Joseph Roth
Beichte eines Mörders
Joseph Roth

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Selbstverständlich fiel mir – wie ich vorausgesehen hatte – der Schneider um den Hals, kaum waren wir im Zug. ›Wer ist eigentlich jene Dame mit dem Revolver?‹ fragte ich. ›Ein harmloses Mädchen‹ sagte er, ›ich kann es mir gar nicht erklären.‹ ›Ich möchte sie sprechen‹ sagte ich. ›Sofort‹, erwiderte er, ›ich bringe sie Ihnen.‹

Er brachte sie mir. Und er verließ uns sofort. Wir blieben allein, Lutetia und ich.

Es dunkelte schon, und der Zug schien durch den immer dichter werdenden Abend immer schneller dahinzurasen. Es erschien mir merkwürdig, daß sie mich keineswegs erkannte. Es war, als wäre alles darauf angelegt, mir selbst zu beweisen, wie wenig Zeit ich hätte, mein Ziel zu erreichen. Deshalb auch erschien mir angebracht, sofort zu sagen: ›Wo ist denn nun mein Revolver?‹ –

Statt jeder Antwort – die immerhin noch möglich gewesen wäre – fiel mir Lutetia in die Arme.

Ich nahm sie auf meinen Schoß. Und es begannen, im Dunkel des Abends, der um uns durch zwei Scheiben hereinfiel, von zwei Seiten her – es war gar nicht ein Abend mehr, es waren deren zwei – die Liebkosungen, die ihr alle kennt, meine Freunde, und die so oft das Unheil unseres Lebens einleiten.«

 

Als er an dieser Stelle seiner Erzählung angelangt war, schwieg Golubtschik eine lange Weile. Sein Schweigen schien uns deshalb noch länger zu dauern, weil er gar nichts trank. Wir anderen alle nippten nur an unseren Gläsern, aus Scham und Zurückhaltung, weil Golubtschik sein Glas kaum zu beachten schien. Sein Schweigen schien also gewissermaßen ein doppeltes Schweigen zu sein. Ein Erzähler, der seine Geschichte unterbricht und ein Glas, das vor ihm steht, nicht an die Lippen führt, erweckt in seinen Zuhörern eine sonderbare Beklemmung. Wir alle, die Zuhörer Golubtschiks, fühlten uns beklommen. Wir schämten uns, Golubtschik in die Augen zu sehen, wir starrten beinahe stupide auf unsere Gläser. Wenn wir wenigstens das Ticken einer Uhr vernommen hätten! Aber nein! Keine Uhr tickte, keine Fliege summte, und auch von der nächtlichen Straße her drang kein Geräusch durch den dichten, eisernen Rolladen. Wir waren einfach preisgegeben der tödlichen Stille. Lange, lange Ewigkeiten schienen vergangen seit dem Augenblick, in dem Golubtschik seine Erzählung angefangen hatte. Ewigkeiten, sage ich, nicht Stunden. Denn da die Wanduhr in diesem Restaurant stillstand und dennoch jeder von uns einen verstohlenen Blick nach ihr hinwarf, obwohl wir alle wußten, daß sie stehe, erschien uns allen die Zeit ausgelöscht, und die Zeiger über dem weißen Zifferblatt waren nicht mehr schwarz allein, sondern geradezu düster. Ja, düster waren sie wie die Ewigkeit. Beständig waren sie in ihrer hartnäckigen, beinahe niederträchtigen Stabilität, und es schien uns, als bewegten sie sich nicht deshalb nicht, weil das Uhrwerk stillestand, sondern als blieben sie unbeweglich aus einer Art Bosheit und wie um zu beweisen, daß die Geschichte, die uns Golubtschik zu erzählen im Begriffe war, eine ewig gültige, trostlose Geschichte sei, unabhängig von Zeit und Raum, von Tag und Nacht. Da also die Zeit stillestand, war gleichsam auch der Raum, in dem wir uns befanden, aller seiner Raumgesetze ledig; und es war, als befänden wir uns nicht auf der festen Erde, sondern auf den ewig schwankenden Wassern des ewigen Meeres. Wie in einem Schiff kamen wir uns vor. Und unser Meer war die Nacht.

 

Jetzt erst, nach dieser langen Weile, tat Golubtschik wieder einen Schluck aus seinem Glase.

»Ich habe überlegt«, begann er von neuem, »ob ich euch, meine Freunde, ganz genau den weiteren, den detaillierten Fortgang meiner Erlebnisse erzählen soll. Ich unterlasse es lieber. Ich will sofort mit meiner Ankunft in Paris anfangen.

Ich kam also nach Paris. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was damals für mich, den kleinen Golubtschik, den Spitzel, der sich selbst verachtete, den falschen Krapotkin, den Lieberhaber Lutetias, die Stadt Paris bedeutete. Es kostete mich schwere Mühe, nicht zu glauben, daß mein Paß falsch sei und daß meine schmutzige Aufgabe, die geflüchteten sogenannten ›staatsgefährlichen Subjekte‹ zu überwachen, meine eigentliche sei. Es kostete mich eine unwahrscheinliche Mühe, mich selbst endgültig davon zu überzeugen, daß meine Existenz verloren und verlogen war, mein Name erborgt, wenn nicht gestohlen, mein Paß das schändliche Papier eines schändlichen Spitzels. In dem Augenblick aber, in dem ich all dies erkannt hatte, begann ich mich selbst zu hassen. – Ich hatte mich immer gehaßt, meine Freunde! – Nach all dem, was ich euch erzählt habe, wißt ihr es ja! – Aber der Haß, den ich jetzt gegen mich empfand, war ein Haß von einer anderen Art. Zum erstenmal empfand ich Verachtung gegen mich. Vorher hatte ich nie gewußt, daß eine falsche Existenz, aufgebaut auf einem erborgten und gestohlenen Namen, die eigentliche, die wirkliche Existenz vernichten könne. Jetzt aber erfuhr ich am eigenen Leibe sozusagen die unerklärliche Magie des Wortes; des geschriebenen, des aufgeschriebenen Wortes. Gewiß, ein nichtsnutziger, ein gedankenloser Polizeibeamter hatte mir einen Paß auf den Namen Krapotkin ausgestellt; und er hatte sich dabei nicht nur gar nichts gedacht; er hatte es auch für selbstverständlich gehalten, einem Spitzel Golubtschik den Namen Krapotkin zu verleihen. Dennoch, es war Magie, es ist Magie in jedem gesprochenen, geschweige denn in jedem geschriebenen Wort. Durch die einfache Tatsache, daß ich einen Paß auf den Namen Krapotkin besaß, war ich ein Krapotkin schlechthin; aber zugleich bewies mir dieser Paß noch auf andere, ganz irrationale Weise, daß ich ihn nicht nur zu Unrecht, sondern auch zu unredlichen Zwecken erworben hatte. Er war gewissermaßen der stetige Zeuge meines üblen Gewissens. Er zwang mich, ein Krapotkin zu werden, indes ich nicht aufhören konnte, ein Golubtschik zu sein, Golubtschik war ich, Golubtschik bin ich, Golubtschik bleib' ich, meine lieben Freunde! ...

Außerdem aber – und dieses ›außerdem‹ ist bezeichnend und wichtig – war ich verliebt in Lutetia. Begreift ihr wohl: ich war verliebt, ich, der Golubtschik. Sie aber, die sich mir hingegeben hatte, war vielleicht – wer kann es wissen – in jenen Fürsten Krapotkin verliebt, den ich darstellen mußte! Für mich allein war ich also gewissermaßen der Golubtschik, wenn auch mit dem festen Glauben, ich sei Krapotkin; für sie aber, für sie, die damals den Inhalt meines Lebens darstellte, war ich Krapotkin, ein Cousin jenes Gardeleutnants, meines Halbbruders, den ich haßte und der sie vor mir umarmt hatte.

Ich sage: vor mir. In dem Alter nämlich, in dem ich mich damals befand, ist der Mensch gewohnt, alle jene Männer mit einem tiefen Haß zu hassen, die vor ihm seine geliebte Frau, wie man so zu sagen pflegt, ›besessen‹ haben. Wie aber sollte ich gar meinen falschen Halbbruder nicht hassen? Den Vater, den Namen und die geliebte Frau hatte er mir genommen! Wenn ich überhaupt einen Menschen meinen Feind nennen konnte, so war er es. Ich hatte noch nicht vergessen, wie er in das Zimmer meines Vaters – nicht des seinigen – eingebrochen war, um mich daraus zu vertreiben. Ich haßte ihn. Ach, wie ich ihn haßte! Wer, wenn nicht er, war schuld daran, daß ich das schmutzigste aller Gewerbe ausübte? Er vertrat mir immer wieder den Weg. Ohnmächtig war ich gegen ihn, übermächtig war er mir gegenüber. Immer, immer stand er gegen mich, ja immer, immer kam er mir zuvor, um gegen mich aufzustehn. Nicht der Fürst Krapotkin hatte ihn gezeugt. Gezeugt hatte ihn ein anderer. Schon in der Sekunde, in der ihn der andere gezeugt hatte, hatte er angefangen, mich zu betrügen. Oh, ich haßte ihn, meine Freunde! – Und wie ich ihn haßte!

Erlaßt mir, meine Freunde, die nähere Beschreibung der Umstände, unter denen ich der Geliebte Lutetias geworden war. Es war nicht schwierig. Es war nicht leicht. Ich liebte damals, meine Freunde, und es ist mir also heute schwer zu sagen, ob ich es schwer oder leicht hatte, der Geliebte Lutetias zu werden. Es war schwer und leicht, es war leicht und schwer – wie ihr wollt, meine Freunde! ...

 

Ich hatte ja damals keine genaue Vorstellung von der Welt und von den sonderbaren Gesetzen, welche die Liebe regieren! Zwar war ich ein Spitzel, man hätte also denken müssen: ein mit allen Wassern gewaschener Mann! Aber ich war, trotz diesem meinem Beruf und trotz allen Erfahrungen, die er mir eingetragen hatte, Lutetia gegenüber ein harmloser Dummkopf; Lutetia gegenüber, das heißt allen Frauen, der Frau überhaupt gegenüber. Denn Lutetia war die Frau kurzweg, schlechthin – – die Frau überhaupt. Sie war die Frau meines Lebens. Sie war die Frau, sie war das Weib meines Lebens.

Es ist leicht, meine Freunde, heute über den Zustand zu spotten, in dem ich mich damals befand. Heute bin ich alt und erfahren. Heute sind wir alle alt und erfahren. Aber jeder von euch wird sich an eine Stunde erinnern können, in der er jung und töricht war. Nun, es war bei jedem von euch vielleicht nur eine Stunde, nach der Uhr gemessen. Bei mir war's eine lange Stunde, eine viel zu lange Stunde! ... – wie ihr bald sehen werdet.

 

Ich meldete mich, wie man's mir befohlen hatte und wie es meine Pflicht war, bei der russischen Botschaft.

Es war da ein Mann, sag' ich euch, der mir auf den ersten Blick gefiel. Er gefiel mir sogar außerordentlich. Es war ein großer, kräftiger Mann. Es war ein schöner, kräftiger Mann. Er hätte eher bei der kaiserlichen Garde dienen können als bei unserer geheimen Polizei. Menschen seinesgleichen hatte ich bis dahin in unserer Gesellschaft noch nicht viel gesehen. Ja, ich muß sagen, es tat mir, nachdem ich kaum eine Viertelstunde mit ihm gesprochen hatte, beinahe weh, ihn an der Stelle zu wissen, in der er keinesfalls der Niedertracht entgehen konnte. Ja, es tat mir weh! So viel echte, schöne Ruhe strahlte er aus, wie soll ich sagen: eine harmonische Kraft, das Kennzeichen eines wirklichen Herzens. ›Sie sind mir angekündigt‹ so begrüßte er mich. ›Ich weiß, welchen Unsinn Sie begangen haben. Nun – und jetzt – unter welchem Namen gedenken Sie hier zu leben?‹ – Unter welchem Namen? – Ja, ich hatte ja einen, den einzigen, der mir zustand. Ich hieß ja Krapotkin. Ich hatte ja Visitkarten. So jämmerlich war damals mein Überlegung. Seit einigen Jahren schon hatte ich unzählige Schurkereien verübt und nichts, meine Freunde, sollte man glauben, macht einen Menschen mehr klug, erfahren, überlegen als die Spitzelei. Aber nein, man täuscht sich darin. Meine Opfer waren gewiß nicht nur edler als ich, sondern auch bedeutend klüger, und auch dem Einfältigsten unter ihnen wäre es unmöglich gewesen, dermaßen eitel und lächerlich und kindisch zu sein. Ich war schon mitten in der Hölle, ja, ich war schon ein hartgesottener Knecht der Hölle, und immer noch – ich fühlte es in jenem Augenblick – war mein Schmerz über den Namen Golubtschik, über die Erniedrigung, die ich erfahren zu haben glaubte, meine Sucht, um jeden Preis Krapotkin zu werden, die einzige, dumme und blinde Triebkraft meines Lebens. Durch List und Gemeinheit, glaubte ich immer noch, könnte ich das auslöschen, was ich für den Schandfleck meines Lebens hielt. Aber ich häufte nur Schande über Schande auf mein armes Haupt. In jenem Augenblick fühlte ich undeutlich, daß ich Lutetia eigentlich gar nicht aus Liebe gefolgt war und daß ich mir nur zu meiner Rechtfertigung eine starke Leidenschaft eingebildet hatte, wie sie edlen Seelen allein zukommt. In Wirklichkeit hatte ich mich darein verbissen, Lutetia zu besitzen, wie ich versessen war, nicht mehr Golubtschik zu sein. Ich schuf in mir selbst, gegen mich selbst also, eine wahnwitzige Torheit nach der anderen, ich täuschte und verriet mich, wie es meine Aufgabe war, andere zu täuschen und zu verraten. Ich verstrickte mich selbst in meinen eigenen Netzen, es war zu spät. Obwohl ich all dies halb klar, halb unklar dachte, zwang ich mich immer noch zu der Lüge, an Lutetia sei alles gelegen und ihretwegen allein könnte ich nicht auf meinen falschen Namen Krapotkin verzichten. – ›Ich habe ja schon einen Namen‹, sagte ich und zeigte meinen Paß. Mein Vorgesetzter sah ihn gar nicht an und sagte: ›Junger Freund, um mit diesem Namen hier Geschäfte zu machen, müßten Sie ein Hochstapler sein. Sie aber haben das bescheidene Gewerbe eines mittleren Agenten. Aber, Sie mögen private Gründe haben. Es ist wahrscheinlich eine Dame dabei. Hoffen wir, daß sie jung und hübsch ist. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß junge und hübsche Damen Geld brauchen. Und ich bin sehr sparsam. Außerordentliche Prämien zahle ich nur für außerordentliche Schuftigkeiten. Ich werde bei Ihnen keine Ausnahme machen. Falsche Papiere, auf andere Namen, können Sie in beliebiger Anzahl bekommen. Also, gehn Sie! Sie melden sich bei mir, wann Sie wollen. Wo sind Sie abgestiegen? – Im Hotel Louvois, ich weiß es. Noch eines, lernen Sie Sprachen, besuchen Sie Kurse, Hochschulen, was Sie wollen. Sie melden sich zweimal in der Woche bei mir, hier, in den Abendstunden. Hier ist der Scheck. Daß Sie von Ihren Kollegen beobachtet werden, wissen Sie. Also, keine Dummheiten!‹

Als ich wieder draußen war, atmete ich auf. Ich fühlte, daß es eine jener Stunden war, die man, wenn man jung ist, entscheidende nennt. Später, im Leben, gewöhnt man sich daran, viele, fast alle Stunden für entscheidende zu halten. Es gibt gewiß Krisen und Höhepunkte und sogenannte Peripetien, aber wir selbst wissen nichts davon, und wir können einen Höhepunkt unmöglich von einer gleichgültigen Sekunde unterscheiden. Wir erfahren höchstens dies und jenes – und auch die Erfahrung nützt uns gar nichts. Erkennen und unterscheiden aber ist uns versagt.

Unsere Phantasie ist immer mächtiger als unser Gewissen. Obwohl mir also das Gewissen sagte, ich sei ein Schurke, ein Schwächling, ein Elender, ich sollte die jämmerliche Wirklichkeit nicht verkennen, ritt meine Phantasie in einem schrecklichen Galopp mit mir dahin. Mit dem ansehnlichen Scheck in der Tasche, von meinem sympathischen Vorgesetzten entlassen, der mir jetzt allerdings in dem gleichen Grade lästig erschien, wie er mir vorher sympathisch gewesen war, fühlte ich mich frei und ledig in dem freien und ledigen Paris. Abenteuern, herrlichen, ging ich entgegen, der schönsten Frau der Welt und dem modernsten aller Schneider. In jener Stunde schien es mir, daß ich endlich eine Art des Lebens begänne, nach der ich mich immer schon gesehnt hatte. Jetzt war ich fast wirklich ein Krapotkin. Und ich unterdrückte die eindringliche, aber fast unhörbare Stimme des Gewissens, die mir da sagte, ich ginge jetzt eigentlich einer doppelten Gefangenschaft entgegen, einer dreifachen gar: erstens der Gefangenschaft meiner Torheit, meines Leichtsinns, meines Lasters, an die ich aber schon gleichsam gewöhnt war; zweitens der Gefangenschaft meiner Liebe; drittens der Gefangenschaft meines Berufs.

 

Es war ein milder, sonniger Pariser Nachmittag im Winter. Die braven Leute saßen auf den Terrassen vor den Kaffeehäusern, und mit einer wonnigen Schadenfreude dachte ich daran, daß sich bei uns in Rußland um die gleiche Jahres- und Tageszeit brave Leute in den heißen und dunklen Stuben verkrochen. Ich ging, ohne Ziel, von einem Lokal ins andere. Überall erschienen mir die Menschen, die Wirte, die Kellner fröhlich und gutherzig, mit jener Gutherzigkeit gesegnet, die nur eine ständige Freude geben kann. Der Winter in Paris war ein echter Frühling. Die Frauen in Paris waren echte Frauen. Die Männer in Paris waren herzliche Kameraden. Die Kellner in Paris waren wie fröhliche, weißbeschürzte, flinke Handlanger irgendeines genießerischen Gottes aus der Sagenwelt. – Und in Rußland, das ich für immer verlassen zu haben glaubte, war es finster und kalt. Als stünde ich nicht mehr in den Diensten – und in welch abscheulichen Diensten – dieses Landes! Dort lebten die Golubtschiks, deren elenden Namen ich nur deshalb trug, weil ich dort zufällig zur Welt gekommen war. Dort lebten die nicht minder elenden, von Charakter elenden Krapotkins, ein Fürstengeschlecht, wie es eins nur in Rußland geben konnte und das Blut von seinem Blute verleugnete. Niemals hätte ein französischer Krapotkin dermaßen gehandelt. Ich war, wie ihr seht, jung, dumm, elend und jämmerlich damals. Aber ich erschien mir stolz, edel und siegreich. Alles, was ich in dieser prächtigen Stadt erblickte, schien mich zu bestätigen, meine Überzeugungen, meine früheren Handlungen und meine Liebe zu Lutetia.

Erst als der Abend vollends und meiner Meinung nach viel zu früh einbrach, gleichsam mit künstlicher Gewalt von Laternen allzuschnell herbeigeschworen, wurde mir elend zumute, und ich kam mir vor wie ein enttäuschter Gläubiger, der plötzlich alle Götter verloren hat. Ich flüchtete mich in einen Fiaker und fuhr ins Hotel zurück. Alles erschien mir auf einmal schal und falsch. Und mit aller Gewalt klammerte ich mich an die einzige Hoffnung, die mir noch geblieben war, an Lutetia. An Lutetia und an das Morgen. Morgen, morgen sollte ich sie sehen. Morgen, morgen!

Ich begann, was unsereins bei solchen Gelegenheiten zu tun beginnt: ich begann zu trinken. Erst Bier, dann Wein, dann Schnaps. Mit der Zeit fing es an, sich in meinem Herzen aufzuklären, und in den frühen Morgenstunden erreichte ich fast die gleiche Seelenfröhlichkeit, die mich am Nachmittag zuvor erfüllt hatte.

Als ich, nicht mehr ganz meiner Kräfte sicher, auf die Straße trat, graute bereits der winterliche, milde Morgen. Es regnete, sanft und behaglich, wie es bei uns in Rußland nur im April regnen kann. Dies und meine Verwirrung machten, daß ich einen Augenblick nicht mehr wußte, in welcher Zeit und in welchem Raum ich mich befand. Erstaunt und beinahe erschrocken war ich, da ich sah, mit welcher Untertänigkeit mich die Dienerschaft des Hotels behandelte. Ich mußte mich erst erinnern, daß ich ja eigentlich der Fürst Krapotkin war. Es kam mir, nach einer Weile, draußen im frischen, sanften Morgenregen zum Bewußtsein. Es war, als hätte mich geradezu der sanfte, frische Morgenregen zum Fürsten Krapotkin ernannt. Zu einem Pariser Fürsten Krapotkin. Das war damals meiner Meinung nach weit mehr als ein russischer.

Es regnete vom Pariser Himmel, sanft und gütig, auf meinen nackten Kopf, auf meine müden Schultern. Ich stand lange so vor dem Portal des Hotels. Hinter meinem Rücken fühlte ich den ehrerbietigen, den angestrengt gleichgültig tuenden und – dank meinem Berufsinstinkt – auch den zugleich nicht ohne Argwohn beobachtenden Blick der Dienerschaft. Er tat mir wohl, dieser Blick. Er tat mir wohl, dieser Regen. Der Himmel von Paris segnete mich. Schon begann der Morgen von Paris. Die Zeitungsträger gingen mit unwahrscheinlich frischem Gleichmut an mir vorüber. Das Volk von Paris erwachte. Und ich, als wäre ich kein Golubtschik, sondern ein echter Krapotkin, ein Pariser Krapotkin, gähnte, aus Müdigkeit zwar, aber auch nicht minder aus Hochmut. Und hochmütig, äußerst lässig und geradezu grandseigneural ging ich an den ehrfürchtigen und zugleich argwöhnischen Blicken der Hoteldiener vorbei, deren gekrümmte Rücken dem Krapotkin und deren Augen dem Spitzel Golubtschik zu gelten schienen.

Verwirrt und ermattet sank ich ins Bett. An die Fensterbretter trommelte gleichmäßig der Regen.

 


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