Erwin Rosen
Allen Gewalten zum Trotz
Erwin Rosen

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Dies ist ein Brief an meinen Sohn Peter, der jetzt gerade ein Jahr alt ist. Ich selbst bin auch noch sehr jung, gerade fünfundvierzig Jahre alt. Dem kleinen Mann einen offenen Brief zu schreiben, ist eine sonderbare Idee, aber der Brief ist sehr ernst gemeint. Der Mitleser wird mir das glauben, wenn er dieses Buch gelesen hat.

Hamburg, im März 1922. Erwin Carlé genannt Erwin Rosen.

Lieber Peter!

Du wirst den Brief und das daranhängende Buch schon als Junge gelesen haben, aber ich stelle mir vor, daß du Brief und Buch einmal richtig und wirklich liest, wenn du so ungefähr zwanzig Jahre alt bist und bewußt nach deinem eigenen Willen lebst und mit deinen eigenen Nöten kämpfst. Zeiten und Dinge werden sich unterdessen geändert haben. Ich weiß nicht, wie es dann aussehen wird in unserem Haus, in unserem Volk, in unserem Land: aber ich weiß, daß alle schweren Kampf gekämpft haben werden. Ich glaube, daß dieser Kampf siegreich sein wird. Solange in Menschen und Völkern die Lust am Leben und Schaffen nicht untergegangen ist, solange kann keine Niederlage das Bleibende sein: vielleicht sind Katastrophen oft nur dazu da, um Kräfte auszulösen. Es scheint mir, als hätte ich das am eigenen Leib und in der eigenen Seele erlebt. So habe ich es in höllischer Zeit fertig gebracht, mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen und anderen Menschen von dieser Vergangenheit zu erzählen: besonders dir, Sohn Peter. Es sind ein Dutzend Jahre meines Lebens, von denen ich berichte, vom Jahre 1900 an etwa. Die Wesenheit des Erlebens ist die sich wiederholende Niederlage, aus eigener Schwäche entstanden, und die nicht minder sich wiederholende Kraftanstrengung, sich wieder aufzurichten. Mein Lebensweg dieser Jahre ist schier unbegreiflich krumm gewesen, und doch wieder sonderbar gerade. Die Torheiten waren dumm: die Kraft ist schön gewesen: das Geschenk an Erleben war wertvoll.

Es kommt in allem nur auf den Menschen selbst an. Gar wenig nur vermögen Verhältnisse und Zeiten ein Menschenleben zu führen und zu bestimmen. In der eigenen Seele ist die rettende Kraft verborgen.

Die Kraft kann, so fühle ich es im Rückblicken, mit vielen Namen benannt werden, mögen sie nun Begeisterung heißen, oder Arbeitsfreude, oder trotziger Lebenswille, oder roher Selbsterhaltungstrieb. Sie ist geheimnisvoll. Am schönsten aber ist neben der Begeisterung, das weiß ich mit untrüglicher Gewißheit, das verspüre ich heute mehr als je in allen Fasern meines Seins, die Freude an der Arbeit: jener Arbeit und jener Leistung, die nicht mit Heller und Pfennig rechnet wie ansammelnder Wucherer, sondern aus dem Menschen herauswächst, weil Wachsen und Werden der große Lebenstrieb sind.

Die Kräfte sind der Witz, Peter; die Katastrophen sind die Nebensächlichkeiten. Doch das wirst du erleben; ich wünsche dir alle die Freuden des Lebenskampfes und des Arbeitssiegs. Schaff' sie dir!

Dein Vater


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