Erwin Rosen
Allen Gewalten zum Trotz
Erwin Rosen

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Das Glück von Ulm

Der Großvater Döbele und die vertrunkene Insel Mainau. – – Im Goldenen Ochsen. – Mein Zimmerle in der Walfischgasse. – Wie die erste Geschichte zu mir kam. – Von nächtlichen Gestalten. – Das erste Honorar. – König im Märchenland. – Das Geld war dumm, der Tag war reich. – Von Ulmer Bürgern, Rettichen und Kräuterkäse. – Mein Freund der Pudel. – Du liebes altes Ulm. – Wenn die Lebenswage still steht ... – Das Telegramm aus Berlin. – Abschied vom Glück in Ulm.

Den Setzmaschinenmann aus Berlin verschlang unter mißtönenden Geräusch eines großen Krachs mit dem Gepäckträger der Ulmer Bahnhofsboden. Er war auf einmal weg.

Ich war allein. Den Weg wußte ich. Den kannte ich schon als Bub', soviel hatte die Mutter uns Kindern von Ulm erzählt. Der breite Weg vom Bahnhof führte in eine enge Gasse und die enge Gasse bog ein zum Münsterplatz. Dicht am Münsterplatz lag das alte Haus, das einmal meinem Großvater gehört hatte; dem Großvater Döbele. Der war ein großer Herr gewesen und hatte im Württembergischen Weinberge gehabt und Jagden. Ich mußte lachen. Ich hatte achtzig Mark. Hah, daran war eigentlich der Schandfleck von mütterlichem Ahn schuld, der elende Ritter, der in einer einzigen Woche die Insel Mainau verspielt und vertrunken hatte. Diesen Ahn konnte meine Mutter nicht leiden –

»Guck, Winerle, hätt' der Dreckkerl die schöne Insel net versoffe', dann wäre' mir arg reich!«

Wenn meiner Mutter etwas ans Herz ging, redete sie Schwäbisch ... Aber Unsinn! Was scherten mich die Sünden des Ahns und was nützten mir die ehemaligen Weinberge. Arbeiten mußte ich. Dazu war ich in Ulm. Und arbeiten wollte ich. Dazu hatte ich meine Geschichten im Kopf. Gut sah die Gasse aus. Nett waren die schiefen Häuser, die Ecken, die Winkel, die alten Dächer. Aber ich sah sie kaum. Ich dachte an die Wolkenkratzer New Yorks und an Menschen, die im Lift ins zwölfte Stockwerk fuhren. Über die schrieb ich jetzt. Davon war mir der Kopf voll.

Von einer Hauswand baumelte ein Schild mit einem goldenen Ochsen.

Ich ging in den Goldenen Ochsen und bestellte Mittagessen.

Die nette Kellnerin zwinkerte vergnügt mit den Äuglein und erzählte gleich, daß sie Babett hieße. Dann brachte sie Bier herbei, Spätzle, brägelte Spätzle mit Eiern, und Salat, und Weck' mit Butter.

»Der Herr isch' net hiesig?« fragte die Babett neugierig.

»Nein!« sagte ich.

»Bleibt der Herr in Ulm?«

»Ja,« sagte ich.

»Sie sind aber gar net g'sprächig,« schmollte die Kellnerin.

»Jawohl, Babettle, der Herr bleibt in Ulm. Und so lang' der Herr in Ulm ist, trinkt er seinen Schoppen nirgends wo anders als im Goldenen Ochsen bei der Babett!«

»Das saget Sie jetzt nur so!« meinte sie. »Bleibet Sie länger in Ulm? Was ischt denn der Herr, wenn ich frage' darf?«

»Schriftsteller!« sagte ich. Aber ich sagte es zögernd. Das Wort wollte nicht recht heraus. Doch, zum Donnerwetter, ich war nach Ulm gekommen, um Geschichten zu schreiben, und wer Geschichten schreibt, ist Schriftsteller ...


Ich mußte mir eine Wohnung suchen. Ich kam in winkelige Gäßchen, und bog rechts ab, und wandte mich nach links, wie nun die Laune es eingab. Überall zweigten die Gassen ab. Dort stand in verträumtem Winkel frohblühender Holunderbaum. Hier führte Brücke über kleinen Bach. Das mußte die Blau sein, aus dem Blautopf in BIaubeuren. In den Gäßchen standen uralte Häuser, und da waren wieder andere Häuser, ganz neue, splitternackte. Und da war holpriges Pflaster mit Gras dazwischen.

Da und dort an den Regenröhren der Dachrinnen klebten Zettel, die verkündeten, daß Zimmer zu vermieten seien. Einer gefiel mir endlich ganz besonders. »Nettes Zimmerle!« versprach der Zettel. »Für einen besseren Herrn. Walfischgasse vierzehn.«

Das Haus Nummer vierzehn war schön gelb angestrichen. Die weißen Vorhänge an den Fenstern sahen appetitlich aus. Über die Pflastersteine des schmalen Hofes führte der Weg durch eine knarrende Haustüre eine enge steile Treppe hinauf. Im ersten Stock – stand auf dem Zettel. Ich zog am Glockenzug, und ein Glöckchen läutete. Eine alte Frau machte auf.

»Ich möchte gern das Zimmer –«

»'s Zimmerle? Kommet Sie nur 'rein!«

Das Zimmerle ging auf den Seitenhof hinaus. Durch das altmodische Fenster, an dem allerlei merkwürdige Klappen waren, sah man rote Dächer, spitze Giebel, winkelige sonnenbestrahlte Häuserchen. Vor dem Fenster stand ein großer Tisch mit weißgescheuerter Platte. Unter dem Fuß knirschten Sandkörnchen. An der einen Wand leuchtete ein richtiges schwäbisches schneeweißes Bett, so hoch aufgebaut mit Pfühlen und Unterpfühlen und Oberpfühlen, daß man sich wohl einen richtigen Schwung geben mußte, wenn man hineinklettern wollte. Die andere Wand nahm ein großer Kleiderschrank ein. Ein gelb lackiertes Ungetüm.

»Also 's Zimmerle kostet halt fünfzehn Mark im Monat, mit 'm Kaffee!« sagte die alte Frau.

Sie stand so recht gemütlich da, die Hände über dem ansehnlichen Leib gefaltet auf einer Schürze, die so weiß war, wie sicher keine andere Schürze auf der ganzen Welt. Aus silbergrauem Haar lachte ein vergnügtes pausbäckiges Gesicht mit frischen roten Wangen.

»Aber ich muß eine Lampe haben –«

»Wir habe' eine.«

»Und gelegentlich muß mir etwas geholt werden –«

»Ha, i bin viel beim Wäsche und Bügle, aber wenn i net da bin, ischt der Alte da. Eins ischt immer da.«

»Ich werde nämlich viel zu Hause sein und viel schreiben.«

»Aha! Schreibe? 's ischt immer eins da. So e Viertele Wein hole, gel', oder e Bierle?«

»Schön, dann –«

»Sie sind aber net hiesig?«

»Nein,« sagte ich. »Ich will nur eine Zeitlang in Ulm bleiben. Ich will hier in Ulm etwas schreiben: ich bin – Schriftsteller. Aber meine Mutter war eine Ulmerin. Mein Großvater hieß Döbele.«

»So? Der alte Döbele selig? Am Münschter? Fritz,« – die Stimme gellte wie eine Signaltrompete – »Fritz – der Herr nimmt's Zimmerle – er ischt verwandt mit dem alten Döbele selig –«

»'s isch guet,« sagte der alte Mann, der hereingekommen war, eine klobige Holzpfeife zwischen den Zähnen. Er hatte ein schwarzseidenes Käpplein auf. An den Füßen trug er Schlappen. Er war klein und hager. Eine scharf gebogene Nase, schön rot an der Spitze, schob sich trotzig in die Welt hinein. Unter buschigen Augenbrauen funkelten jähzornige kleine Äuglein. Drei von dieser Gestalt hätte man gebraucht, um seine behäbige Frau zu machen.

»'s isch guet!«

»Dann will ich meinen Koffer holen –«

»Den kannscht du hole', Fritz!«

»'s isch guet! Wo ischt er?«

»Im Goldenen Ochsen.«

»Da kannscht glei' e Viertele Wei' trinke' im Goldene' Ochse' –«

»I trink kein' Wei' im Goldene' Ochse – im Goldene' Ochse' ischt er net so guet heuer.«


Ich packte meine sieben Sachen aus, räumte herum, und ließ mir von Frau Marie das erste von vielen Abendbroten holen, die ich im stillen Stübchen von Ulm essen sollte. Es bestand aus einem Herrenweck' für fünf Pfennige, einem Stück Wurst für zehn Pfennige und einem Glas Bier für achtzehn Pfennige. Es schmeckte überaus gut. Dann setzte ich mich fest hin: mit dem festen Vorsatz, meine erste Geschichte zu schreiben ...


Es ging mir im Kopf herum zuerst, was ich da irgend einmal gelesen hatte über die große Kunst, eine kleine Geschichte zu schreiben. Die Handlung bedurfte schärfster Berechnung, das Geschehen mußte sich erst in den allerletzten Zeilen zuspitzen, sei die Geschichte nun ernst oder lustig, damit die rechte Wirkung erzielt wurde. Auf die Herausarbeitung des Wesentlichen in knappsten Strichen kam es ganz besonders an. Am besten war es, wenn man nur mit zwei Figuren arbeitete. – Also, das war eine schwierige Sache. Man mußte ganz klar denken:

Die Figuren – die knappen Striche – das Zuspitzen ...

Und da war auf einmal das Stübchen angefüllt von Menschengestalten. Der Mann aus Cripple Creek in Colorado, der die eigentümliche Gewohnheit hatte, beim Whiskytrinken plötzlich ein paar Schüsse in den Boden zu feuern, weil es ihm großen Spaß machte, wenn die Mittrinkenden dann entsetzt hopsten – der Mann aus Cripple Creek zwinkerte gerade vergnügt und griff langsam, heimlich und vorsichtig nach dem Pistolenhalfter ... Mein Freund, der Polizeileutnant O'Donovan, kam auf der Marketstreet in San Franzisko auf mich zu, und sagte im Vorbeigehen leise, den Mund kaum aufmachend: »Streife in der Chinesenstadt heute abend. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mitkommen. Üblicher Treffpunkt.« Ein Mädel deutete mit spitzem Zeigefinger auf mich und lachte dabei wie nicht gescheit. Ein altes Weib stand da, die Arme in die Hüften gestemmt und sagte: »Meinetwegen könnt Ihr mit 'nem Papierkragen und 'ner Zahnbürste als Gepäck einziehen: die Hauptsache ist die Vorausbezahlung. Im voraus für 'ne Woche un' nächste Woche dieselbe Sache – klar?« Der Mann aus Philadelphia mit der furchtbar komischen Nase, die aussah wie drei aneinandergereihte große Erdbeeren, erzählte mir weinerlich: »Aber ich trink' doch gar nicht. Ich hab' nie getrunken. Und das glaubt mir kein Mensch!« Und ich selber war mitten drin unter den Leutchen. Es wimmelte nur so von Gestalten und Dingen. Ich sah sie greifbar vor mir, und kicherte vor mich hin, und lachte oft laut.

Und dann war auf einmal die Geschichte da. Die hatte ich in einem New Yorker Gerichtssaal erlebt. Ein Mann war grober Sachbeschädigung angeklagt. Er hatte sich nämlich gänzlich energielos gefühlt, war auf die Suche nach Energie gegangen, und hatte einen Menschenfreund gefunden, der ihm für viele Dollars einen »Energisator« verkaufte: Eine elektrische Maschine, die der Energielose sich auf den Buckel schnallen mußte und dann den Strom einschalten. Hierauf drehte sich eine Metallbürste. Die Bürste machte energisch. Der energielose Mann zerkratzte sich den ganzen Rücken mit dem Apparat, fühlte sich aber keineswegs energischer. Darauf ging er hin zu dem Menschenfreund, verprügelte ihn fürchterlich, schlug ihm den halben Laden kaput samt den Fenstern, und zertrümmerte endlich ein volles Dutzend der kostbaren Energiemaschinen – der arme Energielose!

Ich schrieb drauf los, kichernd, hellauf lachend über jeden zweiten Satz: und ganz gewiß hab' ich dabei kein einzigesmal gedacht an schärfste Berechnung, Tempo, und Zuspitzen. Als ich fertig war, las ich das Zeug noch dreimal und, siehe da, es war sehr gut. Dann schrieb ich es ins Reine. Hierauf verfertigte ich einen Begleitbrief an das Ulmer Tagblatt. Und dann kletterte ich, es fing schon an, hell zu werden, ins Bett und freute mich beim Einschlafen auf die nächste Geschichte morgen.

Höh! Es wimmelte ja nur so von Geschichten ...


Es war mir überhaupt ganz unbegreiflich, wie ich ein so kümmerliches Leben hatte fristen können, in dem keine Geschichten geschrieben wurden. Die zweite Geschichte ging an die Münchener Neuesten Nachrichten, und die dritte an das Berliner Tageblatt. Am dritten Tag hatte ich noch keine Antwort vom Ulmer Tagblatt. Ich bekam es mit der Angst. War das wieder ein Mißerfolg? Kam abermals eins dieser höflichen ablehnenden Formulare? Ging es jetzt doch an 's Steineklopfen? Ich hielt es nicht mehr aus. Ich lief zum UImer Tagblatt.

Der Mann mit dem großen Bart an dem wüst unordentlichen Schreibtisch mit den vielen Zeitungen beguckte mich durch scharfe Brillengläser.

»Die Energiegeschichte? So. Sie sind das? Die ist ganz nett. Wir bringen sie heute. Honorar zwanzig Mark.«

Mir war, als hätte ich einen Sieb auf den Schädel bekommen. Ich zuckte zusammen –

»Ho–norar–zwa–«

»Zwanzig Mark!« sagte der Redakteur. »Das ist unser Honorarsatz für kurze Humoresken!«

Es war wahr! Ich hätte am liebsten geschrien und gebrüllt! Ich wurde gedruckt in einer deutschen Zeitung. Den Mann da, die Zeitung, mich selber, die ganze Welt hätte ich umarmen mögen. Der Weg war gefunden! Der Anfang war da. Jetzt ging es vorwärts. Eine Last sank mir vom Herzen: die schwere langgetragene Last. Ich richtete mich straff auf –

Der Weg! Das Ziel!! Es wurde noch einiges geredet. – Das war ein guter Mensch, der Mann mit dem großen Bart. Er hat mir nicht nur Bücher geliehen, und Simplizissimusse, Zeitungen, Jugenden geborgt, sondern mir viele Stunden seiner Zeit geschenkt, aus denen gute Ratschläge herauswuchsen. Wir haben sie zu Hunderten bei der deutschen Zeitung, diese guten Menschen. Wenn sie eine Begabung wittern, dann helfen sie aus schierer Freude am Körnchen in der Spreu mit Abdrucken und Honoraren und Empfehlungen, und werden es nie müde, Wege zu zeigen. Ich möchte wohl wissen, wie viele berühmte Männer des deutschen Schrifttums ihr Brot in der Zeit des Ringens solch' einem abgerackerten guten Menschen verdanken, der anderen half, während er selbst stöhnte über zerfressende Kleinarbeit –

»Darf ich in den Setzersaal gehen?« fragte ich.

»Natürlich! Sehen Sie sich nur um bei uns!«

Der Berliner Reisegefährte saß in Hemdsärmeln und ohne Kragen schwitzend an seiner Setzmaschine und klapperte drauf los.

»'Morgen!« sagte ich. »Wie geht's?«

»Skandal!« sagte er. »Infam! Det Jestänge is verbogen. Un' ausjerechnet im Jestänge is der Typograph kitzlich. Wer'n ma aber schon kriegen. Dja. – Nächste Woche ist die Verhandlung!«

»Welche Verhandlung?«

»Wenn ich Ihnen das erzähle, lachen Sie sich tot. Der Kerl von Gepäckträger auf dem Bahnhof is frech geworden!«

»Hals- und Beinbruch!«

»Ach Jottchen,« lächelte der Berliner, »wir sin' doch man bloß in Ulm! Wir haben doch die Erfahrung! In Berlin würden se mir vielleicht verknaxen – aber in Ulm – es is zum Piepen! Trinken wir mal jelejentlich 'n Glas Bier? Ja? – Im Goldenen Ochsen? – Kenn' ich! Heute abend? – Jut! – Det verflixte Jestänge! Ich hab's die Schafsköpfe immer jesagt, sie müßten beim Verpacken ...«

Lachend ging ich fort. Bei Gott, jetzt hatte ich die deutsche Zeitung doch! Was die eine druckt, druckt auch die andere.

Und ich war auf einmal wieder sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit ...


Die Münchener Neuesten Nachrichten nahmen an. Das Berliner Tageblatt nahm an. Das begeisterte mich. Ich hatte sie; ich hatte sie!

Aber die Freude über den Erfolg lief doch eigentlich nur so nebenher, so schön sie war, denn jetzt war ich schon wieder so weit, daß ich den Erfolg als selbstverständlich in Empfang nahm und gar nicht auf den Gedanken kam, daß irgend etwas schief gehen konnte. Selbstverständlich werden sie meine Geschichten drucken! Selbstverständlich wird das genug Geld einbringen zum Leben! Selbstverständlich werde ich sogar berühmt werden und reich obendrein! Aber das war doch nebensächlich. Das wirklich Schöne war das Fabulieren an dem großen Tisch im gelben Schein der kleinen Petroleumlampe, denn ich arbeitete oft nachts. Das enge Zimmerchen mit dem Tisch und dem Bett und dem Schrank war mir zur großen weiten Welt geworden. Der winzige Raum enthielt alles Erleben und alle Menschen der Vergangenheit. Die Erinnerungen stürmten auf mich ein, die Gestalten drängten sich herbei, eingefangen zu werden in Worte. Wenn ich saß und schrieb und vor mich hin sprach, umhuschten mich Menschen und Bilder. Ich sah sie leibhaftig. Ich konnte in sie hineinsehen. Ich wußte, was sie dachten und fühlten. Dann wurde das Gehör überfein; auch äußerlich. Der Bohrwurm im alten Balken pochte dröhnend wie schwerer Hammer. Der Körper bestand nur aus dem irgend etwas im Kopf, das die Gestalten zeigte, und der leicht schreibenden Hand; der Leib, die Glieder waren federleicht. Ich hörte das Blut in den Schläfen ticken. Wenn die Münsterglocken die Mitternachtsstunde schlugen, fuhr ich auf, erschrocken. Aber dann wuchs aus dem Schatten im Winkel neben dem Fenster eine Form heraus, nebelig. Zuerst war es eine Kirche in San Franzisko. Dann ein Zerfließen und eine Glocke schwang. Und wiederum ein Schleier und aus der Glockenform heraus wuchs das kleine Waldkirchlein in Texas. Noch aber hatten die Glocken nicht den letzten Schlag geschlagen ... Ich vergaß die Zeit. Mir war, als hätte ich so sitzen können und schreiben, schreiben in alle Ewigkeit hinein. Ich war Herrscher im Märchenland. Ich selber schuf mir die Königreiche und die Untertanen. Immer neue. Mir gehörte alles. Wenn da die Zeilen herauswuchsen aus dem Nichts, und jedes Wort gut schien, jeder Satz ein Werk, kam ich mir vor wie Schöpfer und Herr; ich lebte in meinen Geschichten. Ich lachte mit ihnen und weinte mit ihnen: stand mit ihnen auf und ging mit ihnen ins Bett. Ich war glücklich.

Jeden Tag schrieb ich eine Geschichte.

Es kam auch Geld. Ich verdiente so etwa hundert Mark im Monat, vielleicht sogar einmal zweihundert. Das Geld war dumm. Der Tag war reich.


Morgens kam der Briefträger. Der brachte den wohlbekannten grünen Brief aus Berlin mit dem grellen Aufdruck der großen Zeitung, die kurz schrieb: »Ihre Humoreske haben wir angenommen – Honorar vierzig Mark.« Oder schrieb, diesmal auf vorgedrucktem Formular – »bedauern wir, nicht verwenden zu können. Die Ablehnung enthält kein absprechendes Urteil über den Wert der Arbeit, sondern ist durch Raumgründe und besondere Erfordernisse unseres Blattes bedingt.« Gott segne den Mann, der dieses Ablehnungsformular erfand! Es ist so tröstend höflich!

Den Geldbriefträger sah ich schon von weitem kommen, denn ich stand wartend am Fenster. Und jetzt klingelte es.

»Unterschreibe', bitte –«

Oh Wonne! – Damit fing der Tag an. Frau Marie sagte vergnügt guten Morgen –.

»'s Kaffeele ischt im Wohnzimmer!«

Und dann las man im altväterischen Wohnzimmer die Zeitung, und wartete, bis Frau Marie das Zimmerle zurecht gemacht hatte. Der Mann im Seidenkäppchen bot einem wohl auch einmal einen Morgenschnaps an, obgleich er im allgemeinen Wert darauf legte, diesen Schnaps nur selber zu trinken. Dann ging's ans Schreiben, und die Zeit ging im Fluge vorbei. Wenn es so gegen ein Uhr wurde, und der Magen sich meldete, drehte man wohl dann und wann erwartend den Kopf, bis Frau Marie zur Türe hereinguckte.

»Gehen S' denn net zum Essen?«

»Ich hab' keine Zeit.«

»Soll i Ihne' was hole'?«

»Ja, bitt' schön – Dreiquartel, und ein' Weck, und für zehn Pfennig Schwartenmagen. Legen Sie 's halt aus.«

»Ja, gern. Aber Sie müsset net so fleißig sein. Gehen S' doch raus und schauen S' Ihnen die Mäderl' an und trinken S' a Schöpple –«

»Hab' kein Geld. Aber morgen kommt's – telegraphisch!«

»Aber dann sagen Sie's doch – immer am Tisch hocken – so e fünf Märkle hätt' i scho' – ja, da gibt's nix zum Danken ...«

Und dann kam das köstliche Mittagessen. Ein Krug Bier, zu dreivierteln gefüllt, daher die Bezeichnung Dreiquartel, aber manchmal auch ganz gefüllt, denn die Ulmer haben ein gutes Herz, und ein frischer knusperiger Weck und das große Stück Schwartenmagen für zehn Pfennige. Wie das schmeckte! Das war ein Mittagessen! Nie im Leben wieder hat etwas so köstlich gemundet. Später hat man Kaviar haben müssen, Hummern, norwegische Schneehühner, Rehrücken mit Cumberland- Tunke, und es war unbedingt notwendig, daß man bei Töpfer in Berlin, oder Böttner in München, oder Schümann in Hamburg schlemmte. Der Mensch ist und bleibt doch fürchterlich dumm –

Rutsch, 'raus nun in die Luft!

Die junge schlanke Nudelfrau beugte sich dann wohl über das Treppengeländer. Ich nannte sie die Nudelfrau, weil ihr und ihrem Mann das winzige Arbeitshäuschen hinten im Hof gehörte, das sich stolz eine Nudelfabrik nannte. Die Nudelfrau las gern. Die dicken Bücher mit der vielen Liebe bekam sie von mir und die Jugend mit den herrlichen Bildern. Ich selber hatte sie vom Ulmer Tagblatt bekommen. Es war eine hübsche Kette. Die Kette führte über den Schreibersmann zum weinseligen Männchen mit der Seidenkappe, zur Nudelfrau, zur Babett', zum Maschinensetzer, und dann und wann sogar zu einem fremden Ulmer Mädle, das ganz vergaß, das Buch wiederzubringen, dafür aber auch selber ganz vergessen wurde –

»Haben S' net wieder was zum Lesen?« sagte die Nudelfrau.

»Ja.«

»Gehen S' schon wieder weg?«

»Schon wieder?« rief ich entrüstet. »Aber ich sitz' doch immer zuhaus –«

»Ja, ich mein' nur« – sie beugte sich weit über das Geländer. »I mein' halt nur. Aber so schön war die Geschicht' mit dem Grafen und der Försterstochter – wissen S' – i hätt' glei' heule könne ...«

»Ja. Gehen S' nur rein zu mir. Auf dem Tisch liegen Bücher. Suchen Sie sich eins aus –«

Ich schwang den Stock. Es ging hinaus in die Sonne. Zuerst auf den winkeligen Platz am Wall, wo immer der Ochsenmarkt abgehalten wurde. Da stand ein kleines altes Wirtshaus. In dem wohnte der Maschinensetzer, der länger in Ulm blieb, als er beabsichtigt hatte. Der Maschinenmann war Herr über einen schwarzen Schnürenpudel. Dieser Pudel war mein Freund. Wenn ich unten auf dem Platz stand und pfiff, kläffte er so lange, bis er herausgelassen wurde.

Ich pfiff.

Der Pudel kam herangerast, machte närrische Sprünge, warf mich beinahe um. Dann gingen wir selbander in die Sonne; der Pudel und ich. Der Weg war vorgeschrieben. Zarte Rücksichtnahme auf heilige Pudelrechte zwang mich, zuerst zum nahen Schwemmplatz an der Donau zu gehen und dort mit ernsthaftem Bemühen ein Stück Holz immer wieder ins Wasser zu werfen, große Freude heuchelnd, wenn das wertvolle Gut wiedergebracht wurde. Dann ging's auf die Felder beim Festungsgraben. In diesen Feldern wohnten fette Mäuschen. Die hatte mein Pudel gern. Wenn er so ein richtiges Mausloch gefunden hatte, schaute und grub er so lange, bis er glücklich die ganze Mäusefamilie am Wickel hatte; Eltern und Großeltern und Kinder und Kindeskinder. Die fraß er beschaulich auf. Ich guckte zu und machte bei der Jagd kß – ksss ... Nach einer Viertelstunde oder so verursachten die gefressenen Mäuschen dem Pudel gräßliches Mißbehagen im Leib. Er krümmte sich. Ich lachte ihn aus. Wenn wir nun an irgend einem verlockenden Mauseloch vorbeikamen, war er moralisch. Er stellte sich so an, als ob er ungefähr sagen wollte, daß auch das fetteste Mäuslein ihn niemals wieder im Leben interessieren würde. Am nächsten Tag aber ging er auf das kleinste Mäuseloch darauflos wie der Teufel! Wir Menschen sind gerade so. – Dann ging's im Geschwindschritt durch die Sonnenwege, die sich in Ulm an der Donau ziehen. Ich dachte später noch oft an diesen Weg. »An der Mauer« heißt er. Er schlängelte sich heimelig auf Terrassen zwischen blütenumsponnenen hohen Mauern und hatte knorrige Bäume und lustigen Bach und heimliche Winkelchen und Ecken, und große violette Schatten, jäh und stark. Bald sah man friedliche kleine Häuserchen mit roten Dächern und grün schimmernden Läden und einen bunten Wirrwarr von Ecken und Kanten; bald im grünen Ausschnitt das gelbe Kiesgeröll und den reißenden Strom. Dann wieder tauchten am Wall winzig kleine Häuserchen auf, da droben auf der alten Mauer beim Zundeltörle, wie auf einer Brücke hoch über der Straße stehend. So winzig sahen sie aus, als hätten Zwergmenschen sich da ein Puppenreich gegründet. Sie waren immer meine Sehnsucht, diese Häuschen. Putzig kleine Fensterchen hatten sie. Die Türen waren so niedrig, daß ich mich hätte bücken müssen, einzutreten. Aber alles funkelte blitzsauber. Winzige weiße Vorhänge. Uralte Messingtürschnallen, von seltsamen Formen, in der Sonne leuchtend. Von Häuschen zu Häuschen, von Fenster zu Fenster, von Türe zu Türe, schlang sich blühendes Gewirre rankender roter Röschen, die jubelten und jauchzten und das Grau der kleinen Häuschen mit holdem Märchenschimmer verkleideten. Auf schmalen weißen Bänken vor den Türen saßen alte Frauen mit weißen Schürzen und silbernem Haar, fleißig über den Strickstrumpf gebeugt. Auf der gelben Straße spielten frohe Kinder –

»Bärbele, sei net so wüscht!« mahnte irgend eine Großmutter auf irgend einer Bank ...

Oder es ging noch in die Au zum Vespern.

Da waren die Biergärten. Einer hieß die Hundskomödie. Da saß auf fester Bank an langem Tisch in majestätischer Ruhe der Ulmer Bürger. Andachtsvoll schnitt er auf der Tischkante den weißen Rettich in seine durchsichtige Scheiben. Wenn er das Salz dazwischen tat, so glich das einer sakralen Handlung. Es war wie eine Weihe. Man hätte die Hände falten mögen. Oder er hatte ein Messer in der Faust und mengte, mit Männerkraft drückend und knetend, den pulverigen Kräuterkäse mit der gelben Butter zusammen; ganz Hingabe. Die Frau und die blondbezopften Mädle daneben flüsterten nur noch; der Vater machte den Käse an. Leise sein! Wenn ich einmal alt und des bunten Treibens müde bin, dann möchte ich im alten Ulm wohnen dürfen und in der Hundskomödie lernen, wie man den Rettich rädelt und den Kräuterkäse anmacht. Im Erinnern grüße ich euch, ihr stillen Ulmer Augärten! Eure Ruhe und Weltverlorenheit, euer Vesperkult trägt deutsche Kraft in sich.

Dann noch auf dem Heimweg die Mädle angeguckt, die lachten und kicherten beim zeitgeheiligten Spazieregehe'. Vielleicht noch zur Babett' zu einem Schöpple dann, und eine dunkelrote Rose gekauft für ein paar Pfennige, und zum Zigarettenmann gegangen, der sich freute über den alten Kunden und liebevoll die würzige Mischung abwog aus Türkischem und Latakia.

Der Pudel zog immer den Schwanz ein, wenn wir in die Stadtstraßen kamen, und trollte sich mißvergnügt nach Hause. Ich war bei ihm angestellter Spezialist für Wasserknüppel und Mäusefelder. Das Straßengetue gefiel ihm nicht –.

Und nun nach Hause; zum Schaffen im Stübchen –

Liebes altes Ulm! Deine Mädle kriegen ledige Kinder, weil's ihnen das Herz abstoßen würd', wenn sie Nein sagen sollten, und sie bleiben doch brav dabei; und deine Männer sind saugrob und sagen zehnmal im Tag, was Goethe den Götz von Berlichingen nur einmal hat sagen lassen, aber sie sind gut und stark. Molfenter heißen sie und Käßbohrer und Schmalzigaug; wo so die Menschen heißen, sind sie schlicht und gut. Auf gutem deutschem Boden stehst du, Ulm! Da soll man dir auch ruhig deine Schöpple lassen, in deinen vielen Weinstüble, und deine klassische Grobheit, und dein ehrliches Werkeln, bei dem du dich keineswegs überstürzt. Du bist guter Sauerteig. Ach, Ulm, vielleicht wär' ich ein Dichter geworden, würd' ich bei dir geblieben sein. Aber ein Stückchen von meinem Herzen hast du behalten. Blühe und gedeihe, gutes altes Ulm! Hilf mit, daß andere Zeiten einziehen in unserem deutschen Land. Wir brauchen Dickschädel, wie du einer bist!

Bleib so! Wo sonst sind Menschen so ehrlich, zu bekennen: Gut leben und fett ausspucken! Wo wäre eine Stadt denkbar, die so wenig zimperlich ist, daß sie eine gute und vielbesuchte Gaststätte »Zum Blanken« nennt. Bleib so, wie du bist!


Achtzig Geschichten ungefähr hab' ich geschrieben in drei Monaten in Ulm. Ich schrieb sie hin, weil die Erinnerung drängte und weil ich glücklich war, daß ich etwas schaffen konnte. Sie haben mir viel Freude gemacht, die Geschichten, im Schreiben. Sie haben später auch ihre Schicksale gehabt. Ich brauchte in Berlin einmal arg nötig Geld und verkaufte die ganzen achtzig Geschichten zum Nachdruck an einen Mann, dessen Geschäft solche Käufe waren. Er gab mir eine Mark fünfzig für das Stück. Die Abdrucksbelege aus der Ulmer Zeit hob ich mir viele Jahre lang auf. Eines Tages plagte ich mich damit, diese alten Geschichten zu ordnen und zu sichten. Ich legte sie auf den Fußboden, weil auf dem Schreibtisch kein Platz war. Dann ging ich weg: ich glaube, ich war durstig geworden. Das fleißige Dienstmädchen benützte die Gelegenheit, Ordnung zu schaffen, packte den ganzen Kram, der auf dem Boden lag, in einen Papierkorb, und entleerte diesen Papierkorb in den Küchenherd. Weg waren die Geschichten!

Ich wütete damals. Heute weiß ich, daß es auf die paar Geschichten gar nicht ankam. Sie waren nicht das Wichtige, die Geschichten, im Glück von Ulm. Das Wesentliche war, daß ich in Ulm wieder lernte, an mich selber zu glauben. Zwar hatte der Glaube nichts Gewaltiges. Es war ein stilles Glück. Es gibt Zeiten in unserem Leben, da die Wage in gleicher Schwebe steht. Die beiden Schalen schweben ruhig und gleichmäßig. Das Wollen steht so einigermaßen mit dem Können im Einklang. Das Böse kämpft nicht allzusehr gegen das Gute. Es gibt kein jähes Sinken und kein plötzliches Emporschnellen. Der Mensch ist zufrieden. Nie kann solche Wagschalenruhe lange dauern bei Männern, die ihr Blut zur Unruhe zwingt, und es wäre nicht gut, würde sie fortdauern; beharrend, zum ewigen Gleichmaß zwingend. Doch die kurze Zeit des Stillstehens der Lebenswage ist Glück – wenn die Wagschalen gar heftig auf und ab schnellten vorher, und mitten in der Wagruhe der Zeiger schon zittert, der neue Belastung und Entlastung der Schalen ahnt ... Still standen die Schalen!


Das Telegramm kam aus Berlin.

Ich hatte einmal einer großen Zeitung in Berlin, die viele meiner Geschichten druckte, geschrieben, daß ich in Amerika Zeitungsmann gewesen sei und gern auch in Deutschland Zeitungsmann werden möchte. Den Brief hatte ich schon vergessen. Er war geschrieben worden aus augenblicklichem Fühlen heraus; nur für mich selbst eigentlich.

Jetzt kam Antwort, jäh niedersausend wie Blitz; erschreckend wie Donnerschlag. Die kurzen knappen Telegrammworte forderten mich auf, sofort nach Berlin zu kommen und in die Schriftleitung der großen Zeitung einzutreten.


Meine Welt veränderte sich wie mit einem Schlag.

Als der Telegraphenbote die Treppe hinabgepoltert war, stand ich stockstill im Zimmerle. Die blauen Wände schienen sich zu neigen und zu schwanken. Nach – Berlin – zur – Zeitung ... Ein Riesengebäude ragte auf vor mir. Ungeheure Maschinen sausten. Gewirre von vielen Stimmen summte und surrte.

Ich zählte Goldstücke –

Ich riß den Kleiderschrank auf und betrachtete die Anzüge. Ich zerrte unter dem Bett den Koffer hervor. Ich riß die Türe des Stübchens auf und brüllte nach Frau Marie. Ich müsse weg, schrie ich, nach Berlin.

Nach Berlin – zur Zeitung –

Frau Marie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das Männchen mit der schwarzseidenen Kappe brachte vor lauter Aufregung einen Schnaps herbei. Die Nudelfrau kam vom oberen Stockwerk getrippelt.

Und der Koffer wurde gepackt, und fleißige Hände halfen, und eine wirre Nacht kam, in der ich endlos lange in den lieben alten Gassen umherlief und beim Wein im Goldenen Ochsen saß, bis ich der letzte Gast war.

»'s ischt schad'.« sagte die lustige Babett'. »Aber 's ischt einmal so auf der Welt. Schreibet Se!«

Früh am nächsten Morgen ging der Zug.


Frau Marie deckt schon lange der grüne Rasen. Sie ist ein braves deutsches Weib gewesen. Die Babett' hat wohl einen guten Mann und gesunde Schwabenkinder. Das Ulmer Tagblatt soll blühen und gedeihen, so weit etwas blühen und gedeihen kann in diesen traurigen Zeiten. Es tut mir leid, daß ich mich nie bekümmert habe um Frau Marie in den Jahren, die kamen; ich hatte gar zu viel mit mir selber zu tun. Wir Menschen sind häßlich im Vergessen.

Doch man vergißt nicht das Gesamtbild der Erinnerung. Ihr lieben Zeiten des Glücks, ich erzählte da nun von euch; doch das Erzählen ist matt. Ich wollte Edelsteine geben, und gab glitzerigen Flittertand, gläserne Perlen, farbige Kiesel. Ihr aber wart ein königlicher Schatz, ihr wart wie blutrote Rubine, meertiefe Smaragde, geheimnisvolle Opale ...


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