Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Nachdem ich mit eigenen Augen gesehen hatte, daß man Blumensträuße, die vorher nicht vorhanden gewesen waren, plötzlich hervorzaubern könne, war sozusagen auch meine berufliche Furcht rege geworden, neben meiner privaten. Wie untrennbare, zusammengewachsene Zwillinge hockten sie in meiner Brust, die beiden Ängste. Gelang es einem Menschen, vor meinen Augen einen Strauß zu erschaffen, aus dem Nichts, so konnte es Lutetia oder auch Lakatos ebenso gelingen, eine jener Bomben mit nackten Händen herzustellen, vor denen meine Vorgesetzten und ihre Auftraggeber sich so fürchteten. Begreifen Sie, ich hatte nicht etwa Sorge um das Leben des Zaren oder der Großfürsten oder des Gouverneurs. Was gehen mich je die Großen dieser Welt an, und was kümmerten sie mich besonders in jenen Tagen! Nein, ich zitterte einfach vor der Katastrophe, vor der nackten Katastrophe allein, obwohl ich noch nicht wußte, welche Gestalt und welches Gesicht sie tragen würde. Unausweichlich erschien sie mir. Unausweichlich schien mir Lakatos ihr Urheber zu sein, ja, ihr Urheber sein zu müssen. Ich war nie sehr gläubig von Natur gewesen, und ich zerbrach mir nicht den Kopf über Gott und den Himmel. Aber jetzt begann ich, eine Ahnung von der Hölle zu bekommen – und ähnlich, wie man erst bei einem Brand nach der Feuerwehr zu rufen beginnt, fing ich in jenen Tagen an, sinnlose, unzusammenhängende, aber sehr innige und heiße Gebete zu dem unbekannten Herrn der Welt emporzuschicken. Sie nutzten mir wenig, offenbar, weil ich noch zu wenig Prüfungen erfahren hatte. Ganz andere harrten noch meiner.

Ich begann, meine Aufmerksamkeit zu verdoppeln. Zehn Tage sollte der Schneider aus Paris bei uns bleiben, aber nach drei Tagen schon hieß es, seine Toiletten, oder besser: ›Schöpfungen‹, hätten den Damen unserer Gesellschaft dermaßen gefallen, daß man seinen Aufenthalt noch um weitere zehn zu verlängern gedenke. Welch eine frohe und zugleich welch eine verwirrende Kunde, die ich da vernahm! Ich bekam den Auftrag, das seinerzeit bekannte Haus der Frau Lukatschewski zu überwachen, bei der sich damals die Offiziere der Garnison nach Mitternacht zu versammeln pflegten. Ich kannte es wohl, von Berufs wegen, aber nur dem Äußeren nach. Sein Inneres hatte ich noch nie gesehen. Ich bekam sogar einen sogenannten Spesenbeitrag von dreihundert Rubeln und einen sogenannten Dienstfrack, wie ihn je drei unserer Leute von der mondänen Abteilung abwechselnd zu benützen pflegten. Der Frack paßte ganz gut. Einen griechischen Orden, rotumrahmtes Gold an rotem Seidenband, hängte ich um den Hals. Zwei Lakaien der Dame Lukatschewski standen in unsern Diensten. Ich postierte mich um zwölf Uhr vor dem Hause. Nachdem ich so lange gewartet hatte, bis ich annehmen konnte, daß es endlich die Zeit sei, in der man nicht mehr auffiel, ging ich hinein, mit Zylinder, Stock, Theaterpelerine, Orden. Den und jenen der Herren in Uniform und Zivil, über die ich genau unterrichtet war, begrüßte ich wie ein alter Bekannter. Sie lächelten mich an, mit dem fatalen und leeren Lächeln, mit dem man Freund und Feind und Gleichgültigen in der großen Welt begegnet. Eine Weile später gab mir einer unserer Lakaien einen Wink, ihm zu folgen. Ich geriet in eines jener diskreten Zimmer im ersten Stock, von denen ihr nicht wißt, welchen Zwecken sie dienen; nicht etwa der Liebe oder was man so nennt, sondern den Zeugen und den Lauschern, den Zuträgern und den Spitzeln. Man konnte durch eine ziemlich breite Ritze einer dünnen, tapezierten Bretterwand alles sehen und hören.

Und – ich sah, meine Freunde! – ich sah Lutetia, die Geliebte meines Herzens, in der Gesellschaft des jungen Krapotkin. Ach, ich erkannte ihn sofort, es war kein Zweifel! Wie hätte ich ihn auch nicht erkennen sollen! Ich war damals derart verworfen, daß ich schneller imstande war, etwas Gehaßtes wiederzuerkennen als das Geliebte und mir Angenehme. Ja, ich übte mich sozusagen in dieser Beschaffenheit und versuchte, mich in ihr zu vervollkommnen. Ich sah also Lutetia, die Geliebte meines Herzens, in den Armen des Mannes, von dem ich mir früher einmal eingebildet hatte, er sei mein Feind; in den Armen des Mannes, den ich im Verlauf meiner letzten, schmählichen Jahre fast schon vergessen hatte; in den Armen meines verhaßten, falschen Bruders, des Fürsten Krapotkin.

 

Ihr versteht, meine Freunde, was alles damals in mir vorging: Auf einmal – ich hatte lange nicht mehr daran gedacht – erinnerte ich mich an meinen schimpflichen Namen ›Golubtschik‹; auf einmal erinnerte ich mich daran, daß ich lediglich der Familie Krapotkin mein elendes Gewerbe zu verdanken hatte; auf einmal glaubte ich, daß gewiß seinerzeit der alte Fürst in Odessa mich ohne Schwierigkeiten anerkannt hätte, wenn nur nicht der Junge mit solch beleidigender Heiterkeit in sein Zimmer gestürzt wäre; auf einmal war die alte, törichte Eitelkeit meiner Jugend wieder wach und die Bitterkeit! Ja, auch die Bitterkeit. Er, er war ja gar nicht der Sohn Krapotkins! Ich aber, ich war es gewiß. Ihm war der Name zugefallen und alles, was dieser Name mit sich brachte: der Ruhm, das Ansehn und das Geld; der Ruhm, das Geld, die große Welt und die erste Frau, die ich liebte.

Ihr begreift, meine Freunde, was das heißt: die erste Frau, die man liebt. Sie vermag alles. Ich war ein Elender, ich hätte vielleicht damals ein guter Mensch werden können. Ich wurde kein guter Mensch, meine Freunde! In jener Stunde, in der ich Krapotkin und Lutetia erblickte, loderte das Böse, dem ich offenbar von Geburt an schon zubestimmt war und das bis jetzt nur sachte in mir geschwelt hatte, als ein offener, großer Brand empor. Mein Untergang war gewiß. Ich wußte damals schon um meinen Untergang, und deshalb eben gelang es mir, die beiden Gegenstände meiner Leidenschaften: den meines Hasses und den meiner Liebe, genau zu beobachten. Niemals sieht man so klar und kalt wie in einer Stunde, in der man vor sich den schwarzen Abgrund fühlt. Ich empfand den Haß und die Liebe zugleich, in meinem Herzen waren sie ebenso innig vereint wie die beiden im Nebenzimmer: Lutetia und Krapotkin. Ebensowenig wie die beiden Menschen, die ich beobachten konnte, bekämpften sich die beiden Empfindungen; sondern sie vereinten sich in einer Wollust, die gewiß noch größer, gewaltiger, sinnlicher war als die fleischliche Vereinigung der beiden.

Ich empfand keinerlei körperliche Begierde, ja nicht einmal Eifersucht; wenigstens nicht Eifersucht in der gewöhnlichen Form, in der sie jeder von uns wahrscheinlich schon gespürt hat, wenn er zusehen mußte, wie ein geliebter Mensch ihm genommen wird, vielmehr, wie sich dieser geliebte Mensch mit Freuden nehmen läßt. Ich war vielleicht nicht einmal erbittert. Ich war nicht einmal rachsüchtig. Vielmehr glich ich einem kalten und objektiven Richter, der etwa die Verbrecher selbst bei der Freveltat beobachten kann, über die er später zu urteilen hat. – Ich fällte jetzt schon das Urteil, es lautete: Tod dem Krapotkin! Ich wunderte mich nur, daß ich so lange gewartet hatte. Ja, ich merkte, daß dieses Todesurteil längst beschlossen, gefertigt und besiegelt in mir gelegen hatte. Es war, ich wiederhole es, keine Rachsucht. Es war, meiner Meinung nach, die natürliche Folge der gewöhnlichen, der objektiven, der sittlichen Gerechtigkeit. Nicht ich allein war das Opfer Krapotkins. Nein! Das gültige Gesetz der sittlichen Gerechtigkeit war sein Opfer. Im Namen des Gesetzes sprach ich mein Urteil: Es lautete auf Tod.

Es lebte damals in Petersburg ein gewisser Angeber namens Leibusch. Es war ein winziger Mann, keine 120 Zentimeter hoch, nicht einmal ein Zwerg, sondern der Schatten eines Zwerges. Er war ein sehr geschätzter Mitarbeiter meiner Kollegen. Ich hatte ihn nur ein paarmal flüchtig gesehen. Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte, obwohl ich selbst, wie man zu sagen pflegt, schon mit allen Wassern gewaschen war, ein wenig Angst vor ihm. Es gab viele gewissenlose Fälscher und Betrüger in unserer Gesellschaft, aber keinen gewissenloseren und flinkeren als ihn. Im Handumdrehn konnte er zum Beispiel den Beweis erbringen, daß ein Verbrecher ein wahres Unschuldslamm sei und ein Unschuldiger ein Attentat auf den Zaren vorbereitet habe. Obwohl ich bereits so tief gesunken war, meine Freunde, hegte ich doch noch die Überzeugung, daß ich nicht aus purer Schlechtigkeit Böses tat, sondern daß mich das Schicksal dazu verurteilt hatte. Unbegreiflicherweise hielt ich mich immer noch sozusagen für einen ›guten Menschen‹. Ich, ich hatte wenigstens noch das Bewußtsein, daß ich Böses tat und daß ich mich deswegen vor mir selbst entschuldigen müßte. Unrecht hatte man mir zugefügt. Golubtschik hieß ich. Alles Recht, auf das ich von Geburt aus Anspruch hatte, war mir genommen worden. In meinen Augen war damals mein Mißgeschick ein ganz und gar unverdientes Unheil. Ich hatte gewissermaßen ein verbrieftes Recht darauf, böse zu sein. Die anderen aber, die mit mir Böses taten, hatten dieses Recht keineswegs.

Gut, ich suchte also unsern Angeber Leibusch auf. Erst in dem Augenblick, in dem ich ihm gegenüberstand, kam mir alles Schreckliche zum Bewußtsein, das ich vorhatte. Seine gelbliche Hautfarbe, seine rötlich umrandeten Augen, seine großen Pockennarben, seine unmenschlich winzige Gestalt waren beinahe imstande, mich irrezumachen in meinem festen Glauben, ich sei ein Richter und ein Vollstrecker des Gesetzes. Ich hatte einige Hemmungen, bevor ich anfing, mit ihm zu sprechen.

›Leibusch‹, sagte ich, ›du kannst deine Tüchtigkeit beweisen.‹ Wir befanden uns damals in einem der Vorzimmer unseres Chefs. Wir waren allein, wir hockten nebeneinander auf einem giftgrünen Plüschsofa, und mir war's, als wäre es bereits eine Anklagebank; ja, ich saß gerade auf der Anklagebank in der Stunde, in der ich im Begriffe war, zu richten und zu urteilen.

›Was soll ich noch beweisen?‹ sagte der Kleine. ›Genug habe ich bewiesen!‹

›Ich brauche‹, sagte ich, ›Material gegen einen gewissen.‹

›Eine hohe Persönlichkeit?‹

›Natürlich!‹

›Wer ist es!‹

›Der junge Krapotkin!‹

›Nicht schwer‹, sagte der Winzige, ›gar nicht schwer!‹

Wie leicht ging das! Der Winzige wunderte sich gar nicht, daß ich Material gegen Krapotkin brauchte. Also hatte man gegen Krapotkin schon längst Material gesammelt. Beinahe kam ich mir sehr großmütig vor, daß ich noch nichts davon gewußt hatte. Fast war es keine Niedrigkeit, die ich eben zu begehen im Begriff war, sondern eine echte richterliche Pflicht.

›Wann?‹ fragte ich.

›Morgen um die gleiche Stunde‹, sagte der Winzige.

Er besaß wirklich prachtvolles Material. Die Hälfte hätte ausgereicht, einem gewöhnlichen Russen zwanzig Jahre Katorga zu verschaffen. Wir saßen im stillen Hinterzimmer einer Teestube, deren Wirt ich kannte, und blätterten im Material. Es befanden sich darunter Briefe an Freunde, Offiziere und hochgestellte Personen, an bekannte Anarchisten und an verdächtige Schriftsteller und eine Anzahl äußerst überzeugender Photographien. ›Hier‹, sagte der Winzige, ›die und die habe ich gefälscht.‹

Ich sah ihn an. In seinem kleinen gelben Gesicht, darin gerade noch Augen, Nase und Mund Platz hatten und in dem die dünnen Wangen schmählich eingefallen waren, veränderte sich gar nichts. In diesem Antlitz hatten die Züge gleichsam keinen Raum, sich zu verändern. Er sagte: ›Dies habe ich gefälscht!‹ Und: ›Dies habe ich gefälscht!‹ Und: ›Dies habe ich gefälscht!‹ Und es bewegte sich kein Zug in seinem Angesicht. Ihm war es offenbar gleichgültig, ob er die Bilder gefälscht hatte oder ob sie echt waren. Bilder waren sie eben. Mehr als Bilder: nämlich Beweise. Da er seit vielen Jahren erfahren hatte, daß die falschen Bilder ebensoviel bewiesen wie die echten, hatte er vollkommen verlernt, diese von jenen zu unterscheiden, und beinahe mit einer kindlichen Einfalt glaubte er, die Fälschungen, die er selbst ausgeführt hatte, seien gar keine Fälschungen. Ja, ich glaube, er wußte gar nicht, er wußte überhaupt nicht mehr, wodurch sich eigentlich eine gefälschte von einer echten Photographie unterscheide, wodurch ein echter Brief von einem gefälschten. Es wäre unrichtig, wollte man diesen Leibusch, diesen Winzigen, etwa zu den Verbrechern zählen. Ein Verworfener war er, schlimmer als ein Verbrecher, böser noch als ich, meine Freunde!

Ich wußte wohl, was ich mit den Briefen und den Bildern anzufangen hatte. Mein Haß hatte einen Sinn. Der Winzige aber war kein Hasser und kein Richter. Alles, was er Böses tat, war sinnlos, der Teufel gebot ihm einfach, Böses zu vollführen. Dumm war er wie ein Gänserich, aber äußerst schlau in der Art, die schwierigen Dinge zu vollbringen, deren Sinn und Zweck er gar nicht verstand. Er verlangte nicht einmal einen kleinen irdischen Vorteil. Er tat alles gleichsam aus Gefälligkeit. Er verlangte von mir kein Geld, kein Versprechen, keine Zusage. Er gab mir das ganze, für mich so wertvolle Material, ohne das Gesicht zu verändern, ohne zu fragen, wozu ich es brauchte, ohne irgend etwas zu verlangen, ja, ohne mich selbst zu kennen. Seinen Lohn hatte er bereits anderswoher bekommen, so schien es.

Nun, was ging es mich an? Ich nahm, was ich brauchte; ich fragte nicht, woher es kam, noch von wem. Ich nahm es eben von dem Winzigen.

Kaum eine halbe Stunde später war ich bei meinem nächsten Vorgesetzten. Und zwei Stunden hierauf verhaftete man den jungen Krapotkin.

Er blieb nicht lange in der Haft, meine Freunde, keineswegs lange. Drei Tage im ganzen. Am dritten Tage wurde ich zu unserm Gewalthaber berufen, und er sagte mir folgendes:

›Junger Mann, ich hätte Sie für klüger gehalten!‹

Ich schwieg.

›Junger Mann‹, fing er wieder an, ›erklären Sie mir Ihre Dummheit.‹

›Euer Durchlaucht‹, sagte ich, ›wahrscheinlich habe ich eine Dummheit begangen – da Euer Gnaden es doch selber sagen. Aber erklären kann ich sie keineswegs.‹

›Gut‹, erwiderte Seine Herrlichkeit, ›ich werde sie dir erklären: Verliebt bist du eben. Und ich erlaube mir bei dieser Gelegenheit eine sogenannte philosophische Bemerkung: Merken Sie sich das, junger Mann! Ein Mann, der es zu etwas im Leben bringen will, ist niemals verliebt. Ein Mann besonders, der das hohe Glück hat, bei uns tätig zu sein, hat überhaupt kein Gefühle. Er kann eine bestimmte Frau begehren, – gut, ich verstehe das! Aber wenn ihm ein Mächtiger im Wege steht, muß unsereins seine Begierde unterdrücken. Hören Sie zu, junger Mann! Ich kannte mein Leben lang nur eine Begierde: die, groß und mächtig zu werden. Ich bin es heute, groß und mächtig. Ich kann Seine Majestät selbst, unsern Zaren, überwachen – Gott schenke ihm Glück und Gesundheit. Aber weshalb kann ich das? Weil ich niemals in meinem langen Leben geliebt oder gehaßt habe. Auf jede Lust habe ich verzichtet – deshalb habe ich auch niemals mit einem wirklichen Leid Bekanntschaft gemacht. Ich war niemals verliebt; also kenne ich auch keine Eifersucht. Ich habe niemals gehaßt; also kenne ich auch keine Rachsucht. Ich habe niemals die Wahrheit gesagt; infolgedessen kenne ich auch nicht die Genugtuung, die eine gelungene Lüge bereitet. Junger Mann, richten Sie sich danach! Ich muß Sie bestrafen. Der Fürst ist mächtig, den Affront vergißt er nie. Wegen eines kleinen, lächerlichen Mädchens haben Sie Ihre Karriere verdorben. Ja, mir selbst haben Sie, verstanden!, einen äußerst unangenehmen Tadel verschafft. Ich habe lange darüber nachgedacht, welche Strafe Sie dafür verdienen. Und ich bin zu dem Entschluß gekommen, Ihnen die strengste aller Strafen aufzuerlegen. Sie werden hiermit verurteilt, dieser lächerlichen Frau zu folgen. Ich verurteile Sie sozusagen zu ewiger Liebe. Sie gehen nach Paris, als unser Agent. Sie melden sich sofort bei dem Botschaftsrat P. Hier sind Ihre Papiere. Gnade Ihnen Gott, junger Mann! Es ist das härteste Urteil, das ich in meinem Leben gefällt habe.‹ Damals war ich jung, meine Freunde, und ich liebte! Nachdem Seine Herrlichkeit sein Urteil ausgesprochen hatte, geschah mit mir etwas Außerordentliches, etwas Lächerliches: Ich fühlte mich von einer unbekannten Gewalt auf die Knie gezwungen, ich fiel wahrhaftig auf die Knie vor unserm Großmächtigen, und ich tastete nach seiner Hand, um sie zu küssen. Er entzog sie mir, stand auf, befahl mir, mich sofort zu erheben und keine Dummheiten mehr zu machen. Ach! Er war groß und mächtig, denn er war kein Mensch! Natürlich verstand er gar nichts von all dem, was in mir vorging. Er warf mich hinaus. Ich sah draußen im Korridor meine Papiere nach. Und ich erstarrte vor Seligkeit und Überraschung. Meine Papiere lauteten auf den Namen Krapotkin. Auf diesen Namen war mein Paß ausgestellt. In einem Begleitbrief an den Botschaftsrat P. war ich ausdrücklich als einer jener Agenten gekennzeichnet, deren Aufgabe es war, die sogenannten subversiven Elemente Rußlands in Frankreich zu überwachen. Welch ein häßliches Geschäft, meine Freunde! Und edel erschien es mir damals! Wie verworfen war ich! Verworfen und verirrt! Alle Verworfenen sind eigentlich Verirrte.

Kaum zwei Tage später sollte der mondäne Schneider mit all seinen Weibern abreisen, in meiner Begleitung. Er wurde mir, kurz vor der Abfahrt, vorgestellt. In seinen törichten und eitlen Augen war ich der Vertreter des hochadeligen Rußlands, ein Fürst und gleich ein Krapotkin gar – denn er mag sich wirklich eingebildet haben, daß man ihm einen echten Fürsten als Begleiter mitgegeben hatte. Ich selbst, ich bildete es mir ein, als ich zum erstenmal einen Paß auf den Namen Krapotkin in der Tasche wußte. Indessen aber fühlte ich damals schon, in den tiefsten Tiefen meines Herzens, die doppelte, die dreifache Schmach, die man mir angetan hatte: Ich war ein Krapotkin, ein Krapotkin von Blut; und ich war ein Spitzel; und ich trug den Namen, der mir gebührt hätte, lediglich als Polizist. Im höchsten Maße unwürdig, hatte ich erkauft und gestohlen, was mir auf eine würdige Weise hätte zukommen müssen. So dachte ich damals, meine Freunde, und ich wäre wohl sehr unglücklich gewesen, ohne die Liebe zu Lutetia. Sie aber, die Liebe meine ich, entschuldigte und verwischte alles. Ich war bei Lutetia, neben ihr. Ich begleitete sie. Ich fuhr mit ihr in die Stadt, in der sie lebte. Ich wollte sie. Ich begehrte sie mit allen meinen Sinnen. Ich brannte nach ihr, wie man sagt. Aber ich achtete vorläufig nicht auf sie. Ich bemühte mich, gleichgültig zu sein, und selbstverständlich hoffte ich, sie würde mich von selbst bemerken und mich durch einen Blick, eine Gebärde, ein Lächeln wissen lassen, daß sie mich bemerkt habe. Sie aber tat gar nichts. Ganz gewiß bemerkte sie mich nicht. Und warum auch hätte sie mich bemerken sollen?

Es waren übrigens die ersten zwölf Stunden unserer Reise. Weshalb auch hätte sie mich in den ersten zwölf Stunden bemerken sollen? Wir mußten eine Umweg machen. Wir fuhren nicht direkt; jene Damen der guten Gesellschaft, die damals zufällig in Moskau waren oder ständig dort wohnten und die auf keinen Fall den berühmten Schneider aus Rußland fortgehen lassen wollten, ohne wenigstens ihn und seine Puppen gesehen zu haben, hatten unbedingt gefordert, er möchte sich wenigstens einen Tag in Moskau aufhalten. Gut! Wir hielten uns in Moskau auf. Am frühen Nachmittag kamen wir an, wir logierten im Hotel Europa. Allen Damen ließ ich dunkelrote Rosensträuße überreichen, allen die gleichen. Nur dem Rosenstrauß, der für Lutetia bestimmt war, legte ich meine Visitkarte bei. Oh, freilich nicht meine richtige. Solch eine hatte ich überhaupt niemals besessen. Wohl aber hatte ich jetzt nicht weniger als fünfhundert Visitkarten, falsche, auf den Namen Krapotkin. Ich muß sagen, ich zog oft eine aus der Brieftasche und betrachtete sie. Ich weidete mich an ihr. Je länger ich sie ansah, desto stärker begann ich an ihre Echtheit zu glauben. Ich betrachtete mich selbst in dieser falschen Visitkarte, etwa wie eine Frau sich in einem Spiegel betrachten mag, der sie gefälliger erscheinen läßt. Und als wüßte ich nicht, daß auch mein Paß ein falscher war, zog ich auch ihn manchmal hervor und ließ mir gleichsam durch seine amtliche Zeugenschaft bestätigen, daß meine Visitkarte nicht gelogen habe. So dumm und eitel war ich damals, meine Freunde, obwohl mich eine noch viel größere Leidenschaft gefangenhielt. Ja, auch diese meine Leidenschaft, nämlich die Liebe, nährte sich noch von meiner Eitelkeit und meiner Dummheit.

Wir blieben zwei Tage in Moskau, und die Damen der guten Gesellschaft kamen, die aus Moskau und die andern, aus nahen und fernen Gütern. Es gab im Hotel am Nachmittag eine kurze und sozusagen zusammengedrängte Vorführung. Der mondäne Schneider war nicht im Frack. Er trug seinen violetten Cutaway und ein blaßrosa, seidenes Hemd und eine Art bräunlicher Lackpantoffeln. Die Damen waren entzückt von ihm. Er begrüßte sie mit einer längeren Ansprache. Und sie erwiderten, indem sie ihn einzeln mit noch längeren Ansprachen auszeichneten. Obwohl ich damals nur ein kümmerliches Französisch konnte, merkte ich doch, daß sich die Damen bemühten, den Tonfall des Schneidermeisters nachzuahmen. Ich hütete mich, mit ihnen zu sprechen. Denn die eine oder die andere hätte wohl erkennen können, daß ich kein Krapotkin war – und sei es auch nur an meinem lächerlichen Französisch. Im übrigen kümmerten sie sich auch nur um den Schneider und um die Toiletten. Um den Schneider noch mehr! Und wie gerne hätten sie, aller Weiblichkeit zum Trotz, ebenfalls einen violetten Cutaway und ein blaßrosa Seidenhemd getragen!

Genug mit diesen fruchtlosen Betrachtungen! Jede Zeit hat ihre lächerlichen Schneider, ihre lächerlichen Modelle, ihre lächerlichen Frauen. Die Frauen, die heute in Rußland die Uniform der Rotgardisten tragen, sind die Töchter jener Damen, die damals bereit gewesen wären, einen violetten Herrenrock anzuziehen, und die Töchter der Rotgardisten von heute werden vielleicht einmal in der Tat etwas Ähnliches tragen müssen.

Wir verließen Moskau. Wir kamen an die Grenze. In dem Augenblick, in dem wir sie erreichten, in diesem Augenblick erst kam es mir plötzlich zum Bewußtsein, daß mir die Gefahr drohte, Lutetia zu verlieren, wenn ich nicht noch schnell etwas unternahm. Was unternehmen? Was unternimmt ein verlorener Mann meiner Art, der das abscheulichste aller Handwerke ausübt? Ach, meine Freunde, er hat niemals die leichte, die beschwingte, die göttliche Phantasie der einfachen Liebenden! Ein Mann meines Schlages hat eine niedrige, eine Polizeiphantasie. Der Frau, die er liebt, stellt er nach mit den Mitteln, die ihm sein Beruf zur Verfügung stellt. Nicht einmal die Leidenschaft vermag einen Menschen meiner Art zu veredeln. – Die Gewalt zu mißbrauchen ist das Prinzip der Menschen meiner Natur! Und, weiß Gott, ich mißbrauchte sie.

Ich gab an der Grenze einem meiner Kollegen einen Wink, und er verstand ihn sofort. Ihr erinnert euch, meine Freunde, was damals eine russische Grenze bedeutete. Es war weniger die Grenze des gewaltigen Zarenreiches als die Grenze unserer Willkür, will sagen: der Willkür der russischen Polizei. Die Macht des Zaren hatte ihre Grenzen, in seinem eigenen Schloß sogar. Unsere Macht aber, die Macht der Polizei, hörte erst an den Grenzen des Reiches auf, und oft – wie ihr bald hören werdet – auch noch lange nicht jenseits unserer Grenzen. Immerhin, einem Polizisten bereitete es unermeßliches Vergnügen, gerade einen harmlosen Menschen zittern zu sehen, zweitens, einem Kollegen zu Gefallen zu sein, drittens – und dies ist besonders wichtig –, gerade eine hübsche, junge Frau in Schrecken zu versetzen. Dies, meine Freunde, ist die besondere Art der polizistischen Erotik.

Mein Kollege begriff mich also sofort. Ich verschwand für einige Zeit, ich wartete im Polizeikabinett. Der Schneider und alle seine Damen mußten sich einer peinlichen Untersuchung unterziehen – und gar nichts nützte diesem mondänen Schneider seine äußerst beredte Zunge und seine Berufung auf alle hohen Herrschaften. Man verstand einfach kein Französisch. Vergeblich rief er auch ein paarmal nach mir, nach dem Fürsten Krapotkin. Ich konnte ihn zwar durch das kleine Fensterchen beobachten, das die Zwischenwand des Polizeizimmers und des Revisionssaals unterbrach. Er aber sah mich nicht. Ich blieb unauffindbar. Ich sah, wie er sich inmitten der aufgeregten Schar seiner Mädchen umhertrieb, wichtig und ratlos, weltmännisch und zugleich verloren, wichtigtuerisch und zugleich furchtsam, stolz wie ein Hahn, feig wie ein Hase, dumm wie ein Esel. Es freute mich, ich gestehe es. Ich hätte eigentlich gar keine Zeit haben dürfen, ihn zu beobachten und zu verachten. Denn ich liebte ja Lutetia! Aber, so bin ich nun einmal geartet, meine Freunde! Ich weiß oft selbst nicht, was ich von mir zu halten habe ...

Aber das ist ja nicht das Wichtigste. Die Hauptsache war, daß man plötzlich, dank der kameradschaftlichen Gesinnung meines Kollegen, im Koffer der Lutetia einen Revolver gefunden hatte. Der Schneider rannte ratlos herum, er rief ein paarmal nach mir, er beschwor meinen Namen, wie man Götter beschwört – und ich zeigte mich nicht. Von meinem Guckloch aus sah ich, zufrieden und gemein, ein Gott und ein Spitzel, die Lutetia, die blasse, die hilflose. Sie tat, was alle Frauen in derlei Situationen tun müssen: sie begann zu weinen. Und ich erinnerte mich, daß ich sie, durch ein ähnliches Guckloch, kaum zwei Wochen früher beobachtet hatte, wie sie in den Armen des jungen Krapotkin selig gewesen war und gelacht hatte. Oh, ich hatte diese besondere Art des Lachens nicht vergessen! Ich empfand, niedrig, wie ich nun einmal bin, meine Freunde, eine Genugtuung. Mochte der Zug warten, zwei Stunden, drei Stunden! Ich hatte Zeit.

Endlich, nachdem es so weit gekommen war, daß Lutetia, aller Worte bar, weinend dem Schneider um den Hals fiel, alle anderen Damen rings um beide herumzuflattern begannen, dermaßen, daß das Ganze ungefähr aussah wie ein tragisches Massaker, ein aufgeregter Hühnerhof und das romantische Abenteuer eines romantischen Schneiders zugleich, erschien ich auf der Bildfläche. Sofort verneigte sich der Kollege vor mir und sagte: ›Euer Hochwohlgeboren, zu Ihren Diensten!‹

Ich sah ihn gar nicht an. Ich fragte – in den Saal hinein –, ohne einen der vielen Menschen anzusehen: ›Was ist hier eigentlich geschehen?‹

›Euer Hochwohlgeboren‹, begann mein Kollege, ›man hat hier, im Koffer einer Dame, einen Revolver gefunden.‹

›Das ist mein Revolver‹, sagte ich. ›Die Damen stehen unter meinem Schutz.‹

›Wie Sie befehlen!‹ sagte der Beamte.

Wir stiegen in den Zug.

 


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