Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Sie kennen meinen Namen, meine Herren, ich sage lieber: meine Freunde. Denn es ist besser, ›meine Freunde‹ zu sagen, wenn man erzählt, nach guter, alter heimatlicher Sitte. Mein Name ist also, wie Sie wissen: Golubtschik. Ich frage Sie selbst, ob das gerecht ist. Ich war immer groß und stark, schon als Knabe an Wuchs und Körperkraft weit stärker als meine Kameraden; und gerade ich muß Golubtschik heißen. Nun, es gibt noch etwas: Ich hieß gar nicht mit Recht so, das heißt: nach natürlichem Recht sozusagen. Denn das war der Name meines legitimen Vaters. Indessen: Mein wirklicher Name, mein natürlicher, der Name meines natürlichen Vaters war: Krapotkin – und ich bemerke eben, daß ich nicht ohne lasterhaften Hochmut diesen Namen ausspreche. Sie sehen: Ich war ein uneheliches Kind. Dem Fürsten Krapotkin gehörten, wie Sie wissen werden, viele Güter in allen Teilen Rußlands. Und eines Tages erfaßte ihn die Lust, auch ein Gut in Wolynien zu kaufen. Solche Leute hatten ja ihre Launen. Bei dieser Gelegenheit lernte er meinen Vater kennen und meine Mutter. Mein Vater war Oberförster. Krapotkin war eigentlich entschlossen gewesen, alle Angestellten des früheren Herrn zu entlassen. Als er aber meine Mutter sah, entließ er alle – mit Ausnahme meines Vaters. Und so kam es eben. Mein Vater, der Förster Golubtschik, war ein einfacher Mann. Stellen Sie sich einen gewöhnlichen, blonden Förster in dem üblichen Gewande des Försterberufes vor, und Sie haben meinen legitimen Vater vor Augen. Sein Vater, mein Großvater also, war noch Leibeigener gewesen. Und Sie werden begreifen, daß der Förster Golubtschik gar nichts dagegen einzuwenden hatte, daß der Fürst Krapotkin, sein neuer Herr, meiner Mutter häufige Besuche zu einer Stunde machte, in der die verheirateten Frauen bei uns zu Lande an der Seite ihrer angetrauten Männer zu liegen pflegen. Nun, ich brauche nichts weiter zu sagen: Nach neun Monaten kam ich zur Welt, und mein wirklicher Vater hielt sich bereits seit drei Monaten in Petersburg auf. Er schickte Geld. Er war ein Fürst, und er benahm sich genauso, wie sich ein Fürst zu benehmen hat. Meine Mutter hat ihn zeit ihres Lebens nicht vergessen. Ich schließe das aus der Tatsache, daß sie außer mir kein anderes Kind zur Welt gebracht hat. Das will also heißen, daß sie nach der Geschichte mit Krapotkin sich geweigert hat, ihre ›ehelichen Pflichten zu erfüllen‹, wie es in den Gesetzbüchern heißt. Ich selbst erinnere mich genau, daß sie niemals in einem Bett geschlafen haben, der Förster Golubtschik und meine Mutter. Meine Mutter schlief in der Küche, auf einem improvisierten Lager, auf der ziemlich breiten Holzbank, genau unter dem Heiligenbild, während der Förster ganz allein das geräumige Ehebett in der Stube einnahm. Denn er hatte genug Einkünfte, um sich Stube und Küche leisten zu können. Wir wohnten am Rande des sogenannten ›schwarzen Waldes‹ – denn es gab auch einen lichten Birkenwald, und der unsrige bestand aus Tannen. Wir wohnten abseits und etwa zwei bis drei Werst entfernt vom nächsten Dorf. Es hieß Woroniaki. Mein legitimer Vater, der Förster Golubtschik, war, im Grunde genommen, ein sanfter Mann. Niemals habe ich einen Streit zwischen ihm und meiner Mutter gehört. Sie wußten beide, was zwischen ihnen stand. Sie sprachen nicht darüber. Eines Tages aber – ich mochte damals etwa acht Jahre alt gewesen sein – erschien ein Bauer aus Woroniaki in unserem Haus, fragte nach dem Förster, der gerade durch die Wälder streifte, und blieb sitzen, als meine Mutter ihm sagte, daß ihr Mann vor dem späten Abend nicht nach Hause kommen würde. ›Nun, ich habe Zeit!‹ sagte der Bauer. ›Ich kann auch bis zum Abend warten und auch bis Mitternacht und auch später. Ich kann warten, bis ich eingesperrt werde. Und das hat noch mindestens einen Tag Zeit!‹ ›Warum sollte man Sie einsperren?‹ fragte meine Mutter. ›Weil ich Arina, meine leibliche Tochter Arina, mit diesen meinen Händen erwürgt habe‹, antwortete lächelnd der Bauer. Ich kauerte neben dem Ofen, weder meine Mutter noch der Bauer beobachteten mich im geringsten, und ich habe die Szene ganz genau behalten. Ich werde sie auch nie vergessen! Ich werde niemals vergessen, wie der Bauer gelächelt und wie er auf seine ausgestreckten Hände geblickt hat bei jenen fürchterlichen Worten. Meine Mutter, die gerade Teig geknetet hatte, ließ Mehl, das Wasser und das halbausgelaufene Ei auf dem Küchentisch, schlug das Kreuz, faltete dann die Hände über ihrer blauen Schürze, trat nahe an den Besuch heran und fragte: ›Sie haben Ihre Arina erwürgt?‹ ›Ja‹, bestätigte der Bauer. ›Aber warum denn, um Gottes willen?‹ ›Weil sie Unzucht getrieben hat mit Ihrem Mann, dem Förster Semjon Golubtschik. Heißt er nicht so, Ihr Förster?‹ Der Bauer sprach auch all das mit einem Lächeln, mit einem versteckten Lächeln, das hinter seinen Worten gleichsam hervorblinkte wie manchmal der Mond hinter finsteren Wolken. ›Ich bin schuld daran‹, sagte meine Mutter. Ich höre es noch, als ob sie es erst gestern gesprochen hätte. Ich habe ihre Worte behalten. (Damals aber verstand ich sie nicht.) Sie bekreuzigte sich noch einmal. Sie nahm mich bei der Hand. Sie ließ den Bauern in unserer Stube und ging mit mir durch den Wald, immerfort den Namen Golubtschik rufend. Nichts meldete sich. Wir kehrten ins Haus zurück, und der Bauer saß immer noch dort. »Wollen Sie Grütze?« fragte meine Mutter, als wir zu essen begannen. »Nein!« sagte lächelnd und höflich unser Gast, »aber wenn Sie zufällig einen Samogonka im Hause haben – wäre ich nicht abgeneigt.« Meine Mutter schenkte ihm von unserem Selbstgebrannten ein, er trank, und ich erinnere mich genau, wie er den Kopf zurückwarf und wie an seinem von Borsten bewachsenen, zurückgeworfenen Hals gleichsam von außen zu sehen war, daß der Schnaps durch die Kehle rann. Er trank und trank und blieb sitzen. Endlich, die Sonne ging schon unter, es mag ein früher Herbsttag gewesen sein, kam mein Vater zurück. »Ach, Pantalejmon!« sagte er. Der Bauer erhob sich und sagte ganz ruhig: »Komm gefälligst hinaus!« »Warum?« fragte der Förster. »Ich habe eben«, antwortete immer noch ganz ruhig der Bauer, »Arina erschlagen.«

Der Förster Golubtschik ging sofort hinaus. Sie blieben lange draußen. Was sie da gesprochen haben, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie lange draußen blieben. Es mochte wohl eine Stunde sein. Meine Mutter lag auf den Knien vor dem Heiligenbild in der Küche. Man hörte keinen Laut. Die Nacht war hereingebrochen. Meine Mutter zündete kein Licht an. Das dunkelrote Lämpchen unter dem Heiligenbild war das einzige Licht in der Stube, und niemals bis zu dieser Stunde hatte ich mich davor gefürchtet. Jetzt aber fürchtete ich mich. Meine Mutter lag die ganze Zeit auf den Knien und betete, und mein Vater kam nicht. Ich hockte neben dem Ofen. Endlich, es mochten drei oder mehr Stunden vergangen sein, hörte ich Schritte und viele Stimmen vor unserem Haus. Man brachte meinen Vater. Vier Männer trugen ihn. Der Förster Golubtschik muß ein ansehnliches Gewicht gehabt haben. Er blutete an allen Ecken und Enden, wenn man so sagen darf. Wahrscheinlich hatte ihn der Vater seiner Geliebten so zugerichtet.

Nun, ich will es kurz machen. Der Förster Golubtschik hat sich niemals mehr von diesen Schlägen erholt. Er konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Er starb ein paar Wochen später, und man begrub ihn an einem eisigen Wintertag, und ich erinnere mich noch genau, wie die Totengräber, die ihn holen kamen, dicke, wollene Fäustlinge trugen und dennoch mit beiden Händen um sich schlagen mußten, damit es ihnen wärmer werde. Man lud meinen Vater Golubtschik auf einen Schlitten. Meine Mutter und ich, wir saßen auch in einem Schlitten, und während der Fahrt sprühte mir der helle Frost mit hunderttausend köstlichen, kristallenen Nadeln ins Gesicht. Eigentlich war ich froh. Dieses Begräbnis meines Vaters gehört eher zu den heiteren Erinnerungen meiner Kindheit.

Passons! – wie man in Frankreich sagt. Es dauerte nicht lange, und ich kam in die Schule. Und aufgeweckt, wie ich war, erfuhr ich bald, daß ich der Sohn Krapotkins war. Ich bemerkte es an dem Benehmen des Lehrers und einmal im Frühling an einem denkwürdigen Tage, an dem Krapotkin selber kam, unser Gut zu visitieren. Man schmückte das Dorf Woroniaki. Man hängte Girlanden an beiden Enden der Dorfstraße auf. Man stellte sogar eine Musikkapelle zusammen aus lauter Bläsern, und dazwischen gab es auch Sänger. Man übte eine Woche vorher, unter der Anleitung unseres Lehrers. Aber in dieser Woche ließ mich meine Mutter nicht in die Schule gehn, und nur unter der Hand gewissermaßen erfuhr ich von all den Vorbereitungen. Eines Tages kam Krapotkin wirklich. Und zwar direkt zu uns. Er ließ die Dorfstraße mit Girlanden eine Dorfstraße mit Girlanden sein und die Musiker Musikanten und die Sänger Sänger, und er kam directement in unser Haus. Er hatte einen schönen dunklen und etwas angesilberten Knebelbart, roch nach Zigarren, und seine Hände waren sehr lang, sehr mager, sehr trocken, dürr sogar. Er streichelte mich, fragte mich aus, drehte mich ein paarmal herum, betrachtete meine Hände, meine Ohren, meine Augen, meine Haare. Dann sagte er, meine Ohren wären schmutzig und meine Fingernägel auch. Er zog ein elfenbeinernes Taschenmesser aus der Westentasche, schnitzte mir in zwei, drei Minuten aus einem ganz gewöhnlichen Holzbrett einen Mann mit Bart und langen Armen (später hörte ich, daß er ein sogenannter ›Kunstschnitzer‹ gewesen sei), dann sprach er noch leise mit meiner Mutter, und dann verließ er uns.

Seit diesen Tagen, meine Freunde, wußte ich natürlich ganz genau, daß ich nicht der Sohn Golubtschiks, sondern Krapotkins war. Natürlich tat es mir sehr leid, daß der Fürst verschmäht hatte, die geschmückte Dorfstraße zu passieren, die Musik und die Lieder zu hören. Am besten, so stellte ich mir vor, wäre es wohl gewesen, wenn er in einer großartigen Kalesche, an meiner Seite, von vier schneeweißen Schimmeln gezogen, ins Dorf gekommen wäre. Ich selbst wäre bei dieser Gelegenheit als der rechtmäßige, sozusagen gottgewollte Nachkomme des Fürsten von allen anerkannt worden, vom Lehrer, von den Bauern, von den Knechten, sogar von der Obrigkeit, und die Lieder und die Musik und die Girlanden hätten eher mir als meinem Vater gegolten.

Ja, meine Freunde, so war ich damals: anmaßend, eitel, von einer uferlosen Phantasie bedrängt und sehr egoistisch. An meine Mutter dachte ich bei dieser Gelegenheit nicht im geringsten. Zwar begriff ich schon einigermaßen, daß es eine Art Schande war, wenn eine Frau ein Kind von einem andern als von ihrem angetrauten Mann bekam. Wichtig aber war nicht die Schande meiner Mutter und auch nicht meine eigene. Im Gegenteil: Es freute mich, und ich bildete mir viel darauf ein, daß ich nicht nur sozusagen von Geburt an ein besonderes Zeichen mit mir herumtrug, sondern auch, daß ich der leibliche Sohn unseres Fürsten war. Und nun aber, nachdem es so zweifellos und klar wie der Tag geworden war, ärgerte mich der Name Golubtschik nur noch mehr, und besonders, weil alle ihn so höhnisch aussprachen, seit dem Tode des Försters und seitdem der Fürst bei meiner Mutter gewesen war. Sie sprachen alle meinen Namen mit einem ganz besonderen Unterton aus, so als wäre es gar kein ehrlicher, gesetzlicher Name, sondern ein Spitzname. Und das ärgerte mich um so mehr, als ich ja selbst diesen lächerlichen und für mich gar nicht passenden Namen Golubtschik schon immer als einen Spott- und Spitznamen empfunden hatte, auch noch in den Zeiten, in denen man ihn gewissermaßen mit harmloser Ehrlichkeit auszusprechen pflegte. So wechselten also in meinem jungen Herzen damals die Gefühle in jäher Schnelligkeit, ich fühlte mich gedemütigt, ja erniedrigt und gleich darauf – oder besser: zugleich – wieder erhaben und hochmütig, und manchmal drängten sich alle diese Gefühle gleichzeitig in mir zusammen und kämpften gegeneinander, grausame Ungeheuer, meine Freunde, grausam in einer kleinen Knabenbrust.

Es war deutlich zu spüren, daß der Fürst Krapotkin seine starke, gnädige Hand über mir hielt. Zum Unterschied von allen anderen Knaben unseres Dorfes kam ich nach W. ins Gymnasium, im elften Jahre meines Lebens. An allerhand Anzeichen konnte ich bald bemerken, daß den Lehrern auch hier das Geheimnis meiner Geburt bekannt war, und ich freute mich nicht wenig darüber. Aber ich hörte auch nicht auf, mich über meinen unsinnigen Namen zu ärgern. Ich schoß schnell in die Höhe, ich wuchs fast ebensoschnell in die Breite, und ich hieß immer noch Golubtschik.

Je älter ich wurde, desto mehr kränkte ich mich darüber. Ich war ein Krapotkin, und ich hatte, zum Teufel, das Recht, mich Krapotkin zu nennen. Ich wollte noch ein bißchen warten. Ein Jahr vielleicht. Vielleicht überlegte es sich der Fürst in der Zwischenzeit und kam eines Tages herüber und verlieh mir, am liebsten vor den Augen aller Menschen, die mich kannten, seinen Namen, seinen Titel und alle seine märchenhaften Besitztümer. Ich wollte ihm keine Schande machen.

Ich lernte gut und mit Ausdauer. Man war mit mir zufrieden. Und all das, meine Freunde, war doch keine echte Sache, es war doch nur teuflische Eitelkeit, die mich trieb, und nichts weiter. Bald sollte sie noch stärker in mir zu wirken anfangen. Bald begann ich mit meiner ersten, zwar noch nicht schändlichen Handlung, Sie sollen es sogleich hören.

Ich hatte mir also vorgenommen, ein ganzes Jahr zu warten, obwohl ich mir kurz nach diesem Entschluß vorzuhalten begann, daß ein ganzes Jahr eine viel zu lange Zeit wäre. Ich versuchte bald, mir selbst ein paar Monate abzuhandeln, denn die Ungeduld plagte mich sehr. Doch sagte ich mir zu gleicher Zeit, daß es eines Mannes, der entschlossen sei, sehr hoch emporzukommen – für einen solchen Mann hielt ich mich damals, meine Freunde –, daß es seiner unwürdig sei, ungeduldig zu werden und von seinen Entschlüssen abzuweichen. Auch fand ich bald eine Hilfe für meine Standhaftigkeit in der abergläubischen Überzeugung, daß der Fürst auf eine geheimnisvolle, geradezu magische Weise schon längst gefühlt haben müßte, was ich von ihm forderte. Denn ich bildete mir zuweilen ein, daß ich magische Kräfte besäße und daß ich überdies auf eine natürliche Weise mit ihm als mit meinem leiblichen Vater selbst über viele tausend Werst hinweg ständig verbunden wäre. Diese Einbildung beruhigte mich und bändigte zeitweilig meine Ungeduld. Als aber das Jahr verstrichen war, hielt ich mich für doppelt berechtigt, den Fürsten an seine Pflichten gegen mich zu mahnen. Denn daß ich ein ganzes Jahr ausgeharrt hatte, rechnete ich mir natürlich nicht gerade als ein geringes Verdienst an. Bald ereignete sich außerdem etwas, was mir den klaren Beweis dafür zu liefern schien, daß die Vorsehung selbst mein Vorhaben billigte. Es war kurz nach Ostern und schon recht voller Frühling. In dieser Jahreszeit fühlte ich immer – und noch heute fühle ich in den Frühlingsmonaten – eine frische Kraft im Herzen und in den Muskeln und eine ganz große unberechtigte und törichte Überzeugung, daß mir alles Unmögliche gelingen müsse. Nun ereignete sich der merkwürdige Zufall, daß ich eines Tages in der Pension, in der ich untergebracht war, der Zeuge eines Gesprächs wurde, das zwischen meinem Wirt und einem fremden Mann, den ich nicht sehen konnte, im Nebenzimmer geführt wurde. Ich hätte damals viel darum gegeben, den Mann zu sehen und selbst mit ihm zu sprechen. Ich durfte aber meine Anwesenheit nicht verraten. Offenbar hatte man geglaubt, ich sei nicht zu Hause beziehungsweise nicht in meinem Zimmer. Man hätte in der Tat auch nicht vermuten können, daß ich um diese Stunde zu Hause sei, und ich war nur zufällig in mein Zimmer gekommen. Mein Wirt, ein Postbeamter, unterhielt sich mit dem Fremden im Korridor ziemlich laut. Nach den ersten paar Worten, die ich vernahm, begriff ich sofort, daß der Fremde jener Beauftragte des Fürsten sein mußte, der jeden Monat für mich Kost, Quartier und Kleidung bezahlte. Offenbar hatte mein Wirt eine Preiserhöhung verlangt, und der Beauftragte des Fürsten wollte sie nicht anerkennen. ›Aber ich sage Ihnen doch‹, hörte ich den Fremden sprechen, ›daß ich ihn vor einem Monat nicht erreichen kann. Er ist in Odessa. Dort bleibt er sechs oder acht Wochen. Er will nicht gestört sein. Er öffnet keinen Brief. Er lebt da ganz abgeschlossen. Er schaut den ganzen Tag aufs Meer und kümmert sich um gar nichts. Ich wiederhole Ihnen: Ich kann ihn nicht erreichen.‹

›Wie lange soll ich also warten, mein Lieber?‹ sprach mein Wirt. ›Seitdem er hier lebt, hab' ich sechsunddreißig Rubel ausgegeben, Extraspesen, einmal war er krank, sechsmal war der Arzt hier. Ich hab's nicht ersetzt bekommen.‹ – Ich wußte – nebenbei gesagt –, daß mein Wirt log. Ich war niemals krank gewesen. Aber darauf achtete ich damals natürlich nicht. Mich regte die belanglose Tatsache, daß Krapotkin in Odessa lebte, in einem abgeschlossenen Haus am Meere, ungeheuer auf. Ein großer Sturm erhob sich in meinem Herzen. Das Meer, das abgeschlossene Haus, die Laune des Fürsten, sechs oder gar acht Wochen nichts von der Welt zur Kenntnis zu nehmen: all das beleidigte mich schwer. Es war, als hätte sich der Fürst zurückgezogen, nur, um von mir nichts mehr zu hören und als fürchtete er mich und nur mich auf dieser Welt.

So ist es also, sagte ich mir. Der Fürst hat auf dem magischen Wege meinen Entschluß vor einem Jahr vernommen. Er hat, aus begreiflicher Schwäche, nichts getan. Und nun, da das Jahr zu Ende geht, hat er Angst vor mir und verbirgt sich. Ich muß immerhin, damit Sie mich ganz kennenlernen, hinzufügen, daß ich sogar einer leisen Anwandlung von Großmut gegen den Fürsten damals fähig war. Denn er begann mir bald leid zu tun. Ich war geneigt, ihm seine Flucht vor mir als eine verzeihliche Schwäche auszulegen. So dreist überschätzte ich damals meine Kraft. War mein ganzer törichter Plan, den Fürsten zu zwingen, eine lächerliche Überheblichkeit, so war die kindische Großmut, mit der ich ihm seine angeblichen Schwächen verzeihen wollte, schon krankhaft zu nennen, wie die Ärzte sagen würden: ein ›psychotischer Zustand‹.

Eine Stunde, nachdem ich das früher erwähnte Gespräch belauscht hatte, fuhr ich zu meiner Mutter, mit dem letzten Rest des Geldes, das ich mir durch Stundengeben verdient hatte. Ich hatte sie Weihnachten zuletzt gesehen. Als ich sie jetzt wiedersah – sie erschrak übrigens, weil ich so plötzlich ins Haus fiel –, erkannte ich sofort, daß sie krank und sehr gealtert aussah. Im Laufe der wenigen Monate, in denen ich sie nicht gesehen hatte, waren ihre Haare grau geworden. Das erschreckte mich. Zum erstenmal sah ich deutlich an dem nächsten Menschen, den ich auf der Welt besaß, die Zeichen des unerbittlichen Alters. Und weil ich noch jung war, bedeutete mir das Alter nichts anderes als den Tod. Ja, der Tod war schon mit seinen grausigen Händen über den Scheitel meiner Mutter gefahren – nun waren ihre Haare welk und silbern. Sie wird also bald sterben, dachte ich ehrlich erschüttert. Und schuld daran, dachte ich weiter, ist der Fürst Krapotkin. Denn es lag mir begreiflicherweise daran, den Fürsten noch schuldiger zu machen, als er ohnehin in meinen Augen schon war. Je schuldiger er wurde, desto richtiger und berechtigter erschien mein Unternehmen.

Ich sagte also meiner Mutter, ich sei nur für ein paar Stunden gekommen, in einer höchst merkwürdigen und geheimen Angelegenheit. Ich müsse morgen nach Odessa. Nichts Geringeres sei passiert als die Tatsache, daß mich der Fürst rufen ließ. Mir die Botschaft zu überbringen, sei gestern jener Mann zu meinem Wirt gekommen, der Beauftragte des Fürsten. Sie, meine Mutter, sei der einzige Mensch, zu dem ich ein Wort davon verrate. Sie möge also schweigen, betonte ich dumm und wichtig. Ich ließ durchblicken, daß der Fürst vielleicht krank und im Sterben liege.

Kaum aber hatte ich diese lügenhafte Andeutung gemacht, als meine Mutter, die alles ruhig angehört hatte, kauernd auf der hölzernen Schwelle unseres Hauses, sofort aufsprang. Ihr Angesicht füllte sich mit Blut, Tränen rannen über ihre Wangen, sie breitete zuerst die Arme aus und schlug dann die Hände zusammen. Ich sah, daß ich sie erschreckt hatte, begann zu ahnen, was sie jetzt sagen würde, und erschrak selbst ungeheuerlich. ›Dann muß ich gleich mit dir!‹ sagte sie. ›Komm, komm, schnell, schnell, er darf nicht sterben, er darf nicht sterben, ich muß ihn sehn, ich muß ihn sehn!‹ So groß, so erhaben, möchte ich sagen, war die Liebe dieser einfachen Frau, die meine Mutter war. Viele Jahre waren vergangen, seitdem sie den letzten Kuß ihres Geliebten gespürt hatte, aber auf ihrem Leib fühlte sie den Kuß noch so lebendig, als hätte sie ihn gestern empfangen. Der Tod selbst hatte sie schon gestreichelt, aber selbst die Berührung des Todes konnte die Berührungen des Geliebten nicht verwischen und nicht vergessen machen. ›Hat er dir geschrieben?‹ fragte meine Mutter. ›Beruhige dich!‹ sagte ich. Und da meine Mutter nicht lesen und schreiben konnte, erlaubte ich mir noch eine schändlichere Lüge: ›Er hat mir mit eigener Hand ein paar Zeilen geschrieben, es kann ihm also so schlecht nicht gehen!‹ sagte ich.

Sie beruhigte sich im Augenblick. Sie küßte mich. Und ich schämte mich nicht, ihren Kuß zu empfangen. Sie gab mir zwanzig Rubel, ein ziemlich schweres Häuflein Silber in einem blauen Taschentuch. Das steckte ich mir ins Hemd, über den Gürtel.

Ich fuhr schnurstracks nach Odessa.

 


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