte ich sie gestohlen. Aber ich unterdrückte meine Angst und machte sogar ein heiteres Gesicht und tat so, als hätte ich bereits vergessen, daß man mir das Geld gestohlen hatte, und ich lachte über jede Anekdote, die Lakatos erzählte, obwohl ich diese Anekdoten gar nicht hörte. Ich wartete nur immer darauf, daß er kichere, dann merkte ich, daß seine Geschichte zu Ende war, und hierauf lachte ich laut und verlegen. Ich ahnte nur von ungefähr, daß die Geschichten bald von Frauen, bald von Juden, bald von Ukrainern handelten.

Wir hielten endlich vor der schiefen Hütte eines Uhrmachers. Er hatte kein Schild, man sah nur an den Rädern, Rädchen, Zeigern und Zifferblättern, die im Fenster lagen, daß der Bewohner der Hütte ein Uhrmacher war. Es war ein winziger, dürrer Jude mit einem schütteren, strohgelben Ziegenbärtchen. Als er sich erhob, um uns entgegenzutreten, bemerkte ich, daß er hinkte, es war ebenfalls ein tänzelndes Hinken, fast wie das meines Freundes Lakatos, nur nicht ein solch feines und vornehmes. Der Jude glich einem traurigen, etwas erschöpften Böcklein. In seinen kleinen schwarzen Äuglein glomm ein rötliches Feuerchen. Er hielt die Tabaksdose in seiner mageren Hand, wog sie ein wenig und sagte: ›Aha, Krapotkin!‹ und prüfte mich dabei mit einem flinken Blick, und es war, als wöge er mich mit seinen kleinen Äuglein, wie er eben die Dose auf seinem mageren Händchen gewogen hatte. Auf einmal schien es mir, daß der Uhrmacher und Lakatos Brüder seien, obwohl beide Sie zueinander sagten.

›Also, wieviel?‹ fragte Lakatos.

›Wie gewöhnlich!‹ sagte der Jude.

›Dreihundert?‹

›Zweihundert!‹

›Zweihundertachtzig?‹

›Zweihundert!‹

›Gehn wir!‹ sagte Lakatos und nahm dem Uhrmacher die Dose aus der ausgestreckten Hand.

Wir gingen ein paar Häuser weiter, da war wieder ein Uhrmacherfenster wie vorher, und siehe da, als wir eintraten, erhob sich der gleiche magere Jude mit gelblichem Bärtchen, blieb aber hinter seinem Pult, so daß ich nicht sehen konnte, ob auch er hinke. Als ihm Lakatos meine Dose zeigte, sagte auch dieser zweite Uhrmacher nur das Wort: ›Krapotkin!‹ – ›Wieviel?‹ fragte Lakatos. – ›Zweihundertfünfzig!‹ sagte der Uhrmacher. ›Bitte!‹ sagte Lakatos. Und der Jude zahlte uns das Geld aus, in goldenen Zehn- und Fünf-Rubel-Stücken.

Wir verließen das Viertel. ›So, mein Junge!‹ begann Lakatos. ›Jetzt nehmen wir einen Wagen und fahren zur Bahn. Sei klug, laß dich nicht mehr auf dumme Sachen ein, und behalte dein Geld. Schreib mir gelegentlich, nach Budapest, hier ist meine Adresse.‹ Und er gab mir seine Visitkarte, auf der stand in lateinischen sowie auch in zyrillischen Buchstaben:

JENÖ LAKATOS
Hopfenkommissionär
Firma Heidegger und Cohnstamm, SAAZ

Adresse: Budapest, Rakocziutca, 31.

Es kränkte mich tief, daß er zu mir du sagte, so plötzlich, und deshalb sagte ich: ›Ich bin Ihnen viel Dank schuldig, aber auch Geld.‹

›Dank nicht!‹ erwiderte er.

›Also, wieviel?‹ fragte ich.

›Zehn Rubel!‹ sagte er, und ich gab ihm ein goldenes Zehn-Rubel-Stück.

Hierauf winkte er einem Wagen. Wir stiegen ein. Wir fuhren zum Bahnhof.

Wir hatten nicht mehr viel Zeit, der Zug ging in zehn Minuten, man hatte schon zum erstenmal geläutet.

Ich wollte gerade auf das Trittbrett steigen, als plötzlich zwei auffallend große Männer auftauchten, je einer rechts und links von meinem Freunde Lakatos. Sie winkten mir, ich stieg aus. Sie nahmen uns in die Mitte und führten uns, gewaltig und finster, wieder hinaus vor den Bahnhof. Wir alle vier sprachen kein Wort. Wir gingen um das ganze große Bahnhofsgebäude herum und dann rückwärts, wo man das Tuten der rangierenden Lokomotiven vernahm, zu einer kleinen Tür hinein. Es war das Polizeibüro. Zwei Polizisten standen an der Tür. Ein Beamter saß am Tisch und beschäftigte sich damit, die zahllosen Fliegen zu fangen, die mit einem lauten, unaufhörlichen, durchdringenden Gesumm im Zimmer umherflogen und sich auf die weißen Blätter setzten, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Sooft er eine Fliege gefangen hatte, nahm er sie zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken und zupfte ihr einen Flügel aus. Dann tauchte er sie in das große, weite Tintenfaß aus weißem, tintenbeflecktem Porzellan. So ließ er uns etwa eine Viertelstunde herumstehn, Lakatos, mich und die beiden Männer, die uns hierhergebracht hatten. Es war heiß und still. Man hörte nur die Lokomotiven, den Gesang der Fliegen und den schweren, gleichsam schnarchenden Atem der Polizisten.

Schließlich winkte mich der Beamte heran. Er tauchte die Feder in das Tintenfaß, in dem so viele Fliegenleichen herumschwammen, fragte mich nach Namen und Herkunft und Ziel und Zweck meines Aufenthalts in Odessa, und nachdem ich alles gesagt hatte, lehnte er sich zurück, strich seinen schönen, semmelblonden Bart und beugte sich plötzlich wieder vor über den Tisch und fragte: ›Wieviel Tabaksdosen haben Sie eigentlich gestohlen?‹

Ich verstand seine Frage nicht und blieb stumm.

Er zog die Schublade auf, winkte mir, an seine Seite zu treten, ich ging um den Tisch herum an die offene Lade und sah, daß sie ausgefüllt war mit lauter Tabaksdosen von jener Art, wie ich sie vom Fürsten bekommen hatte. Ich blieb erschrocken vor dieser Lade stehn, ich begriff gar nichts mehr. Es war mir, als sei ich verzaubert worden, ich zog das Billet aus meiner Tasche, das ich vor einer halben Stunde gelöst hatte, und zeigte es dem Beamten, es war lächerlich, so etwas zu tun, ich fühlte es sogleich, aber ich war eben ratlos, verworren und glaubte wie jeder Verworrene, unbedingt etwas Sinnloses tun zu müssen. ›Wieviel von diesen Dosen haben Sie genommen?‹ fragte der Beamte noch einmal.

›Eine‹, sagte ich. ›Die hat mir der Fürst gegeben! Dieser Herr weiß es‹ – ich zeigte auf Lakatos. Er nickte. Aber in diesem Augenblick sagte der Beamte: ›Hinaus!‹ – und Lakatos wurde hinausgeführt.

Ich blieb nun allein mit dem Beamten und einem Polizisten an der Tür. Der aber schien kein lebendiger Mensch, eher ein Pfosten oder etwas ähnliches.

Der Beamte tauchte die Feder wieder ins Tintenfaß, angelte eine tote, tropfende Fliege heraus, und es war, als blutete die Fliege Tinte, betrachtete sie und sagte leise:

›Sie sind der Sohn des Fürsten?‹

›Ja!‹

›Sie wollten ihn umbringen?‹

›Umbringen?‹ rief ich.

›Ja?‹ fragte der Beamte, ganz leise und lächelnd.

›Nein! Nein!‹ schrie ich, ›ich liebe ihn!‹

›Sie können gehn!‹ sagte der Beamte zu mir. Ich näherte mich der Tür. Da ergriff mich der Polizist am Arm. Er führte mich hinaus: Da stand ein Polizeiwagen mit vergittertem Fenster. Die Wagentür ging auf. Drinnen saß ein Polizist, der zog mich in den Wagen. Wir fuhren ins Gefängnis.«

Hier machte Golubtschik eine lange Pause. Sein Schnurrbart, dessen unterer Rand feucht war vom Schnaps, den der Erzähler immer wieder in großen Zügen trank, zitterte ein wenig. Die Gesichter aller Zuhörer waren bleich und unbewegt und, wie mir schien, gleichsam reicher geworden an Runzeln und Falten, als hätte jeder der Anwesenden innerhalb der Stunde, die seit dem Anfang der Erzählung vergangen sein mochte, außer seiner eigenen Jugend auch noch die Semjon Golubtschiks erlebt. Auf uns allen lastete nunmehr nicht mehr nur unser eigenes Leben, sondern auch jener Teil des Golubtschikschen Lebens, den wir soeben kennengelernt hatten. Und nicht ohne Schrecken erwartete ich den aller Voraussicht nach furchtbaren Rest dieses Lebens, das ich gewissermaßen eher zu überstehen als anzuhören haben sollte. Durch die geschlossene Tür hörte man jetzt das dumpfe Poltern der ersten Gemüsewagen, die zum Markt fuhren, und manchmal den wehmütigen, langgezogenen Pfiff ferner Lokomotiven.

»Es war nur ein gewöhnlicher Polizeiarrest«, begann Golubtschik wieder, »nichts Fürchterliches. Es war immerhin ein ziemlich bequemes Zimmer, mit breiten Gittern vor dem hohen Fenster, die nichts Drohendes hatten, etwa so wenig Drohendes wie Gitter vor den Fenstern mancher Wohnungen. Es gab auch einen Tisch, einen Stuhl und zwei Feldbetten. Aber fürchterlich war die Tatsache, daß, als ich das Arrestzimmer betrat, mein Freund Lakatos sich von einem der Betten erhob, um mich zu begrüßen. Ja, er gab mir die Hand genauso fröhlich und unbefangen, als hätten wir uns zum Beispiel im Restaurant getroffen. Ich aber übersah seine ausgestreckte Hand. Er seufzte bekümmert und gekränkt und legte sich wieder hin. Ich setzte mich auf den Stuhl. Ich wollte weinen, den Kopf auf den Tisch legen und weinen, aber ich schämte mich vor Lakatos, und noch stärker als meine Scham war meine Furcht, er könnte mich trösten wollen. So saß ich denn, mit einer Art versteinerten Weinens in der Brust, stumm auf dem Sessel und zählte die Gitter am Fenster.

›Seien Sie nicht verzweifelt, junger Herr!‹ sagte Lakatos nach einer Weile. Er stand auf und trat an den Tisch. ›Ich habe alles erfahren!‹ – Gegen meinen Willen hob ich den Kopf, bereute es aber sofort. ›Ich habe meine Beziehungen, auch hier schon. In zwei Stunden spätestens sind Sie frei. Und wissen Sie, wem wir dieses Pech zu verdanken haben? Raten Sie bitte!‹

›Sagen Sie's doch!‹ schrie ich. ›Quälen Sie mich doch nicht!‹

›Nun, Ihrem Herrn Bruder, oder vielmehr dem Sohn des Grafen P., Sie verstehen?‹

Oh, ich verstand, und ich verstand doch nicht. Aber der Haß, meine Freunde, der Haß gegen den jungen Mann, den Bastard, den falschen Sohn meines leiblichen, meines fürstlichen Vaters, übernahm gleichsam die Rolle der Vernunft, wie es oft geschieht, und weil ich haßte, glaubte ich, auch zu erkennen. In einem Nu, so schien es mir, durchschaute ich ein fürchterliches Komplott, das man gegen mich gesponnen hatte. Und zum erstenmal erwachte in mir die Rachsucht, die Zwillingsschwester des Hasses, und schneller noch, als der Donner dem Blitz zu folgen pflegt, faßte ich den Entschluß, mich einmal bestimmt an dem Jungen zu rächen. Wie – das wußte ich nicht, aber ich fühlte schon, daß Lakatos der Mann war, mir den Weg zu zeigen, und also wurde er mir im gleichen Augenblick sogar angenehm.

Selbstverständlich wußte er, was alles in mir vorging. Er lächelte, ich erkannte an seinem Lächeln, daß er alles wußte. Er beugte sich über den Tisch so nahe zu mir herüber, daß ich nichts mehr sah als seine blitzenden Zähne und dahinter den rötlichen Schimmer seines Gaumens und von Zeit zu Zeit seine rosa Zungenspitze, die mich an die Zunge unserer Katze daheim erinnerte. Er wußte in der Tat alles. Die Sache verhielt sich so: Dosen zu schenken, alle von der gleichen, äußerst kostspieligen Art, war eine der vielen Marotten des alten Fürsten. Er ließ sie eigens für sich herstellen, bei einem Juwelier in Venedig, nach dem alten Muster einer Dose, die er, der Fürst, selbst einmal bei einer Versteigerung erstanden hatte. Diese Tabaksdosen, aus schwerem Gold, mit elfenbeinerner Einlage und mit Smaragdsplittern umkränzt, liebte der Fürst seinen Gästen zu geben, und er hatte auch immer unzählige dieser Dosen bereit. Nun, es war einfach. Der junge Mann, den er für seinen Sohn hielt, brauchte Geld, stahl die Dosen, verkaufte sie von Zeit zu Zeit, und im Laufe der Jahre hatte die Polizei bei jeder Untersuchung, die sie bei den Händlern vorzunehmen pflegte, eine mächtige Anzahl Dosen gesammelt. Alle Welt wußte, woher diese Schätze kamen. Auch der Verwalter des Fürsten, auch seine Lakaien wußten es. Aber wer hätte gewagt, es ihm zu sagen? – Wie leicht war es dagegen, einem so bedeutungslosen Jungen wie mir einen Diebstahl, ja einen Einbruch sogar zuzumuten; denn was war unsereins im alten Rußland, meine Freunde? Ein Insekt, eine jener Fliegen, die der Beamte in seinem Tintenfaß ersäuft, ein Nichts, ein Staubkörnchen unter der Stiefelsohle eines großen Herrn. Und dennoch, meine Freunde, laßt mich eine Weile abschweifen, verzeiht es mir, daß ich euch aufhalte: Ich wollte heute, wir wären noch die alten Staubkörnchen! Wir waren nicht von Gesetzen, sondern von Launen abhängig. Aber diese Launen waren fast eher berechenbar als die Gesetze. Und auch noch Gesetze sind von Launen abhängig. Man kann sie nämlich auslegen. Ja, meine Freunde, die Gesetze schützen vor der Willkür nicht, denn die Gesetze werden nach Willkür ausgelegt. Die Launen eines kleinen Richters kenne ich nicht. Sie sind schlimmer als gewöhnliche Launen. Sie sind einfach miserable Gehässigkeiten. Die Launen eines großen Herrn aber kenne ich. Sie sind sogar zuverlässiger als Gesetze. Ein großer, ein echter Herr, der strafen kann und Gnade üben, ist durch ein einziges Wort böse zu machen, aber manchmal auch durch ein einziges Wort wieder gut. Und wie viele große Herren hat es schon gegeben, die gar niemals böse geworden waren. Ihre Launen waren immer gütige Launen. Die Gesetze aber, meine Freunde, sind fast immer böse. Es gibt beinahe kein Gesetz, von dem man sagen könnte, es sei etwa gütig, es gibt auf Erden nicht einmal eine absolute Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, meine Freunde, gibt es nur in der Hölle! ...

Um also wieder auf meine Geschichte zurückzukommen: Damals wollte ich noch die Hölle auf Erden, das heißt, ich dürstete nach Gerechtigkeit. Und wer die absolute Gerechtigkeit will, der ist der Rachsucht verfallen. So war ich damals. Ich war Lakatos dankbar, daß er mir die Augen geöffnet hatte. Und ich zwang mich, Vertrauen zu ihm zu haben, und fragte ihn: ›Was soll ich tun?‹

›Sagen Sie mir zuerst, unter uns,‹ begann er, ›haben Sie wirklich nichts anderes vorgehabt, als dem Fürsten zu sagen, daß Sie sein Sohn sind? – Mir können Sie es ja sagen, niemand hört uns. Wir sind jetzt Leidensgefährten. Vertrauen gegen Vertrauen. Wer hat Sie zum Fürsten geschickt? Gibt es in Ihrer Klasse einen Vertrauensmann der – nun, Sie wissen schon: der sogenannten Revolutionäre?‹

›Ich verstehe Sie nicht‹, sagte ich. ›Ich bin kein Revolutionär. Ich will einfach mein Recht! Mein Recht!‹ schrie ich.

Erst später sollte ich begreifen, was für eine Rolle dieser Lakatos spielte. Später erst, als ich selbst fast ein Lakatos geworden war. Damals aber begriff ich es nicht. Er aber verstand wohl, daß ich ehrlich gesprochen hatte. Er sagte nur: ›Nun, dann ist alles gut!‹ Und er mochte sich dabei gedacht haben: Jetzt habe ich mich wieder geirrt. Eine schöne Summe ist mir da entgangen.

Eine Weile später ging die Tür auf, der Beamte kam, der die Fliegen ertränkt hatte, ihm folgte ein Herr in Zivil. Ich erhob mich. Der Beamte sagte: ›Ich lasse Sie allein‹ und ging. Nach ihm ging Lakatos, ohne mich anzusehen. Der Herr sagte mir, ich solle mich setzen, er hätte mir einen Vorschlag zu machen. Er wisse alles – so begann er. Der Fürst habe eine hohe Stellung und eine große Bedeutung. Von ihm hänge das Wohl Rußlands ab, des Zaren, der Welt, könnte man sagen. Deshalb dürfte er niemals gestört werden. Ich sei mit lächerlichen Ansprüchen gekommen. Die gütige Nachsicht des Fürsten allein hätte mich vor schwerer Strafe gerettet. Ich sei jung. Also könne mir verziehen werden. Allein der Fürst, der bis jetzt aus Laune den Sohn eines seiner Förster erhalten habe und selbst habe studieren lassen, wünsche nicht mehr, an Unwürdige oder Leichtfertige oder Unüberlegte – oder wie immer ich mich bezeichnen möge – Gnaden zu verschwenden. Infolgedessen sei beschlossen worden, daß ich irgendeinen meiner bescheidenen Abkunft entsprechenden Posten einnehmen solle. Ich könnte entweder Förster werden wie mein Vater, Gutsverwalter vielleicht einmal, mit der Zeit, auf einem der Güter des Fürsten, oder auch in den Staatsdienst treten, zur Post, zur Eisenbahn gehn, als Schreiber irgendwohin, zu einem Gouvernement sogar. Lauter gutbezahlte und für mich passende Posten. Ich antwortete nicht.

›Hier, unterschreiben Sie!‹ sagte der Herr und entfaltete vor mir ein Papier, auf dem stand, daß ich keinerlei Ansprüche an den Fürsten zu stellen hätte und mich verpflichtete, nie mehr eine Begegnung mit ihm zu versuchen.

Nun, meine Freunde, ich kann meinen Zustand nicht genau beschreiben. Als ich das Papier las, war ich beschämt, gedemütigt, aber auch hochmütig zugleich, furchtsam und rachsüchtig, durstig nach der Freiheit, aber zugleich auch bereit, Qualen zu erleiden, ein Kreuz auf mich zu nehmen, vom Wunsch nach Macht erfüllt und gleichzeitig von dem süßen, verführerischen Gefühl, daß auch die Ohnmacht eine Seligkeit sei sondergleichen. Ich wollte aber Macht haben, um eines Tages allen Schimpf rächen zu können, den man mir jetzt antat, und zugleich wollte ich die Kraft haben, diesen Schimpf ertragen zu können. Ich wollte, kurz gesagt, nicht nur ein Rächer, sondern auch gleichzeitig ein Märtyrer sein. – Aber noch war ich keins von beiden, das fühlte ich wohl, und der Herr wußte es sicherlich ebenfalls. Er sagte mir, grob diesmal: ›Also schnell, entscheiden Sie sich!‹ Und ich unterschrieb. ›So‹, sagte er und steckte das Papier ein. ›Was wünschen Sie nun?‹ Wollte Gott, ich hätte damals gesagt, was mir auf der Zunge lag, nämlich das einfache Wort: Nach Hause! Zur Mutter! Aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, ein Polizeioffizier trat ein, ein eleganter Stutzer, mit weißen Handschuhen, mit blitzendem Säbel und blankgeputzter, lederner Pistolentasche und einem blanken, blaublitzenden Blick aus Eis und Hochmut. Und nur seinetwegen und ohne den Herrn anzusehn, sagte ich plötzlich: ›Ich will zur Polizei!‹

Dieses unbedachte Wort, meine lieben Freunde, hat mein Schicksal entschieden. Erst viel später habe ich gelernt, daß Worte mächtiger sind als Handlungen – und ich lache oft, wenn ich die beliebte Phrase höre: ›Keine Worte, sondern Taten!‹ Wie schwach sind die Taten! Ein Wort besteht, eine Tat vergeht! Eine Tat vollbringt auch ein Hund, ein Wort aber spricht nur ein Mensch. Die Tat, die Handlung ist nur ein Phantom, verglichen mit der Wirklichkeit und gar mit der übersinnlichen Wirklichkeit des Wortes. Die Handlung verhält sich zum Wort ungefähr wie der zweidimensionale Schatten im Kino zum dreidimensionalen lebendigen Menschen oder, wenn ihr wollt, wie die Photographie zum Original. Deshalb auch bin ich ein Mörder geworden. Aber das kommt später.

Vorläufig geschah folgendes: Ich unterschrieb noch ein Papier im Zimmer eines Beamten, den ich bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Was darin stand, weiß ich nicht mehr genau. Der Beamte, ein alter Herr mit einem so würdigen, so langen, so silbernen Bart, daß sein Angesicht darüber winzig erschien und unbedeutend, als wüchse es aus diesem Bart empor, und nicht, als wäre aus ihm der Bart gesprossen, gab mir eine weiche, gutgepolsterte, gleichsam mit fetter Tücke gepolsterte Hand und sagte: ›Ich hoffe, Sie werden sich bei uns einleben und heimisch fühlen! Sie fahren nach Nischnij Nowgorod. Hier haben Sie die Adresse des Herrn, bei dem Sie sich melden. Leben Sie wohl!‹

Und als ich schon an der Tür war, rief er: ›Halt, junger Mann!‹ Ich kehrte zurück an den Schreibtisch. ›Merken Sie sich das, junger Mann!‹ sagte er, beinahe schon grollend. ›Schweigen, Horchen, Schweigen, Horchen!‹ Er legte den Finger an seine bartüberwucherten Lippen und winkte mit der Hand. –

Ich war somit bei der Polizei, bei der Ochrana, meine Freunde! Ich begann, Rachepläne zu schmieden. Ich hatte Macht. Ich hatte Haß. Ich war ein guter Agent. Nach Lakatos wagte ich nicht mehr zu fragen. Er wird noch oft in meiner Geschichte vorkommen. Erspart mir inzwischen die Einzelheiten, die ich jetzt zu erzählen hätte. Es gibt noch Widerliches genug in meinem weiteren Leben.

 


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