Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

So weit war Christof in seinen ungeschickten Versuchen, die deutsche Kunst zu reformieren, gelangt, als eine französische Schauspielertruppe in die Stadt kam. Richtiger gesagt: ein Trupp; denn wie gewöhnlich war es ein Haufen wer weiß wo aufgelesener armer Teufel und junger unbekannter Schauspieler, die sogar glücklich waren, ausgebeutet zu werden, wenn sie nur überhaupt austreten durften. Die ganze Gesellschaft war dem Siegeswagen einer berühmten, alten Schauspielerin vorgespannt, die eine Tournee durch Deutschland machte und bei der Durchreise in der kleinen Residenzstadt drei Vorstellungen geben wollte.

In der Zeitschrift von Waldhaus schlug man großen Lärm. Mannheim und seine Freunde waren im literarischen und mondänen Pariser Leben zu Hause oder behaupteten es doch wenigstens zu sein; sie wiederholten das Geschwätz, das sie aus den Boulevard-Zeitungen aufgefangen und mehr oder weniger verstanden hatten, und wollten so französische Geisteskultur in Deutschland repräsentieren. Das hieß Christof den Wunsch, sie näher kennen zu lernen, nehmen, denn Mannheim ödete ihn mit seinen Lobliedern auf Paris an. Er war mehrmals dort gewesen, hatte dort einen Teil seiner Familie – in allen Teilen Europas hatte er Familie; und überall hatte diese die Nationalität und das Aussehn des Landes angenommen. Ein englischer Lord, ein belgischer Senator, ein französischer Minister, ein Reichstagsabgeordneter und ein päpstlicher Graf gehörten zu diesem Stämmchen Abrahams; und obgleich sie alle ihren gemeinsamen Ursprung achteten und sich in ihrer Rasse vereint fühlten, waren sie doch aufrichtige Engländer, Franzosen, Deutsche oder Papisten: denn ihr Stolz zweifelte nicht einen Augenblick, daß das Land, das sie zu ihrem eigenen gemacht hatten, das allerbeste sei. Mannheim war der einzige, dem es aus Paradoxie Spaß machte, alle die Länder, zu denen er nicht gehörte, vorzuziehen. So sprach er denn oft und mit Begeisterung von Paris; da er aber nichts als Übertreibungen vorbrachte und, um das Lob der Pariser zu singen, sie wie halb Verrückte, Wollüstlinge und Großmäuler darstellte, die ihre Zeit damit hinbrachten, die Nächte zu durchbummeln und Revolutionen zu machen, ohne sich selbst je ernst zu nehmen, so fühlte sich Christof von der »byzantinischen und dekadenten Republik jenseits der Vogesen« wenig angelockt. Leichtgläubig stellte er sich Paris etwa so vor, wie es auf einem primitiven Stich aussah, den er auf dem Buchtitel einer kürzlich erschienenen Sammlung deutscher Kunstbücher gesehen hatte. Im Vordergrund der Dämon von Notre-Dame, der zusammengekauert über die Dächer schaut, und dazu die Inschrift:

» Insatiable vampire l'éternelle Luxure
sur la grande Cité convoîte sa pâture.
«

Als guter Deutscher hegte er tiefe Verachtung für die ausschweifenden Welschen und ihre Literatur, von der er kaum einige zotige Possen, den »Aiglon«, »Madame Sans-Gêne« und Tingeltangellieder kannte. Der Snobismus der Kleinstadt trieb jetzt die bekanntermaßen für Kunst unempfindlichsten Leute dazu, sich zum Vorverkauf zu drängen und sich auffällig Plätze zu reservieren, was Christof veranlaßte, der großen Komödiantin gegenüber eine verächtlich-gleichgültige Haltung anzunehmen. Nicht einen Schritt würde er tun, um sie zu sehen, sagte er rebellisch. Es wurde ihm um so leichter, sein Versprechen zu halten, als die Plätze äußerst teuer waren und er sie nicht bezahlen konnte. Das Repertoire, das die französische Truppe nach Deutschland brachte, umfaßte zwei oder drei klassische Stücke; in der Hauptsache aber setzte es sich aus jenen Nichtigkeiten zusammen, die recht eigentlich französische Exportartikel sind: denn es gibt nichts Internationaleres als die Mittelmäßigkeit, La Tosca, die erste Vorstellung der reisendes Schauspielerin, kannte Christof bereits; er hatte sie deutsch gehört, und zwar mit all den leichten Reizen ausgestattet, die eine kleine rheinische Theater-Truppe einem französischen Werk verleihen kann; als er seine Freunde ins Theater gehen sah, fand er mit einem spöttischen Lachen, daß er es recht gut habe, das Stück nicht noch einmal hören zu müssen. Am nächsten Morgen aber folgte er dennoch mit aufmerksamem Ohr den begeisterten Schilderungen, die sie von dem Abend entwarfen, ohne sich aber merken zu lassen, daß ihn das Gespräch interessierte; er war wütend, weil er sich sogar des Rechtes zum Widerspruch beraubt hatte, als er das, wovon alle Welt redete, nicht hatte sehen wollen. Die zweite angekündigte Vorstellung sollte eine französische Übersetzung des Hamlet sein. Christof hatte niemals die Gelegenheit vorüberziehen lassen, ein Shakespeare-Stück zu sehen. Shakespeare war für ihn ebenso wie Beethoven eine unerschöpfliche Lebensquelle. Hamlet war ihm in jener Zeit der Ruhelosigkeit und der aufrührerischen Zweifel, die er eben durchkämpft hatte, besonders teuer gewesen. Trotz der Furcht, sich in diesem Zauberspiegel selbst wieder zu finden, wurde er von ihm in Bann gehalten; und er strich rings um die Theaterzettel herum, ohne sich einzugestehen, daß er vor Begierde brannte, einen Platz zu nehmen. Nach allem aber, was er seinen Freunden gesagt, hatte er sich so in seinen Trotz verbissen, daß er nicht zurückwollte. Und er wäre wie am vorigen Abend zu Hause geblieben, wenn ihn nicht im Augenblick seiner trübseligen Heimkehr der Zufall mit Mannheim zusammengeführt hätte.

Mannheim hielt ihn am Arm fest und erzählte ihm mit wütender Miene, wobei er aber unaufhörlich Witze machte, eine Schwester seines Vaters, ein altes Kamel, sei mit ihrer ganzen Sippe ihnen unversehens ins Haus gefallen und sie müßten nun zu ihrem Empfang zu Hause bleiben. Er habe versucht zu entwischen; aber sein Vater verstehe in bezug auf verwandtschaftliche Etikettenfragen und dessen, was man den Ahnen schulde, keinen Spaß; und da er sich augenblicklich wegen einer Kleinigkeit, die er seinem Vater herauslocken wolle, mit ihm gut stellen müsse, habe er nachgeben und auf die Vorstellung verzichten müssen. »Ihr hattet eure Billets schon?« fragte Christof.

»Natürlich! Eine prachtvolle Loge; und zum Überfluß soll ich sie diesem Trottel von Grünebaum, Papas Associé, hintragen – ich bin gerade auf dem Weg –, damit er sich mit Mutter Grünebaum und seiner Gans von Tochter darin bläht. Zu reizend! … Ich überlege eben, was ich ihnen wenigstens recht Unangenehmes sagen könnte; aber das ist ihnen höchst gleichgültig, falls ich ihnen nur die Billets bringe; – lieber wäre es ihnen freilich, wenn es Bankbillets wären.«

Plötzlich hielt er mit offenem Munde inne und schaute Christof an:

»O! … Aber da hab' ich's ja! … Da hab' ich ja, was ich brauche.«

Er gluckste vergnügt:

»Christof, du gehst ins Theater?«

»Nein.«

»Doch, bitte! Geh ins Theater. Du erweist mir eine Gefälligkeit. Du kannst sie mir nicht abschlagen.«

Christof begriff nicht.

»Aber ich habe doch keinen Platz.«

»Da hast du ihn!« rief Mannheim triumphierend und zwang ihm das Billet in die Hand.

»Du bist verrückt,« sagte Christof. »Und was wird aus der Bestellung deines Vaters?«

Mannheim wand sich vor Lachen.

»Der wird einen Zorn haben!« meinte er.

Er trocknete sich die Augen und schloß:

»Ich werde ihn morgen früh beim Aufstehen anpumpen, bevor er noch irgend etwas weiß.«

»Ich kann das nicht annehmen,« sagte Christof, »da ich weiß, daß es ihm unangenehm ist.«

»Du hast gar nichts zu wissen, du weißt nichts, das geht dich nichts an.«

Christof hatte das Billet entfaltet:

»Und was soll ich mit einer Loge von vier Plätzen anfangen?«

»Alles, was du magst. Du schläfst im Hintergrund oder, wenn du Lust hast, führst du einen Tanz darin auf. Nimm Weiber mit. Du wirst doch ein paar haben? Sonst kann man dir auch welche leihen.«

Christof streckte Mannheim das Billet hin:

»Nein wirklich, nimm es wieder.«

»Nie im Leben,« meinte Mannheim und wich einige Schritte zurück. »Ich kann dich nicht zwingen hinzugehen, wenn es dich langweilt; aber zurück nehme ich es nicht. Du hast freie Hand, es ins Feuer zu werfen oder es selbst als Tugendheld zu Grünebaum zu tragen. Das geht mich nichts mehr an. Guten Abend!«

Er machte sich davon und ließ Christof mitten auf der Straße mit seinem Billet in der Hand stehen.

Christof war recht verlegen. Er sagte sich wohl, daß es am richtigsten wäre, Grünebaum die Plätze hinzutragen; aber dieser Gedanke begeisterte ihn durchaus nicht. Unentschieden ging er heim; und als er zufällig auf die Uhr schaute, sah er, daß es gerade noch Zeit war, sich für das Theater anzuziehen. Es wäre immerhin zu dumm gewesen, das Billet verfallen zu lassen. Er schlug seiner Mutter vor, sie hinzuführen. Luise aber erklärte, daß sie sich viel lieber schlafen lege. So ging er. Im Grunde hatte er im Gedanken an seinen Abend eine Kinderfreude. Nur etwas ärgerte ihn: daß er das Vergnügen allein genießen sollte. In bezug auf Vater Mannheim oder die Grünebaums, denen er die Loge fortnahm, empfand er keinerlei Gewissensbisse. Aber denen gegenüber, die sonst mit ihm hätten teilen können, fühlte er sie. Er dachte, wieviel Freude solche Vorstellung jungen Leuten wie ihm machen könnte; und es quälte ihn, daß er sie ihnen nicht verschaffen sollte. Er suchte in seinen Gedanken, fand aber niemand, dem er das Billet hätte anbieten können. Überdies war es spät; und er mußte eilen.

Als er im Theater an der geschlossenen Kasse vorüberkam, verkündete ihm ein Plakat, daß kein einziger Platz mehr zu haben sei. Unter den Leuten, die ärgerlich umkehrten, bemerkte er ein junges Mädchen, das sich nicht zum Fortgehen entschließen konnte und alle Eintretenden mit neidvollem Ausdruck anschaute. Sie war sehr einfach, schwarz gekleidet, nicht sehr groß, hatte ein schmales Gesicht und sah zart aus. Ob sie häßlich oder hübsch war, merkte er im Augenblick nicht. Er war an ihr vorbeigeschritten, hielt nun an, wandte sich um und ohne sich lange zu überlegen, fragte er geradezu:

»Sie haben keinen Platz mehr gefunden?«

Sie errötete und sagte mit fremdländischem Tonfall:

»Nein, leider nicht.«

»Ich habe eine Loge, mit der ich allein nichts anfangen kann. Wollen Sie sie mit mir benutzen?«

Sie errötete noch mehr, dankte und entschuldigte sich, das nicht annehmen zu können. Christof wurde durch die Ablehnung verlegen; er entschuldigte sich nun seinerseits und versuchte, sie zu überreden; aber es gelang ihm nicht, sie umzustimmen, obgleich sie ersichtlich die größte Lust dazu verspürte. Er war sehr verblüfft, entschloß sich aber schnell.

»Hören Sie,« sagte er, »es gibt einen Ausweg, und alles ist in Ordnung: nehmen Sie das Billet. Mir liegt nicht so viel daran, ich habe das Stück schon gesehen. – (Er renommierte.) – Ihnen wird das mehr Spaß machen als mir. Nehmen Sie's, es ist gern geschehen.«

Das junge Mädchen war von dem Anerbieten und der herzlichen Art, in der es gemacht wurde, so gerührt, daß ihr fast die Tränen in die Augen traten. Sie stammelte voller Dankbarkeit, daß sie ihn auf keinen Fall berauben würde.

»Nun also, dann kommen Sie doch mit,« meinte er lächelnd.

Sein Ausdruck war so gut und offen, daß sie sich schämte, ihn zurückgewiesen zu haben; und sie antwortete ein wenig verwirrt:

»Ich komme … Vielen Dank.«

 

Sie traten ein. Die Loge der Mannheims war eine weit offene Mittelloge: unmöglich sich darin zu verstecken, wenn man es auch etwa gewollt hätte. Selbstverständlich blieb ihr Eintreten nicht unbemerkt. Christof ließ das junge Mädchen in der ersten Reihe sitzen, er selbst hielt sich ein wenig im Hintergrund, um sie nicht zu belästigen. Sie saß gerade und steif da, war entsetzlich verschüchtert und wagte nicht den Kopf umzudrehn; sie hätte viel darum gegeben, doch nicht zugesagt zu haben. Christof sah absichtlich nach der entgegengesetzten Richtung, weil er ihr Zeit lassen wollte, sich zu fassen, und auch nicht recht wußte, was er mit ihr reden solle. Überall, wohin er auch schaute, war ihm leicht festzustellen, daß seine und seiner unbekannten Begleiterin Gegenwart inmitten der glänzenden Gesellschaft der Logenbesucher die Neugierde und die Deutelei der Kleinstadt hervorrief. Allen, die ihn anschauten, warf er wütende Blicke zu; außer sich war er, daß man sich hartnäckig mit ihm beschäftigte, während er sich doch gar nicht um die anderen kümmerte. Auf den Gedanken kam er nicht, daß diese zudringliche Neugierde mehr noch seiner Begleiterin als ihm gelte und ihr in einer verletzenderen Art.

Um seine völlige Gleichgültigkeit allem gegenüber, was man sagen oder denken mochte, zu zeigen, neigte er sich zu seiner Nachbarin und fing mit ihr zu plaudern an. Sie aber zeigte eine so verstörte Miene, als er mit ihr sprach, schien so unglücklich, ihm antworten zu müssen, und es wurde ihr so schwer, sich ein Ja oder Nein abzuringen, wobei sie ihn nicht einmal anzuschauen wagte, daß er mit ihrer Scheu Mitleid hatte und sich wieder in seinen Winkel zurückzog. Glücklicherweise begann die Vorstellung.

Christof hatte den Theaterzettel nicht gelesen und sich kaum darum gekümmert, welche Rolle die große Schauspielerin vertrat: er gehörte zu den naiven Gemütern, die um des Stückes und nicht um der Darsteller willen ins Theater gehen. Er hatte sich nicht gefragt, ob die Berühmtheit Ophelia oder die Königin geben werde; hätte er sichs gefragt, würde er, dem Alter der beiden Matronen gemäß, auf die Königin geraten haben. Niemals aber wäre er auf den Gedanken gekommen, daß sie Hamlet spielen könnte. Als er es merkte, als er die aufgezogene Puppenstimme vernahm, dauerte es eine gute Weile, bevor er es glaubte; er fragte sich, ob er träume …

»Ja wer – wer ist denn das?« sagte er halblaut. »Das ist doch nicht etwa …«

Und als er feststellen mußte, daß das wirklich Hamlet sei, stieß er einen Fluch aus, den seine Nachbarin als Ausländerin glücklicherweise nicht verstand, den man aber in der Nebenloge ganz deutlich vernahm. Denn von dort wurde ihm umgehend der empörte Befehl zuteil, sich still zu verhalten. So zog er sich denn in den Hintergrund der Loge zurück um nach Belieben zu toben. Sein Zorn besänftigte sich nicht. Bei einiger Gerechtigkeit hätte er der eleganten Hosenrolle, wie dem Kraftstück der Natur und der Kunst Achtung gezollt, das einer sechzigjährigen Frau erlaubte, sich im Kostüm eines Jünglings zu zeigen, und darin sogar schön zu erscheinen, – wenigstens für wohlwollende Augen. Aber er haßte Kraftstücke und alles, was die Natur vergewaltigt und fälscht. Er liebte es, wenn eine Frau eine Frau, und ein Mann ein Mann war (was heut durchaus nicht selbstverständlich ist). Die kindliche und ein wenig lächerliche Verkleidung von Beethovens Leonore war ihm schon nicht angenehm. Dieser Hamlet aber überstieg alles, was man an Widersinnigkeit träumen konnte. Aus dem robusten Dänen, der feist und bleich, cholerisch, listig, räsonierend und von Halluzinationen geplagt ist, eine Frau zu machen – nicht einmal eine Frau; denn eine Frau, die den Mann spielt, wird nie etwas anderes als ein Monstrum sein, – aus diesem Hamlet einen Eunuchen zu machen, ein unklares Zwitterding, dazu gehörte die ganze Schlaffheit der Zeit, die ganze Nichtigkeit der Kritik; sonst hätte dieser widerliche Blödsinn nicht einen einzigen Tag, ohne ausgezischt zu werden, geduldet werden können! – Die Stimme der Schauspielerin brachte Christof vollends außer sich. Sie hatte ganz die singende, tremolierende Aussprache und den monotonen Gesangston der seit den Zeiten der Champsmeslé und des Hotel de Bourgogne dem unpoetischsten Volk der Welt stets teuer gewesen zu sein scheint. Christof war dermaßen aufgebracht, daß er die Wände hätte hinaufkriechen mögen. Er hatte der Bühne den Rücken gedreht und schnitt der Logenwand zornige Grimassen, wie ein Kind, das man in die Ecke gestellt hat. Zum Glück wagte seine Begleiterin sich nicht nach ihm umzuschauen, denn hätte sie ihn gesehen, würde sie ihn für verrückt gehalten haben.

Plötzlich hörte Christofs Grimassenschneiden auf. Er blieb unbeweglich und schwieg. Eine schöne, musikalische Stimme, eine junge Frauenstimme fing ernst und süß zu tönen an. Christof spitzte die Ohren. Je länger sie sprach, um so neugieriger wandte er sich auf seinem Stuhl der Bühne zu, um den Vogel zu betrachten, der solch Gezwitscher hören ließ. Er sah Ophelia. Allerdings hatte sie nichts von der Shakespeareschen Ophelia. Sie war ein schönes großes Mädchen, kräftig und schlank wie eine junge griechische Statue: Elektra oder Kassandra. Sie strömte von Leben über. Trotz aller ihrer Anstrengungen, sich in ihre Rolle zu zwingen, strahlte die in ihr wohnende Jugend und Freude aus ihrem Körper, ihren Bewegungen, ihren Gebärden, ihren braunen, wider Willen lachenden Augen. Und so groß ist eines schönen Körpers Macht, daß es Christof, der noch im Augenblick vorher der Wiedergabe Hamlets gegenüber unerbittlich war, nicht eine Sekunde lang einfiel zu bedauern, daß Ophelia dem Bilde, das er von ihr in seinem Geiste trug, kaum glich; reulos opferte er das Ideal der Wirklichkeit. Aus der unbewußten Unehrlichkeit leidenschaftlicher Menschen heraus fand er sogar eine tiefe Wahrheit in der jugendlichen Glut, die im Grunde dieses reinen und sinnlichen Jungfrauenherzens brannte. Vollends bezauberte ihn die magische Kraft dieser klaren, warmen und samtenen Stimme: jedes Wort klang wie ein schöner Akkord; rings um die Silben tanzte ganz leise, gleich dem Duft von Thymian und wilder Myrthe, in sich bäumenden Rhythmen, der Tonfall des Südens. Seltsame Erscheinung: eine Ophelia aus der Gegend von Arles! Sie brachte ein wenig ihrer goldenen Sonne und ihres tollen Mistral mit.

Christof vergaß seine Nachbarin, setzte sich neben sie in die vordere Logenreihe und ließ keinen Blick von der schönen Schauspielerin, deren Namen er nicht kannte. Das Publikum jedoch, das durchaus nicht kam, um eine Unbekannte zu sehen, zollte ihr keine Aufmerksamkeit; und es entschloß sich erst zu klatschen, wenn das Hamletweib auftrat. Christof brummte empört und rief mit leiser Stimme, die aber zehn Schritt im Umkreis zu hören war, dem Publikum »Esel« zu. Erst als sich der Vorhang zur Pause senkte, erinnerte er sich des Daseins seiner Logennachbarin; und da er sie immer noch so eingeschüchtert fand, dachte er lächelnd, wie sehr er sie durch seine Ausfälle erschreckt haben müsse. – Er täuschte sich darin nicht: die junge Mädchenseele, welche der Zufall ihm für ein paar Stunden nahegebracht hatte, war von fast krankhafter Zurückhaltung; nur außergewöhnliche Erregtheit konnte ihr den Mut gegeben haben, Christofs Einladung anzunehmen. Kaum hatte sie zugesagt, als sie auch schon um alles in der Welt wünschte, freikommen zu können, einen Vorwand finden, entfliehen zu können. Noch viel schlimmer wurde es, als sie sich als Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit sah; und ihr Unbehagen wuchs bis zuletzt beständig, je länger sie hinter ihrem Rücken – umzuwenden wagte sie sich nicht – die dumpfen Verwünschungen und Scheltereien ihres Begleiters vernahm. Sie war von seiner Seite auf alles gefaßt; und als er sich gar neben sie setzte, war sie vor Entsetzen erstarrt; was für eine Tollheit würde er nun begehen? Sie wäre am liebsten hundert Klafter unter der Erde gewesen. Unwillkürlich rückte sie von ihm ab: sie hatte Furcht, ihn nur zu streifen.

Doch alle ihre Befürchtungen sanken zusammen, als die Pause gekommen war und sie ihn gutlaunig sagen hörte:

»Ich bin ein recht unangenehmer Nachbar, nicht wahr? Ich bitte Sie um Verzeihung.«

Da schaute sie ihn an und sah wieder sein gutes Lächeln, das sie vorhin zur Annahme der Einladung bestimmt hatte. Er fuhr fort:

»Ich kann aus dem, was ich denke, keinen Hehl machen … Es ist doch aber auch zu stark! … Dieses Weib, diese alte Frau! …«

Er schnitt von neuem ein angewidertes Gesicht.

Sie lächelte und sagte sehr leise:

»Trotz allem, es ist doch schön.«

Er merkte ihre fremde Aussprache und fragte:

»Sie sind Ausländerin?«

»Ja,« sagte sie.

Er schaute auf ihr bescheidenes Kleidchen:

»Lehrerin?« fragte er.

Sie errötete und sagte:

»Ja.«

»Aus welchem Land?«

Sie sagte:

»Ich bin Französin.«

Er machte eine erstaunte Gebärde:

»Französin? Das hätte ich nie gedacht.«

»Warum?« fragte sie schüchtern.

»Sie sind so … gesetzt!« sagte er.

(Sie dachte, daß das in seinem Munde nicht eine volle Schmeichelei sei.)

Ganz verwirrt sagte sie: »Es gibt auch solche in Frankreich.«

Er sah in ihr verständiges kleines Gesicht mit der gewölbten Stirn, der graden kleinen Nase, dem feinen Kinn, den mageren Wangen, die von kastanienbraunen Haaren umrahmt waren. Er sah sie nicht: er dachte an die schöne Schauspielerin. Er wiederholte:

»Sonderbar, daß Sie Französin sind! … Wirklich, Sie stammen aus demselben Land wie Ophelia? Man würde es nie glauben.«

Und nach einem Augenblick des Schweigens fügte er hinzu:

»Wie schön sie ist!«

Und er merkte gar nicht, daß es den Anschein hatte, als zöge er zwischen ihr und seiner Nachbarin einen für diese unfreundlichen Vergleich. Sie fühlte das sehr wohl; aber sie war Christof deswegen nicht böse: denn sie dachte wie er. Er suchte von ihr einige Einzelheiten über die Schauspielerin zu erfahren; doch sie wußte nichts: man merkte, sie war in Theaterangelegenheiten sehr wenig bewandert.

»Es macht Ihnen gewiß Vergnügen, französisch sprechen zu hören?« meinte er.

Er glaubte zu scherzen, aber er hatte richtig getroffen.

»Ach!« sagte sie mit einem Ton, der aus dem Herzen kam, »es tut mir so wohl! Ich ersticke hier.«

Diesmal sah er sie genauer an: sie krampfte leicht die Hände ineinander und schien niedergedrückt. Aber gleich darauf fiel ihr ein, wie verletzend ihr Wort für ihn sein konnte.

»O, Verzeihung,« sagte sie, »ich weiß nicht, was ich rede.«

Er lachte hell:

»Aber entschuldigen Sie sich doch nicht! Sie haben außerordentlich recht. Man braucht nicht Franzose zu sein, um hier zu ersticken. Uff!«

Er dehnte die Schultern, indem er die Luft einsog.

Sie aber schämte sich, so viel von sich verraten zu haben, und schwieg von nun an. Außerdem begann sie zu merken, daß man in den Nachbarlogen ihre Unterhaltung belauerte; und auch er sah es voller Zorn. So brachen sie ab; und er ging, um das Ende der Pause abzuwarten, in den Gang hinaus. Die Worte des jungen Mädchens klangen in seinen Ohren nach; aber er war zerstreut: das Bild Ophelias beschäftigte seine Gedanken. In den folgenden Aufzügen bemächtigte es sich seiner vollständig. Und als die schöne Schauspielerin zu dem Wahnsinnsauftritt und den schwermütigen Liedern von Liebe und Tod kam, wußte ihre Stimme so rührende Töne zu finden, daß sie ihn erschütterten: er fühlte, gleich würde er anfangen zu heulen. Ihm selbst schien das ein Zeichen von Schwäche, und er war wütend auf sich selbst (denn er gestand einem wahren Künstler durchaus nicht das Recht zu weinen zu); da er außerdem kein Schauspiel geben wollte, stand er heftig auf und trat aus der Loge. Die Gänge, das Foyer waren leer. In seiner Erregtheit schritt er die Treppen des Theaters hinunter und, ohne daß er es merkte, hinaus. Er fühlte Bedürfnis, die kalte Nachtluft zu atmen, mit großen Schritten durch die dunklen, halbverlassenen Straßen zu wandern. Am Ufer eines Kanals, auf die Mauerbrüstung gestützt, kam er wieder zu sich und betrachtete das stille Wasser, in dessen Dunkel der Widerschein der Straßenlaternen tanzte. Ihm glich seine Seele: sie war dunkel und bebte; er konnte nichts anderes in ihr erkennen als eine große Freude, die auf der Oberfläche tanzte. Die Uhren klangen. Es wäre ihm unmöglich gewesen, ins Theater zurückzukehren und das Ende des Stückes mit anzuhören. Fortinbras' Triumph zu sehen? Nein, das reizte ihn nicht … Ein schöner Triumph! Wer denkt daran den Sieger zu beneiden? Wer möchte der Sieger sein, nachdem man von allen Leidenschaften des wilden und unsinnigen Lebens gewürgt worden ist? Das ganze Werk ist nur eine einzige, mächtige Anklage gegen das Leben. Aber in ihr kocht eine solche Lebenskraft, daß Trübsal Freude wird und Bitternis berauscht …

Christof kehrte heim, ohne sich weiter um das junge, fremde Mädchen zu kümmern, das er in der Loge zurückgelassen hatte, und dessen Namen er nicht einmal wußte.

 

Am nächsten Morgen besuchte er die Schauspielerin in dem kleinen Hotel dritten Ranges, in dem sie der Impresario mit ihren Kollegen untergebracht hatte, während die Berühmtheit im ersten Hotel der Stadt wohnte. Man ließ ihn in einen kleinen, schlecht gehaltenen Salon eintreten, in dem die Frühstücksüberreste, zusammen mit Haarnadeln und zerrissenen, schmutzigen Notenblättern auf dem offenen Klavier herumlagen. Im Zimmer nebenan sang Ophelia aus voller Kehle wie ein Kind, dem es Spaß macht, Lärm zu vollführen. Als man ihr den Besuch anmeldete, hörte sie einen Augenblick auf und fragte mit fröhlicher Stimme, die nicht die geringste Sorge trug, ob sie an der andern Seite der Wand gehört werde:

»Was will dieser Herr? Wie heißt er? … Christof … Christof, was? … Christof Krafft? … Was für ein Name!«

Sie wiederholte ihn zwei- oder dreimal, wobei sie die r fürchterlich rollte.

»Man könnte meinen, es ist ein Fluch …« (Sie gebrauchte einen.) »Ist er jung oder alt? … Nett? … Gut, ich komme«.

Wieder fing sie zu singen an:

» Rien n'est plus doux gue mon amour …«

Dabei stöberte sie im Zimmer herum und verwünschte eine Schildpattnadel, die sich inmitten des Durcheinanders suchen ließ. Sie wurde ungeduldig, fing zu schimpfen an, spielte den Löwen. Obgleich Christof sie nicht sah, verfolgte er in Gedanken alle ihre Bewegungen hinter der Wand und lachte für sich. Endlich hörte er sich nähernde Schritte, die Tür öffnete sich stürmisch und Ophelia erschien.

Sie war halb angezogen, nur in einem Morgenrock, den sie um sich zusammenzog und dessen weite Ärmel die Arme bloß ließen; die Haare waren schlecht gekämmt, Locken hingen ihr in die Augen und über die Wangen. Ihre schönen braunen Augen lachten, ihr Mund lachte, ihre Wangen lachten, ein liebenswürdiges Grübchen lachte mitten in ihrem Kinn. Kaum entschuldigte sie sich mit ihrer dunklen, gesangvollen Stimme, so zu erscheinen. Sie wußte, es gab gar nichts zu entschuldigen, wußte, daß er ihr nur sehr dankbar sein konnte. Sie meinte, er sei ein Journalist, der sie interviewen wolle. Anstatt enttäuscht zu sein, als er ihr sagte, er sei nur um seinetwillen und weil er sie bewundere gekommen, war sie darüber selig. Sie war ein gutes, anhängliches Mädchen, das vergnügt war, wenn sie gefiel, und es nicht zu verbergen trachtete: Christofs Besuch und seine Begeisterung machten sie ganz glücklich: – sie war durch Schmeicheleien noch nicht verwöhnt. In allen ihren Bewegungen und ihrer ganzen Art und Weise war sie so natürlich, selbst in ihren kleinen Eitelkeiten und in dem naiven Vergnügen, das sie empfand, wenn sie gefiel, daß er nicht einen Augenblick befangen war. Sofort waren sie alte Freunde. Er kauderwelschte ein wenig französisch, sie kauderwelschte ein paar deutsche Worte; nach Verlauf einer Stunde erzählten sie sich alle ihre Geheimnisse. Es fiel ihr nicht ein, ihn fortzuschicken. Als robuste und heitere Südländerin, intelligent und mitteilsam, wie sie war, hätte sie sich inmitten ihrer dummen Kollegen und in einem Lande, dessen Sprache sie nicht kannte, vor Langeweile nicht zu lassen gewußt, wäre nicht so viel natürliche Fröhlichkeit in ihr gewesen; nun war sie glücklich, jemand zu haben, mit dem sie reden konnte. Und auch für Christof war es eine unaussprechliche Wohltat, inmitten seiner engherzigen und wenig aufrichtigen Kleinbürger dies freie Kind des Südens voll vom Saft des Volkes zu treffen. Er kannte noch nicht das Begrenzte dieser Naturen, die im Gegensatz zu seinen Deutschen nichts weiter in Hirn und Herz haben, als was sie zeigen – und oft selbst das nicht einmal. Zum mindesten aber war sie jung, sie lebte, sie sagte offen, unumwunden, was sie dachte; frei mit frischem, neuem Blick urteilte sie über alles; ein wenig von ihrem Mistral, dem Nebelreiniger, wehte aus ihr. Sie hatte glückliche Gaben. Ohne Kultur und Überlegung fühlte sie doch sofort und mit ganzem Herzen alles, was schön und gut war, und konnte aufrichtig davon bewegt werden; im Augenblick darauf lachte sie dann wieder hell heraus. Gewiß, sie war kokett; sie ließ ihre Augen spielen; sie zeigte recht gern ihre Arme und ihren nackten Hals aus dem halboffenen Morgenrock: sie hätte Christof gern den Kopf verdreht; aber das alles war reiner Instinkt, nichts davon war Berechnung; und noch lieber mochte sie lachen, fröhlich plaudern und ohne viel Ziererei und Umstände ein guter Kerl, guter Kamerad sein. Sie erzählte Christof von den Kehrseiten des Theaterlebens, seinen kleinen Miseren, den albernen Empfindlichkeiten der Kollegen, den Zänkereien der Jesebel (so nannte sie die große Schauspielerin), die sehr darauf bedacht war, sie nicht glänzen zu lassen. Er vertraute ihr darauf seine Klagen über die Deutschen an: sie klatschte in die Hände und stimmte ihm laut bei. Sie war im allgemeinen gutherzig und wollte von niemand etwas böses sagen; aber das hinderte nicht, daß sie es doch sagte; und wenn sie sich auch ganz aufrichtig boshaft schalt, falls sie sich über jemand lustig machte, so besaß sie doch nun einmal jenen, den Südländern eigenen Untergrund von Spottlust und derber witziger Beobachtungsgabe. Dem konnte sie nicht widerstehen und entwarf beißende Spottportraits. Sie lachte fröhlich mit ihren blassen Lippen, die ihre Jungehundezähne entblößten; und ihre umränderten Augen leuchteten aus dem etwas fahlen Gesicht, das die Schminke entfärbt hatte.

Ganz plötzlich merkten sie, daß sie seit mehr als einer Stunde plauderten. Christof schlug Corinne (das war ihr Theatername) vor, sie am Nachmittag abholen zu kommen, um sie in der Stadt herumzuführen. Sie war von der Idee beglückt; und sie verabredeten sich für die Zeit gleich nach Tisch.

Zur bestimmten Stunde war er da. Corinne saß in dem kleinen Salon des Hotels und hielt ein Heft, aus dem sie ganz laut las. Sie bewillkommte ihn mit ihren lachenden Augen, ohne im Lesen inne zu halten, bis sie ihren Satz beendet hatte. Darauf winkte sie ihn neben sich auf das Sopha.

»Da setzen Sie sich hin und sprechen Sie nicht,« sagte sie, »ich übe meine Rolle. Es dauert noch eine Viertelstunde.«

Sie folgte im Manuskript mit der Fingerspitze und las dabei sehr schnell und aufs Geratewohl wie ein eiliges kleines Mädchen. Er bot ihr an, ihre Lektion zu überhören. Sie gab ihm das Heft und stand zum Wiederholen auf. Stotternd ging es los; manchmal fing sie viermal ein Satzende an, bevor sie sich in den folgenden Satz schwang. Dabei schüttelte sie während des Hersagens den Kopf, so daß die Haarnadeln durchs ganze Zimmer flogen. Wenn ein widerwilliges Wort nicht in ihr Gedächtnis wollte, wurde sie ungeduldig wie ein unartiges, kleines Kind: manchmal entschlüpfte ihr ein drolliger Fluch oder selbst ziemlich derbe Worte, – einmal ein sehr derbes und kurzes, mit dem sie sich selbst anschrie. Christof stand überrascht vor dieser Mischung von Talent und Kinderei. Sie fand richtige und herzbewegende Töne; aber mitten in einer Stelle, in die sie ihr ganzes Herz zu legen schien, kam es vor, daß sie Worte ohne jeden Sinn plapperte. Sie sagte ihre Lektion wie ein kleiner Papagei her, ohne sich viel darum zu kümmern, was sie bedeutete: und so kamen die schnurrigsten Ungereimtheiten zustande. Sie ließ sich davon durchaus nicht rühren; merkte sie etwas, bog sie sich vor Lachen. Endlich sagte sie: »Schluß!« riß ihm das Heft aus den Händen, warf es im Bogen in eine Zimmerecke und rief:

»Ferien! Die Stunde hat geschlagen! … Gehen wir spazieren!«

Er war in bezug auf ihre Rolle ein wenig unruhig und fragte aus Gewissenhaftigkeit:

»Sie glauben, daß es geht?«

Mit Überzeugtheit antwortete sie:

»Aber gewiß. Und der Souffleur, wozu ist denn der da?«

Sie ging in ihr Schlafzimmer hinüber, um ihren Hut aufzusetzen.

Während Christof sie erwartete, setzte er sich vor das Klavier und schlug eine Akkordfolge an. Sie rief aus dem anderen Raum:

»O, was ist das? Spielen Sie weiter. Wie hübsch!«

Sie kam, indem sie sich den Hut feststeckte, herbeigelaufen. Er spielte weiter. Als er zu Ende war, wollte sie noch mehr hören. Sie drückte ihr Entzücken in jenen zierlichen, kleinen Ausrufen aus, an die die Französinnen gewöhnt sind und die sie ebenso gut bei Tristan wie bei einer Tasse Schokolade anwenden. Christof mußte darüber lachen: es war ihm eine Abwechselung zu den mächtigen, pathetischen und schwergefügten Ausrufen seiner Deutschen; es handelte sich um zwei entgegengesetzte Übertreibungen: die eine neigte dazu, aus einer Nippsache ein Gebirge zu machen, die andere machte aus einem Gebirge eine Nippsache; die eine war nicht lächerlicher als die andere; aber diese schien ihm im Augenblick liebenswürdiger, weil er den Mund, aus dem sie kam, liebte. – Corinne wollte wissen, von wem das, was er spielte, sei; und als sie erfuhr, daß es von ihm war, erhob sie ein Geschrei. Er hatte ihr wohl in ihrer Morgenunterhaltung gesagt, daß er Komponist sei; aber sie hatte gar nicht darauf achtgegeben. Jetzt setzte sie sich neben ihn und verlangte, daß er alles, was er komponiert habe, spielen solle. Der Spaziergang war vergessen. Es war bei ihr nicht einfache Höflichkeit: sie liebte Musik über alles, und sie besaß einen wunderbaren Instinkt, der bei ihr die ungenügende Erziehung ganz ersetzte. Zuerst nahm er sie nicht ernst und spielte ihr seine leichtesten Melodien vor. Aber als er zufällig eine Suite spielte, von der er besonders viel hielt, und dabei merkte, daß auch sie, ohne daß er ihr irgend etwas gesagt hatte, diese vorzog, war er freudig überrascht. Mit dem naiven Erstaunen der Deutschen bei der Begegnung mit einem Franzosen, der ein guter Musiker ist, sagte er zu ihr:

»Das ist sonderbar. Was für einen guten Geschmack Sie haben. Ich hätte das nie gedacht …«

Corinne lachte ihm ins Gesicht.

Ihm machte es nunmehr Spaß, nach und nach immer schwerer zu verstehende Werke auszuwählen, um zu sehen, wie weit sie folgen würde. Sie schien durch keinerlei Ausdruckskühnheiten aus der Fassung zu bringen. Wie groß aber war sein Erstaunen, als nach einer ganz besonders neuartigen Melodie, an der Christof schließlich selbst gezweifelt hatte, weil es ihm nie gelungen war, für sie in Deutschland Sinn zu erwecken, Corinne ihn bat, noch einmal von vorn anzufangen, und, indem sie aufstand, begann, aus dem Gedächtnis und fast ohne sich zu irren mitzusingen. Er wandte sich zu ihr um und ergriff voller Begeisterung ihre Hände.

»Aber Sie sind ja Musikerin!« rief er.

Sie begann zu lachen und erzählte ihm, daß sie als Sängerin an einer Provinzoper angefangen habe, daß aber ein reisender Impresario ihr Talent für das Theater erkannt und sie nach dieser Seite gedrängt habe.

Er rief:

»Wie schade!«

»Warum?« meinte sie. »Dichtung ist auch Musik.«

Sie ließ sich den Sinn seiner Lieder erklären; er sagte ihr die deutschen Worte und sie wiederholte sie mit affenartiger Leichtigkeit, indem sie die Worte bis zum Gefältel von Mund und Augen genau nachsprach. Als sie sie dann aus dem Gedächtnis singen sollte, machte sie groteske Fehler; und wenn sie nicht weiter wußte, erfand sie Worte in barbarischen Kehllauten, die sie beide zum Lachen brachten. Sie wurde nicht müde, ihn zum Spielen zu bitten, noch er, ihr vorzuspielen und ihre hübsche Stimme zu hören, die nichts von Berufskniffen kannte, ein wenig kehlig wie bei einem kleinen Mädchen klang, dafür aber einen unerklärlichen Reiz, etwas Zartes und Rührendes hatte. Sie sagte ihm freimütig, was sie dachte. Obgleich sie nicht erklären konnte, warum ihr etwas gefiel oder mißfiel, so war in ihren Urteilen doch stets ein verborgener Grund. Sonderbar war es, daß sie sich bei Stücken im klassischen Stil und solchen, die in Deutschland am meisten geschätzt wurden, am wenigsten wohl fühlte: sie fand aus Höflichkeit ein paar Schmeicheleien; aber man merkte, daß ihr das nichts sagte. Da sie keinerlei musikalische Kultur besaß, empfand sie dabei auch nicht das Vergnügen, welches Musikfreunde und selbst Künstler unbewußt an dem »schon gehört« haben, ein Vergnügen, das sie oft unbewußt in einem neuem Werk diejenigen Formen oder Formeln nachschaffen und lieben läßt, die ihnen schon in alten Werken teuer waren. Ebensowenig besaß sie den deutschen Geschmack für melodische Sentimentalitäten (zum mindesten war ihre Sentimentalität eine andere: er kannte noch nicht deren Fehler); für Stellen von etwas weichlicher Fadheit, die in Deutschland besonders gefielen, begeisterte sie sich nicht. Das minderwertigste seiner Lieder – eine Melodie, die er hätte vernichten mögen, weil seine Freunde, die allzu glücklich waren, ihn wegen irgend etwas loben zu können, nur von ihr sprachen, – fand sie gar nicht besonders hübsch. Corinnes dramatischer Instinkt ließ sie vor allem Melodien bevorzugen, die eine bestimmte Leidenschaft offen zum Ausdruck brachten; und das waren die, welche auch ihm am meisten am Herzen lagen. Geringe Sympathie zeigte sie jedoch auch für gewisse harmonische Härten, die Christof ganz natürlich schienen: es gab ihr einen Stoß, wenn sie dergleichen hörte; sie hielt dann inne und fragte, »ob das wirklich so sei.« Wenn er ja sagte, nahm sie entschlossen den schweren Sprung; aber ihr Mund zog eine kleine Grimasse, die Christof nicht entging. Manchmal ließ sie sogar lieber den Takt aus. Dann wiederholte er ihn auf dem Klavier.

»Sie mögen das nicht?« fragte er.

Sie verzog das Gesicht.

»Das ist falsch,« sagte sie.

»Gar nicht,« meinte er lachend. »Es ist ganz wahr. Überlegen Sie sich nur, was es sagt. Ist es hier nicht richtig?«

(Er wies auf sein Herz).

Aber sie schüttelte den Kopf.

»Vielleicht wohl; aber da ist es falsch.«

(Sie zog sich am Ohr.)

Ebenso zeigte sie sich durch die großen Registersprünge der deutschen Deklamation etwas verletzt:

»Warum spricht er so laut?« fragte sie. »Er ist ja ganz allein. Fürchten Sie nicht, daß seine Nachbarn ihn belauschen? Er tut so … (entschuldigen Sie! Sie sind doch nicht böse?) … er tut, als riefe er ein Schiff an.«

Er wurde nicht böse; er lachte aufrichtig und gab zu, daß etwas Wahres daran sei. Ihre Einwände machten ihm Spaß; noch niemand hatte sie ihm gemacht. Sie kamen darin überein, daß der gesungene Vortrag meist das natürliche Wort wie in einem Vergrößerungsglase entstellt. Corinne wollte, daß Christof für sie die Musik zu einem Stück schriebe, in dem sie zur Begleitung des Orchesters spräche und zwischendurch ab und zu ein paar Stellen sänge. Er war Feuer und Flamme für die Idee trotz der Schwierigkeiten ihrer bühnenmäßigen Verwirklichung, die zu überwinden ihm gerade Corinnes musikalische Stimme geeignet schien; und so schmiedeten sie Pläne für die Zukunft.

Erst kurz vor fünf fiel ihnen ihr Spaziergang wieder ein. Es wurde in jener Jahreszeit früh Nacht.

Vom Spazierengehen konnte keine Rede mehr sein. Am Abend hatte Corinne Probe, der niemand beiwohnen durfte. Sie nahm ihm also das Versprechen ab, am Nachmittag des folgenden Tages zu dem geplanten Spaziergang wiederzukommen.

 

Am nächsten Tage wiederholte sich beinahe dieselbe Szene. Er fand Corinne mit baumelnden Beinen auf einem hohen Schemel vor ihrem Spiegel: sie probierte eine Perücke auf. Ihre Garderobenfrau und der Stadtfriseur waren um sie beschäftigt; letzterem machte sie Vorstellungen in betreff einer Locke, die sie höher gesteckt haben wollte. Während sie sich noch in den Spiegel schaute, entdeckte sie Christof darin, der hinter ihrem Rücken lächelte: sie streckte ihm die Zunge heraus. Der Friseur zog mit der Perücke ab und sie wandte sich fröhlich zu Christof um.

»Guten Tag, Freund!« sagte sie.

Sie hielt ihm die Wange zum Kuß hin. Er war auf solche Vertraulichkeit gar nicht gefaßt, hütete sich aber, nicht davon zu profitieren. Sie legte ihrer Gunst nicht allzuviel Bedeutung bei; für sie war das eine Begrüßung, so gut wie eine andere. »O ich bin so froh!« sagte sie, »es wird sich heut Abend sehr gut machen. – (Sie sprach von ihrer Perücke) – Ich war so verzweifelt! Wären Sie heute Morgen gekommen, hätten Sie mich sterbensunglücklich gefunden.«

Er fragte warum.

Der Pariser Friseur hatte sich beim Einpacken geirrt, und eine Perücke, die nicht zur Rolle paßte, in den Koffer gelegt.

»Ganz glatt,« erzählte sie, »ganz gerade und dumm fiel sie herunter. Als ich die sah, habe ich geweint, geweint wie eine Magdalena. Nicht wahr, madame Désirée?«

»Als ich herein kam,« sagte die Madame, »hat mir das gnädige Fräulein Angst gemacht. Das gnädige Fräulein war schneeweiß. Das gnädige Fräulein war wie tot.«

Christof lachte. Corinne sah es im Spiegel.

»Darüber können Sie lachen, Sie herzloser Mensch?« fragte sie empört.

Auch sie fing zu lachen an.

Er fragte, wie die Probe am vorigen Abend verlaufen sei.

Alles war sehr schön gegangen. Sie hätte nur gewünscht, daß man in den andern Rollen mehr striche und in ihrer gar nichts. Sie unterhielten sich so gut, daß ein Teil des Nachmittags wieder dahinging. Langsam zog sie sich an; es machte ihr Spaß, Christof wegen ihrer Toiletten um Rat zu fragen. Christof hob ihre Eleganz hervor und sagte ihr in seinem deutsch-französischen Kauderwelsch ganz naiv, daß er niemals jemand gesehen habe, der so » luxurieux« sei. Zuerst sah sie ihn forschend an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.

»Was habe ich denn gesagt?« fragte er. »Heißt es nicht so? Darf man das nicht sagen?«

»Doch! doch!« schrie sie, indem sie sich vor Lachen bog. »Es ist ganz richtig.«

Endlich gingen sie aus. Ihre auffallende Toilette und ihr überlebhaftes Sprechen zogen die Aufmerksamkeit auf sich.

Sie beschaute alles mit den spottlustigen Augen einer Französin und war nicht weiter bemüht, ihre Eindrücke zu verhehlen. Sie lachte laut vor den Modeauslagen und vor den Läden mit Ansichtskarten, in denen man bunt durcheinander alles sah: rührselige Szenen, derb schlüpfrige Bilder, die Kokotten der Stadt, die kaiserliche Familie, den Kaiser in rot, den Kaiser in grün, den Kaiser als rauhen Seemann, wie er S. M. S. Germania befehligt und dem Himmel Trotz bietet. Sie brach vor einem Tafelservice, das mit dem bitterbösen Kopf Wagners geschmückt war, oder vor einem Friseurschaufenster, in dem ein wächserner Männerkopf thronte, in ein schallendes Gelächter aus. Eine nicht sehr schickliche Heiterkeit bezeugte sie ferner vor dem vaterländischen Denkmal, das den alten Kaiser in Reiseüberzieher und Schirmmütze darstellte, neben ihm die Gestalten Preußens, der deutschen Staaten und eines völlig nackten Kriegsgenius. Alles, was in den Gesichtern der Leute oder ihrer Sprechweise ihren Hang zum Spott herausforderte, nahmen ihre Augen im Vorübergehen mit. Und ihre Opfer konnten über den boshaften Seitenblick, der ihre Lächerlichkeiten auffing, nicht im Unklaren bleiben. Corinnens Nachahmungstrieb verführte sie sogar manchmal, ohne jede Überlegung mit Lippen und Nase aufgeblasene oder zusammengeschrumpfte Fratzen zu kopieren; und sie blähte die Backen, um Bruchstücke von Sätzen oder Worten zu wiederholen, die sie im Fluge aufgeschnappt hatte, und deren Tonfülle ihr drollig vorkam. Christof lachte aus vollem Herzen über alles und fühlte sich durch ihre Keckheiten nicht im mindesten in Verlegenheit gebracht; denn er war ja ebenso ungeniert. Glücklicherweise hatte sein Ruf nicht viel zu verlieren; denn solcher Spaziergang war ganz dazu angetan, diesen auf immer zu untergraben.

Sie besichtigten den Dom. Corinne wollte trotz ihrer hohen Absätze und ihres zu langen Kleides bis zur Turmspitze klettern. Sie fegte mit ihrer Schleppe alle Stufen und verfing sich schließlich an einer Treppenecke; das rührte sie aber nicht, sie zog tapfer an, der Stoff krachte auseinander, und sie kletterte, indem sie das Kleid keck emporraffte, weiter. Es fehlte wenig, so hätte sie die Glocken geläutet. Vom Turm aus deklamierte sie Victor Hugo, wovon Christof nichts verstand, und sang dann ein französisches Volkslied. Darauf mimte sie den Muezzin. – Die Dämmerung sank. Sie stiegen wieder in die Kirche hinab; dichtes Dunkel kroch die gigantischen Mauern entlang, aus deren Stirn die zauberhaften Augen der Glasfenster leuchteten. In einer Seitenkapelle sah Christof das junge Mädchen, das seine Logennachbarin in der Hamletvorstellung gewesen war, auf den Knien. Sie war so in ihr Gebet vertieft, daß sie ihn garnicht bemerkte; ihr Ausdruck war schmerzvoll und schlaff, so daß er davon betroffen wurde. Er hätte ihr gern ein paar Worte sagen, sie wenigstens grüßen mögen; aber Corinne riß ihn in ihrem Wirbel mit.

Bald darauf trennten sie sich. Sie mußte sich für die Vorstellung zurecht machen, die nach deutschem Brauch früh begann. Kaum aber war er heimgekehrt, klingelte man und überbrachte ihm folgende Karte von Corinne:

»Dusel! Jesebel krank! Frei! Hoch die Bande! … Freund! Kommen Sie! Wir machen ein kleines gemeinsames Essen!

Freundin
Corinette.

P. S. Bringen Sie viel Noten mit.«

Er hatte einige Mühe zu begreifen. Als er verstanden hatte, war er ebenso froh wie Corinne und begab sich sofort ins Hotel. Er fürchtete, die ganze Schauspielergesellschaft beim Essen vereint zu finden; aber er sah niemand. Selbst Corinne war verschwunden. Schließlich hörte er ihre lachende, klingende Stimme aus dem hintersten Raum; er ging auf die Suche nach ihr und fand sie endlich in der Küche. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ein Gericht nach ihrem Geschmack zuzubereiten, eine ihrer südfranzösischen Speisen, deren durchdringendes Aroma ein ganzes Stadtviertel erfüllt und Steine auferwecken kann. Sie stand mit der dicken Wirtin des Hotels auf bestem Fuße; die beiden kauderwelschten einen entsetzlichen Sprachmischmasch aus Deutsch, Französisch und Negerjargon miteinander. Sie lachten schallend und gaben einander ihre Werke zu kosten. Christofs Eintritt erhöhte den Lärm. Man wollte ihn vor die Tür setzen; aber er widersetzte sich, und es gelang ihm sogar, ebenfalls von der berühmten Speise zu kosten. Er verzog ein wenig das Gesicht, worauf Corinne ihn Barbar schalt und sagte, es wäre nicht der Mühe wert, sich für ihn anzustrengen.

Sie gingen zusammen in den kleinen Salon zurück, in dem der Tisch gedeckt stand: doch nur für ihn und Corinne. Er konnte die Frage nicht unterdrücken, wo denn ihre Kollegen wären. Corinne antwortete mit einer gleichgültigen Bewegung:

»Ich weiß nicht.«

»Sie speisen nie gemeinsam zu Abend?«

»Nie! Man sieht sich gerade genug im Theater! Das wäre noch schöner, wenn man sich auch bei Tisch zusammenfinden sollte!«

Das wich so von deutschen Gewohnheiten ab, daß er darüber ganz erstaunt und erfreut war.

»Ich dachte, Sie seien ein geselliges Volk,« sagte er.

»Nun ja, bin ich nicht gesellig?« scherzte sie.

»Gesellig! Das bedeutet in Gesellschaft leben. Da müssen Sie erst uns Deutsche sehen! Männer, Frauen, Kinder, – jeder ist vom Tag der Geburt bis zum Tod Mitglied der Gesellschaft: in Gesellschaft ißt man, singt man, denkt man. Niest die Gesellschaft, so niest man mit; nicht einen Schoppen trinkt man ohne die Gesellschaft.«

»Das muß ja heiter sein,« meinte sie. »Warum nicht gleich aus demselben Glas?«

»Ist das etwa nicht sehr brüderlich, wie?«

»Gehen Sie mir mit Brüderlichkeit! Ich will gern denen »Bruder« sein, die mir gefallen; den andern bin ich's nicht … Puh! Das ist doch keine Gesellschaft, das ist ja ein Ameisenhaufen!«

»Dann machen Sie sich jetzt ein Bild, wie wohl ich mich hier fühle, – ich denke ja genau wie Sie!«

»So kommen Sie zu uns!«

Er wünschte sich nichts besseres. Er fragte sie über Paris und die Franzosen aus. Die Aufschlüsse, die sie ihm gab, waren nicht immer allzu genau. Zu ihrer südfranzösischen Großsprecherei kam der instinktive Wunsch, ihr Gegenüber zu verblüffen. – Nach ihren Reden zu urteilen, war in Paris alle Welt frei; und da alle Welt in Paris intelligent war, nutzte jeder diese Freiheit, ohne daß irgend einer sie mißbrauchte; jeder tat, was ihm gefiel, dachte, glaubte, liebte oder liebte nicht, alles nach eignem Belieben. Niemand hatte etwas dareinzureden. Dort mischte sich niemand in die Glaubensangelegenheiten des andern; niemand spionierte das Gewissen seines Nachbarn aus; niemand bevormundete die Gedanken des andern. Dort mischten sich keine Politiker in literarische und künstlerische Angelegenheiten; keiner verteilte Orden, Stellen und Geld unter Freunde und Anhänger. Dort bestimmten nicht Cliquen über Ruf und Erfolg; dort waren Journalisten nicht käuflich; die Schriftsteller schütteten einander nicht Weihrauchgefäße über den Kopf aus, mit denen sie einander die Köpfe vorher nicht hatten einschlagen können. Dort erstickte die Kritik nicht unbekannte Talente und verging in Lobhudeleien vor den Anerkannten. Dort heiligte der Erfolg, der Erfolg um jeden Preis, nicht alle Mittel und rief die öffentliche Begeisterung wach. Dort herrschten sanfte, herzliche, höfliche Umgangsformen. Nicht die geringste Reizbarkeit in den Beziehungen der Menschen. Keinerlei Verleumdung. Jeder kam dem andern zu Hilfe. Jeder verdienstvolle Neuankömmling war sicher, daß sich ihm die Hände entgegenstreckten und sich unter seinen Schritten alle Wege ebneten. Reine Schönheitsliebe erfüllte die Herzen der ritterlichen und selbstlosen Franzosen; ihre einzige Schwäche war ihr Idealismus, der sie trotz ihres weltberühmten » esprit« zum Narren der andern Völker machte.

Christof lauschte mit offenem Munde; und er hatte wahrhaftig Grund zum Staunen. Corinne staunte selbst, als sie sich so reden hörte. Sie hatte vergessen, was sie am Tage vorher zu Christof über die Schwierigkeiten ihres verflossenen Lebens gesagt hatte, und er dachte ebensowenig wie sie daran.

Indessen befaßte sich Corinne nicht einzig damit, ihr Vaterland bei den Deutschen beliebt zu machen: es lag ihr ebensoviel daran, für sich selbst Liebe zu wecken. Ein ganzer Abend ohne Flirt wäre ihr steif und ein wenig sinnlos vorgekommen. So sparte sie nicht mit Angriffen auf Christof; aber das war vergebliche Mühe: er merkte es gar nicht. Christof wußte nicht, was flirten heißt. Er liebte oder liebte nicht. Wenn er nicht liebte, war er meilenweit von jedem Liebesgedanken fern. Für Corinne empfand er lebhafte Freundschaft, empfand den Reiz dieser südlichen, so ganz neuen Natur, ihrer Anmut, ihres frohen Temperaments, ihres lebendigen und offenen Verstandes: sicherlich Grund genug zur Liebe; aber »der Geist weht, von wannen er will«: hier wehte er nicht; und auf den Gedanken, Liebe zu spielen, wenn keine Liebe da war, wäre er nie verfallen.

Corinne machte seine Kühle Spaß. Sie saß neben ihm vor dem Klavier, während er die mitgebrachten Stücke spielte, hatte ihren nackten Arm um Christofs Hals geschlungen und neigte sich, um den Noten besser zu folgen, zum Klavier hin, wobei sie ihre Wange fast an die ihres Freundes lehnte. Er fühlte die Bewegungen ihrer Wimpern und sah ganz gegen seinen Willen den Winkel ihres mokanten Auges, ihr liebenswertes, lebendiges Mäulchen, den kleinen Flaum ihrer geschürzten Lippe, die lächelnd wartete. – Sie wartete. Christof verstand die Aufforderung nicht. Corinne hinderte ihn am Spiel: das war alles, was er dachte. Mechanisch befreite er sich und rückte seinen Stuhl ab. Als er sich, im Augenblick darauf zu Corinne umwandte, um ihr etwas zu sagen, sah er, daß sie sich vor Lachlust nicht halten konnte. Das Grübchen in ihrer Wange zuckte; sie preßte die Lippen aufeinander und schien sich mit aller Gewalt zu zwingen, um nicht in helles Gelächter auszubrechen.

»Was haben Sie?« fragte er erstaunt.

Sie schaute ihn an und platzte heraus.

Er begriff nichts.

»Warum lachen Sie?« fragte er, »habe ich irgend etwas Komisches gesagt?«

Je mehr er in sie drang, um so mehr lachte sie. Wenn sie beinahe aufhörte, genügte es, daß sie einen Blick auf seine bestürzte Miene warf, um heller wieder anzufangen. Sie sprang auf, lief zu dem Sopha am andern Ende des Zimmers und vergrub ihr Gesicht in den Kissen um sich ordentlich auszulachen; ihr ganzer Körper schüttelte sich. Er wurde schließlich angesteckt, kam zu ihr und gab ihr kleine Klapse in den Rücken. Als sie nicht mehr konnte, hob sie den Kopf, trocknete ihre tränenden Augen und streckte ihm ihre beiden Hände hin:

»Was für ein guter Junge Sie sind!« sagte sie.

»Kein schlimmerer als irgendeiner.«

Sie wurde noch weiter von kleinen Lachanfällen geschüttelt, während sie immer noch seine Hände hielt.

»Sehr gesetzt ist die Française nicht, wie?« meinte sie. (Sie sprach Françouèse aus.)

»Sie machen sich über mich lustig,« meinte er gutlaunig.

Sie schaute ihn mit gerührtem Blick an, schüttelte kräftig seine Hände und sagte:

»Freunde?«

»Freunde!« nickte er und erwiderte ihren Händedruck.

»Wird er an Corinette denken, wenn sie nicht mehr da sein wird? Wird er der Française nicht böse sein, weil sie nicht gesetzt ist?«

»Und wird sie dem teutonischen Barbaren nicht böse sein, weil er so dumm ist?«

»Gerade darum mag man ihn gern … Er wird sie in Paris besuchen?«

»Versprochen … und sie, wird sie mir schreiben?«

»Geschworen … Sagen Sie auch: ich schwöre es.«

»Ich schwöre.«

»Nein, nicht so. Sie müssen die Hand ausstrecken.«

Sie ahmte den Schwur der Horatier nach. Dann nahm sie ihm das Versprechen ab, ein Stück für sie zu schreiben, ein Melodrama, das ins Französische übersetzt und in Paris gespielt werden sollte. Am folgenden Morgen sollte sie mit ihrer Truppe abreisen. Er verabredete mit ihr, daß er sie am übernächsten Tag in Frankfurt, wo sie eine Vorstellung gaben, wieder treffen wolle. Dann schwatzten sie noch eine Weile miteinander. Sie schenkte Christof eine Photographie von sich, auf der sie fast bis zur Mitte nackt war, nur mit einer, unter den Armen befestigten Stoffdraperie bekleidet. Fröhlich trennten sie sich und küßten sich geschwisterlich. Wirklich war auch Corinne, nachdem sie gesehen hatte, daß Christof sie aufrichtig lieb hatte, aber ganz entschieden nicht in sie verliebt war, dazu gekommen, ihn ohne Liebe wie einen guten Kameraden gern zu haben.

Weder dem einen noch dem andern wurde der Schlaf gestört. Er konnte ihr am nächsten Morgen nicht Lebewohl sagen; denn er hatte eine Probe. Am folgenden Tage aber richtete er, seinem Versprechen gemäß, es so ein, nach Frankfurt zu reisen; es waren dorthin nur zwei oder drei Stunden Eisenbahnfahrt. Corinne hatte kaum auf Christofs Versprechen gezählt; er aber hatte es ernst genommen; und pünktlich zur Vorstellung war er da. Als er während der Pause kam und an das Garderobezimmer klopfte, in dem sie sich gerade anzog, schrie sie in froher Überraschung auf und warf sich ihm in gewohntem Überschwang an den Hals. Sie war ihm für sein Kommen aufrichtig dankbar. Zum Unglück für Christof aber war sie in dieser reichen und intelligenten Judenstadt, wo man ihre gegenwärtige Schönheit und ihren zukünftigen Erfolg einzuschätzen wußte, weit mehr umringt. Jeden Augenblick klopfte jemand an die Garderobe; und die Tür öffnete sich halb, um schwerfällige Gesichter mit lebhaften Augen durchzulassen, die mit scharfer Betonung Fadheiten sagten. Natürlich kokettierte Corinne mit ihnen; und dann behielt sie auch Christof gegenüber denselben gezierten und herausfordernden Ton bei, was ihn recht ärgerte. Er hatte übrigens keinerlei Vergnügen an der ruhigen Schamlosigkeit, mit der sie vor ihm ihre Toilette machte; Schminke und Fett, womit sie Arme, Busen und Gesicht überzog, flößten ihm tiefen Widerwillen ein. Er war nahe daran, ohne sie noch einmal wiederzusehen, gleich nach der Vorstellung abzureisen; aber als er ihr Lebewohl sagte und sich entschuldigte, an dem Essen, das ihr zu Ehren nach dem Theater gegeben werden sollte, nicht teilnehmen zu können, bezeigte sie eine so reizend herzliche Enttäuschung, daß seine Vorsätze nicht standhielten. Sie ließ sich ein Kursbuch bringen, um ihm zu beweisen, daß er noch eine gute Stunde mit ihr verbringen könne, – verbringen müsse. Er wünschte sich nichts Besseres, als überzeugt zu werden, und nahm also am Abendessen Teil. Es gelang ihm sogar seine Langeweile während aller Albernheiten, die geredet wurden, und seinen Ärger über Corinnes Neckereien, die sie für den erstbesten Affen übrig hatte, nicht allzusehr zu zeigen. Unmöglich konnte man ihr böse sein. Sie war ein braves Mädchen, ohne irgendeinen sittlichen Grundsatz, träge, sinnlich, vergnügungssüchtig, kindlich kokett, aber gleichzeitig so unverfälscht, so gutherzig und in allen ihren Fehlern so urwüchsig und gesund, daß man nur darüber lächeln konnte und selbst diese fast lieben mußte. Christof, der ihr gegenübersaß, betrachtete, während sie sprach, ihr belebtes Gesicht, ihre schönen leuchtenden Augen, ihren etwas vollen Mund mit dem italienischen Lächeln, – diesem Lächeln, in dem Güte ist, Feinfühligkeit und sybaritische Schwere: er sah sie klarer als bisher. Einige Züge erinnerten ihn an Ada: gewisse Gebärden, gewisse Blicke, ein gewisses sinnliches, etwas derbes Spiel: – das ewig Weibliche. Aber was er vor allem in ihr liebte, war die Natur des Südens, die verschwenderische Natur, die mit ihren Gaben nicht geizt, die sich nicht damit befaßt, Salonschönheiten und Bücherintelligenzen hervorzubringen, sondern harmonische Geschöpfe, deren Körper und Geist dazu geschaffen sind, sich in Luft und Sonne zu entfalten. – Als er fortging, stand sie von Tisch auf, um ihm fern von den andern Lebewohl zu sagen. Sie küßten sich noch einmal und erneuten ihre Versprechen sich zu schreiben, sich wiederzusehen.

Er nahm den letzten Zug, um nach Haus zurückzukehren. Auf einer Zwischenstation wartete der in entgegengesetzter Richtung kommende Zug. In dem Wagen, der grade dem seinen gegenüber hielt, sah Christof in der dritten Klasse die junge Französin, die mit ihm in der Hamletvorstellung gewesen war. Auch sie sah Christof und erkannte ihn. Sie waren beide gleichermaßen betroffen. Schweigend grüßten sie einander und blieben dann reglos; sie wagten nicht, sich in die Augen zu sehen. Er hatte jedoch mit einem schnellen Blick entdeckt, daß sie einen kleinen Reisehut trug und einen alten Koffer bei sich hatte. Der Gedanke, daß sie das Land verließe, kam ihm nicht; er meinte, sie verreise auf einige Tage. Er wußte nicht, ob er sie ansprechen sollte: er zauderte, überlegte sich, was er ihr sagen wollte, und war gerade im Begriff, das Fenster herunterzulassen, um ein paar Worte an sie zu richten, als man das Abfahrtssignal gab: so verzichtete er darauf; noch einige Sekunden vergingen, ehe der Zug sich in Bewegung setzte. Sie sahen sich ins Gesicht. Allein in ihrem Wagenabteil, das Gesicht gegen die Scheiben gepreßt, senkten sie durch die sie umgebende Nacht ihre Augen ineinander. Ein doppeltes Fenster trennte sie. Hätten sie die Arme nach außen gestreckt, so würden sich ihre Arme berührt haben. So nah. So fern. Schwerfällig schlitterten die Wagen. Jetzt, da sie sich trennten, sah sie ihn mit langem Blick und ganz ohne Schüchternheit an. So vertieft waren sie einer in des andern Betrachtung, daß sie sogar vergaßen, sich ein letztes Mal zu grüßen. Langsam entfernte sie sich: er sah sie entschwinden; und der Zug, der sie davontrug, tauchte in Nacht unter. Gleich zwei irrenden Welten waren sie im unendlichen Raum einen Augenblick lang aneinander vorübergeglitten, und vielleicht für die Ewigkeit entfernten sie sich wieder voneinander.

Als sie entschwunden war, fühlte er die Leere, die dieser unbekannte Blick eben in ihn gewühlt hatte; er verstand nicht wieso: aber die Leere war da. Schlaftrunken, mit halbgeschlossenen Lidern in eine Wagenecke gelehnt, fühlte er auf seinen Augen die Berührung dieser Augen; alle seine übrigen Gedanken schwiegen, um sie besser zu fühlen. Corinnens Bild flatterte außen vor seinem Herzen wie ein Insekt, das mit den Flügeln an die andere Seite der Scheiben schlägt; aber er ließ es nicht ein.

Er fand es wieder, als er nach der Ankunft aus dem Wagen stieg, als die frische Nachtluft und der Marsch durch die schlafenden Straßen die Betäubung von ihm abgestreift hatten. Er lächelte in Erinnerung an die reizende Schauspielerin mit einem Gemisch von Vergnügen und Ärger, je nachdem er an ihre warme Art oder an ihre gewöhnlichen Koketterien dachte.

»Teufelsfranzosen!« brummte er, leise vor sich hinlachend, während er sich geräuschlos auszog, um seine nebenan schlafende Mutter nicht aufzuwecken.

Ein Wort, das er neulich Abend in der Loge vernommen hatte, kam ihm wieder in den Sinn:

»Es gibt auch andere.«

Von seiner ersten Begegnung mit Frankreich an richtete dies Land das Rätsel seiner Doppelnatur vor ihm auf. Aber wie alle Deutschen, bemühte er sich durchaus nicht, es zu lösen; und wenn er an das junge Mädchen im Eisenbahnwagen dachte, wiederholte er seelenruhig:

»Sie sieht nicht französisch aus.«

Als ob es Sache eines Deutschen wäre, zu entscheiden, was französisch ist und was nicht.

 

Französin oder nicht, sie kam ihm nicht aus dem Sinn; denn mitten in der Nacht wachte er mit beklommenem Herzen auf: er hatte an den Koffer denken müssen, den er neben dem jungen Mädchen auf der Bank gesehen hatte; und plötzlich tauchte in ihm die Vorstellung auf, daß die Reisende für immer fortgefahren sei. Eigentlich hätte ihm dieser Gedanke gleich vom ersten Augenblick an kommen müssen; aber er war ihm nicht eingefallen. Jetzt empfand er ihn mit dumpfer Traurigkeit. Er zuckte in seinem Bett die Achseln:

»Was soll mir das ausmachen?« sagte er sich. »Es geht mich ja nichts an.«

Und er schlief wieder ein.

Am nächsten Morgen aber begegnete er als erstem auf der Straße Mannheim, der ihn »Blücher« nannte und ihn fragte, ob er entschlossen sei, ganz Frankreich zu erobern. Durch ihn, die verkörperte Zeitung, erfuhr er, daß die Logengeschichte einen Erfolg gehabt habe, der alle Erwartungen Mannheims überstieg:

»Heil dir, Heil!« schrie Mannheim. »Du bist ein großer Mann. Neben dir bin ich nichts.«

»Was habe ich denn getan?« fragte Christof.

»Du bist wundervoll!« fing Mannheim wieder an. »Ich beneide dich. Den Grünebaums ihre Loge vor der Nase wegschnappen und ihre französische Erzieherin statt ihrer hineinladen, – nein das, das ist glänzend, ich hätte das nicht gefunden!«

»Es war die Erzieherin der Grünebaums?« fragte Christof verblüfft.

»Ja, tue noch, als ob du's nicht wüßtest; spiele den Unschuldigen, das kann ich dir nur raten! … Papa kommt nicht mehr aus der Wut heraus. Die Grünebaums haben einen Zorn! … Aber lange gefackelt haben sie nicht: die Kleine ist vor die Tür gesetzt worden.«

»Wie?« schrie Christof, »sie haben sie fortgeschickt? Meinetwegen fortgeschickt?«

»Du wußtest es nicht?« fragte Mannheim. »Hat sie's dir denn nicht gesagt?«

Christof war verzweifelt.

»Laß dir dadurch nicht die Laune verderben, mein Bester,« meinte Mannheim, »das hat keine so große Bedeutung. Und dann war es schließlich vorauszusehen, daß am Tage, an dem die Grünebaums erfahren würden …«

»Was?« schrie Christof, »was erfahren?«

»Daß sie deine Geliebte war, zum Donnerwetter!«

»Ich kenne sie ja nicht einmal, weiß nicht, wer sie ist.«

Mannheim zeigte ein Lächeln, das sagen wollte:

»Du hältst mich für allzu dumm.«

Christof wurde böse und ersuchte Mannheim, ihm die Ehre zu erweisen, das, was er behauptete, zu glauben. Mannheim sagte:

»Dann ist es noch komischer.«

Christof regte sich auf, sprach davon, die Grünebaums aufzusuchen, ihnen Bescheid zu sagen, das junge Mädchen zu rechtfertigen. Mannheim redete es ihm aus.

»Mein Lieber,« sagte er, »alles was du ihnen sagst, wird sie nur noch mehr vom Gegenteil überzeugen. Und dann ist es zu spät. Das Mädel ist jetzt weit weg.«

Christof versuchte todestraurig die Spur der jungen Französin wiederzufinden. Er wollte ihr schreiben, sie um Verzeihung bitten. Niemand aber wußte etwas von ihr. Die Grünebaums, an die er sich wandte, schickten ihn heim; sie wüßten selbst nicht, wo sie hingegangen wäre, und sie kümmerten sich nicht darum. Der Gedanke an das Böse, was er angerichtet hatte, indem er Gutes tun wollte, marterte Christof: es wurde ihm zur beständigen Gewissensqual. Ihr verband sich ein geheimnisvoller Zauber, der aus den entschwundenen Augen still über ihn strahlte. Reiz und Reue schienen, von der Flut der Tage und neuen Gedanken überdeckt, sich zu verwischen; aber sie blieben dunkel auf dem Grund bestehen. Christof vergaß die, welche er sein Opfer nannte, nicht. Er hatte sich geschworen, sie wieder zu finden. Er wußte, wie wenig Aussicht er dazu hatte; und doch war er sicher, daß er sie wiedersehen würde.

Was Corinne betraf, so antwortete sie auf keinen der Briefe, die er an sie richtete. Drei Monate später aber, als er gar nichts mehr erwartete, bekam er von ihr ein Telegramm von vierzig Worten, in dem sie drauflos alberte, ihm kleine Kosenamen gab und fragte, ob man sich immer noch »liebe«. Dann kam nach wieder einer Pause von beinahe einem Jahr ein mit ihrer riesigen, kinderhaften Zickzackhandschrift (die nach einer großen Dame aussehen sollte) beschriebener Brieffetzen mit ein paar herzlichen und drolligen Worten. – Und dann blieb es dabei. Sie vergaß ihn nicht; aber sie hatte nicht Zeit, an ihn zu denken.

 

Noch ganz unter Corinnens Zauber und voll der Ideen, die sie über Kunst ausgetauscht hatten, träumte Christof davon, die Musik für ein Stück zu schreiben, in dem Corinne spielen und einige Arien singen sollte, – eine Art poetischen Melodramas. Diese Kunstgattung, die einst in Deutschland in so hohem Ansehen stand, die von Mozart leidenschaftlich bewundert, von Beethoven, Weber, Mendelssohn und Schumann, von allen großen Klassikern gepflegt wurde, war seit dem Triumph des Wagnertums, das die endgültige Form für Theater und Musik geschaffen haben wollte, in Ungnade gefallen. Die braven Wagnerschen Pedanten waren nicht damit zufrieden, jedes neue Melodrama zu verwerfen; sie bemühten sich, auch die alten Melodramen und Opern aufzuputzen; mit Sorgfalt strichen sie jede Spur gesprochener Dialoge und schrieben für Mozart, Beethoven oder Weber Rezitative nach ihrer Art; sie waren überzeugt, dem Ruhm der Meister dienstbar zu sein und ihre Gedanken zu vervollständigen, wenn sie auf deren Meisterschöpfungen fromm ihren kleinen Unrat ablagerten.

Christof, den Corinnens Kritiken für die Schwerfälligkeit und die häufigen Häßlichkeiten Wagnerscher Deklamation besonders empfindlich gestimmt hatten, fragte sich schon längere Zeit, ob es nicht überhaupt ein Unsinn und etwas Naturwidriges sei, auf dem Theater Wort und Gesang im Rezitativ zusammenzukuppeln und zu schmieden: es war, als wolle man ein Pferd und einen Vogel vor denselben Wagen spannen. Wort und Gesang hatten jedes seinen eignen Rhythmus. Man konnte verstehen, wie ein Künstler im Notfalle eine der beiden Künste dem Siege der andern, von ihm bevorzugten, opferte. Aber zwischen ihnen einen Kompromiß schließen, hieß sie alle beide opfern: es hieß das Wort nicht mehr als Wort, den Gesang nicht mehr als Gesang gelten lassen, hieß den breiten Lauf des Sanges in zwei langweilige Kanaldämme pressen, – und des Wortes schöne, nackte Glieder mit schweren und reichen Stoffen beladen, die seine Bewegungen und Schritte hemmten. Warum konnte man nicht beiden ihre Ursprünglichkeit und ihre Bewegungsfreiheit lassen? Gleich einem schönen Mädchen, das mit glücklich leichtem Schritt am Bach entlang geht und wandernd träumt: das frohe Murmeln des Wassers wiegt ihr Träumen, und unbewußt geht nach und nach ihr Schritt und Denken im Takt des Quellgesangs. So müßten auch Musik und Dichtung frei und Seite an Seite träumend dahinschreiten und ihre Träume ineinander schlingen. – Allerdings taugte nicht alle Musik zu solcher Bindung, ebensowenig wie alle Dichtung. Die Gegner des Melodramas konnten sehr viel gegen die früheren Versuche und deren Interpreten einwenden. Lange hatte Christof ihren Widerwillen geteilt: die Torheit der Schauspieler, die sich mit gesprochenen Rezitationen zur Instrumentalbegleitung befaßten, ohne sich dabei um die Begleitung zu kümmern, ohne zu versuchen, ihr die Stimme anzupassen, sondern gerade im Gegenteil alles taten, damit man nur sie selbst hörte, mußte allerdings jedes musikalische Ohr empören. Seit er jedoch die harmonische Stimme Corinnes genossen hatte – diese flüssig reine Stimme, die sich in der Musik wie ein Sonnenstrahl im Wasser bewegte, die sich ganz dem Umriß einer melodischen Phrase vermählte, die wie ein schmiegsamerer, freierer Gesang war –, sah er die Schönheit einer neuen Kunst deutlich vor sich.

Vielleicht hatte er recht; aber er war noch zu unerfahren, um sich ohne Gefahr in einer Kunstgattung zu versuchen, die, wenn sie schön und wahrhaft künstlerisch sein soll, von allen die schwierigste ist. Als erste Hauptbedingung fordert diese Kunst vollkommene Übereinstimmung der verbundenen Kräfte des Dichters, des Musikers und der Darsteller. – Christof bekümmerte sich nicht darum. Unbesonnen stürzte er sich in eine unbekannte Kunst, deren Gesetze er ganz allein nur ahnte.

Sein erster Gedanke war gewesen, ein Shakespearesches Märchen oder einen Akt aus dem zweiten Teil Faust in Musik zu setzen. Die Theater aber zeigten sich wenig geneigt, einen solchen Versuch zu unternehmen; er mußte kostspielig werden und schien ihnen verrückt. In Sachen der Musik gab man ja Christofs Kennerschaft gern zu; daß er sich aber erlaubte, über Dichtkunst und Theater seine Vorstellungen zu haben, machte die Leute lächeln: darin nahm man ihn nicht ernst. Die Welt der Töne und die der Dichtung schienen zwei einander fremde und heimlich feindliche Staaten. Um in den Dichterstaat einzudringen, mußte Christof die Mitarbeiterschaft eines Dichters dulden; und es war ihm durchaus nicht gestattet, diesen Dichter selbst zu wählen. Er selbst hätte es sich nicht erlaubt: er mißtraute seinem Geschmack in der Poesie; man hatte ihm die Überzeugung beigebracht, daß er nichts davon verstünde; und wirklich verstand er nichts von den Gedichten, die man rings um ihn bewunderte. Er hatte sich manchmal mit seiner gewohnten Ehrlichkeit und Hartnäckigkeit viel Mühe gegeben, die Schönheit von diesem oder jenem unter ihnen herauszufühlen; aber er hatte es stets unverrichteter Sache und über sich selbst ein wenig beschämt wieder aufgegeben: nein, er war entschieden kein Dichter. Zwar liebte er gewisse alte Dichter leidenschaftlich; und das tröstete ihn ein wenig; aber wahrscheinlich liebte er sie nicht in der rechten Weise. Hatte er nicht einmal die lächerliche Idee ausgesprochen, daß nur die große Dichter seien, welche groß blieben, selbst wenn man sie in Prosa übertrüge, selbst in eine fremde Prosa übertrüge, und daß die Worte überhaupt nur den Wert des Seelischen hätten, das sie ausdrückten? Seine Freunde hatten sich über ihn lustig gemacht. Mannheim hatte ihn als Banausen behandelt. Er hatte nicht versucht, sich zu rechtfertigen. Da er täglich an Beispielen von Literaten, die über Musik sprachen, die Schwäche der Künstler sah, die über eine andere Kunst als die ihre zu urteilten sich anmaßten, fand er sich – wenn auch im Grunde ein wenig skeptisch – mit seiner poetischen Urteilslosigkeit ab und unterwarf sich mit geschlossenen Augen den Urteilen derer, die er in der Frage für besser unterrichtet hielt. So ließ er sich denn von seinen Freunden von der Zeitschrift einen ihres Kreises, einen berühmten Mann aus der dekadenten Clique aufdrängen, Stefan von Hellmuth, der ihm eine Iphigenie in seinem Geschmack brachte. Es war gerade die Periode, in der die deutschen Dichter, wie ihre Kollegen in Frankreich, dabei waren, alle griechischen Tragödien neu zu schaffen. Das Werk Stefan von Hellmuths war eins jener erstaunlichen griechisch-deutschen Stücke, in denen sich Ibsen, Homer und Oskar Wilde vermischten, – selbstverständlich einige archäologische Handbücher nicht zu vergessen. Agamemnon war neurasthenisch und Achill impotent; sie bejammerten ihren Zustand lang und breit; und natürlich änderten ihre Klagen nichts. Die ganze Kraft des Dramas war in die Rolle der Iphigenie konzentriert – einer nervenkranken, hysterischen und pedantischen Iphigenie, die den Helden Vorschriften erteilte, wütend deklamierte, ihren Nietzscheschen Pessimismus dem Publikum entwickelte und sich todestrunken mit gellendem Gelächter selbst erdrosselte.

Nichts war Christofs Geistesrichtung so entgegengesetzt als diese gespreizte Literatur degenerierten Barbarentums, das sich griechisch aufputzte. Rings um ihn schrie man dem Meisterwerk zu. Er wurde feige, er ließ sich überreden. Eigentlich verhielt es sich so: er war bis zum Bersten mit Musik erfüllt und dachte an sie weit mehr als an den Text. Der Text war ihm ein Bett, um die Flut seiner Leidenschaften hineinzugießen. Von dem Zustand des Verzichtes und der intelligenten Unpersönlichkeit, der dem musikalischen Deuter eines dichterischen Werkes ziemt, war er so weit wie irgend denkbar entfernt. Er dachte nur an sich und nicht an das Werk. Wohl hütete er sich, das zuzugeben. Übrigens gab er sich Illusionen hin: er sah in der Dichtung etwas ganz anderes, als was darin lag. Gerade wie er es als Kind fertig brachte, sich in seinem Kopf ein ganz anderes Stück aufzubauen als das, welches er vor Augen hatte.

Erst im Lauf der Proben wurde er des wirklichen Werkes gewahr. Eines Tages, als er eine Szene anhörte, erschien ihm diese so blödsinnig, daß er meinte, die Schauspieler entstellten sie; und er war anmaßend genug, sie nicht nur ihnen in Gegenwart des Dichters, sondern sogar diesem selbst erklären zu wollen, der seine Darsteller verteidigte. Der Autor warf sich in die Brust und sagte in beleidigtem Ton, er glaube zu wissen, was er habe schreiben wollen. Christof gab sich aber durchaus nicht zufrieden und blieb dabei, daß Hellmuth es ganz falsch auffasse. Die allgemeine Heiterkeit belehrte ihn, daß er sich lächerlich mache. Er schwieg, da er doch zugeben mußte, daß schließlich ja nicht er die Verse geschrieben hatte. Da erkannte er die niederschmetternde Nichtigkeit des Stückes und wurde davon ganz bedrückt; er fragte sich, wie er sich nur habe so täuschen können, nannte sich Dummkopf und raufte sich die Haare. So sehr er sich auch immer wiederholte und beruhigen wollte: »Du verstehst nichts davon: das ist nicht deine Sache. Kümmere dich um deine Musik!« schämte er sich doch so für gewisse Albernheiten, das gespreizte Pathos, die schreiende Unechtheit der Worte, Gebärden, Stellungen, daß er, während er das Orchester dirigierte, in manchen Augenblicken nicht die Kraft hatte, seinen Taktstock zu heben: er hätte sich im Souffleurkasten verstecken mögen. Um zu verbergen, was er dachte, war er zu offen und ein zu schlechter Diplomat. Jeder merkte es: seine Freunde, die Schauspieler und der Autor. Hellmuth fragte ihn mit gekniffenem Lächeln:

»Hat das Stück noch nicht das Glück, Ihnen zu gefallen?«

Christof antwortete tapfer:

»Wenn ich die Wahrheit sagen soll, nein. Ich verstehe es nicht.«

»Sie haben es also, um Ihre Musik zu schreiben, nicht gelesen?«

»Doch,« meinte Christof naiv, »aber ich habe mich geirrt; ich verstand etwas ganz anderes.«

»Dann ist es schade, daß Sie nicht selbst etwas geschrieben haben, was Sie verstanden.«

»Ach! Wenn ich es nur gekonnt hätte!« sagte Christof.

Der gekränkte Dichter kritisierte, um sich zu rächen, die Musik. Er klagte darüber, daß sie zu viel Raum einnähme und daß man neben ihr die Verse nicht höre.

Wenn so der Dichter den Musiker nicht verstand und ebenso, wenig der Musiker den Dichter, so verstanden die Schauspieler weder den einen noch den andern und kümmerten sich auch gar nicht darum. Sie fahndeten in ihren Rollen nur nach Stellen, in denen sie von Zeit zu Zeit ihre gewohnten Effekte anbringen konnten. Es war gar keine Rede davon, ihren Vortrag der Gesamtheit des Stückes und dem musikalischen Rhythmus an, zupassen: sie gingen nach der einen Seite, die Musik nach der andern; es war, als sängen sie beständig falsch. Christof fletschte die Zähne darüber und schrie ihnen bis zur Erschöpfung ihren Ton zu: sie ließen ihn schreien und blieben unerschütterlich in ihrer Art, ja sie verstanden nicht einmal, was er von ihnen wollte. Wären die Proben nicht schon so vorgeschritten gewesen und würde er nicht Angst vor einem Prozeß gehabt haben, so hätte Christof alles hingeworfen. Mannheim, den er an seiner Entmutigung teilhaben ließ, machte sich über ihn lustig:

»Was ist denn los?« fragte er. »Alles geht doch sehr schön. Ihr versteht euch nicht? Na, was macht denn das? Wer hat je außer dem Autor ein Werk verstanden? Es ist noch ein Glück, wenn er sich selbst versteht!«

Christof quälte sich wegen der Nichtigkeit des Gedichtes, die, wie er sagte, seine Musik stürzen würde. Mannheim gab ohne viel Schwierigkeit zu, daß die Dichtung keinen Sinn und Verstand habe und daß Hellmuth ein »Gimpel« sei; aber er hegte seinetwegen keinerlei Besorgnis: Hellmuth gab gute Diners und hatte eine hübsche Frau: was braucht es für die Kritik noch mehr? – Christof zuckte die Achseln und sagte, er habe keine Zeit, Possen mit anzuhören.

»Aber das sind doch keine Possen!« rief Mannheim lachend. »So sind nun die ernsten Leute! Keine Ahnung haben sie, was im Leben zählt.«

Und er riet Christof, sich nicht allzusehr mit Hellmuths Angelegenheiten abzugeben und an seine eigenen zu denken. Er redete ihm zu, ein wenig Reklame zu machen. Christof wies das mit Entrüstung zurück. Einem Reporter, der ihn über sein Leben interviewen wollte, antwortete er wütend:

»Das geht Sie nichts an!«

Und als man ihn um seine Photographie für eine Zeitschrift bat, hüpfte er vor Zorn und schrie, er wäre, Gott sei gedankt, kein Kaiser, der seinen Kopf für die Vorübergehenden ausstellen müsse.

Unmöglich war es, ihn mit den einflußreichen Gesellschaftskreisen in Beziehung zu bringen. Er antwortete auf keine Einladung; und war er einmal zufällig gezwungen, anzunehmen, vergaß er hinzugehen oder ging in so schlechter Laune, daß es schien, er habe es darauf abgesehen, aller Welt unangenehm zu werden.

Die Krone von allem aber war, daß er sich zwei Tage vor der Aufführung mit seiner Zeitschrift überwarf.

 

Was einmal kommen mußte, kam. Mannheim hatte seine Überarbeitung von Christofs Aufsätzen fortgeführt; und er scheute sich nicht, ganze Zeilen voller Kritik zu streichen und sie durch lobende zu ersetzen.

Eines Tages fand sich Christof in einem Salon mit einem Virtuosen zusammen – einem geschniegelten Pianisten, den er heruntergemacht hatte und der auf ihn zukam, um ihm mit einem breiten Lächeln zu danken. Er antwortete brutal, daß er nicht wüßte, wofür. Der andere blieb dabei und ergoß sich in Dankbarkeitsversicherungen. Christof schnitt ihm kurz das Wort ab und sagte, wenn er von dem Aufsatz befriedigt sei, so wäre das seine Sache, jedenfalls wäre der Aufsatz nicht dazu geschrieben worden, ihm eine Freude zu machen. Und er drehte ihm den Rücken. Der Virtuose nahm ihn für einen gutherzigen Brummbären und ging lachend davon. Christof aber, dem es in den Sinn kam, daß er einige Zeit zuvor eine Dankeskarte von einem andern seiner Opfer erhalten hatte, wurde plötzlich von einem Verdacht durchbohrt. Er ging fort, kaufte an einem Zeitungskiosk die letzte Nummer der Zeitschrift, suchte seinen Aufsatz, las … Einen Augenblick fragte er sich, ob er verrückt werde. Dann verstand er; und in rasender Wut stürzte er auf die Redaktion des »Dionysos«.

Waldhaus und Mannheim befanden sich dort in Unterhaltung mit einer ihrer Freundinnen vom Theater. Sie hatten nicht nötig, Christof zu fragen, warum er käme. Ohne sich Zeit zu nehmen, Atem zu schöpfen, warf Christof die Nummer der Zeitschrift auf den Tisch und schrie sie mit unerhörter Heftigkeit an, brüllte, titulierte sie Kerle, Lumpen, Fälscher und schlug aus Leibeskräften dazu mit einem Stuhl auf den Boden. Mannheim versuchte zu lachen. Christof wollte ihm einen Fußtritt geben. Mannheim flüchtete hinter den Tisch und bog sich vor Lachen. Waldhaus aber behandelte Christof sehr von oben herab. Würdig und steif bemühte er sich, inmitten des Getöses, ihm zu verstehen zu geben, daß er solchen Ton ihm gegenüber nicht gestatte und daß Christof von ihm hören werde. Damit überreichte er ihm seine Karte. Christof warf sie ihm an die Nase:

»Großmaul! … Ihre Karte brauche ich nicht, um zu wissen, was Sie sind … Ein Lumpenkerl sind Sie und ein Fälscher! … Und Sie meinen, ich werde mich mit Ihnen schlagen? … Eine Züchtigung, das ist alles, was Sie verdienen! …«

Bis auf die Straße hörte man seine Stimme. Die Leute blieben stehen, um zuzuhören. Mannheim schloß die Fenster. Die erschreckte Besucherin wollte fliehen. Christof aber verstellte die Tür. Der bleiche und vor Zorn berstende Waldhaus, der stotternde und hohnlächelnde Mannheim versuchten zu antworten. Christof ließ sie überhaupt nicht zu Worte kommen. Was er sich nur an beleidigendsten Dingen vorstellen konnte, entlud er über sie und ging nicht eher fort, als bis er mit seinem Atem und seinen Schimpfworten am Ende war. Waldhaus und Mannheim kamen erst wieder zu Stimme, nachdem er fort war. Mannheim fand seine Haltung schnell wieder: Beleidigungen glitten an ihm ab wie Wasser an Entenfedern. Waldhaus aber blieb erbittert: seine Würde war tödlich getroffen worden; und was die Schande noch nagender machte, war, daß sie Zeugen gehabt hatten: das konnte er niemals verzeihen. Seine Kollegen stimmten ihm bei. Mannheim allein war auch fernerhin Christof nicht böse: er hatte übergenug an Spaß durch ihn gehabt; er fand, daß alles, was er sich auf seine Kosten zugute getan hatte, mit ein paar derben Worten nicht zu teuer bezahlt war. Es war ein prachtvoller Witz gewesen: war er selbst dessen Gegenstand, so lachte er doch als erster darüber. So war er auch bereit, Christof die Hand zu brücken, als wenn nichts geschehen wäre. Christof aber war nachtragender und stieß jedes Entgegenkommen zurück. Mannheim nahm es sich nicht weiter zu Herzen: Christof war ein Spielzeug, aus dem er jedes mögliche Vergnügen herausgezogen hatte; er begann sich für einen andern Hampelmann zu entflammen. Von einem Tag zum andern war alles zwischen ihnen zu Ende. Das hinderte Mannheim durchaus nicht zu sagen, wenn von Christof die Rede war, daß sie intime Freunde seien. Und vielleicht glaubte er es sogar.

Zwei Tage nach dem Zwist fand die Premiere der Iphigenie statt. Es war ein vollkommener Durchfall. Die Zeitschrift von Waldhaus lobte die Dichtung und sagte nichts über die Musik. Die übrigen Zeitungen und Zeitschriften aber taten sich gütlich daran. Man lachte und pfiff. Nach der dritten Aufführung wurde das Stück abgesetzt; aber die Spötteleien hörten noch lange nicht auf. Man war nur allzu froh, bei dieser Gelegenheit über Christof herziehen zu können; und die Iphigenie blieb während mehrerer Wochen ein Gegenstand unerschöpflicher Witze. Man wußte, Christof hatte keine Verteidigungswaffe mehr, und das nutzte man aus. Das einzige, was ihn noch ein wenig hielt, war seine Stellung am Hof. Obgleich seine Beziehungen zum Großherzog ziemlich kühl geworden waren, seit ihm dieser bei den verschiedensten Anlässen Vorstellungen gemacht hatte, denen er nicht im geringsten Rechnung getragen hatte, begab er sich doch weiter von Zeit zu Zeit aufs Schloß und genoß dadurch vor dem Publikum eine Art offizieller Protektion, die allerdings mehr scheinbar als wirklich war. – Er legte es darauf an, diese letzte Stütze selbst zu zerstören.

 

Er litt unter den Kritiken. Sie wandten sich nicht allein gegen seine Musik, sondern gegen seine Idee einer neuen Kunstform, die zu verstehen man sich nicht Mühe gab; viel einfacher war es ja, sie zu entstellen, um sie dann nach Belieben lächerlich zu machen. Christof besaß noch nicht die Reife, um sich zu sagen, daß die beste Antwort auf böswillige Kritiken ist, keine Antwort zu geben und weiter zu schaffen. Seit ein paar Monaten hatte er die schlechte Gewohnheit angenommen, keinen ungerechten Angriff vorübergehn zu lassen, ohne darauf zu erwidern. So schrieb er einen Artikel, in dem er einige seiner Gegner durchaus nicht schonte. Die beiden anständigen Zeitungen, denen er ihn brachte, gaben ihn ihm zurück, indem sie sich mit ironischer Höflichkeit entschuldigten, ihn nicht veröffentlichen zu können. Christof wollte seinen Kopf durchsetzen. Das sozialistische Blatt der Stadt, das ihm einige Avancen gemacht hatte, fiel ihm ein. Er kannte einen der Redakteure; sie unterhielten sich manchmal miteinander. Christof machte es Vergnügen, jemand zu treffen, der freiheitlich von der Gewalt, von der Armee, von drückenden und veralteten Vorurteilen redete. Aber die Unterhaltung dehnte sich nie sehr weit aus; denn sie drehte sich bei dem Sozialisten immer um Karl Marx, der Christof absolut gleichgültig war. Außerdem fand er in diesen Reden eines »freien Menschen« – außer einem Materialismus, der ihm nicht sonderlich zusagte – eine pedantische Strenge wieder, einen Gedankendespotismus, einen versteckten Machtkultus, einen umgekehrten Militarismus, die nicht sehr verschieden von dem klangen, was er täglich in Deutschland hörte.

Trotzdem erinnerte er sich an ihn und seine Zeitung, als die Türen der andern Redaktionen sich vor ihm verschlossen. Er sagte sich wohl, daß sein Schritt Ärgernis erregen würde: die Zeitung war maßlos, gehässig und wurde fortwährend verurteilt; da Christof sie aber nicht las, dachte er nur an die Kühnheit ihrer Anschauungen, die ihn durchaus nicht erschreckte, und nicht an die Niedrigkeit des Tons, die ihn abgestoßen hätte. Im übrigen war er gegen das heimtückische Einverständnis der andern Zeitungen so in Wut gebracht und so darauf versessen, es zu ersticken, daß er vielleicht sogar darüber, wenn er besser unterrichtet worden wäre, hinweggeschen hätte. Er wollte den Leuten zeigen, daß man sich seiner nicht so leicht entledigte. – So trug er also den Artikel auf die sozialistische Redaktion, die ihn mit offenen Armen empfing. Am nächsten Morgen erschien der Aufsatz; und die Zeitung verkündete dazu in pathetischen Ausdrücken, daß sie sich der Mitarbeiterschaft des jungen und talentvollen Meisters, des Bürgers Johann Christof Krafft, versichert habe, dessen glühende Sympathien für die Forderungen der Arbeiterklasse allgemein bekannt wären.

Christof las weder die Fußnote noch den Aufsatz, denn er war an jenem Morgen – einem Sonntag – vor Morgendämmerung zu einem Spaziergang durch die Felder fortgegangen. Er war in wunderbarer Stimmung. Als er die Sonne aufgehen sah, schrie er, lachte, jodelte, sprang und tanzte. Keine Zeitschrift mehr, keine Kritiken mehr! Frühling war's und die Musik des Himmels und Erde, die harmonienreichste von allen, kehrte wieder. Nichts mehr von düsteren, erstickenden und stinkenden Konzertsälen, von widerwärtigen Nachbarn, von geschmacklosen Virtuosen! Man hörte den wundersamen Sang murmelnder Wälder sich erheben. Und über die Felder strichen gleich Wogen berauschende Düfte des Lebens, das allerorten die Erdrinde barst und aus dem Grabe auferstand.

Der Kopf summte ihm von Luft und Musik, als er vom Spaziergang heimkehrte; da gab ihm seine Mutter einen Brief, den man während seiner Abwesenheit vom Schloß überbracht hatte. Der Brief war in unpersönlicher Form gehalten und benachrichtigte Herrn Krafft, daß er sich während des Vormittags aufs Schloß zu begeben habe. – Der Morgen war verstrichen: es war beinahe ein Uhr. Christof rührte das wenig. »Jetzt ist es zu spät,« sagte er. »So wird es eben morgen sein.« Seine Mutter aber war unruhig:

Nein, nein, man könne eine Aufforderung Seiner Hoheit nicht einfach aufschieben; er müsse sofort gehen. Vielleicht handelte es sich um eine wichtige Angelegenheit.

Christof zuckte die Achseln:

»Wichtig? Als ob diese Individuen einem irgend etwas Wichtiges sagen könnten! Er wird mir seine großen Gedanken über Musik entwickeln. Das wird heiter werden! … Ich schwöre, ich werde ihn nicht schonen. Ich werde ihm sagen: Treiben Sie Ihre Politik. Da sind Sie Meister: Sie werden stets Recht behalten. Vor der Kunst aber nehmen Sie sich in acht! In der Kunst sieht man Sie ohne Helmfederbusch, ohne Mütze, ohne Uniform, ohne Geld, ohne Titel und Schildwachen; … und zum Donnerwetter! denken Sie mal ein bißchen nach: was bleibt da noch von Ihnen übrig?«

Die gute Luise, die alles ernst nahm, rang die Arme zum Himmel:

»Du wirst das doch nicht sagen! … Du bist verrückt! Du bist verrückt! …«

Ihm machte es Spaß, sie zu ängstigen, und er trieb sein Spiel mit ihrer Gutgläubigkeit, bis die Übertreibungsdosis so stark war, daß Luise schließlich begriff, daß er sich über sie lustig machte. Sie zuckte die Achseln:

»Du bist zu albern, mein armer Junge!«

Er umarmte sie lachend. Er war prächtiger Laune. Während des Spaziergangs hatte er ein schönes musikalisches Thema gefunden; und er fühlte, wie es sich in ihm wie ein Fisch im Wasser tummelte. Bevor er gegessen hatte, wollte er durchaus nicht aufs Schloß: er habe einen Riesenhunger. Dann prüfte Luise seinen Anzug, denn er fing wieder an, sie zu quälen: er behauptete, so wie er aussähe, mit seinen alten Kleidern und bestaubten Schuhen, sei er gut genug. Das hinderte ihn aber nicht, sie zu wechseln und selber seine Stiefel zu wichsen, wobei er wie eine Amsel pfiff und alle Orchesterinstrumente nachahmte. Als er fertig war, nahm seine Mutter alles in Augenschein und band seinen Schlips ernsthaft noch einmal. Außergewöhnlicherweise war er sehr geduldig, weil er mit sich zufrieden war –, was ebenfalls nicht sehr häufig vorkam. Er ging und sagte im Fortgehen, er wolle die Prinzessin Adelheid entführen – die Tochter des Großherzogs, eine recht hübsche Frau, die an einen kleinen deutschen Fürsten verheiratet war, und die gerade ein paar Wochen bei ihren Eltern verbrachte. Sie hatte Christof, als er Kind war, einst einige Zuneigung erwiesen; und er hatte eine Schwäche für sie; Luise behauptete, daß er in sie verliebt sei; und er tat aus Spaß, als sei er's.

Er beeilte sich nicht, schlenderte an den Läden entlang, blieb in der Straße stehen, um einen Hund, den er kannte, zu streicheln, der wie er herumbummelte und jetzt auf der Seite lag und in die Sonne gähnte. Er übersprang die harmlose Ketteneinfassung, die den Schloßplatz umzog, – ein großes verlassenes, von Gebäuden umgebenes Viereck mit zwei verschlafenen Fontänenstrahlen, zwei symmetrischen und schattenlosen Beeten, die scheitelartig durch eine sandige, sorgfältig geharkte Allee getrennt waren; in Kübel gepflanzte Orangenbäume umrandeten sie. In der Mitte stand die Bronzestatue irgendeines Großherzogs auf einem Sockel, der an seinen vier Ecken mit den Allegorien der Tugenden geschmückt war. Am Schloßgitter schlief ein überflüssiger Soldatenposten. Hinter den Gräben gähnten, als wollten sie sich über den Schloßwall lustig machen, zwei verschlafene Kanonen in die verschlafene Stadt.

Christof lachte ihnen allen ins Gesicht.

Er trat ins Schloß, ohne sich zu bemühen, eine förmlichere Haltung anzunehmen: nur das Gesumm stellte er ein; jedoch innerlich tanzten seine Gedanken noch weiter. Er warf seinen Hut auf den Tisch der Halle und sprach dabei den alten Türhüter, den er seit seiner Kindheit kannte, vertraulich an. (Der Biedermann stand da schon seit dem ersten Besuch, den Christof mit seinem Großvater im Schloß gemacht hatte, an jenem Abend, an dem sie Haßler vorgestellt wurden.) Aber der Alte, welcher Christofs etwas respektlose Launen stets wohlwollend aufgenommen hatte, setzte diesmal eine schroffe Miene auf. Christof achtete nicht darauf. Ein paar Schritte weiter, im Vorzimmer, traf er auf einen Kanzleibeamten, der sehr geschwätzig und für gewöhnlich ihm gegenüber sehr ausgiebig in Freundschaftsbezeigungen war; Christof war von der Eilfertigkeit überrascht, die der Mensch an den Tag legte, um vorüberzukommen und ein Gespräch zu umgehen. Jedoch hielt er sich bei diesen Eindrücken nicht auf, er setzte seinen Weg fort und bat, vorgelassen zu werden.

Er trat ein. Das Essen war gerade beendet. Seine Hoheit hielt sich in einem der Salons auf. Er rauchte, an den Kamin gelehnt und unterhielt sich mit seinen Gästen, unter denen Christof seine Prinzessin bemerkte, welche ebenfalls rauchte; sie saß nachlässig tief in einem Sessel und sprach sehr laut zu einigen Offizieren, die um sie herumstanden. Die Gesellschaft war angeregt. Alle waren sehr heiter; und Christof hörte im Eintreten das volle Lachen des Großherzogs. Aber dies Lachen brach kurz ab, als der Fürst Christof sah. Er stieß ein Brummen aus und ging stracks auf ihn los.

»Ah, da sind Sie ja. Sie!« schrie er. »Endlich haben Sie die Gnade zu kommen? Denken Sie etwa, immer so weiter Ihre Scherze mit mir zu treiben? Sie sind ein sauberer Bursche, Herr Krafft!«

Christof wurde durch dieses unmittelbar auf ihn eindringende Geschoß so aus der Fassung gebracht, daß es einen Augenblick dauerte, bis er ein Wort hervorbringen konnte. Er dachte an nichts anderes als an seine Verspätung, die aber doch solche Heftigkeit nicht rechtfertigen konnte. Er stammelte:

»Hoheit, was habe ich getan?«

Seine Hoheit hörte nicht und fuhr voller Zorn fort:

»Schweigen Sie! Ich lasse mich durch einen frechen Burschen nicht beleidigen.«

Christof erblaßte und rang gegen seine zusammengeschnürte Kehle, die ihm das Wort verweigerte. Nach gewaltsamer Anstrengung schrie er los:

»Hoheit, Sie haben kein Recht … Selbst Sie haben kein Recht mich zu beleidigen, ohne mir zu sagen, was ich getan habe.«

Der Großherzog wandte sich zu seinem Sekretär, der eine Zeitung aus der Tasche zog und sie ihm reichte. Er war dermaßen außer sich, daß sein cholerisches Temperament nicht die einzige Erklärung dafür war: die Wirkung allzu ausgiebig genossenen Weins hatte auch ihr Teil daran. Er pflanzte sich vor Christof auf und fuchtelte ihm wie ein Torero mit seiner Capa mit der zerfalteten und zerknüllten Zeitung wütend vor dem Gesicht herum. Dabei schrie er:

»Da haben Sie Ihren Unrat, Herr Krafft! … Sie verdienten, daß man Ihnen die Nase hineinhält!«

Christof erkannte die sozialistische Zeitung.

»Ich verstehe nicht, was dabei Böses ist,« sagte er.

»Was! Was!« kläffte der Großherzog. »Sie haben wirklich eine Unverschämtheit! … Dies Lumpenblatt, das mich täglich beschimpft, das Unsauberkeiten gegen mich speit! …

»Durchlaucht!« sagte Christof, »ich habe es nie gelesen.«

»Sie lügen!« schrie der Großherzog.

»Ich will nicht, daß Sie mich der Lüge zeihen,« sagte Christof. »Ich habe es nicht gelesen, ich kümmere mich nur um Musik. Und übrigens habe ich das Recht zu schreiben, wo ich mag.«

»Sie haben keinerlei Recht, außer dem, Ihren Mund zu halten. Ich bin Ihnen gegenüber zu gut gewesen. Ich habe Sie und die Ihren mit Wohltaten überschüttet, trotz Ihres und Ihres Vaters schlechten Betragens, das mir Grund genug gegeben hätte, mich von Ihnen loszusagen. Ich verbiete Ihnen, weiter in einer Zeitung, die mir feindlich ist, zu schreiben. Und außerdem verbiete ich Ihnen im allgemeinen, in Zukunft irgend etwas, was es auch sei, ohne meine Genehmigung zu schreiben. Ich habe gerade genug von Ihren musikalischen Streitereien. Ich gebe nicht zu, daß jemand, der sich meiner Protektion erfreut, seine Zeit damit hinbringe, alles, was Menschen von Geschmack und Herz, alles, was wahren Deutschen teuer ist, anzugreifen. Sie täten besser, anständigere Musik zu schreiben, und wenn Ihnen das unmöglich ist, bei Ihren Tonleitern und Übungen zu bleiben. Ich danke für einen musikalischen Bebel, der sich damit die Zeit vertreibt, die Ruhmestaten der Nation zu entehren und die Gemüter zu verwirren. Wir wissen, Gott sei Dank, was gut ist. Wir haben, um es zu wissen, nicht darauf gewartet, daß Sie es uns sagen. Also machen Sie, daß Sie an Ihr Klavier kommen, Herr Krafft, und lassen Sie uns in Frieden!«

Gesicht an Gesicht mit Christof, schaute ihn der starke Mann mit herausfordernden Augen an. Christof war leichenblaß, er versuchte zu sprechen, seine Lippen bebten; er stotterte:

»Ich bin nicht Ihr Sklave, ich rede, was ich will, ich schreibe, was ich will …«

Seine Stimme erstickte, er war nahe daran vor Scham und Zorn zu weinen; seine Knie zitterten. Bei einer plötzlichen Ellbogenbewegung, die er jetzt machte, warf er etwas auf dem Möbel, an dem er stand, um. Er fühlte, daß er lächerlich war; und wirklich vernahm er ein Lachen: als er in den Hintergrund des Salons schaute, sah er dort wie durch einen Nebel hindurch die Prinzessin, die den Auftritt verfolgte und dabei mit ihren Nachbarn ironisch mitleidige Bemerkungen austauschte. Von diesem Augenblick an verlor er das deutliche Bewußtsein dessen, was vorging. Der Großherzog schrie. Christof schrie lauter als er, ohne zu wissen, was er sagte. Der Sekretär des Fürsten und ein anderer Beamter kamen auf ihn zu und suchten ihn zum Schweigen zu bringen: er stieß sie zurück; er fuchtelte beim Sprechen mit einem Aschenbecher umher, den er mechanisch von dem Tisch genommen hatte, an dem er lehnte. Er hörte, wie der Sekretär zu ihm sagte:

»Werden Sie das wohl los lassen, lassen Sie das los! …«

Und er hörte sich selber zusammenhangslose Worte schreien und mit dem Aschenbecher auf den Tischrand schlagen.

»Hinaus!« brüllte der Großherzog in höchster Wut. »Hinaus! hinaus! Ich jage Sie davon!«

Die Offiziere hatten sich dem Fürsten genähert und suchten ihn zu beruhigen. Der Großherzog war nahe daran, vom Schlag getroffen zu werden, und schrie mit aus dem Kopf quellenden Augen, man solle diesen Landstreicher vor die Tür setzen. Christof sah vor blinder Leidenschaft nichts mehr: er war nahe daran, dem Großherzog mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Aber er wurde von einem Chaos widersprechender Gefühle niedergehalten: der Scham, der Wut, einem Rest von Schüchternheit, von germanischer Treue, überliefertem Respekt, anerzogener Unterwürfigkeit vor dem Fürsten! Er wollte sprechen, er konnte es nicht; er wollte etwas tun, er konnte es nicht; er sah und hörte nichts mehr: er ließ sich hinausstoßen.

Er schritt mitten durch einen Haufen unbeweglicher Diener, die an die Tür gekommen waren und sich nichts von dem lauten Streit hatten entgehen lassen. Die dreißig Schritte, die er im Vorzimmer zu machen hatte, um hinauszukommen, schienen ihm ein ganzes Leben zu dauern. Die Galerie wurde immer länger, je weiter er ging. Sollte er denn niemals draußen sein! … Das Sonnenlicht, das er da unten durch die Glastür leuchten sah, schien ihm die Rettung. Stolpernd kam er die Treppe hinab; daß er barhäuptig war, vergaß er: der alte Türsteher rief ihn zurück, damit er seinen Hut nähme. Er mußte alle seine Kräfte zusammenraffen, um aus dem Schloß zu kommen, den Hof zu durchschreiten, nach Hause zu gelangen. Seine Zähne schlugen aufeinander. Als er daheim die Tür öffnete, war seine Mutter entsetzt über sein Aussehen und sein Zittern. Er schob sie beiseite und verweigerte jede Antwort auf ihre Fragen. Er stieg in sein Zimmer hinauf, schloß sich ein und legte sich zu Bett. Er wurde von so heftigem Schauer geschüttelt, daß er es nicht fertigbrachte, sich auszuziehen; sein Atem ging abgebrochen, und seine Glieder waren wie zerschlagen … Ach, nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen müssen; diesen elenden Leib nicht mehr aufrecht halten, nicht mehr gegen das gemeine Leben kämpfen müssen; fallen, fallen ohne Atem, ohne Denken, nicht mehr, nirgend mehr sein … Nachdem er sich seine Kleider endlich mit übermenschlicher Mühe heruntergerissen und um sich her auf die Erde gestreut hatte, warf er sich in sein Bett und vergrub sich bis zu den Augen darin. Jedes Geräusch im Zimmer schwieg: man hörte nichts mehr als das kleine eiserne Bett, das auf der Diele zitterte.

Luise horchte an der Tür; sie klopfte vergebens, rief leise: nichts antwortete: sie wartete, spähte angstvoll in die Stille hinein; dann ging sie davon. Ein- oder zweimal am Tage kam sie lauschend zurück und dann noch am Abend vor dem Zubettgehen. Der Tag verstrich, die Nacht verstrich: das Haus war verstummt. Christof bebte im Fieber; in manchen Augenblicken weinte er; und nachts richtete er sich auf und drohte mit der Faust gegen die Mauer. Gegen zwei Uhr morgens stand er in einer Art Wahnsinn, in Schweiß gebadet und halb nackt auf: er wollte den Großherzog töten gehen. Haß und Beschämung nagten an ihm; Leib und Seele wanden sich in ihrem Feuer. – Von diesem Sturm drang nichts nach außen; kein Wort; kein Laut. Mit zusammengebissenen Zähnen verschloß er alles in sich selbst.

 

Am nächsten Morgen kam er wie gewöhnlich herunter. Er sah verwüstet aus. Er sagte nichts, und seine Mutter wagte ihn nichts zu fragen: sie wußte durch die Zuträgereien der Nachbarschaft schon Bescheid. Den ganzen Tag lang blieb er stumm, fiebrig, mit gebeugtem Rücken wie ein Greis auf einem Sessel vor dem Feuer sitzen; und war er allein, so weinte er still.

Gegen Abend besuchte ihn der Redakteur der sozialistischen Zeitung. Natürlich war er auf dem Laufenden und wollte Einzelheiten wissen. Christof war von seinem Besuch gerührt und deutete ihn naiv als ein Zeichen von Anteilnahme und eine Entschuldigung derer, die ihn bloßgestellt hatten; er setzte seinen Stolz darein, so zu tun, als bereue er nichts, und ließ sich dazu verführen, alles, was er auf dem Herzen hatte, zu sagen: es war ihm eine Erleichterung einem Mann gegenüber, der wie er den Haß gegen Unterdrückung hegte, freimütig zu sprechen. Der andere verlockte ihn zur Aussprache. Er sah in dem Ereignis ein gutes Geschäft für seine Zeitung und die Gelegenheit zu einem Skandalartikel, zu dem ihm Christof den Stoff liefern sollte, falls er ihn nicht etwa selbst schreiben wollte; denn er rechnete darauf, daß nach dieser Geschichte der Hofmusiker sein sehr schätzenswertes polemisches Talent und seine kleinen Geheimdokumente über den Hof, die noch mehr wert waren, in den Dienst »der Sache« stellen würde. Da er nicht auf übertriebenes Zartgefühl hielt, stellte er ihm das schmucklos, in grellster Beleuchtung dar. Christof gab das einen Ruck; er erklärte, daß er nichts schreiben würde, und führte an, daß jeder Angriff gegen den Großherzog in diesem Augenblick von seiner Seite als ein persönlicher Racheakt ausgelegt werden würde, und daß er jetzt in seiner Freiheit auf mehr Zurückhaltung angewiesen sei als zur Zeit seiner Gebundenheit, da es für ihn noch Gefahr bedeutete, wenn er sagte, was er dachte. Der Journalist begriff von diesen Skrupeln nichts. Er hielt Christof im Grunde für ein wenig beschränkt und klerikal; vor allem dachte er, daß Christof Furcht habe. Er sagte:

»Nun gut, dann lassen Sie uns nur machen: ich werde selber schreiben. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern.«

Christof beschwor ihn, zu schweigen; aber er hatte keinerlei Mittel, um ihn zu zwingen. Übrigens stellte ihm der Journalist vor, daß die Angelegenheit ihn nicht allein beträfe: die Beleidigung gälte der Zeitung, die das Recht habe, sich zu rächen. Darauf konnte man nichts erwidern. Alles, was Christof tun konnte, war, ihm sein Wort abzuverlangen, daß er gewisse Vertraulichkeiten, die für den Freund und nicht für den Publizisten bestimmt waren, nicht mißbrauchen werde. Der andere gab es ihm ohne Zögern. Christof fühlte sich dadurch nicht sicherer: zu spät gab er sich von der Unvorsichtigkeit, die er begangen hatte, Rechenschaft.

Als er allein war, ließ er sich alles, was er gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen und erschauerte. Ohne eine Minute zu überlegen, schrieb er dem Journalisten und beschwor ihn von neuem, das, was er ihm anvertraut hatte, nicht zu wiederholen: – (der Unglückliche wiederholte es zum Teil in seinem Briefe selber.)

Als er mit fieberhafter Hast am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug, fiel sein erster Blick auf seine lang und breit vorgetragene Geschichte. Alles, was er am Abend vorher gesagt hatte, fand er jämmerlich entstellt, wie alle Dinge, die durch das Gehirn eines Journalisten hindurchgehen, und zugleich maßlos übertrieben wieder. Der Artikel griff den Großherzog und seinen Hof in gemeinen Schimpfworten an; doch waren gewisse Einzelheiten für Christof zu charakteristisch, zu offensichtlicherweise nur ihm allein bekannt, als daß man ihm nicht den ganzen Aufsatz zuschreiben mußte.

Dieser neue Schlag schmetterte Christof nieder. Er las und las, während ihm kalter Schweiß ins Gesicht stieg. Als er fertig war, saß er verzweifelt da. Er wollte in die Redaktion laufen; aber seine Mutter fürchtete nicht ohne Grund seine Heftigkeit und hielt ihn davon ab. Er selbst fürchtete sie. Er fühlte: ging er hin, würde er irgendeine Torheit vollführen. Und so blieb er – um eine andere zu begehen. Er schickte dem Journalisten einen empörten Brief, in dem er ihm in verletzenden Ausdrücken sein Betragen vorwarf, die Autorschaft des Artikels verleugnete, ihn widerrief und mit der Partei brach. Der Widerruf erschien nicht. Christof schrieb darauf an die Zeitung und flehte sie an, seinen Brief zu veröffentlichen. Man schickte ihm eine Abschrift seines ersten Briefes, den er am Abend der Unterredung geschrieben hatte und der deren Bestätigung war: man fragte ihn, ob man auch diesen veröffentlichen sollte. So fühlte er sich in ihrer Hand. Überdies hatte er das Unglück, den indiskreten Interviewer auf der Straße zu treffen; er konnte sich nicht enthalten, ihm die Verachtung, die er für ihn empfand, auszudrücken. Am nächsten Morgen veröffentlichte die Zeitung ohne die geringste Scham einen kurzen Artikel, in dem man von Hoflakaien sprach, die, selbst wenn man sie vor die Tür gesetzt hätte, immer Lakaien blieben und die Freiheit nicht vertragen könnten. Einige Hinweise auf das kürzlich geschehene Ereignis ließen keinen Zweifel darüber, daß es sich um Christof handelte.

 

Nachdem es für alle völlig offenbar war, daß Christof keinerlei Rückhalt mehr hatte, sah er sich plötzlich einer solchen Unmenge von Feinden gegenüber, wie er sie nie geahnt hatte.

Alle, die er direkt oder indirekt beleidigt hatte, sei es durch persönliche Kritik, sei es durch Bekämpfung ihrer Ideen und ihres Geschmacks, gingen nun zum Angriff über und rächten sich reichlich. Das große Publikum, das Christof aus seiner Apathie zu schütteln versucht hatte, nahm höchst befriedigt von der Strafe Notiz, die den unverschämten jungen Mann ereilt hatte, der so anmaßend gewesen war, die Ansichten reformieren zu wollen und den Schlummer der Biederleute zu stören. Christof war ins Meer geworfen. Jeder tat sein möglichstes, um ihm den Kopf unter Wasser zu halten.

Sie stürzten sich nicht alle zugleich auf ihn. Zuerst fing einer an, das Terrain zu erforschen. Als Christof sich nicht wehrte, verdoppelte er die Schläge. Darauf folgte ein anderer seinem Beispiel und endlich die ganze Rotte. Einige nahmen nur zum Vergnügen am Fest teil, wie junge Hunde, denen es Spaß macht, ihre Unschicklichkeiten an guter Stelle zu verrichten: das war die geflügelte Schar unbefähigter Journalisten, die durch Lobhudelei vor den Siegern und durch Niedertracht gegen die Unterliegenden ihre Unwissenheit vergessen machen wollen. Die andern kamen mit der Wucht ihrer Prinzipien herbei; sie schlugen blindlings drauf los; wo sie hingetroffen hatten, blieb weniger als nichts: das war die hohe, – die männermordende Kritik.

Zum Glück las Christof keine Zeitungen. Einige ergebene Freunde waren so aufmerksam gewesen, ihm die verletzendsten zuzuschicken. Aber er ließ sie auf seinem Tisch sich anhäufen und dachte nicht daran, sie aufzuschlagen; schließlich aber wurden seine Blicke auf einen dicken, roten Strich gezogen, der einen Artikel umrahmte. Da las er, daß seine Lieder dem Gebrüll eines wilden Tieres ähnelten, daß seine Symphonien aus einem Irrenhaus zu stammen schienen, daß dies alles hysterische Kunst, Harmonienkrämpfe wären, die über die Dürre des Herzens und die Nichtigkeit der Gedanken hinwegtäuschen sollten. Der sehr bekannte Kritiker schloß folgendermaßen:

»Herr Krafft hat kürzlich als Berichterstatter einige erstaunliche Beispiele seines Stils und Geschmacks zum besten gegeben, die in musikalischen Kreisen unwiderstehliche Heiterkeit entfesselten. Daraufhin ist ihm freundschaftlich geraten worden, sich lieber dem Komponieren zu widmen. Die letzten Erzeugnisse seiner Muse haben gezeigt, daß dieser gutgemeinte Rat schlecht war. Herr Krafft sollte entschieden Reporter bleiben.«

Nach dieser Lektüre, die Christof einen ganzen Morgen lang zur Arbeit unfähig machte, begann er natürlich die übrigen feindseligen Blätter zu suchen, um sich vollends allen Mut zu rauben. Luise aber, die die Manie hatte, alles, was herumlag, unter dem Vorwand, »Ordnung zu machen«, verschwinden zu lassen, hatte sie schon verbrannt. Zuerst ärgerte er sich darüber, dann fühlte er sich erleichtert; er reichte seiner Mutter die übriggebliebene Zeitung und sagte, sie hätte mit ihr dasselbe tun sollen.

Andere Kränkungen trafen ihn tiefer. Ein Quartett, das er im Manuskript an eine bekannte Frankfurter Gesellschaft gesandt hatte, wurde einstimmig und ohne Erklärungen abgelehnt. Eine Ouvertüre, die ein Kölner Orchester zu spielen geneigt schien, wurde ihm nach monatelangem Warten als unaufführbar zurückgesandt. Die schlimmste Prüfung aber wurde ihm durch ein Orchester der Stadt auferlegt. Der Kapellmeister H. Euphrat, der es dirigierte, war ein ziemlich guter Musiker; doch wie viele Orchesterdirigenten war er ohne jede geistige Neugierde; er litt (oder vielmehr gedieh und erfreute sich) an der seinem Beruf eigenen Trägheit, schon bekannte Werke bis ins Unendliche wiederzukauen und jedes wirklich neue Werk wie das Feuer zu scheuen. Er war niemals müde, Beethoven-, Mozart- oder Schumannfeiern zu veranstalten: in diesen Erzeugnissen brauchte er sich nur von dem Geschnurr der bekannten Rhythmen tragen zu lassen. Dafür war ihm die Musik seiner eigenen Zeit unerträglich. Einzugestehen wagte er das nicht und behauptete allen jungen Talenten geneigt zu sein: und in der Tat, brachte man ihm eine nach altem Muster zugeschnittene Arbeit – eine Art Abklatsch von Werken, die vor einigen fünfzig Jahren neuartig gewesen waren –, so nahm er sie außerordentlich gut auf. Er setzte sogar eine Art Eitelkeit darein, sie zu spielen, sie dem Publikum aufzuzwingen. Das änderte weder die Reihenfolge seiner Effekte, noch die Reihenfolge, in der das Publikum gewohnheitsgemäß gerührt wurde. Dafür zeigte er ein Gemisch von Verachtung und Haß für alles, was diese schöne Ordnung zu zerstören und ihm neue Mühe zu verursachen drohte. Die Verachtung überwog, wenn der Neuerer keinerlei Aussicht hatte, aus seinem Dunkel aufzutauchen. Drohte er, sich durchzusetzen, dann begegnete er ihm mit Haß – selbstverständlich nur bis zu dem Augenblick, in dem er sich ganz und gar durchgesetzt hatte.

Christof war dahin noch nicht gelangt: weit entfernt davon. So war er denn sehr überrascht, als man ihn durch indirekte Mitteilung wissen ließ, daß Herr Euphrat sehr geneigt sei, irgend etwas von ihm aufzuführen. Er hatte um so weniger Grund das zu erwarten, als er wußte, daß der Kapellmeister ein intimer Freund von Brahms und einigen andern war, die er in seinen Kritiken recht hart mitgenommen hatte. Da er selbst ein guter Kerl war, traute er seinen Gegnern dieselben großherzigen Gefühle zu, deren er fähig gewesen wäre. Er meinte, sie wollten ihm jetzt, da sie ihn zu Boden gedrückt sahen, beweisen, daß sie über kleinlichen Groll erhaben seien: das rührte ihn. Er schrieb ein paar überschwängliche Worte an Herrn Euphrat und sandte ihm eine symphonische Dichtung. Der andere ließ ihm durch seinen Sekretär in einem kühlen, doch höflichen Briefe antworten, daß seine Einsendung angekommen sei; eine Bemerkung wies darauf hin, daß nach den Gesellschaftsstatuten die Symphonie nächstens an das Orchester verteilt werden würde und eine Generalprobe bestehen müsse, bevor sie zur öffentlichen Aufführung zugelassen würde. Gesetz war Gesetz: Christof hatte sich nur zu beugen. Auch war das ja eine bloße Formalität, um die manchmal sich allzusehr häufenden Geistesfrüchte von Dilettanten auszuscheiden.

Zwei oder drei Wochen später empfing Christof die Nachricht, daß die Probe seines Werkes stattfinden sollte. Im Prinzip spielte sich alles bei verschlossenen Türen ab, und der Komponist selber konnte der Aufführung nicht beiwohnen. Indessen sah man darüber stets hinweg, und so kam es, daß er immer anwesend war; nur zeigte er sich nicht. Jeder wußte das und jeder tat, als wisse er von nichts. Am genannten Tag holte ein Freund Christof ab und begleitete ihn in den Saal, wo er im Hintergrund einer Loge Platz nahm. Er war überrascht, als er bei dieser nichtöffentlichen Probe den Konzertsaal – wenigstens die Parkettplätze – fast ganz gefüllt sah: ein Haufen von Dilettanten, Müßiggängern und Kritikern bewegte sich schwatzend hin und her. Das Orchester war darauf angewiesen, ihre Gegenwart zu übersehen.

Man begann mit der Rhapsodie von Brahms für Alt, Männerchor und Orchester über ein Fragment der Harzreise im Winter von Goethe. Christof konnte die majestätische Sentimentalität dieses Werkes nicht ausstehen, sagte sich jedoch, daß von seiten der »Brahminen« vielleicht eine höfliche Art der Rache darin bestände, ihn zu zwingen, eine Komposition mit anzuhören, die er respektlos kritisiert hatte. Er mußte über diese Idee lachen, und seine gute Laune wuchs, als nach der Rhapsodie zwei andere Erzeugnisse bekannter Musiker, die er vorgenommen hatte, daran kamen: die Absicht schien ihm außer Zweifel. Und konnte er auch ein paar Grimassen nicht unterdrücken, so dachte er doch, daß es schließlich ein anständiger Kampf sei; und anstatt der Musik genoß er den Witz der Sache. Er machte sich sogar den Spaß, seine ironischen Beifallsbezeigungen mit denen des Publikums zu mischen, das Brahms und seinen Zunftgenossen eine begeisterte Huldigung bereitete.

Endlich kam die Reihe an Christofs Symphonie. Einige Blicke, die man vom Orchester und aus dem Konzertsaal zu seiner Loge hinwarf, zeigten ihm, daß man von seiner Gegenwart unterrichtet war. Er trat zurück. Er wartete mit jener Herzbeklemmung, die jeden Musiker in dem Augenblick überfällt, in dem der Dirigentenstab sich hebt und der Strom von Musik seine Kraft schweigend sammelt, um seinen Damm zu durchbrechen. Noch nie hatte er sein Werk vom Orchester aufführen gehört. Wie würden die Geschöpfe, die er geträumt hatte, als lebendige wirken? Wie würde der Ton ihrer Stimmen sein? Er fühlte ihr Murmeln in sich; und über den Abgrund der Töne gebeugt, wartete er zitternd, was daraus emportauchen sollte.

Was daraus emportauchte, war ein namenloses Etwas, ein unförmlicher Brei. An Stelle der starken Säulen, die den Giebel des Gebäudes stützen sollten, fielen die Akkorde wie in einer Ruine übereinander; man unterschied nichts als Schutt und Staub. Christof brauchte einen Augenblick, bevor er sicher war, daß man wirklich ihn spiele. Er suchte nach der Linie, dem Rhythmus seines Gedankens: er erkannte ihn nicht wieder; stammelnd und schwankend gleich einem Trunkenen, der sich an die Mauern anklammert, ging er daher: und er wurde von Scham übermannt, als sähe man ihn selbst in solchem Zustand. Er wußte zwar genau, daß es nicht das war, was er geschrieben hatte: wird der eigene Gedanke durch einen törichten Vortrag entstellt, so überfällt uns immer ein Augenblick des Zweifels, in dem wir uns entsetzt fragen, ob wir für diesen Unsinn verantwortlich sind. Das Publikum indessen stellt sich diese Frage niemals: es glaubt dem Vortrag, den Sängern, dem Orchester, die es zu hören gewöhnt ist – wie es auch seiner Zeitung glaubt. Die können sich nicht irren. Reden sie Albernheiten, so ist der Autor albern. In diesem Augenblick zweifelte es um so weniger, als es an seinem Glauben Freude fand. Christof versuchte sich zu überzeugen, daß der Kapellmeister den Wirrwarr merken, daß er das Orchester anhalten und alles wiederholen lassen würde. Die Instrumente spielten nicht einmal mehr zusammen. Der Hornist hatte seinen Einsatz verfehlt und kam einen Takt zu spät; er spielte einige Minuten weiter und hörte dann seelenruhig ganz auf, um sein Instrument zu leeren. Gewisse charakteristische Stellen der Hoboen waren völlig verschwunden. Dem geübtesten Ohr war es unmöglich, den musikalischen Gedankenfaden herauszufinden oder sich auch nur vorzustellen, daß es einen gäbe. Jede Phantasie der Instrumentation, alle humoristischen Einfälle wurden grotesk durch die Plumpheit der Ausführung. Das Ganze war zum Weinen dumm, es war das Werk eines Idioten, eines Spaßmachers, der nichts von Musik verstand. Christof raufte sich die Haare. Er wollte dazwischenfahren; aber der Freund neben ihm hielt ihn zurück und versicherte, daß der Herr Kapellmeister schon selber die Fehler des Spiels merken und alles richtigstellen würde –, daß außerdem Christof sich ja gar nicht zeigen dürfe und eine Einmischung seinerseits den schlechtesten Eindruck hervorrufen würde. Er brachte Christof dazu, sich ins Logeninnere zurückzuziehen. Christof ließ sich bestimmen; aber er schlug sich mit den Fäusten vor den Kopf; und jede neue Ungeheuerlichkeit entriß ihm ein Röcheln der Empörung und des Schmerzes.

»Die Elenden! Die Elenden! …« stöhnte er; er biß in seine Hände, um nicht aufzuschreien.

Jetzt stieg mit den falschen Noten die Unruhe des Publikums, das sich zu regen anfing. Zuerst war es nur ein Schwirren; bald aber konnte Christof nicht mehr zweifeln: sie lachten. Die Orchestermitglieder hatten das Zeichen gegeben; einige verbargen ihre Heiterkeit nicht im geringsten. Dadurch fühlte sich das Publikum sicher, daß das Werk lächerlich war, und so bogen sie sich vor Lachen. Das Vergnügen wurde allgemein; es verdoppelte sich bei der Wiederkehr eines sehr rhythmischen Motivs, das die Kontrabässe in derb komischer Weise heraushoben. Einzig der Kapellmeister fuhr inmitten des Hallos unerschüttert fort, den Takt zu schlagen.

Endlich kam man zu Ende (auch die besten Dinge haben ein Ende). Das Publikum hatte das Wort. Es brach los. Eine Heiterkeitsexplosion erfolgte, die mehrere Minuten andauerte. Die einen pfiffen, die andern klatschten ironisch Beifall; die Geistreichsten schrien: Da capo! Eine Baßstimme, welche aus der Tiefe einer Vorderloge kam, begann das groteske Motiv nachzuahmen. Andere Spaßvögel wurden davon angesteckt und äfften es ihrerseits nach. Jemand schrie: »Der Komponist!« – Seit langem hatten sich diese witzigen Leute nicht so gut unterhalten.

Nachdem sich der Tumult ein wenig gelegt hatte, machte der immer noch unbewegliche Kapellmeister dem Orchester ein Zeichen, daß er sprechen wolle; er hatte sein Gesicht dreiviertel dem Publikum zugewandt, tat aber so, als sähe er es nicht. (Das Publikum war immer noch darauf angewiesen, nicht vorhanden zu sein.) Man schrie: »Ruhe!« und alles wurde still. Er wartete noch einen Augenblick; darauf sagte er (seine Stimme war klar, kalt und durchdringend):

»Meine Herren, sicher hätte ich diese Sache nicht zu Ende spielen lassen, wenn ich den Herrn, der es gewagt hat, Schändlichkeiten über Meister Brahms zu schreiben, nicht einmal dem öffentlichen Urteil hätte aussetzen wollen.«

So sprach er, sprang dann von seinem Tritt und schritt unter den begeisterten Zurufen der freudetrunkenen Zuhörerschaft hinaus. Man wollte ihn wieder hervorrufen; zwei oder drei Minuten lang schrie man nach ihm. Aber er kam nicht wieder. Das Orchester zerstreute sich. Auch das Publikum entschloß sich, fortzugehn. Das Konzert war zu Ende.

Es war ein schöner Tag gewesen.

 

Christof war schon fortgegangen. Kaum hatte er den elenden Orchesterdirigenten sein Pult verlassen sehen, als er aus der Loge gestürzt war. Er stolperte die Treppen des ersten Stockwerks hinunter, um ihm nachzueilen und ihn zu ohrfeigen. Der Freund, der ihn begleitet hatte, lief hinter ihm drein und suchte ihn zurückzuhalten; Christof aber stieß ihn von sich und hätte ihn beinahe die Treppe hinabgeworfen. (Er hatte Gründe zu glauben, daß der Mensch an der Falle, die man ihm gestellt hatte, nicht unbeteiligt war.) – Zum Glück für Herrn Euphrat und für ihn selbst war die Tür, die zum Podium führte, verschlossen; und seine wütenden Faustschläge konnten sie nicht öffnen; unterdessen fing das Publikum an, den Saal zu verlassen. Christof konnte da nicht stehen bleiben. Er machte sich davon.

Er war in einem unbeschreiblichen Zustand. Er rannte aufs Geratewohl vorwärts, fuhr mit den Armen umher, rollte die Augen, sprach laut vor sich hin und benahm sich wie ein Wahnsinniger; er schluckte seine Empörungs- und Wutschreie in sich hinein. Die Straße war fast leer. Der Konzertsaal war im vorhergehenden Jahr in einem neuen Viertel, ein wenig außerhalb der Stadt gebaut worden. Christof floh instinktiv ins freie Feld, quer über ödes Land, auf dem sich vereinzelte Schuppen und ein paar von Bretterwänden umgebene Hausgerüste erhoben. Er hatte mörderische Gedanken, er hätte den Mann töten mögen, der ihm diese Schmach angetan hatte … Ach! und hätte er ihn getötet, so wäre doch nichts an der Feindseligkeit aller der Leute geändert, deren beleidigendes Lachen ihm noch im Ohre gellte. Es waren ihrer zu viele, er konnte nichts gegen sie ausrichten; sie, die in so vielen Dingen geteilter Meinung waren, hatten sich geeinigt, um ihn zu beschimpfen und zu erdrücken. Das war mehr als Verständnislosigkeit. Haß lag darin. Was hatte er ihnen allen denn getan? Er trug schöne Dinge in sich, Dinge, die wohltun und das Herz weiten; er hatte sie sagen wollen, um andere damit zu erfreuen; er glaubte, daß sie darüber glücklich sein würden, gleich ihm. Und gefiel es ihnen selbst nicht, so mußten sie ihm doch wenigstens die Absicht danken; sie konnten bei aller Strenge ihm freundschaftlich zeigen, worin er sich geirrt hatte; wie aber war es möglich, mit so boshafter Lust seine widerlich entstellten Gedanken zu verhöhnen, sie mit Füßen zu treten, sie im Lächerlichen zu ersticken? In seiner Aufregung übertrieb er noch ihren Haß; er traute ihm einen Ernst zu, dessen diese mittelmäßigen Wesen ganz unfähig waren. Er schluchzte: »Was habe ich ihnen getan?« Er meinte zu ersticken und fühlte sich verloren, wie als Kind, als er zum erstenmal menschliche Schlechtigkeit kennen gelernt hatte.

Und als er um sich sah, merkte er plötzlich, daß er an das Ufer des Mühlbachs gelangt war, dorthin, wo sich einige Jahre vorher sein Vater ertränkt hatte. Und im selben Augenblick kam auch ihm der Gedanke, sich zu ertränken. Ohne eine Minute zu zögern, machte er sich bereit, hinabzuspringen. Doch wie er sich, vom stillen, klaren Blick des Wassers geheimnisvoll angezogen, über den Abhang beugte, fing ein ganz kleiner Vogel auf einem nahen Baum zu singen an – liebesselig zu singen. Er blieb reglos, um ihm zu lauschen. Das Wasser murmelte. Man hörte das Rauschen des blühenden Korns, das sanft gekost vom Winde wogte. Die Pappeln schauerten in der Kühle. Hinter einer Weghecke, in einem Garten füllten unsichtbare Bienenkörbe die Luft mit ihrer durchdufteten Musik. Am andern Ufer des Baches träumte eine Kuh mit schönen achatumrandeten Augen. Ein blondes kleines Mädchen saß mit einer geflochtenen leichten Kiepe an den Schultern, wie ein kleiner geflügelter Engel auf einem Mauerrand, träumte auch, baumelte dazu mit den Beinen und summte eine Weise vor sich hin, die keinerlei Sinn barg. Fern, im Feld sprang ein weißer Hund, weite Bogen ziehend, umher.

Christof lehnte an einem Baum, lauschte, betrachtete die frühlingsfrohe Erde; der Friede, die Freude dieser Geschöpfe gewannen ihn zurück: er vergaß, vergaß … Plötzlich preßte er den schönen Baum, an dem seine Wange lehnte, in seine Arme. Er warf sich zur Erde; er vergrub das Haupt im Gras; er lachte krampfhaft, er lachte vor Glück. Die ganze Schönheit, die Anmut, die Wonne des Lebens umfing ihn, durchsog ihn, durchtränkte ihn wie einen Schwamm. Er dachte:

»Warum bist du so schön, und sie – die Menschen – so häßlich?«

Was aber lag daran! Er liebte die Erde, liebte sie, fühlte, daß er sie ewig lieben würde, daß nichts ihn von ihr trennen konnte. Trunken küßte er den Boden. Er küßte das Leben:

»Ich halte dich! Du bist mein. Sie können dich mir nicht entreißen. Mögen sie tun, was sie wollen! Mögen sie mich leiden machen …! Leiden – auch das ist Leben!«

 

Christof machte sich mutig von neuem an die Arbeit. Er wollte nichts mehr mit den sogenannten Schriftstellern zu tun haben, nichts mehr mit den Phrasenhelden, den unfruchtbaren Schwätzern, den Kritikern, den Ausbeutern, den Schacherern der Kunst. Und was die Musiker betraf, so wollte er seine Zeit nicht mehr damit verbringen, gegen ihre Vorurteile und Eifersüchteleien zu Felde zu ziehen. Sie wollten nichts von ihm wissen? – Gut denn! Er wollte von ihnen nichts. Er hatte sein Werk zu schaffen: er würde es vollenden. Der Hof gab ihm seine Freiheit wieder: er wußte ihm Dank dafür. Er wußte den Leuten Dank für ihre Feindschaft: so konnte er in Frieden arbeiten.

Luise hieß das von ganzem Herzen gut. Sie hatte keinerlei Ehrgeiz; sie war keine Krafft; weder dem Vater noch dem Großvater glich sie. Ihr lag für ihren Sohn nichts an Ehren und Ruf. Gewiß, sie hätte sich gefreut, wenn er berühmt und reich würde; wenn solche Vorzüge aber mit allzu viel Widerwärtigkeiten erkauft werden mußten, so wollte sie lieber gar nicht davon hören. Ihr war der Kummer Christofs, den er durch sein Zerwürfnis mit dem Hof gehabt hatte, nähergegangen, als das Ereignis selbst; und im Grunde war sie sehr glücklich, daß er mit den Zeitschriften- und Zeitungsleuten auseinandergekommen war. Sie hatte ein bäurisches Mißtrauen gegen die Druckerschwärze: das alles war nur dazu da, einem die Zeit zu stehlen und Unannehmlichkeiten zuzuziehen. Manchmal hatte sie die jungen Leutchen der Zeitschrift, an der er mitarbeitete, sich mit Christof unterhalten hören: sie war von deren Bosheit entsetzt gewesen; sie schwärzten alles an, sagten allen Ungeheuerlichkeiten nach; und je mehr sie es taten, um so zufriedener waren sie. Die mochte sie nicht leiden. Sicherlich waren sie sehr klug und gelehrt; aber gut waren sie nicht: sie freute sich, daß ihr Christof nicht mehr mit ihnen zusammenkam. Sie stimmte ihm völlig bei: wozu brauchte er sie?

»Sie mögen von mir reden, schreiben und denken, was sie wollen,« sagte Christof. »Sie können mich nicht abhalten, ich selbst zu sein. Was geht mich ihre Kunst, ihr Denken an? Ich verneine sie!«

 

Es ist sehr schön, die Welt zu verneinen. Aber die Welt läßt sich nicht so leicht durch die Großtuerei eines jungen Menschen verneinen. Christof war aufrichtig; aber er machte sich Illusionen, er kannte sich nicht sehr gut. Er war kein Mönch und besaß nicht das Temperament, um auf die Welt zu verzichten. Vor allem lag das nicht in seinem Alter. In der ersten Zeit litt er nicht allzu sehr: er lebte in sein Komponieren vertieft; und solange die Arbeit dauerte, fühlte er nicht, daß ihm irgend etwas fehlte. Als jedoch die Zeit der Niedergeschlagenheit kam, die der Vollendung des Werkes folgt und die so lange anhält, bis sich ein neues Werk vom Geiste losringt, schaute er um sich und fühlte sich in seiner Verlassenheit erstarren. Er fragte sich, wozu er schriebe. Solange man arbeitet, drängt sich einem diese Frage nicht auf: man muß schreiben, darüber ist kein Wort zu verlieren. Dann steht man dem neugeborenen Werk gegenüber; der mächtige Trieb, der es aus dem Innern emporgerissen hat, schweigt: man begreift nicht mehr, warum es geboren ist; kaum erkennt man sich selbst in ihm wieder; fast ist es ein Fremdes, das man zu vergessen trachtet. Das aber ist nicht möglich, solange es weder veröffentlicht noch aufgeführt ist, solange es nicht sein Eigendasein in der Welt lebt. Bis dahin ist es gleich dem der Mutter noch verbundenen Neugeborenen, ein Lebendiges, das ans lebendige Fleisch gefesselt ist: damit es lebe, muß man es um jeden Preis abtrennen. Je mehr Christof komponierte, um so tiefer litt er unter der Bedrängnis dieser aus ihm emporgewachsenen Geschöpfe, die weder leben noch sterben konnten. Er wurde davon wie behext. Wer konnte ihn erlösen? Ein dunkler Drang regte sich in diesen Kindern seines Denkens; verzweifelt begehrten sie, sich von ihm zu lösen, sich gleich lebendigem fruchtbarem Samen, den der Wind ins All entführt, in andere Seelen zu ergießen. Sollte er in seine Unfruchtbarkeit vermauert bleiben? Er mußte darüber rasend werden.

Da jede Möglichkeit – Theater, Konzerte – ihm verschlossen war und er sich um keinen Preis dazu erniedrigt hätte, es bei den Direktoren, die ihn einmal abgewiesen hatten, von neuem zu versuchen, blieb ihm kein anderes Mittel, als das Geschriebene zu veröffentlichen; aber er konnte sich nicht einbilden, daß er leichter einen Verleger finden würde, der ihn beim Publikum einführte, als ein Orchester zum Spielen. Die zwei oder drei Versuche, die er so ungeschickt wie möglich gemacht hatte, genügten ihm. Ehe er sich einer neuen Ablehnung aussetzte oder mit einem dieser Musikkaufleute stritt und ihre gönnerhaften Mienen ertrug, wollte er lieber alle Kosten der Herausgabe selber tragen. Das war reiner Wahnsinn: er hatte noch einen kleinen Geldvorrat, der aus seinem Hofgehalt und einigen Konzerten stammte; aber die Quelle dieser Mittel war versiegt, und es konnte lange Zeit verstreichen, ehe er eine andere finden würde; er hätte recht vorsichtig mit diesem kleinen Überschuß haushalten müssen, damit er ihm über die schwierige Periode, die vor ihm lag, hinweggeholfen hätte. Das versäumte er nicht nur, sondern stürzte sich, da sein Geld unzureichend war, um die Unkosten der Herausgabe zu decken, obendrein in Schulden. Luise wagte nichts zu sagen; sie fand ihn unvernünftig und verstand nicht recht, wie man Geld ausgeben könne, um seinen Namen auf einem Buch zu sehen; doch da sie ihn auf diese Weise Geduld fassen sah und ihn bei sich behalten konnte, war sie allzu glücklich, daß er sich damit zufrieden gab.

Anstatt dem Publikum Kompositionen in einem bekannten Stil zu bieten, in dem es sich sicher und zu Hause fühlte, wählte Christof unter seinen Manuskripten eine Folge von Arbeiten, die sehr persönlich waren und auf die er viel hielt. Es waren Klavierstücke, zwischen die sich Lieder mischten, von denen einige sehr kurz und in volkstümlicher Art gehalten, andre sehr weitläufig und fast dramatisch waren. Das Ganze bildete eine Folge froher oder trauriger Bilder, die sich ungezwungen ineinanderschlangen und die einmal durch das Klavier, dann wieder durch Gesang – allein oder mit Begleitung – zum Ausdruck kamen. Denn, sagte Christof, wenn ich träume, forme ich nicht stets, was ich fühle: ich leide, bin glücklich, ohne es in Worten auszusprechen; aber der Augenblick kommt, in dem ich es sagen muß, in dem ich es, ohne daran zu denken, singe. Manchmal nur in unbestimmten Worten, in ein paar zusammenhanglosen Sätzen, manchmal als ganze Dichtungen; dann fange ich wieder zu träumen an. So streicht der Tag dahin: und so ist es wirklich ein Tag, den ich darstellen wollte. Wozu diese ewigen Sammlungen von Liedern oder Präludien allein? Es gibt nichts, was künstlicher und unharmonischer wäre. Den freien Flug der Seele muß man wiederzugeben suchen. – So nannte er denn die Sammlung: Ein Tag. Die verschiedenen Teile des Werkes trugen Untertitel, welche kurz die Nacheinanderfolge des innerlich Geschauten angaben.

Christof hatte ihnen geheimnisvolle Widmungen beigefügt, Namenszüge, Daten, die nur er verstehen konnte, und die ihm die Erinnerung schöner Stunden oder geliebter Gestalten wachriefen: die lachende Corinne, die schmachtende Sabine und die kleine unbekannte Französin.

Außer diesem Werk wählte er einige dreißig Lieder aus – solche, die ihm am besten und folglich dem Publikum am wenigsten gefielen. Er hatte sich streng davor gehütet, Melodien, die recht »melodisch« waren, zu nehmen, sondern er hatte die charakteristischsten gewählt. (Bekanntermaßen haben die guten Leute stets große Furcht vor dem »Charakteristischen«. Charakterloses ist weit besser dazu angetan, ihnen zu gefallen.) Diesen Liedern waren Verse alter schlesischer Dichter aus dem siebzehnten Jahrhundert unterlegt, die Christof zufällig in einer populären Ausgabe gefunden hatte, und die er um ihres schlichten Ernstes willen liebte. Zwei waren ihm vor allem wie Brüder wert, zwei Dichter, die beide mit dreißig Jahren gestorben waren: der wundervolle Paul Fleming, der frei den Kaukasus durchstreift und Ispahan besucht und der sich inmitten aller Kriegsroheiten und Verderbtheiten seiner Zeit, in allen Trübseligkeiten des Lebens eine reine, liebende und heitere Seele bewahrt hatte, und Johann Christian Günther, das ungebundene Genie, das sich in Wollust und Verzweiflung verbrannte und sein Leben in alle Winde streute. Von Günther hatte er den herausfordernden Schrei rächender Ironie gegen den feindlichen Gott, der ihn zerschmettert, wiederzugeben gesucht, die wütenden Verwünschungen des gefesselten Titanen, der den Blitz gegen den Himmel zurückzückt. Von Fleming hatte er die köstlichen und blumenzarten Liebeslieder an Anemone und Basilene genommen, ferner die »Sternenrunde«, das Tanzlied der klaren und fröhlichen Herzen, und das heroische und stille Sonett: »An Sich,« das sich Christof als tägliches Morgengebet aufsagte.

Auch der lächelnde Optimismus des frommen Paul Gerhardt entzückte Christof; er war für ihn nach seinen Traurigkeiten ein Ausruhen. (Er liebte seine unschuldigen Bilder der gottumschlossenen Natur: die frischen Felder, wo zwischen Tulpen und weißen Narzissen, am Bachesrand, der überm Sande singt, die Störche ernsthaft einherstolzieren, wo großflügelige Schwalben und der Schwarm der Tauben die klare Luft durchstreichen; er liebte seine frohen Sonnenstrahlen, die den Regen durchbrechen, den leuchtenden Himmel, der zwischen Wolken lacht, und die majestätisch heitere Stille des Abends, der Wälder und der Herden, die Ruhe der Städte und der Felder. Er war unbescheiden genug gewesen, mehrere der geistlichen Lieder, die man noch in protestantischen Gemeinden sang, in Musik zu setzen. Er hatte sich sehr gehütet, ihren Choralcharakter beizubehalten. Im Gegenteil: davor hatte er ein wahres Grauen; er hatte ihnen freien, lebendigen Ausdruck verliehen. Der alte Gerhardt wäre vielleicht vor dem teuflischen Stolz erschauert, den jetzt gewisse Strophen in seinem »Christlichen Wanderlied« atmeten, oder auch vor der heidnischen Heiterkeit, die gleich einem Sturzbach den friedlichen Strom seines »Sommersangs« überschäumen ließ.

Das Werk kam heraus und natürlich in einer Weise, die jeder Vernunft Hohn sprach. Der Verleger, den Christof für den Druck und Vertrieb seiner Lieder bezahlte, kam nur dadurch zu diesem Auftrag, weil er in der Nachbarschaft wohnte. Sein Geschäft war einer Arbeit von solcher Bedeutung nicht gewachsen. Monatelang wurde sie hingeschleppt; Druckfehler schlichen sich ein, kostspielige Korrekturen wurden nötig. Christof, der nichts davon verstand, ließ sich alles ein Drittel teurer als nötig aufrechnen. Die Ausgaben überstiegen bei weitem den Voranschlag. Als schließlich alles fertig war, hatte Christof eine riesige Auflage auf dem Hals, mit der er nichts anzufangen wußte. Der Verleger hatte keine Kundschaft; er tat nicht einen schritt zur Verbreitung des Werkes. Übrigens paßte seine Gleichgültigkeit ganz gut zu Christofs Haltung. Als er ihn, um sein Gewissen zu beruhigen, gebeten hatte, ein paar Reklamezeilen zu schreiben, erwiderte Christof, »daß er keine Reklame wolle: wenn seine Musik gut wäre, würde sie für sich selber sprechen«. Der andere hielt seinen Willen heilig: er begrub die Auflage in der Tiefe seines Lagers. Dort ruhte sie wohlbewahrt; denn in sechs Monaten wurde nicht ein Exemplar verkauft.

 

Christof wartete also darauf, daß sich das Publikum entschlösse, ihn aufzusuchen. Unterdessen mußte er aber ein Mittel finden, um die Bresche auszufüllen, die er in seine kleine Kasse geschlagen hatte; und er durfte nicht wählerisch sein: denn er mußte leben und seine Schulden abzahlen. Die waren nicht nur größer, als er vorher gesehen hatte; sondern er merkte auch, daß die Reserve, auf die er zählte, kleiner war, als er berechnet hatte. Hatte er, ohne es zu merken, Geld verloren, oder hatte er – was bedeutend wahrscheinlicher war – schlecht gerechnet? – (Er hatte noch nie etwas genau zusammenzählen können.) – Wofür das Geld verausgabt war, kam jedenfalls wenig in Betracht: es fehlte, und das stand fest. Luise mußte das letzte opfern, um ihrem Sohn zu Hilfe zu kommen. Ihn drückte das schwer, und er versuchte um jeden Preis so schnell wie möglich seine Schuld zu bezahlen. Er ging auf die Suche nach Musikstunden, war es ihm auch noch so peinlich, sich anzubieten, zumal er sich manchmal Körbe holte. Sein Ansehen war sehr gesunken: er hatte große Schwierigkeit, von neuem ein paar Schüler zu finden. So war er denn nur allzu glücklich, als man ihm von einer Stelle an einer Schule sprach, und nahm sie an.

Es war ein halb geistliches Stift. Der Direktor war ein schlauer Mensch, der, ohne Musiker zu sein, den ganzen Vorteil durchschaute, den man aus Christof – in seiner augenblicklichen Lage sogar auf recht billige Weise – ziehen konnte. Er war leutselig und zahlte wenig. Als Christof eine schüchterne Einwendung wagte, gab ihm der Direktor mit einem wohlwollenden Lächeln zu verstehen, daß er nach Verlust seines offiziellen Titels nicht mehr beanspruchen könne.

Traurige Beschäftigung! Es handelte sich weniger darum, die Schüler musikalisch zu bilden, als den Eltern und ihnen selbst die Illusion zu verschaffen, als leisteten sie etwas. Die Hauptsache war, sie so weit zu bringen, daß sie zu den Feierlichkeiten, zu denen das Publikum zugelassen wurde, singen konnten. Auf die Mittel kam es wenig an. Christof war das geradezu widerlich; er konnte sich bei der Erfüllung seiner Pflicht nicht einmal zum Trost sagen, daß er etwas Nützliches täte: sein Gewissen drückte ihn, als begehe er eine Heuchelei. Er suchte den Kindern eine tiefere Bildung zu vermitteln, sie ernste Musik kennen und lieben zu lehren. Aber den Schülern lag wenig daran. Christof gelang es nicht, sich Gehör zu verschaffen; ihm fehlte die Autorität; er war auch wirklich nicht dazu geschaffen, Kinder zu unterrichten. Er interessierte sich nicht für ihr Gestotter; sofort wollte er ihnen die musikalische Theorie erklären. Hatte er eine Klavierstunde zu geben, so brachte er dem Schüler eine Beethovensche Symphonie mit, die er vierhändig mit ihm spielen wollte. Natürlich ging das nicht; er wurde wütend, jagte den Schüler vom Klavier und spielte lange Zeit statt seiner. – Mit seinen Privatschülern außerhalb der Schule machte er es nicht viel anders. Er hatte nicht einen Funken Geduld: einem netten jungen Mädchen, das sich auf sein aristokratisches Benehmen etwas zugute tat, sagte er zum Beispiel, sie spiele wie eine Köchin; oder er schrieb sogar an die Mutter, daß, falls er sich noch weiter mit einem so absolut talentlosen Wesen abgeben müßte, er schließlich darüber zugrunde gehen würde und lieber darauf verzichte. – Das alles förderte nicht die Geschäfte. Seine wenigen Schüler verließen ihn; er brachte es nicht fertig, auch nur einen länger als zwei Monate zu behalten. Seine Mutter suchte ihn zur Vernunft zu bringen; er versuchte es selber. Luise nahm ihm das Versprechen ab, sich wenigstens nicht mit dem Institut zu überwerfen, in das er eingetreten war; denn wenn er diesen Platz verlieren würde, so hätte er nicht gewußt, wie er sein Leben fristen sollte.

So zwang er sich denn trotz seines Widerwillens: er war von musterhafter Pünktlichkeit. Wie aber sollte er verheimlichen, was er dachte, wenn ein Esel von Schüler zum zehntenmal einen Lauf verpatzte, oder wenn er seiner Klasse fürs nächste Konzert einen albernen Chor eintrichtern mußte! – (Denn man ließ ihn nicht einmal sein Programm zusammenstellen: man traute seinem Geschmack nicht.) – Es ist verständlich, daß er wenig Eifer zeigte. Immerhin verbohrte er sich schweigend und verbissen in seine Aufgabe und verriet seine innere Wut nur durch einen gelegentlichen Faustschlag auf den Tisch, der seine Schüler emporschrecken ließ. Manchmal aber war die Pille allzu bitter: er konnte nicht mehr an sich halten. Mitten in einem Stück unterbrach er seine Sänger:

»Ach! hört auf! hört auf! Ich will euch lieber Wagner vorspielen.«

Sie wünschten sich nichts Besseres. Hinter seinem Rücken spielten sie Karten. Immerhin fand sich einer unter ihnen, der die Sache dem Direktor hinterbrachte; und Christof mußte sich daran erinnern lassen, daß er nicht dazu da sei, um in seinen Schülern Liebe zur Musik zu wecken, sondern um sie singen zu lassen. Zitternd hörte er solche Strafpredigten an; aber er ließ sie sich gefallen: er wollte nicht brechen. – Wer hätte ihm einige Jahre vorher, damals, als er noch nichts geleistet hatte, als seine Laufbahn glanzvoll und gesichert ansetzte, gesagt, daß er vom Augenblick an, da er etwas taugte, solchen Demütigungen unterworfen sein würde?

Unter allem, was seine Eigenliebe durch den Unterricht am Institut litt, war die Last der pflichtmäßigen Besuche bei seinen Kollegen nicht das Geringste. Zwei machte er aufs Geratewohl und langweilte sich dermaßen, daß er nicht den Mut zu weiteren fand. Die beiden Bevorzugten wußten ihm durchaus keinen Dank; die andern aber hielten sich für persönlich beleidigt. Alle fühlten sich Christof an Stellung und Intelligenz überlegen; und sie schlugen ihm gegenüber einen gönnerhaften Ton an. Für Augenblicke wurde er davon ganz zu Boden gedrückt: denn sie trugen so selbstgewisse Mienen zur Schau und waren ihrer Meinung über ihn so sicher, daß er sie zuweilen teilte; er kam sich dumm neben ihnen vor: was hätte er mit ihnen reden können? Sie waren von ihrem Beruf erfüllt und sahen nicht darüber hinaus. Menschen waren sie nicht. Wenn sie wenigstens Bücher gewesen wären! Aber sie waren Fußnoten zu Büchern, philologische Kommentare.

Christof floh jede Gelegenheit, mit ihnen zusammenzutreffen. Manchmal aber war er dazu gezwungen. Der Direktor hatte einmal monatlich am Nachmittag Empfangstag; und er hielt darauf, daß sich sein ganzer Kreis vollzählig versammelte. Christof hatte die erste Einladung, sogar ohne sich zu entschuldigen, umgangen und sich nicht gerührt; er hatte sich in der trügerischen Hoffnung gewiegt, sein Ausbleiben werde wohl nicht bemerkt werden. Jedoch schon am nächsten Morgen wurde er die Zielscheibe einer süßsauern Bemerkung. Das nächste Mal entschloß er sich auf Betreiben seiner Mutter hinzugehn; er zeigte dabei so frohen Eifer, als ginge er zu einem Begräbnis.

Er kam in eine Gesellschaft von Lehrern des Instituts und anderer Schulen der Stadt, die mit ihren Frauen und Töchtern erschienen. Eingepfercht in einen zu kleinen Salon, saßen sie hieratisch streng geordnet und zollten ihm keinerlei Beachtung: die ihm zunächst stehende Gruppe sprach von Pädagogik und Küche. Alle diese Lehrerfrauen besaßen kulinarische Rezepte, über die sie mit schwülstiger und mürrischer Pedanterie redeten. Die Männer standen diesen Fragen nicht weniger interessiert gegenüber und wußten ebensogut darin Bescheid. Sie waren auf die häuslichen Talente ihrer Frauen ebensostolz wie diese auf das Wissen ihrer Eheherren. Christof stand neben einem Fenster gegen die Wand gelehnt, wußte nicht, wie er sich benehmen sollte, versuchte einmal sinnlos zu lächeln, starrte dann wieder düster, mit zusammengekniffenem Gesicht vor sich hin und starb vor Langerweile. Einige Schritte von ihm entfernt in einer Fensternische saß eine junge Frau, mit der niemand sprach; sie langweilte sich ebenfalls. Alle beide schauten ins Zimmer und sahen sich nicht. Erst nach einiger Zeit, im Augenblick, als der eine wie der andere es nicht mehr aushalten konnte und sie sich, um zu gähnen, abwandten, bemerkten sie einander. Gerade in dieser Minute trafen sich ihre Augen. Sie tauschten einen Blick freundschaftlichen Einverständnisses. Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie sagte halblaut zu ihm:

»Ist es nicht sehr unterhaltend?«

Er drehte dem Zimmer den Rücken, schaute zum Fenster und streckte die Zunge aus. Sie lachte hell auf, wurde nun plötzlich munter und machte ihm ein Zeichen, sich neben sie zu setzen. So wurden sie bekannt: sie war die Frau des Professor Reinhart, des Naturgeschichtslehrers an der Schule, war neuerdings in die Stadt gekommen und kannte dort noch niemand. Sie war nichts weniger als schön, hatte eine große Nase, schlechte Zähne, wenig Frische, aber lebhafte, ziemlich geistvolle Augen und ein kindlich gutmütiges Lächeln. Sie schwatzte wie eine Elster: er antwortete ihr voller Eifer; sie hatte eine amüsante Offenheit und war voll drolliger Einfälle. Lachend tauschten sie ihre Eindrücke, ohne sich um ihre Umgebung zu kümmern. Ihre Nachbarn, die nicht so gnädig gewesen waren, ihrer beider Dasein zu bemerken, so lange es freundlich gewesen wäre, ihnen aus ihrer Verlassenheit zu. helfen, warfen jetzt zudringliche und unzufriedene Blicke auf sie: sich so zu amüsieren war wirklich geschmacklos … Doch den beiden Schwätzern war das völlig gleichgültig, was immer man von ihnen denken mochte: sie nahmen ihre Rache. Schließlich stellte Frau Reinhart Christof ihren Mann vor. Er war auffallend häßlich: ein bleiches bartloses, pockennarbiges Gesicht, das ein wenig wüst aussah, doch einen Ausdruck tiefer Güte trug. Er sprach mit Kehltönen und bildete seine Worte schulmeisterlich, stotternd, während er zwischen jeder Silbe Pausen machte.

Sie waren seit einigen Monaten verheiratet und, häßlich wie sie waren, einer in den andern verliebt: sie hatten eine Art, sich inmitten dieses ganzen Kreises zärtlich anzuschauen, miteinander zu sprechen, sich bei der Hand zu fassen, die komisch und rührend wirkte. Was der eine wünschte, wollte der andere auch. Gleich luden sie Christof ein, bei ihnen nach dem Empfang zu Abend zu speisen. Christof versuchte zuerst scherzend abzuwehren; er sagte, das beste, was man an diesem Abend tun könne, sei zu Bett zu gehen: man würde ja vor Langerweile halb tot sein, als habe man einen Marsch von zehn Meilen hinter sich. Frau Reinhart aber erwiderte, daß man gerade deswegen den Tag nicht so beschließen solle: es sei gefährlich, die Nacht unter so düsteren Gedanken hinzubringen. Christof ließ sich Gewalt antun. In seiner Vereinsamung war er glücklich, diese braven Menschen getroffen zu haben, die zwar nicht besonders vornehm, aber einfach und gemütlich waren.

 

Das kleine Heim der Reinharts war »gemütlich« wie sie. Dies Gemüt war ein wenig redselig, ein Gemüt mit Überschriften. Möbel, Geräte, Geschirr sprachen und drückten immer wieder von neuem ihre Freude aus, »den lieben Gast« zu empfangen, erkundigten sich nach seiner Gesundheit und gaben ihm leutselige und tugendhafte Ratschläge.

Auf dem Sofa – das übrigens recht hart war – breitete sich ein kleines Kissen aus, das freundschaftlich murmelte:

»Nur ein Viertelstündchen!«

Die Kaffeetasse, die man Christof anbot, nötigte zum wiederholten Nehmen:

»Noch ein Schlückchen!«

Die Teller würzten die übrigens ausgezeichnete Küche mit Weisheit. Einer sagte:

»Herzlichkeit und Dankbarkeit sind gern gesehn. Undank findet niemand schön.«

Obgleich Christof Nichtraucher war, konnte sich der Aschenbecher auf dem Kamin nicht enthalten, sich ihm vorzustellen:

»Ruheplätzchen für brennende Zigarren.«

Er wollte sich die Hände waschen. Die Seife auf dem Toilettentisch sagte:

»Für unsern lieben Gast.«

Und das schulmeisterliche Handtuch machte ihm wie jemand, der recht höflich sein will, nichts zu sagen hat, aber sich dennoch für verpflichtet hält, irgend etwas zu reden, die höchst vernünftige, aber dem Gegenstand nicht sehr angemessene Bemerkung:

»Morgenstund hat Gold im Mund.«

Christof wagte schließlich nicht mehr, sich auf seinem Stuhl umzudrehen, aus Furcht, sich von immer neuen, aus allen Zimmerecken kommenden Stimmen angerufen zu hören. Er hatte Lust zu sagen:

»Haltet doch den Mund, kleine Ungeheuer! Man versteht hier sein eigenes Wort nicht.«

Und ein tolles Lachen packte ihn, das er seinen Wirten als eine Erinnerung an die eben verlassene Schulgesellschaft deutete. Um nichts in der Welt hätte er sie kränken wollen. Übrigens war er für Lächerlichkeiten nicht allzu empfindlich. Er gewöhnte sich sehr schnell an die redselige Vertraulichkeit der Dinge und Wesen. Was hätte er ihnen nicht hingehen lassen! Es waren so gute Menschen! Sie waren sonst nicht langweilig; wenn es ihnen vielleicht an Geschmack fehlte, so mangelte es ihnen doch nicht an Intelligenz.

Sie fühlten sich in dem Ort, in den sie kürzlich verschlagen waren, etwas verloren. Die unerträgliche Empfindlichkeit der kleinen Provinzstadt ließ durchaus nicht zu, daß man darin wie in einem Wirtshaus ein- und ausging; sondern man mußte hier nach allen Regeln der Kunst um die Ehre bitten, zugelassen zu werden. Die Reinharts hatten nicht genug mit dem provinzialen Formenkodex gerechnet, durch den die Alteingesessenen die Pflichten aller derer regeln, die in einer kleinen Stadt neu ankommen. Reinhart hatte sich schließlich mechanisch gefügt. Seiner Frau aber war solcher Frondienst entsetzlich; sie mochte sich keinen Zwang antun und schob ihre Pflichten von Tag zu Tag auf. Sie hatte aus der Besuchsliste diejenigen herausgesucht, die ihr am wenigsten langweilig schienen, und diese Besuche zuerst erledigt; die anderen wurden endlos verschoben. Die Honoratioren, die zur letzteren Kategorie gehörten, barsten vor Zorn über solchen Mangel an Höflichkeit. Angelika Reinhart – ihr Mann nannte sie vertraulich Lili – hatte ein etwas freies Benehmen; es gelang ihr nicht gut, einen offiziellen Ton anzuschlagen. Ihre Vorgesetzten fragte sie ungeniert aus, worüber diese vor Empörung erröteten; wenn nötig, scheute sie sich auch nicht, sie einmal Lügen zu strafen. Sie hatte ein gutes Mundwerk und fühlte das Bedürfnis, alles, was ihr durch den Kopf ging, auszusprechen: manchmal waren das riesige Dummheiten und man machte sich hinter ihrem Rücken darüber lustig; ein andermal sagte sie Leuten gerade ins Gesicht eine derbe Bosheit und machte sich damit tödliche Feinde. Im Augenblick, nachdem das Wort heraus war, biß sie sich auf die Zunge und hätte es zurücknehmen mögen: aber es war zu spät. Ihr Mann, der im allgemeinen der sanfteste und respektvollste Mensch war, machte ihr deswegen bescheidene Vorstellungen. Dann küßte sie ihn, sagte, daß sie eine dumme Person sei und daß er recht habe. Aber im nächsten Augenblick fing sie wieder an; und vor allem in Situationen, wo sie gewisse Dinge am wenigsten hätte sagen dürfen, sagte sie sie sofort: sie wäre geplatzt, hätte sie es nicht ausgesprochen. – Sie war ganz dazu angetan, sich mit Christof gut zu verstehen.

Eine der vielen Taktlosigkeiten, die sie nicht hätte sagen dürfen, und die sie folglich sagte, war ein bei jeder Gelegenheit wiederkehrender, recht unangebrachter Vergleich zwischen dem, was man in Frankreich und was man in Deutschland tat. Selber Deutsche – niemand war es mehr als sie –, aber im Elsaß erzogen und in freundschaftlichen Beziehungen zu französischen Elsässern, war sie offenbar in den Bann lateinischer Kultur geraten, der in den annektierten Ländern so viele Deutsche nicht widerstehen können, und gerade die, welche am wenigsten für sie geschaffen scheinen. Vielleicht war diese Anziehungskraft aus einer Art Widerspruchsgeist heraus noch stärker geworden, seit Angelika einen Norddeutschen geheiratet hatte und sich mit ihm in rein germanischer Umgebung befand.

Schon am ersten Abend mit Christof schnitt sie ihr gewohntes Diskussionsthema an. Sie rühmte die liebenswürdige Ungezwungenheit französischer Unterhaltungen. Christof stimmte mit ein. Frankreich war für ihn Corinne: schöne leuchtende Augen, ein junger lachender Mund, ein frankes und freies Benehmen, eine wohllautende Stimme: das alles machte ihm Lust, mehr von dem Lande kennen zu lernen.

Lili Reinhart schlug vergnügt in die Hände, weil ihre und Christofs Ansicht so gut zusammenpaßten.

»Wie schade,« sagte sie, »daß meine kleine französische Freundin nicht mehr hier ist, aber sie konnte es nicht aushalten: sie ist fortgezogen.«

Corinnes Bild verblaßte sofort. Wie eine sterbende Rakete im dunklen Himmel plötzlich den sanften unergründlichen Sternenschimmer aufschimmern läßt, so erschien jetzt ein anderes Bild, andere Augen.

Christof fragte emporfahrend: »Was? Die kleine Erzieherin?«

»Wie?« meinte Frau Reinhart, »auch Sie kennen sie?«

Beide beschrieben das junge Mädchen: die Porträts stimmten überein.

»Sie kannten sie?« wiederholte Christof. »O sagen Sie mir alles, was Sie von ihr wissen! …«

Frau Reinhart beteuerte zunächst, daß sie intime Freundinnen gewesen seien und sich alles anvertraut hätten. Doch als es an die Einzelheiten ging, schmolz dies »alles« auf recht wenig zusammen. Zuerst hatten sie sich bei einem Besuch getroffen. Frau Reinhart war dem jungen Mädchen freundlich entgegengekommen und hatte sie mit ihrer gewohnten Herzlichkeit aufgefordert, sie zu besuchen. Zwei- oder dreimal war das junge Mädchen gekommen, und sie hatten miteinander geplaudert. Aber es war der neugierigen Lili nur mit Mühe gelungen, einiges aus dem Leben der kleinen Französin zu erfahren: sie war außerordentlich zurückhaltend; Stück für Stück mußte man ihr ihre Geschichte entreißen. Frau Reinhart wußte gerade nur, daß sie Antoinette Jeannin hieß; sie hatte kein Vermögen und als einzigen Verwandten einen jungen Bruder, der in Paris geblieben war und dessen Unterstützung sie sich widmete. Von ihm sprach sie ohne Unterlaß: es war das Einzige, wobei sie sich ein wenig mitteilsam gab; und Lili Reinhart hatte ihr Vertrauen dadurch gewonnen, daß sie für den Jungen, der so allein, ohne Eltern und Freunde in einem Pariser Lyzeum war, mitleidsvolle Teilnahme zeigte. Antoinette hatte zum Teil, um die Kosten seiner Erziehung zu bestreiten, eine Stelle im Ausland angenommen. Aber die beiden armen Kinder konnten nicht eins ohne das andere leben; sie schrieben sich jeden Tag; und die geringste Verzögerung in der Ankunft des erwarteten Briefes stürzte jedes von ihnen in krankhafte Besorgnis. Antoinette ängstigte sich unaufhörlich um ihren Bruder: das Kind konnte sich nicht immer überwinden, ihr zu verheimlichen, wie bitter es die Einsamkeit empfand; und jede Klage hallte in Antoinettes Herzen jammervoll wider; der Gedanke, daß er leide, marterte sie; oft bildete sie sich ein, daß er krank sei und es ihr nur nicht sagen wolle. Die gute Frau Reinhart hatte sie manches Mal ihrer grundlosen Ängste wegen freundschaftlich schelten müssen; und es gelang ihr, wenigstens für den Augenblick, ihr wieder Mut einzuflößen. – Über Antoinettes Familie, ihre Lage, über den Grund ihrer Seele hatte sie nichts in Erfahrung bringen können. Bei der ersten Frage schon zog sich das junge Mädchen mit ängstlicher Scheu in sich selbst zurück. Das wenige, was sie sprach, zeigte, daß sie gebildet und klug war, und schien frühe, ernste Lebenserfahrungen zu verraten. Sie machte den Eindruck, naiv und gleichzeitig vom Leben enttäuscht, fromm und ohne jede Illusion zu sein. Glücklich war sie hier in einer Familie ohne Takt und Güte nicht gewesen. Sie beklagte sich darüber nicht, doch sah man ihr an, wie sie litt. Warum sie fortgegangen war, wußte Frau Reinhart nicht genau. Man hatte behauptet, sie habe sich schlecht aufgeführt. Angelika glaubte das nicht; sie hätte ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, daß das widerliche Klatschereien waren, die dieser blöden, bösartigen Stadt ganz entsprachen. Aber irgend etwas war jedenfalls vorgefallen: was, ist ja ziemlich gleichgültig, nicht wahr?

»Ja,« sagte Christof und senkte den Kopf.

»Kurzum, sie ist fort.«

»Und was hat sie Ihnen bei der Abreise gesagt?«

»Ach,« meinte Lili Reinhart, »ich hatte rechtes Pech. Ich war gerade auf zwei Tage nach Köln gereist! Bei der Rückkehr … Zu spät!« unterbrach sie sich, um dem Dienstmädchen einen Verweis zu erteilen, welche die Zitrone zu spät für den Tee brachte.

Und sie fuhr pedantisch und mit der Feierlichkeit, die wahren deutschen Seelen so natürlich ist, und die sie selbst für die gewöhnlichen Obliegenheiten des täglichen Lebens bereit haben, fort:

»Zu spät, wie so oft im Leben!«

Man wußte nicht, ob es sich um die Zitrone oder um die unterbrochene Geschichte handele.

Letztere nahm sie wieder auf:

»Bei der Rückkehr fand ich einen kurzen Brief von ihr vor, in dem sie mir für alles, was ich getan hatte, dankte und mir sagte, daß sie fortreise: sie wolle nach Paris zurückkehren. Eine Adresse hinterließ sie nicht.«

»Und sie hat nie wieder geschrieben?«

»Nichts mehr.«

Christof sah von neuem das schwermütige Gesicht in Nacht verschwinden, dessen Augen eine Sekunde lang wieder so vor ihm aufgetaucht waren, wie er sie das letzte Mal geschaut hatte, als sie ihn durch das Eisenbahnfenster hindurch anblickten.

 

Das Rätsel Frankreichs richtete sich von neuem und mit größerer Eindringlichkeit vor ihm auf. Christof wurde es nicht müde, Frau Reinhart über das Land, das sie ja zu kennen behauptete, auszufragen. Und Frau Reinhart hielt mit ihren Aufklärungen nicht zurück, war sie selbst auch niemals dort gewesen. Reinhart war ein ausgezeichneter Patriot und voller Vorurteile gegen Frankreich, das er nicht besser als seine Frau kannte; er wagte manchmal, wenn ihre Begeisterung allzu lebhaft wurde, einige Einschränkungen; aber sie vertrat daraufhin nur mit verdoppelter Energie ihre Behauptungen, und Christof stimmte ohne etwas zu wissen und vertrauensvoll mit ein.

Mehr noch als ihre Erinnerungen bedeuteten ihm Lili Reinharts Bücher. Sie hatte sich eine kleine Bibliothek von französischen Bänden geschaffen: Schulbücher, ein paar Romane, einige zufällig zusammengekaufte Theaterstücke. Reinhart suchte sie ihm heraus und stellte sie ihm verbindlich zur Verfügung, und Christof, der voller Lernbegier war und nichts von Frankreich kannte, schien das ein wahrer Schatz.

Er nahm für den Anfang ein paar Bände ausgewählter Lesestücke, alte Schulbücher, die Lili Reinhart oder ihr Mann als Kinder beim Unterricht gebraucht hatten. Reinhart hatte ihm versichert, damit müsse er anfangen, wenn er lernen wolle, sich inmitten dieser ihm völlig unbekannten Literatur zurecht zu finden. Christof hatte vor denen, die mehr wußten als er, großen Respekt und gehorchte aufs Wort; und noch am selben Abend machte er sich ans Lesen. Zunächst versuchte er seine Reichtümer im großen und ganzen ein wenig zu überblicken.

So machte er die Bekanntschaft folgender französischer Schriftsteller: Theodore-Henri Barrau, François Pétis de la Croix, Frédéric Baudry, Emile Delérot, Charles-Auguste-Désiré Filon, Samuel Descombaz und Prosper Baur. Er las Gedichte vom Abbé Joseph Reyre, von Pierre Lachambaudie, vom Herzog von Nivernois, von André van Hasselt, von Andrieux, von Madame Colet, von Constance-Marie Prinzessin von Salm-Dyk, von Henriette Hollard, von Gabriel-Jean-Baptiste-Ernest-Wilfrid Legouvé, von Hippolyte Violeau, von Jean Reboul, von Jean Racine, von Jean de Béranger, von Frédéric Béchard, von Gustave Nadaud, Edouard Plouvier, Eugène Manuel, von Hugo, Millevoye, Chênedollé, von James Lacour Delâtre, Felix Chavannes, von Francis-Edouard-Joachim genannt François Coppée, und von Louis Belmontet. Christof fühlte sich in dieser poetischen Sintflut völlig verloren; er ging zur Prosa über. Da fand er Gustave de Molinari, Fléchier, Ferdinand-Edouard Buisson, Mérimée, Malte-Brun, Voltaire, Lamé-Fleury, Dumas père, J.-J. Rousseau, Mézières, Mirabeau, de Mazade, Claretie, Cortambert, Friedrich II., und Monsieur de Voguë. Der am häufigsten zitierte französische Historiker war Maximilien Samson-Frédéric Schoell. Christof fand in dieser französischen Anthologie die deutsche Kaiserproklamation; und er las ein Porträt der Deutschen von Frédéric-Constant de Rougemont, aus dem er erfuhr, der Deutsche sei dazu geboren, um im Reich der Seele zu leben. »Den lauten und leichtsinnigen Frohsinn des Franzosen kennt er nicht. Er hat sehr viel Seele; in seiner Zuneigung ist er weichherzig und tief. Unermüdlich ist er in seinen Arbeiten und in den einmal begonnenen ausdauernd. Es gibt kein anderes Volk, das so sittenstreng und bei dem die Lebensdauer so lang ist. Deutschland besitzt eine außergewöhnlich große Zahl von Schriftstellern. Für Kunst ist es besonders begabt. Während die Bewohner anderer Länder ihren Stolz darein setzen, Franzosen, Engländer, Spanier zu sein, umschließt der Deutsche die ganze Menschheit mit unparteiischer Liebe. Kurzum, die deutsche Nation ist schon allein durch ihre Stellung im Zentrum Europas gleichzeitig Herz und Vernunft der Menschheit.«

Christof schloß das Buch, gelangweilt und erstaunt, und dachte: »Die Franzosen sind gute Kerle; aber sie sind nicht bedeutend.« Er nahm einen andern Band vor. Der stand auf einem höheren Niveau; er war für Hochschulen berechnet. Musset war in ihm mit drei Seiten vertreten und Victor Duruy mit dreißig. Lamartine hatte sieben und Thiers beinahe vierzig Seiten. Den Cid gab man ganz und gar wieder – wenigstens beinahe ganz: – (man hatte nur die Monologe von Don Diego und Rodrigo ausgelassen, weil sie Längen abgaben.) – Lanfrey pries Preußen gegenüber Napoleon I.: ihm war denn auch der Platz nicht knapp bemessen worden; er allein nahm mehr ein, als alle großen Klassiker des achtzehnten Jahrhunderts zusammen. Umfangreiche Berichte der französischen Niederlagen von 1870 hatte man aus dem Débacle von Zola geschöpft. Aber man fand weder Montaigne, noch La Rochefoucauld, weder La Bruyère, noch Diderot, weder Balzac, noch Flaubert. Dafür trat Pascal, der in dem andern Buch fehlte, hier als Merkwürdigkeit auf; und Christof erfuhr nebenbei, daß dieser religiöse Schwärmer »zu den Vätern von Port-Royal, einem Institut für junge Mädchen in der Nähe von Paris, gehörte …« Christof war im Begriff, alles zum Teufel zu schicken: ihn schwindelte, und er sah nichts mehr. Er sagte sich: Niemals werde ich mich da zurecht finden. Es war ihm unmöglich, sich ein Urteil zu bilden. Seit Stunden blätterte er, dem Zufall nach, darauf los und wußte nicht, wohin er geriet. Das Lesen des Französischen wurde ihm nicht leicht und wenn er nach vieler Mühe eine Seite verstand, war es fast stets nichtssagendes, hochtrabendes Gerede.

Manchmal jedoch zuckten aus dem Chaos doch Lichtstrahlen auf, Degenhiebe, schneidende, durchschlagende Worte, heroisches Gelächter. Nach und nach löste sich aus dieser ersten Lektüre, vielleicht durch die tendenziöse Art der Sammlung, ein Eindruck. Die deutschen Verleger hatten mit oder ohne Absicht vor allem solche französischen Stücke ausgewählt, in denen Franzosen selber sich zu Zeugen französischer Fehler und deutscher Überlegenheit machten. Sie ahnten aber nicht, daß sie damit in den Augen eines unabhängigen Menschen wie Christof etwas anderes ins beste Licht setzten: nämlich die erstaunliche Freiheitlichkeit dieser Franzosen, die bei sich alles kritisierten und ihre Gegner lobten. Michelet feierte Friedrich II., Lanfrey die Engländer bei Trafalgar, Charras das Preußen von 1813. Kein Feind Napoleons hätte härter von ihm zu sprechen gewagt. Die höchsten Dinge waren vor ihrem Tadelgeist nicht sicher. Bis zum großen König hinauf hatten die Perückendichter ihr freies Wort. Molière schonte nichts. La Fontaine verspottete alles. Boileau selber brandmarkte den Adel. Voltaire beschimpfte den Krieg, geißelte die Religion, machte das Vaterland lächerlich. Moralisten, Satiriker, Pamphletisten und komische Dichter wetteiferten in fröhlicher oder düsterer Kühnheit miteinander. Die braven deutschen Verleger machte das manchmal ganz bestürzt; sie fühlten das Bedürfnis, ihr Gewissen zu beruhigen, und sie entschuldigten Pascal, der die Köche, die Lastträger, die Soldaten und die Troßbuben in denselben Topf warf; in einer Fußnote beteuerten sie, daß Pascal sicher so nicht gesprochen hätte, wenn er die herrlichen modernen Armeen gekannt hätte. Sie versäumten auch nicht daran zu erinnern, mit welchem Glück Lessing die Fabeln La Fontaines verbessert habe, wie er zum Beispiel, dem Rat des Genfers Rousseau gemäß, den Käse des Meisters Rabe in ein Stück vergiftetes Fleisch verwandelt habe, an dem der böse Fuchs stirbt: »Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte Schmeichler!«

Sie zwinkerten vor der nackten Wahrheit mit den Augen; Christof aber freute sich: er liebte das Licht. Hie und da bekam zwar auch er einen kleinen Stoß; er war an solche zügellose Ungebundenheit nicht gewöhnt, die in den Augen des freiesten Deutschen, der trotz allem in Ordnung und Disziplin aufwächst, wie Anarchie wirkt. Übrigens wurde er durch die französische Ironie irregeleitet: manches faßte er zu ernst auf; anderes, was unerbittliche Verneinung war, hielt er für scherzhafte Paradoxe. Einerlei! Durch Staunen oder Entsetzen wurde er doch nach und nach angezogen. Er hatte darauf verzichtet, seine Eindrücke zu ordnen; aus einem Gefühl geriet er ins andere: er lebte. Die Heiterkeit französischen Erzählens: – Chamfort, Ségur, der ältere Dumas, Mérimée, alle drunter und drüber zusammengepfercht – weitete ihm das Herz; und von Zeit zu Zeit, gleich Windstößen, stieg aus irgendeiner Buchseite der berauschende wilde Geruch der Revolutionen empor.

Es war beinahe Morgen, als Luise, die im Zimmer nebenan schlief, beim Erwachen das Licht durch Christofs Türritzen schimmern sah. Sie klopfte an die Wand und fragte, ob er krank sei. Ein Stuhl knirschte auf der Diele; die Tür öffnete sich und Christof erschien, bleich, im Hemd, eine Kerze und ein Buch in der Hand, und vollführte sonderbar feierliche und komische Gebärden. Luise richtete sich erschrocken in ihrem Bett auf und dachte, daß er verrückt geworden sei. Er begann zu lachen, deklamierte eine Szene aus Molière und fuchtelte dazu mit seiner Kerze umher. Mitten in einem Satz platzte er laut heraus; um Atem zu schöpfen, setzte er sich auf den Bettrand seiner Mutter; das Licht in seiner Hand zitterte. Luise war beruhigt und schalt ihn freundlich:

Was ist denn los! Was ist denn los? Willst du dich wohl hinlegen! … Wirst du denn ganz und gar verrückt?«

Aber er trieb es nur um so bunter:

»Du mußt das hören!«

Er machte sich's auf ihrem Bett bequem und begann, ihr das Stück von Anfang an vorzulesen. Er meinte Corinne zu sehen; er hörte ihren nachdrücklichen, klangvollen und durchdringenden Tonfall. Luise wehrte sich:

»Mach, daß du fortkommst! mach, daß du fortkommst! Du wirst dich erkälten. Du langweilst mich, laß mich schlafen!«

Unerbittlich las er weiter. Er ließ seine Stimme anschwellen, bewegte die Arme und erstickte vor Lachen; dann fragte er seine Mutter, ob das nicht wunderbar wäre. Luise hatte ihm den Rücken gedreht und sich in ihre Decken verkrochen; sie hielt sich die Ohren zu und sagte:

»Laß mich zufrieden! …«

Aber weil sie ihn lachen hörte, mußte auch sie leise lachen. Schließlich hörte sie auf dagegen anzusprechen. Und als Christof einen Akt beendet hatte und sie vergeblich zur Begeisterung an seiner Lektüre anrief, neigte er sich über sie und sah, daß sie schlief. Da lächelte er, küßte sanft ihr Haar und ging geräuschlos in sein Zimmer hinüber.

 

Er stöberte weiter in der Bibliothek der Reinharts herum. Alle Bücher nahm er vor, eins nach dem andern, wie sie gerade kamen. Christof verschlang alles. Sein Wunsch war so bloß, das Land Corinnes und der Unbekannten zu lieben, er hatte so viel Begeisterung in Bereitschaft, daß er alles brauchen konnte. Selbst in den Werken zweiten Ranges war irgendeine Seite, irgendein Wort, das wie ein frischer Luftzug auf ihn wirkte. Das übertrieb er noch vor sich selbst, besonders wenn er mit Frau Reinhart davon sprach, die ihn dann ihrerseits noch weiter überbot. Wenn sie auch unwissend wie ein Karpfen war, so machte es ihr doch oft Spaß, die französische Kultur der deutschen gegenüberzustellen; um ihren Mann ein wenig zu ärgern und um sich für die Unannehmlichkeiten, die sie in der kleinen Stadt zu erdulden hatte, zu rächen, machte sie die deutsche zugunsten der französischen schlecht. Reinhart war empört. Außerhalb seines Faches war er bei den Schulkenntnissen stehen geblieben. Für ihn waren die Franzosen geschickte Leute, die praktische Intelligenz besaßen, liebenswürdig zu plaudern verstanden, aber leichtfertig, reizbar, eitel waren, unfähig jedes ernsten starken Empfindens, jeder Lauterkeit – ein Volk ohne Musik, ohne Philosophie, ohne Poesie, (ausgenommen Boileaus » Art poétique«, Béranger und François Coppée), – ein Volk des Pathos, der großen Gebärde, der übertriebenen Worte und der Pornographie. Kein Wort war ihm stark genug, um die lateinische Unsittlichkeit zu brandmarken; und, da ihm nichts Besseres einfiel, sprach er immer wieder von ihrer Frivolität, was für ihn wie für die meisten seiner Landsleute etwas ganz besonders Häßliches bedeutete. Und zum Schluß kam das gewohnte Loblied zu Ehren des edlen deutschen Volkes – des sittlichen Volkes (dadurch, sagt Herder, unterscheidet es sich von allen andern Völkern) – des treuen Volkes – des Volkes im wahrsten Sinn des Wortes, wie Fichte sagt; und die deutsche Kraft wurde gepriesen, Symbol aller Gerechtigkeit und aller Wahrheit – das deutsche Denken, das deutsche Gemüt, die deutsche Sprache, diese einzig originale Sprache, ebenso einzig rein wie die Rasse selbst, die deutschen Frauen, der deutsche Wein, der deutsche Sang … »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!«

Christof erhob Einspruch. Frau Reinhart lachte schallend. Sie schrien alle drei sehr laut gegeneinander an und verstanden sich nichtsdestoweniger ausgezeichnet: denn sie wußten alle drei sehr wohl, daß sie gute Deutsche waren.

Christof kam oft zum Plaudern, Essen oder Spazierengehen zu seinen neuen Freunden. Lili Reinhart verwöhnte ihn und bereitete ihm köstliche Mahlzeiten: sie war äußerst froh, auf diese Weise ihre eigene Leckerei zu befriedigen. Sie erfand alle möglichen gefühlvollen und kochkünstlerischen Aufmerksamkeiten für ihn. Zu Christofs Geburtstag hatte sie eine Torte gebacken, auf die zwanzig Kerzen gepflanzt waren; in ihrer Mitte eine kleine griechisch gekleidete Zuckerfigur, die, mit einem Strauß in der Hand, so kühn war, Iphigenie darstellen zu wollen. Christof, der trotz allem im tiefsten Herzen Deutscher war, rührten diese ein wenig geräuschvollen und nicht allzu feinsinnigen Beweise aufrichtiger Herzlichkeit sehr.

Aber die prächtigen Reinharts fanden noch andere, zartere Aufmerksamkeiten, um ihre Freundschaft zu betätigen. Auf Antrieb seiner Frau hatte Reinhart, obgleich er nur mit Mühe Noten entziffern konnte, einige zwanzig Exemplare von Christofs Liedern gekauft (die ersten, die der Verleger absetzte); er hatte sie nach verschiedenen Seiten in Deutschland unter seine Universitätsbekannten verteilt, auch an Leipziger und Berliner Buchhändler, mit denen er durch seine Schulbücher in Verbindung stand, hatte er eine Anzahl schicken lassen. Dieser rührende, ungeschickte Versuch trug übrigens keinerlei Früchte, wenigstens für den Augenblick nicht. Die nach links und rechts versandten Lieder schienen kein rechtes Feuer zu entzünden: niemand redete von ihnen. Die Reinharts waren über diese Gleichgültigkeit tief betrübt und beglückwünschten sich, daß sie ihren Schritt vor Christof geheimgehalten hatten; denn er hätte ja mehr Schmerz als Trost davon gehabt. – In Wirklichkeit jedoch verliert sich nichts, wie man so vielfach zu beobachten im Leben Gelegenheit hat; keine Anstrengung ist vergeblich. Jahre hindurch erfährt man nichts davon; eines Tages merkt man dann, daß der Gedanke doch seinen Weg gefunden hat. Wer weiß, ob Christofs Lieder nicht in den Herzen einiger braver Menschen weiterlebten, die, in ihrer Provinz vergraben, zu schüchtern oder zu nachlässig waren, um es ihn fühlen zu lassen?

Ein einziger schrieb ihm. Zwei oder drei Monate nach Reinharts Sendung kam ein gerührter, zeremonieller, begeisterter Brief an Christof; er war in altmodischem Stil gehalten, kam aus einer kleinen thüringischen Stadt und war: Universitäts-Musikdirektor Professor Dr. Peter Schulz unterzeichnet.

Das war für Christof eine große Freude; eine noch größere für die Reinharts, als er gerade bei ihnen den Brief, den er seit zwei Tagen in seiner Tasche vergessen hatte, öffnete. Reinhart tauschte mit seiner Frau verständnisvolle Blicke aus, die Christof nicht bemerkte. Er schien strahlend; plötzlich aber sah Reinhart, wie sich sein Gesicht verdüsterte; mitten im Lesen brach er ab.

»Nun, warum liest du nicht weiter?« fragte Reinhart.

(Sie duzten sich bereits.)

Christof warf den Brief voller Zorn auf den Tisch.

»Nein, das ist zu stark!« rief er.

»Was denn?«

»Lies!«

Er drehte dem Tisch den Rücken zu und setzte sich in einen Schmollwinkel.

Reinhart und seine Frau lasen, fanden aber nichts als Ausdrücke hingebendster Bewunderung.

»Ich sehe nichts,« sagte er erstaunt.

»Du siehst nichts? Du siehst nichts? …« schrie Christof, indem er den Brief nahm und ihm denselben unter die Augen hielt. »Kannst du denn nicht lesen? Siehst du nicht, daß auch er ein ›Brahmine‹ ist?«

Erst jetzt bemerkte Reinhart, daß der Universitätsmusikdirektor in einer Zeile seines Briefes Christofs Lieder mit denen von Brahms verglichen hatte.

Christof jammerte:

»Ein schöner Freund! Endlich finde ich einen Freund! … Und kaum gewonnen, habe ich ihn auch schon verloren! …«

Er war außer sich vor Zorn über den Vergleich. Hätte man ihn gewähren lassen, so würde er umgehend in einem Brief voller Grobheiten geantwortet haben. Oder bei einigem Nachdenken hätte er vielleicht gar nichts geantwortet und wäre sich dann sehr vernünftig und edelmütig vorgekommen. Glücklicherweise hielten ihn die Reinharts, wenn ihnen seine schlechte Laune auch Spaß machte, davon ab, eine neue Tollheit zu begehen. Sie brachten ihn sogar dazu, ein Wort des Dankes zu schreiben. Aber dieses mit Murren geschriebene Wort wurde kalt und gezwungen. Die Begeisterung von Peter Schulz erschütterte das nicht: er sandte noch zwei oder drei Briefe, die von Herzlichkeit überströmten. Christof war kein guter Briefschreiber; und obzwar ein wenig ausgesöhnt mit dem unbekannten Freund durch den Ton von Aufrichtigkeit und wahrer Zuneigung, den er aus allen seinen Zeilen vernahm, ließ er die Korrespondenz doch fallen. Schulz schwieg endlich. Christof dachte nicht mehr an ihn.

 

Die Reinharts sah er jetzt jeden Tag und oft mehrmals am Tage. Sie verbrachten fast alle ihre Abende miteinander. Nach einem einsamen, in sich selbst vertieften Tag hatte er ein physisches Bedürfnis zu reden, alles, was ihm durch den Kopf ging, auszusprechen, selbst wenn man ihn nicht verstand; hatte ein Bedürfnis mit oder ohne Grund zu lachen, sich auszugeben, sich auszuspannen.

Er machte ihnen Musik. Da er kein anderes Mittel hatte, ihnen seine Dankbarkeit zu bezeigen, setzte er sich ans Klavier und spielte ihnen stundenlang etwas vor. Frau Reinhart war gar nicht musikalisch und unterdrückte nur mit Mühe das Gähnen; aber sie mochte Christof gern und tat, als interessiere sie sich für das, was er spielte. Reinhart war nicht viel musikalischer als seine Frau, wurde aber rein stofflich, von gewissen Musikstücken, gewissen Seiten, gewissen Takten berührt; dann aber wurde er gewaltsam und bis zu Tränen davon aufgewühlt, was ihm idiotisch vorkam. Die übrige Zeit war es ihm nichts: bloßes Geräusch. Als allgemeine Regel konnte übrigens gelten: er wurde stets nur vom wenigst Wertvollen in einem Werk gerührt, – von durch und durch nichtssagenden Stellen. Alle beide redeten sich ein, Christof zu verstehen; und Christof wollte es sich auch einreden. Von Zeit zu Zeit überfiel ihn wohl die boshafte Lust, seinen Scherz mit ihnen zu treiben: er stellte ihnen Fallen, und spielte ihnen irgendetwas, das keinerlei Sinn hatte, vor: irgendwelche alberne Potpourris; und er ließ sie glauben, daß es von ihm sei. Wenn sie recht bewundert hatten, sagte er ihnen, was damit war. Daraufhin wurden sie mißtrauisch; und wenn Christof seitdem beim Spielen eines Stückes geheimnisvoll tat, bildeten sie sich ein, er wollte sie wieder anführen, und sie kritisierten es. Christof ließ sie reden, stimmte ihnen bei, gab zu, daß diese Musik nichts tauge, und lachte dann plötzlich laut los:

»Vermaledeite Spitzbuben! Wie recht ihr habt! … Das ist nämlich von mir!«

Er freute sich wie ein König, sie irregeführt zu haben. Frau Reinhart ärgerte sich ein wenig und gab ihm einen kleinen Klaps; aber er lachte so herzlich, daß sie mitlachen mußten. Sie erhoben keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit und da sie nicht mehr wußten, auf welchem Bein sie tanzen sollten, hatte Lili Reinhart die Rolle übernommen, alles zu kritisieren, und ihr Mann, alles zu loben; so waren sie ganz sicher, daß einer von beiden stets Christofs Ansicht sein würde.

Übrigens war es weniger der Musiker, der sie in Christof anzog, als der etwas verrückte, sehr anhängliche und sehr lebendige gute Junge. Das Böse, was sie von ihm hatten sagen hören, stimmte sie eher zu seinen Gunsten; wie er wurden sie durch die Kleinstadtluft bedrückt; wie er waren sie gerade Menschen, hatten ihr eigenes Urteil, und sie behandelten ihn als ein großes Kind, das sich im Leben nicht sehr geschickt zeigte und das ein Opfer seines Freimuts war.

Christof machte sich über seine Freunde nicht viele Illusionen; es stimmte ihn ein wenig melancholisch, sich sagen zu müssen, daß sie das Tiefste seines Wesens nicht verstünden, daß sie es niemals verstehen würden; aber er war so aller Freundschaft entwöhnt, und er hatte so großes Bedürfnis darnach, daß ihn unendliche Dankbarkeit gegen sie erfüllte, weil sie so gut waren, ihn ein wenig zu lieben; die Erfahrung des letzten Jahres hatte ihn belehrt: er erkannte sich nicht mehr das Recht zu, den Wählerischen zu spielen. Zwei Jahre früher wäre er nicht so duldsam gewesen: er dachte mit ein wenig belustigter Reue an seine Strenge gegenüber den braven und langweiligen Eulers. Ach! wie vernünftig war er geworden! Er seufzte darüber ein wenig. Aber eine heimliche Stimme flüsterte ihm zu:

»Ja, aber auf wie lange Zeit?«

Das ließ ihn lächeln und tröstete ihn ein wenig.

Was hätte er nicht für einen Freund gegeben, einen einzigen, der ihn verstand und teil an seiner Seele hatte! – Aber trotz seiner frühen Jugend hatte er doch schon genug Welterfahrung, um zu wissen, daß sein Wunsch einer von denen war, die das Leben am schwersten erfüllt, und daß er keinen Anspruch habe, glücklicher zu sein als die meisten wahren Künstler, die vor ihm gelebt hatten. Die Geschichte einiger von ihnen hatte er ein wenig kennen gelernt. Durch ein paar Bücher, die er aus der Bibliothek der Reinharts geliehen hatte, erfuhr er von den furchtbaren Prüfungen, die den deutschen Musikern des siebzehnten Jahrhunderts auferlegt waren; von dem ruhigen Gleichmut dieser großen Seelen hatte der Größte unter ihnen, der heroische Schütz, gezeugt: das Vaterland war von allen europäischen Soldatenbanden überschwemmt; mit Füßen getreten, vom Unglück gebrochen, ermattet, entwürdigt, versuchte es keine Auflehnung und ersehnte nichts als Ruhe. Er aber inmitten der Krieger, der eingeäscherten Städte, der von der Pest verwüsteten Provinzen, hatte unerschüttert seinen Weg fortgesetzt. Christof dachte: Wer hätte neben solchem Beispiel das Recht, sich zu beklagen? Sie hatten keinerlei Publikum, keinerlei Zukunft; sie schrieben für sich selbst und für Gott. Was sie heute schrieben, vernichtete vielleicht der kommende Tag. Und dennoch schrieben sie weiter und waren nicht trübselig: sie verloren durch nichts ihre unerschrockene fröhliche Einfalt; sie ließen sich's an ihrem Sang genug sein, verlangten vom Leben nur das Leben, wollten grade nur ihr Brot verdienen, sich ihrer Gedanken entladen und zwei oder drei gute Leute finden, die schlicht, wahrhaftig, meinetwegen unkünstlerisch waren, die sie sicherlich nicht verstanden, aber die Vertrauen in sie setzten und denen sie vertrauten. – Wie hätte er wagen dürfen, anspruchsvoller als sie zu sein? Es gibt ein Geringstes an Glück, das man verlangen kann. Niemand aber hat das Recht auf mehr: Überfluß an Glück muß jeder sich selbst schenken: das ist nicht Sache der andern.

Diese Gedanken stimmten ihn von neuem froh; und durch sie liebte er seine braven Freunde Reinhart noch mehr. Er dachte nicht, daß man ihm auch diese letzte Zuneigung abspenstig machen würde.

 

Er rechnete nicht mit der Bosheit kleiner Städte. Ihr Groll ist hartnäckig, – um so hartnäckiger, je zielloser er ist. Ein rechter Haß, der weiß, was er will, beschwichtigt sich, wenn er sich ausgetobt hat. Aber die aus Langeweile Böses tun, legen nie die Waffen nieder; denn sie langweilen sich immer. Christof war ihrem Müßiggang eine gegebene Beute. Allerdings war er geschlagen; aber er hatte die Kühnheit, dadurch gar nicht niedergedrückt zu erscheinen. Er störte niemanden mehr, aber kümmerte sich auch um niemanden. Er verlangte nichts: folglich konnte man ihm nichts anhaben. Mit seinen neuen Freunden war er glücklich, und allem gegenüber, was man von ihm sagen oder denken konnte, gleichgültig. Das konnte man sich nicht gefallen lassen. – Frau Reinhart reizte noch mehr. Die Freundschaft, die sie der ganzen Stadt zum Trotz für Christof zur Schau trug, schien, wie ihr Benehmen, eine Herausforderung der öffentlichen Meinung. In Wahrheit forderte die gute Lili Reinhart niemanden heraus, sie dachte nicht daran, die andern mit Absicht zu reizen; sie tat, was ihr gut schien, und fragte nicht nach der Meinung der Mitmenschen. Das aber war die schlimmste Herausforderung.

Man belauerte ihre Bewegungen. Sie nahmen sich nicht genug in acht. Wenn sie zusammen ausgingen, oder wenn sie selbst zu Hause des Abends auf die Balkonbrüstung gelehnt plauderten und lachten, ließen des einen Übermut, der andern Unbesonnenheit es an Vorsicht fehlen. Sie ließen sich in der Vertraulichkeit ihrer Worte und ihres Benehmens unschuldig gehen, wodurch die Klatscherei leicht ihre Nahrung fand.

Eines Morgens bekam Christof einen anonymen Brief. Man beschuldigte ihn in gemein beleidigenden Ausdrücken, der Geliebte Frau Reinharts zu sein. Er war außer sich vor Erstaunen. Niemals hatte er ihr gegenüber den leisesten Gedanken an Liebe oder an Flirt gehabt: selbst für eine Liebelei war er zu anständig und vor dem Ehebruch hatte er einen puritanischen Abscheu: der Gedanke allein an diese unsaubere Teilung verursachte ihm körperlichen und seelischen Widerwillen. Die Frau eines Freundes zu besitzen, wäre ihm als Verbrechen erschienen; und Lili Reinhart wäre die letzte auf der Welt gewesen, die ihn dazu in Versuchung geführt hätte: die arme Frau war nichts weniger als schön, und er hätte also nicht einmal die Entschuldigung einer Leidenschaft aufbringen können.

Als er wieder zu seinen Freunden kam, war er voll Scham und befangen. Er fand bei ihnen dieselbe Verlegenheit. Jeder von ihnen hatte einen ähnlichen Brief bekommen; aber sie wagten nicht, es einander zu sagen; alle drei beobachteten sich untereinander, beobachteten sich selbst, wagten nicht mehr, sich zu rühren, zu sprechen und machten nichts als Torheiten. Wenn Lili Reinharts Natur einen Augenblick die Oberhand gewann und sie wieder zu lachen und Tollheiten zu schwatzen anfing, traf sie plötzlich ein forschender Blick ihres Mannes oder Christofs; der Brief kam ihr wieder in den Sinn, mitten in einer vertraulichen Gebärde hielt sie inne und wurde befangen; Christof und Reinhart wurden es ebenfalls. Und jeder dachte:

»Wissen die andern etwa davon?«

Sie sprachen sich jedoch nicht aus und versuchten wie vorher zu leben.

Doch es folgten weitere anonyme Briefe, und sie wurden immer unverschämter, schmutziger; ein Zustand beständiger Nervosität und unerträglicher Scham bemächtigte sich ihrer. Wenn die Briefe ankamen, fanden sie nicht die Kraft, sie ungelesen zu verbrennen; sie versteckten sich mit ihnen und öffneten sie mit zitternder Hand; das Herz stockte ihnen beim Entfalten der Seiten, und wenn sie, was sie zu lesen fürchteten, mit irgendeiner neuen Variation über dasselbe Thema lasen, – ausgeklügelte, gemeine Erfindungen eines Menschen, der das Böse wollte, – so weinten sie ganz leise. Bis zur Erschöpfung zerbrachen sie sich darüber den Kopf, wer der Elende sein könne, der sie so hartnäckig verfolgte.

Eines Tages gestand Frau Reinhart, die am Ende ihrer Kräfte war, ihrem Mann, wie man sie peinigte; und er beichtete ihr darauf mit tränenden Augen, daß er dasselbe erdulde. Sollte man zu Christof darüber sprechen? Sie wagten es nicht. Und doch mußte man ihn warnen, damit er auf der Hut sei.

Schon bei den ersten Worten, die Frau Reinhart zu ihm sagte, merkte sie verblüfft, daß auch Christof Briefe empfing. Diese Unersättlichkeit der Bosheit brachte sie außer sich. Frau Reinhart zweifelte nicht mehr, daß die ganze Stadt im Komplott sei. Anstatt sich gegenseitig aufzurichten, machten sie einander vollends mutlos. Sie wußten nicht, was tun. Christof redete davon, jemand den Schädel einzuschlagen.

Aber wem? Und dann wäre das ja gerade etwas für den Klatsch gewesen! … Sollte man die Polizei von den Briefen unterrichten? Das hieße, das leise Geflüster der Öffentlichkeit preisgeben … Konnte man tun, als ob man sich nicht darum kümmere? Das war nicht mehr möglich. Ihre freundschaftlichen Beziehungen waren jetzt gestört. Reinhart konnte ein noch so unbedingtes Vertrauen zu Christofs und seiner Frau Ehrenhaftigkeit haben: wider Willen verdächtigte er sie. Er fühlte, wie unsinnig und schändlich seine Gedanken waren; er zwang sich, nicht darauf zu achten und Christof mit seiner Frau allein zu lassen, aber er litt darunter, und seine Frau sah das wohl.

Für sie war es noch schlimmer. Niemals hatte sie daran gedacht, mit Christof zu flirten, ebensowenig wie Christof mit ihr. Die Klatschereien gaben ihr jetzt die lächerliche Idee ein, daß Christof vielleicht doch in sie verliebt sei; und wenn sie auch meilenweit davon entfernt war, Christof davon etwas merken zu lassen, so hielt sie es doch für gut, sich dagegen zu verwahren; wenn auch nicht durch deutliche Winke, so doch immerhin durch ungeschickte Vorsichtsmaßregeln, die Christof zuerst nicht verstand und die ihn, als er sie begriff, außer sich brachten. Es war zum Lachen und Weinen dumm! Er sollte in diese brave, kleine Bürgersfrau verliebt sein, die, wenn auch gut, doch häßlich und gewöhnlich war! … Und daß sie es glaubte! … Und daß er sich nicht dagegen verwahren konnte, ihr und ihrem Mann nicht sagen:

»Aber Kinder! Beruhigt euch doch! Es hat keine Gefahr! …«

Doch nein, er konnte diese prächtigen Menschen nicht kränken. Und überdies wurde es ihm klar, daß sie sich nur dagegen wehren konnte, von ihm geliebt zu werden, wenn sie selbst heimlich anfing, ihn zu lieben: die anonymen Briefe hatten den schönen Erfolg gehabt, ihr diese dumme romantische Idee einzublasen.

Ihrer aller Lage war gleichzeitig so peinlich und albern geworden, daß es unmöglich so weiter gehen konnte. Schließlich verlor auch Lili Reinhart, die trotz ihrer Wortdraufgängerei durchaus kein starker Charakter war, den Kopf gegenüber der dumpfen Feindseligkeit der kleinen Stadt. So suchten sie verschämte Vorwände, um nicht mehr zusammenzukommen:

Frau Reinhart sei nicht wohl … Reinhart habe zu arbeiten. Sie verreisten auf ein paar Tage …

Ungeschickte Lügen, die der Zufall mit boshaftem Vergnügen enthüllte! Christof sprach freimütiger:

»Trennen wir uns, meine armen Freunde. Wir sind nicht die Stärkeren.«

Die Reinharts weinten. – Aber nachdem sie so miteinander gebrochen hatten, fühlten sie sich erleichtert.

Die Stadt konnte frohlocken. Diesmal war Christof ganz einsam. Sie hatte ihm bis zum letzten Hauch das geraubt, was jedes Herz wenigstens in geringem Maße zum Leben braucht: menschliche Zuneigung.

 

Er hatte niemand mehr. Alle seine Freunde waren zerstoben. Der liebe Gottfried, der ihm früher in schwierigen Stunden zu Hilfe gekommen war und dessen er in diesem Augenblick so sehr bedurfte, war vor Monaten fortgezogen, und diesmal für immer. Eines Abends im letzten Sommer war aus einem ferngelegenen Dorf ein von ungeschickter Hand geschriebener Brief angekommen; er teilte Luise mit, daß ihr Bruder auf einer seiner Herumstreifereien, die der kleine Handelsmann trotz seiner schlechten Gesundheit nun einmal nicht lassen konnte, gestorben war. Man hatte ihn da unten auf dem Kirchhof des Ortes begraben. Die letzte männlich ernste Freundschaft, die fähig gewesen wäre, Christof zu stützen, war in den Abgrund gesunken. Er blieb allein mit seiner alten Mutter, der sein Denken gleichgültig war, – die ihn nur lieben konnte, die ihn nicht verstand. Rings um ihn her die unendliche deutsche Ebene, der dunkle Ozean. Bei jeder Anstrengung, sich herauszuretten, sank er tiefer unter. Und die feindliche Stadt schaute seinem Ertrinken zu …

Wie er so kämpfte, erschien ihm wie ein Blitz inmitten seiner Nacht das Bild Haßlers, des großen Musikers, den er als Kind so sehr geliebt hatte, und dessen Ruhm jetzt über das ganze deutsche Land strahlte. Er dachte an Haßlers frühere Versprechungen, und mit verzweifelter Kraft klammerte er sich alsbald an diesen letzten Rettungsbalken.

Haßler konnte ihn erlösen!

Haßler mußte ihn erlösen!

Was verlangte er denn von ihm? Weder Unterstützung, noch Geld, noch irgendwelche materielle Hilfe. Nichts weiter, als daß er ihn verstehe. Haßler war wie er verfolgt worden. Haßler war ein freier Mensch; er würde einen freien Mann verstehen, den die deutsche Kleinlichkeit mit ihrem Groll verfolgte und zu erdrücken suchte. Sie kämpften denselben Kampf.

Sobald er diesen Gedanken gefaßt hatte, führte er ihn aus. Er sagte seiner Mutter, daß er acht Tage abwesend sein würde; und er nahm am selben Abend den Zug nach der norddeutschen Großstadt, in der Haßler Kapellmeister war. Er konnte nicht länger warten. Es war der letzte Versuch, aufzuatmen.

 

Haßler war berühmt. Seine Feinde waren nicht entwaffnet; aber seine Freunde schrien, daß er der größte Musiker der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sei. Er war von Anhängern und Verleumdern umringt, von denen die einen so geschmacklos wie die andern waren. Da er nicht von starkem Schlage war, hatten ihn die einen verbittert, die andern verzärtelt. Seine ganze Energie verwandte er darauf, das zu tun, was seinen Kritikern unangenehm war und sie zum Schreien veranlaßte; er war wie ein Gassenjunge, der Schabernack treibt. Seine Possen waren oft abscheulich geschmacklos: nicht nur, daß er sein erstaunliches Talent zu musikalischen Exzentrizitäten gebrauchte, über die sich die Oberpriester die Haare rauften, sondern er zeigte auch eine aufreizende Vorliebe für sonderbare Texte, für verschrobene Vorwürfe, oft auch für zweideutige und anstößige Situationen, kurz für alles, was das gesunde Gefühl und das allgemeine Schicklichkeitsempfinden verletzen konnte. Er war zufrieden, wenn der Philister aufheulte, und der Philister versäumte das nicht.

Haßler war wütend und entzückt zugleich über jede Gegnerschaft und schlug nur um so ungezogener die Fensterscheiben ein; und bei jeder neuen Dummheit schrien die Freunde dem Genie zu.

Haßlers Clique bestand hauptsächlich aus Literaten, Malern und dekadenten Kritikern, die allerdings das Verdienst hatten, die Partei des Widerspruchs gegen die in Norddeutschland ewig drohende Reaktion der Frömmelei und Staatsmoral zu bilden; aber ihre Freiheitlichkeit war im Kampfe außer Rand und Band geraten, grenzte ihnen selbst unbewußt ans Lächerliche; denn fehlte es vielen unter ihnen auch nicht an einem etwas unausgeglichenen Talent, so besaßen sie doch wenig Intelligenz und noch weniger Geschmack; sie konnten nicht mehr aus der erkünstelten Atmosphäre herauskommen, die sie sich zusammengebraut hatten; und wie alle literarischen Cliquen hatten sie schließlich völlig den Sinn für das wirkliche Leben verloren. Sie galten als Autorität für sich selbst und die paar hundert Einfaltspinsel, die ihre Zeitschriften lasen und alles, was sie zu diktieren beliebten, mit offenem Munde annahmen. Ihre Lobhudelei war Haßler verhängnisvoll geworden; denn sie machte ihn sich selbst gegenüber zu nachsichtig. Alle musikalischen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, nahm er ohne Prüfung auf; und er war zuinnerst überzeugt, daß, wenn er auch irgend etwas seiner selbst Unwürdiges schriebe, es den übrigen Musikern noch immer weit überlegen wäre. War dieser Gedanke auch in den meisten Fällen nur allzu richtig, so folgte noch nicht daraus, daß er sehr gesund wäre und geeignet, Meisterwerke hervorzubringen.

Haßler empfand für alle, Freunde wie Feinde, ein tiefe Verachtung; und diese bittere und spöttische Verachtung durchzog ihn und sein ganzes Leben; er vergrub sich um so mehr in seine ironische Skepsis, als er früher einmal an vieles Edle und Naive geglaubt hatte. Da er nicht die Kraft besessen hatte, das alles gegen die langsam zerstörende Macht der Zeit zu verteidigen, noch heuchlerisch genug war, um sich einzureden, er glaube an das, woran er nicht mehr glaubte, begann er eifernd dessen Andenken zu verhöhnen. Außerdem hatte er die tatschwache, weiche Natur des Süddeutschen, die wenig für ein Übermaß von Glück oder Unglück, von heiß oder kalt geschaffen ist, und die einer gemäßigten Temperatur bedarf, um ihr Gleichgewicht zu bewahren. Unmerklich ließ er sich in trägen Lebensgenuß hineingleiten: er liebte gute Küche, schwere Getränke, müßige Schlendereien und weichliche Gedanken. Davon wurde seine ganze Kunst geprägt, wenn er auch begabt genug war, um mitten aus seiner erschlafften Musik, die sich dem Geschmack der Mode hingab, manchmal noch geniale Funken aufsprühen zu lassen. Niemand fühlte besser als er selbst seinen Rückgang. Eigentlich war er der einzige, der ihn fühlte – und auch das nur in seltenen Augenblicken, die er natürlicherweise mied. Dann war er ein Menschenfeind, in trübe Stimmungen verstrickt, in egoistischen Vorurteilen befangen, von Gesundheitssorgen geplagt, – und allem gegenüber, was einstmals seine Begeisterung oder seinen Haß geschürt hatte, gleichgültig.

 

So war der Mann beschaffen, zu dem Christof kam, um Trost zu suchen. Mit welcher Hoffnung, welcher Freude traf er an einem kalten, regnerischen Morgen in der Stadt ein, wo derjenige lebte, dessen Kunst in seinen Augen den Geist der Unabhängigkeit atmete! Von ihm erwartete er das freundschaftliche und tapfere Wort, dessen er bedurfte, um die aussichtslose und notwendige Schlacht weiterzuführen, die jeder wahre Künstler bis zum letzten Atemzug, ohne einen einzigen Tag die Waffen zu strecken, der Welt liefern muß: denn, wie Schiller gesagt hat, »die einzige Beziehung zum Publikum, die man niemals bereut, ist der Krieg.«

Christof war so ungeduldig, daß er sich kaum Zeit nahm, seine Tasche in dem erstbesten, nahen Hotel unterzustellen, um dann nach dem Theater zu laufen, wo er sich nach der Adresse Haßlers erkundigte. Haßler wohnte ziemlich weit vom Zentrum in einer Vorstadt. Christof fuhr mit der elektrischen Bahn dorthin und verspeiste unterwegs mit tüchtigem Hunger ein Brötchen. Sein Herz schlug, je mehr er sich dem Ziele näherte.

Die Gegend, in der Haßler wohnte, war fast ganz in dem neuen sonderbaren Stil erbaut, in den das junge Deutschland sein gelehrtes und gewolltes Barbarentum ergießt und sich emsig bemüht, Genie zu entfalten. Mitten in der banalen Stadt mit ihren geraden charakterlosen Straßen erhoben sich plötzlich ägyptische Mausoleen, norwegische Bauernhäuser, Klöster, Basteien, internationale Ausstellungspavillons, dickbauchige, fußlose, in der Erde steckende Häuser mit ausdruckslosem Gesicht, einem einzigen, riesigen Auge mit Gefängnisgittern, mit Toren, die von Unterseebooten erdrückt wurden, mit Eisenbögen, goldenen Chiffern in den Sparren der vergitterten Fenster, speienden Ungeheuern über der Eingangstür, blauen Fayenceplatten, die hier und dort, stets da, wo man sie am wenigsten erwartete, eingelassen waren, mit buntscheckigen Mosaiken, die Adam und Eva darstellten, und mit grellen Ziegeldächern: burgartige Häuser, deren oberste Stockwerke wie durch Schießscharten ausgezackt waren, unförmliche Tiere auf dem Giebel trugen, an einer Seite kein Fenster hatten, dann wieder dicht nebeneinander gähnende Löcher zeigten, die einmal quadratisch, dann rechtwinkelig oder dreieckig waren und wie Wunden aussahen; große leere Mauerflächen, aus denen plötzlich ein schwerer Balkon mit einem einzigen Fenster hervorquoll, ein von Nibelungen-Karyatiden gestützter Balkon, und aus deren steinernen Brüstungen zwei bärtige, haarige Greisenköpfe herausragten, Böcklinsche Fischmänner. Über dem Giebel eines dieser Gefängnisse – eines pharaonischen Hauses mit einer einzigen niederen Etage und zwei nackten Kolossen am Eingang – hatte der Architekt geschrieben:

»Seine Welt zeige der Künstler,
die niemals war, noch jemals sein wird.«

Christof, der einzig von Gedanken an Haßler erfüllt war, sah das alles mit verdutzten Augen an und machte gar nicht den Versuch, zu verstehen. Er gelangte an das gesuchte Haus, das eins der einfachsten war – im karolingischen Stil erbaut. Im Innern ein protziger banaler Luxus; auf der Treppe schwere Luft von überhitzter Dampfheizung – ein kolossaler Aufzug, den Christof nicht benutzte, damit er mehr Zeit gewänne, sich für seinen Besuch vorzubereiten; so stieg er also mit kleinen Schritten, unsicheren Beinen und vor Erregung zitterndem Herzen die vier Treppen empor. Während dieses kurzen Weges kamen ihm seine alte Begegnung mit Haßler, seine Kinderbegeisterung und Großvaters Bild wieder ins Gedächtnis, als läge das alles nur einen Tag zurück.

Es war kurz vor elf Uhr, als er an der Tür läutete. Er wurde von einer munteren Soubrette mit dem Benehmen einer serva padrona empfangen, die ihn von oben bis unten keck betrachtete und zunächst erklärte: Herr Haßler könne nicht empfangen, Herr Haßler sei müde. Doch die naive Enttäuschung, die sich daraufhin auf Christofs Gesicht malte, machte ihr offenbar Spaß; denn nachdem sie ihre aufdringliche Prüfung von Christofs ganzer Person beendet hatte, wurde sie plötzlich nachgiebig gestimmt, ließ Christof in Häßlers Arbeitszimmer eintreten und sagte, sie werde schon machen, daß Häßler ihn empfinge. Daraufhin warf sie ihm einen kleinen zärtlichen Blick zu und schloß die Tür.

An den Wänden hingen ein paar impressionistische Bilder und galante Gravüren des achtzehnten Jahrhunderts: denn Haßler wollte in allen Künsten zu Hause sein; er schätzte daher Manet und Watteau gleichzeitig, wie es ihn seine literarische Clique gelehrt hatte. Dasselbe Gemisch charakterisierte die Einrichtung. Ein geschnitzter Renaissanceschreibtisch war von Sesseln im Jugendstil und einem orientalischen Diwan mit einem Berg vielfarbiger Kissen umrahmt. Die Türen waren mit Bleiverglasungen in schrillen Farben geschmückt. In einer Ecke vor einer Teppichdraperie stand Haßlers Büste auf einer Säule; auf einem Tischchen in einer Schale lag eine Unmenge Photographien von Sängerinnen, Bewunderinnen und Freundinnen ausgebreitet, die mit geistreichen und begeisterten Widmungen beschrieben waren. Auf dem Schreibtisch herrschte eine unglaubliche Unordnung; das Klavier stand offen; auf den Etageren lag Staub; und angerauchte Zigarren waren in allen Ecken verstreut.

Christof hörte im Zimmer nebenan eine verdrießliche Stimme schelten; das durchdringende Organ des kleinen Dienstmädchens erwiderte ihr. Es war klar, daß Haßler von dem Gedanken, sich zeigen zu sollen, nicht begeistert war; ebenso sicher aber hatte das Fräulein sich in den Kopf gesetzt, daß Haßler sich zeigen müsse; und sie genierte sich nicht, ihm mit kecker Vertraulichkeit zu widersprechen: ihre spitze Stimme drang durch die Wände. Christof war es recht unbehaglich, einige Bemerkungen, die sie ihrem Herrn gegenüber machte, mit anzuhören. Den aber rührte das gar nicht. Im Gegenteil: man hätte meinen können, daß ihre Frechheiten ihm Spaß machten. Und während er noch weiterschalt, neckte er das Mädchen und fand anscheinend Vergnügen daran, sie aufzuregen. Endlich hörte Christof eine Tür gehen und Haßler immer noch brummend und spöttelnd mit schlürfendem Schritt kommen.

Er trat ein. Christofs Herz krampfte sich zusammen. Er erkannte ihn. Hätte er ihn doch um Gottes Willen nicht erkannt! Ja, das war Haßler und doch nicht er. Er hatte immer noch seine hohe Stirn ohne eine einzige Runzel, sein Gesicht, das faltenlos wie bei einem Kinde war; aber er war kahl, feist, hatte eine gelbe Gesichtsfarbe, eine verschlafene Miene; die Unterlippe hing ein wenig herab, der Mund war gelangweilt und brummig. Die Schultern waren gebeugt, seine beiden Hände steckten in den Taschen seines verschlampten Anzugs; an seinen Füßen schleifte er ausgetragene Pantoffeln, sein Oberhemd machte einen Bausch oberhalb seiner Beinkleider, die er nicht einmal fertig zugeknöpft hatte. Er sah Christof mit verträumten Augen an, die sich auch nicht erhellten, als der junge Mann seinen Namen gestottert hatte. Er grüßte stumm, automatisch, wies Christof mit dem Kopf einen Sitz an und sank mit einem Seufzer auf den Diwan nieder, dessen Kissen er rings um sich auftürmte. Christof wiederholte:

»Ich hatte schon die Ehre … Sie haben die Güte gehabt … ich bin Christof Krafft …« Haßler lag im Diwan vergraben, seine langen Beine waren übereinandergeschlagen, seine mageren Hände waren über dem rechten, bis zu seinem Kinn emporgezogenen Knie verschränkt; er erwiderte:

»Kenne ich nicht.«

Christof war die Kehle wie zugeschnürt; er versuchte, ihm ihre einstige Begegnung ins Gedächtnis zurückzurufen. Unter jedweden Umständen wäre es ihm schwer gefallen, über so persönliche Erinnerungen zu sprechen; hier wurde es ihm zur Qual: er verwickelte sich in seinen Sätzen, fand nicht die rechten Worte, redete Unsinn, der ihn erröten ließ. Haßler ließ ihn stammeln und hörte nicht auf, ihn unterdessen mit seinen verschwommenen, gleichgültigen Blicken zu betrachten. Als Christof seinen Bericht beendet hatte, fuhr Haßler einen Augenblick fort, schweigend sein Knie zu schaukeln, als erwarte er, daß Christof weiter rede. Dann sagte er:

»Ja … das macht uns nicht jünger …«

und reckte sich.

Nachdem er gegähnt hatte, fügte er hinzu:

»… Entschuldigen bitte … gar nicht geschlafen … letzte Nacht im Theater soupiert …«

und gähnte von neuem.

Christof hoffte, daß Haßler irgendeine Anspielung auf das, was er ihm eben erzählte, machen würde; aber Haßler, den diese ganze Geschichte nicht im geringsten interessiert hatte, sprach nicht mehr davon; mit keinem Wort fragte er nach Christofs Leben. Als er mit dem Gähnen fertig war, fragte er:

»Sind Sie schon lange Zeit in Berlin?«

»Ich bin heute Morgen angekommen«, sagte Christof.

»Ach!« machte Haßler, ohne sich weiter zu wundern, – »Welches Hotel?«

Ohne scheinbar auf die Antwort zu achten, richtete er sich träge auf, langte nach einer elektrischen Klingel und schellte.

»Erlauben Sie …«

Das kleine Dienstmädchen mit der impertinenten Miene erschien.

»Kitty,« sagte er, »hast du die Absicht, mir heute das Frühstück vorzuenthalten?«

»Sie denken doch nicht,« antwortete sie, »daß ich Ihnen hierher was zu essen bringe, während Sie Besuch haben?«

»Warum denn nicht?« meinte er, während er mit einem spöttischen Augenzwinkern auf Christof wies. »Er nährt meinen Geist; ich werde den Leib nähren.«

»Schämen Sie sich nicht, sich bei Ihrer Mahlzeit wie ein wildes Tier zuschauen zu lassen?«

Anstatt böse zu werden, fing Haßler zu lachen an und verbesserte: »Wie ein gezähmtes Tier …

Bring es immerhin,« fuhr er fort, »ich werde die Schande mit hinunteressen.«

Achselzuckend ging sie hinaus.

Da Christof sah, daß Haßler noch immer keine Anstalten machte, sich nach seinem Tun zu erkundigen, versuchte er selbst die Unterhaltung wieder anzuknüpfen. Er sprach von der Schwierigkeit des Provinzlebens, von der Minderwertigkeit der Leute, von ihrer Engherzigkeit, von der Vereinsamung, in der man lebte. Er gab sich alle Mühe, Teilnahme an seiner inneren Bedrängnis zu wecken. Haßler aber lag in seinem Diwan, den Kopf auf ein Kissen zurückgelehnt, hatte die Augen halb geschlossen und schien nicht zuzuhören; oder er hob wohl einen Augenblick die Lider und warf ein paar kalt ironische Worte, einen derben Witz über die Provinzler dazwischen, der Christofs Versuch, intimer zu sprechen, kurz abschnitt.

Kitty war mit dem Frühstückstablett zurückgekehrt: Kaffee, Butter, Schinken usw. Sie setzte es schmollend auf den Schreibtisch nieder, mitten in die Unordnung der Papiere hinein. Christof wartete, bis sie wieder hinaus war, um von neuem seinen schmerzlichen Bericht aufzunehmen, der ihm so bittere Mühe machte.

Haßler hatte das Tablett an sich gezogen; er goß sich Kaffee ein, nippte daran; dann unterbrach er Christof mitten in einem Satz, um ihm vertraulich, gutmütig und ein wenig von oben herab anzubieten:

»Eine Tasse?«

Christof lehnte ab. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, den Faden seines Satzes wieder anzuknüpfen; aber er wußte, mehr und mehr aus der Fassung gebracht, nicht mehr was er sagte. Er wurde durch Haßlers Anblick zerstreut, der, seine Serviette unterm Kinn, sich wie ein Kind mit Butterbrötchen und Schinkenscheiben, die er mit den Fingern hielt, vollstopfte; er brachte es jedoch fertig zu erzählen, daß er komponiere, daß er ein Vorspiel für die Judith von Hebbel habe aufführen lassen. Häßler hörte zerstreut:

»Was?« fragte er.

Christof wiederholte den Titel.

»Ach, so so!« meinte Haßler, indem er Brötchen und Finger in seine Tasse tauchte.

Das war alles.

Christof war so entmutigt, daß er aufstehen und fortgehen wollte; aber er dachte an diese ganze lange, vergeblich gemachte Reise; und so raffte er denn seinen Mut zusammen und schlug Haßler stotternd vor, ihm einige seiner Werke vorzuspielen. Bei den ersten Worten unterbrach ihn Haßler:

»Nein, nein, ich verstehe nichts davon,« sagte er mit seiner spöttischen und ein wenig beleidigten Ironie. »Und dann habe ich auch keine Zeit.«

Christof traten die Tränen in die Augen, aber er hatte sich geschworen, nicht fortzugehn, ehe er Haßlers Ansicht über seine Kompositionen kannte. In einem Gemisch von Verwirrung und Zorn sagte er:

»Ich bitte um Verzeihung; aber Sie haben mir damals versprochen mich anzuhören; einzig und allein deshalb bin ich aus dem fernsten Deutschland hergekommen: Sie werden mich an hören.«

Haßler, der an diese Art und Weise nicht gewöhnt war, sah sich den jungen Mann an, der da linkisch, wütend, errötet, nahe dem Weinen stand: das machte ihm Spaß; er zuckte müde die Schultern, zeigte ihm mit dem Finger den Flügel und sagte mit komisch resignierter Miene:

»Na also! … Dann los! …« Daraufhin vergrub er sich wie ein Mann, der ein Schläfchen machen will, in seinen Diwan, puffte die Kissen zurecht, bis sie bequem unter seinen ausgestreckten Armen lagen, schloß halb die Augen, öffnete sie dann einen Augenblick von neuem, um den Umfang der Musikrolle abzuschätzen, die Christof aus einer seiner Taschen gezogen hatte, stieß einen kleinen Seufzer aus und machte sich bereit, gelangweilt zuzuhören.

Verschüchtert und gekränkt begann Christof zu spielen. Sehr bald öffnete Haßler von neuem Auge und Ohr; das berufsmäßige Interesse des Künstlers, der widerwillig durch etwas Schönes gefesselt wird, ergriff ihn. Zunächst sagte er nichts und blieb reglos; aber seine Augen wurden klarer, und seine brummigen Lippen bewegten sich. Dann wachte er ganz und gar auf und knurrte sein Erstaunen und seinen Beifall hervor. Es waren nur unartikulierte Ausrufe; aber der Ton ließ keinerlei Zweifel über seine Empfindungen aufkommen, was Christof ein unbeschreibliches Wohlgefühl verursachte. Haßler dachte nicht mehr daran, die Zahl der Seiten, die gespielt waren und die noch zu spielen übrigblieben, zu zählen. Wenn Christof ein Stück beendet hatte, sagte er:

»Weiter! … weiter! …«

Er fing an, die menschliche Sprache zu gebrauchen.

»Gut, das! Gut! …« rief er aus. »Famos! … Schrecklich famos! … Ja, zum Teufel!« brummte er verdutzt, »was ist denn das?«

Er hatte sich auf seinem Sitz aufgerichtet, neigte den Kopf nach vorne, hielt die hohle Hand ans Ohr, sprach laut vor sich hin, lachte vor Befriedigung und streckte bei gewissen Absonderlichkeiten der Harmonie leicht die Zunge heraus, als wollte er sich die Lippen lecken. Ein unerwarteter Übergang wirkte so stark auf ihn, daß er plötzlich mit einem Ausruf aufstand und sich neben Christof an den Flügel setzte. Es war, als bemerkte er Christofs Gegenwart gar nicht. Er kümmerte sich nur um die Musik; und als das Stück zu Ende war, ergriff er das Heft, überlas die Seite noch einmal, las darauf die folgenden Seiten und fuhr fort, seine Bewunderung und Überraschung im Selbstgespräch von sich zu geben, als wäre er im Zimmer allein:

»Zum Teufel! …« knurrte er. »Wo hat dieser Bengel das gefunden? …«

Er stieß Christof mit der Schulter beiseite und spielte selbst ein paar Seiten. Am Klavier waren seine Finger wundervoll, sehr sanft, kosend und leicht. Christof fielen seine feinen, langen, wohlgepflegten Hände auf, deren Aristokratismus ein wenig krankhaft wirkte und nicht zu der übrigen Person paßte. Bei gewissen Akkorden hielt Haßler inne, wiederholte sie, blinzelte dazu mit den Augen und schnalzte mit der Zunge; seine Lippen summten und ahmten die Tonfülle der Instrumente nach; von Zeit zu Zeit kam dann wieder ein Ausruf, in dem sich Vergnügen und Ärger mischten; er konnte sich einer heimlichen Gereiztheit, einer uneingestandenen Eifersucht nicht erwehren, und zur selben Zeit genoß er doch gierig.

Obgleich er dabei blieb, zu sich selber zu sprechen, als sei Christof nicht da, konnte Christof, der rot vor Freude war, nicht umhin, Haßlers Ausrufe auf sich zu beziehen; und er erklärte, was er hatte ausdrücken wollen. Haßler schien zuerst den Worten des jungen Mannes keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken und fuhr in seinen lauten Betrachtungen fort; dann aber wurde er durch gewisse Ausdrücke Christofs getroffen und er schwieg, während seine Augen immer noch auf das Musikheft, das er durchblätterte, gerichtet blieben. Er hörte zu, ohne es sich merken lassen zu wollen. Christof wurde seinerseits immer angeregter; und schließlich schüttete er sein ganzes Herz aus; mit naiver Begeisterung sprach er von seinen Plänen und seinem Leben.

Haßler schwieg; während er ihm lauschte, nahm die Ironie in ihm von neuem überhand. Er hatte sich das Heft aus der Hand ziehen lassen; den Ellenbogen auf die Klavierplatte gestützt und die Stirn in der Hand, schaute er Christof an, der ihm voll Feuer und jugendlicher Erregtheit seine Werke erklärte. Er dachte an seine eigenen Anfänge und Hoffnungen, an Christofs Erwartungen, an Ekel und Kränkungen, die auf ihn lauerten, und er lächelte bitter.

Christof sprach mit gesenkten Augen, in der Furcht, etwas von dem zu vergessen, was er sagen wollte. Haßlers Schweigen ermutigte ihn. Er fühlte, daß Haßler ihn beobachtete, daß er keins seiner Worte verlor; er meinte, das Eis, das sie trennte, gebrochen zu haben, und sein Herz strahlte. Als er zu Ende war, hob er voll Schüchternheit den Kopf, – auch voll Vertrauen, – und schaute Haßler an. Aber wie allzu frühe Triebe erfror seine ganze, keimende Freude mit einem Schlage, als er die trübseligen, gütelosen Spötteraugen sah, die ihn anstarrten. Da schwieg er.

Nach einer eisigen Pause sprach Haßler mit dürrer Stimme. Wiederum war er anders. Er wollte dem jungen Mann gegenüber eine Art Strenge zeigen; grausam verhöhnte er seine Pläne, seine Hoffnungen auf Erfolg, als wollte er sich in ihm, in dem er sich wiederfand, selber geißeln. Kalt machte er sich daran, seinen Lebensglauben, seinen Glauben an die Kunst, seinen Glauben an sich selbst zu zerstören. Sich selbst stellte er voller Bitterkeit als Beispiel hin und sprach von seinen heutigen Werken in beleidigender Art.

»Schweinereien!« sagte er. »Das brauchen diese Schweine. Meinen Sie, daß zehn Menschen auf der Welt Musik lieben? Ist auch nur einer da?«

»Ich bin da!« sagte Christof mit Nachdruck.

Haßler schaute ihn an, zuckte die Achseln und sagte mit müder Stimme:

»Sie werden wie die andern sein. Sie werden wie die andern nach Erfolg trachten, nach Wohlleben, – und Sie werden recht haben …«

Christof versuchte zu widersprechen; aber Haßler schnitt ihm das Wort ab, nahm das Musikheft wieder vor und fing an, die Werke, die er eben noch gelobt hatte, streng zu kritisieren. Er suchte dabei nicht nur mit verletzender Härte die wirklichen Nachlässigkeiten heraus, die Inkorrektheiten der Niederschrift, die Geschmacks- und Ausdrucksfehler, die dem jungen Mann entgangen waren; sondern er gab unsinnige Urteile ab, Urteile, wie sie der engherzigste und rückständigste Musiker hätte aussprechen können, einer von denen, unter welchen Haßler selbst sein ganzes Leben zu leiden gehabt hatte. Er fragte, was für Sinn und Verstand in all dem läge. Er kritisierte nicht einmal mehr, er verneinte: es war, als wolle er mit Gewalt und voller Haß den Eindruck auslöschen, den die Werke wider Willen auf ihn gemacht hatten.

Christof war so erstarrt, daß er nicht zu antworten versuchte. Wie kann man auf Unsinnigkeiten antworten, die man errötend aus dem Munde eines Menschen vernimmt, den man liebte und achtete? Außerdem hörte Haßler nicht zu. Das geschlossene Heft in den Händen, mit ausdruckslosen Augen und bitterem Mund beharrte er trotzig auf seiner Meinung. Zum Schluß sagte er, als habe er von neuem Christofs Gegenwart vergessen:

»Ach, das schlimmste Elend ist ja, daß es nicht einen Menschen, nicht einen einzigen gibt, der fähig ist, einen zu verstehen!«

Christof fühlte sich von Rührung überwältigt; mit einem Ruck wandte er sich zu Haßler, legte seine Hand auf dessen Hand und mit liebeübervollem Herzen wiederholte er:

»Ich bin da.«

Aber Haßlers Hand regte sich nicht; und wenn irgend etwas in seinem Herzen eine Sekunde lang bei diesem jungen Aufschrei zuckte, so glänzte doch kein Schimmer in seinen erloschenen Augen auf, die Christof ansahen. Ironie und Egoismus gewannen die Oberhand. Er machte wie zum Gruß eine feierlich komische, kleine Bewegung des Oberkörpers:

»Sehr verbunden!« sagte er.

Er dachte:

»Was mir daran liegt! Meinst du, für dich hätte ich mein Leben verloren?«

Er stand auf, warf das Heft aufs Klavier und ging mit seinen langen schlotternden Beinen durchs Zimmer, um seinen Platz auf dem Diwan wieder einzunehmen. Christof hatte seinen Gedanken erfaßt, er hatte dessen beleidigende Spitze gespürt; und er versuchte stolz zu erwidern, daß man nicht nötig habe, von allen verstanden zu werden: manche Seelen wiegen allein ein ganzes Volk auf; sie denken für alle; und was sie gedacht haben, müssen die andern nachdenken. Aber Haßler hörte nicht mehr hin. Er war in seine Apathie zurückgesunken, die durch das Verebben des leise in ihm entschlafenden Lebens verursacht war. Christof war zu gesund, um solche plötzliche Veränderung zu begreifen; er fühlte nur unbestimmt, daß sein Spiel verloren war; aber nachdem er sich so nahe dem Sieg geglaubt hatte, konnte er sich jetzt noch nicht zufrieden geben. Er machte verzweifelte Anstrengungen, um Haßlers Anteilnahme wieder zu beleben; er hatte sein Musikheft wieder vorgenommen und versuchte ihm die Gründe für die beanstandeten Unregelmäßigkeiten zu erklären. Haßler saß in seinem Sofa vergraben und bewahrte trübseliges Schweigen; er zeigte weder Zustimmung noch Widerspruch: er wartete darauf, daß die Sache eine Ende nähme.

Christof sah ein, daß hier nichts mehr zu machen sei. Mitten in einem Satz hörte er auf. Er rollte sein Heft zusammen und stand auf. Auch Haßler erhob sich. Christof fühlte sich beschämt und eingeschüchtert; er entschuldigte sich stotternd. Haßler verbeugte sich leicht, mit einer gewissen, hochmütig gelangweilten Vornehmheit, reichte ihm kühl und höflich die Hand und begleitete ihn bis zur Eingangstür, ohne ihn mit einem Wort zurückzuhalten oder ihn zum Wiederkommen aufzufordern.

 

Niedergeschmettert stand Christof wieder auf der Straße. Aufs Geratewohl schritt er aus und wußte nicht, wohin. Nachdem er mechanisch zwei oder drei Straßen entlang gegangen war, stand er wieder an der Haltestelle der Trambahn, mit der er gekommen war. Ohne zu überlegen, was er tat, stieg er wieder ein. Mit zerschlagenen Armen und Beinen sank er auf die Bank. Es war ihm unmöglich, zu überlegen oder seine Gedanken zu sammeln: er dachte an nichts; er wollte an nichts denken. Er hatte Angst davor, in sich selbst hineinzuschauen: in die Leere. Ihm war, als sei diese Leere rings um ihn her, in der ganzen Stadt; er konnte in ihr nicht mehr atmen: der Nebel, die riesigen Häuser erdrückten ihn. Nur einen Gedanken hatte er: fliehen, fliehen, so schnell er konnte, – als ob er, wenn er sich aus dieser Stadt rettete, in ihr die bittere Enttäuschung, die sie ihm bereitet hatte, zurücklassen könnte.

Er kehrte in sein Hotel zurück.

Es war noch nicht halb eins. Vor zwei Stunden war er angekommen. Wie hell war sein Herz gewesen! Jetzt war jedes Licht erloschen.

Er nahm kein Frühstück. Er ging nicht in sein Zimmer hinauf. Zur Verblüffung der Leute verlangte er seine Rechnung, bezahlte, als habe er eine Nacht verbracht, und sagte, daß er abreisen wolle. Vergeblich machte man ihm klar, daß er sich nicht zu beeilen brauche, daß der Zug, den er zur Rückfahrt benutzen wollte, erst nach einigen Stunden ginge, daß er besser tue, im Hotel zu warten. Er wollte sofort auf den Bahnhof. Wie ein Kind hatte er vor, den erstbesten Zug, ganz gleich welchen, zu nehmen, nur um keine Stunde mehr an diesem Ort zu bleiben. Trotz der langen Reise, trotz aller Ausgaben, die diese Fahrt ihm gemacht hatte, und trotzdem er sich so viel davon versprochen hatte, nicht nur Haßler, sondern auch die Museen zu besuchen, in Konzerte zu gehen, manche Bekanntschaften anzuknüpfen, – hatte er jetzt keinen andern Gedanken im Kopf als: fort …

Er kam auf den Bahnhof zurück. Wie man ihm gesagt hatte, ging sein Zug erst um drei Uhr. Da es überdies kein Schnellzug war – Christof konnte nur vierter Klasse fahren –, blieb er unterwegs liegen; es wäre für Christof vorteilhafter gewesen, den folgenden, zwei Stunden später abgehenden Zug zu nehmen, der den ersten einholte. Aber das hieße zwei Stunden länger hier bleiben, und das konnte Christof nicht aushalten. Er wollte die Wartezeit sogar auf dem Bahnhof verbringen. – Trübseliges Warten in den weiten, leeren, düsteren und lärmenden Hallen, wo immer eilig, immer laufend, fremde Gestalten ein- und ausgehen; alles Fremde, alles Gleichgültige; nicht einer, den man kennt, nicht ein einziges Freundesgesicht. – Der bleiche Tag verlosch. Die elektrischen, vom Nebel verhüllten Lampen durchsprenkelten die Nacht und schienen sie noch düsterer zu machen. Christof wurde von Stunde zu Stunde gedrückter und wartete angstvoll auf den Augenblick der Abfahrt. Zehnmal in jeder Stunde ging er und überlas immer wieder die Abfahrtszeiten, um sich zu versichern, daß er sich nicht geirrt habe. Als er sie wieder einmal, um sich die Zeit zu vertreiben, von Anfang bis zu Ende durchsah, fiel ihm ein Ortsname auf: er meinte ihn zu kennen; erst nach einem Augenblick erinnerte er sich, daß es die Stadt des alten Schulz sei, der ihm so gute und begeisterte Briefe geschrieben hatte. In seiner Aufgewühltheit kam ihm sofort der Gedanke, diesen unbekannten Freund aufzusuchen. Der Ort lag nicht auf seinem Wege, war aber durch eine Lokalbahn mit einem Umweg von ein oder zwei Stunden zu erreichen; man brauchte eine ganze Nacht dazu, mußte zwei- oder dreimal umsteigen und hatte endlose Aufenthalte: Christof berechnete nichts. Auf der Stelle beschloß er, hinzufahren: ein instinktives Bedürfnis, sich an eine Sympathie zu klammern, trieb ihn. Ohne sich Zeit zur Überlegung zu nehmen, setzte er eine Depesche auf und telegraphierte Schulz seine Ankunft für den nächsten Morgen. Noch war das Wort nicht abgegangen, als er es schon bereute. Er verspottete sich bitter wegen seiner ewigen Illusionen. Warum wieder neuen Kummer suchen? – Aber nun war's geschehen. Es war zu spät, um etwas daran zu ändern.

Diese Gedanken füllten seine letzte Wartestunde aus. Endlich war sein Zug zusammengestellt. Er stieg als erster ein; und er war kindisch genug, erst aufatmen zu können, als sich der Zug in Bewegung setzte und er hinter den Wagenfenstern im grauen Himmel unter traurig strömendem Regen die Silhouette der Stadt verschwinden sah, über die der Abend niedersank. Ihm war, als hätte es sein Tod sein müssen, dort eine Nacht zu verbringen.

Zur selben Zeit – gegen sechs Uhr abends – traf ein Brief Haßlers in Christofs Hotel ein. Sein Besuch hatte vieles in ihm aufgewühlt. Mit Bitternis hatte er den ganzen Nachmittag darüber nachgesonnen, und dabei auch nicht ohne Sympathie an den armen Jungen gedacht, der mit so heißer Herzlichkeit zu ihm gekommen war, und den er eisig empfangen hatte. Er machte sich seine Aufnahme zum Vorwurf. Eigentlich war sie nur die Folge eines seiner wunderlichen Schmollanfälle, an die er selbst schon ganz gewöhnt war. Er wollte das wieder gut machen und schickte Christof mit einem Billet für die Oper ein paar Zeilen, in denen er ihm nach dem Ende der Vorstellung eine Zusammenkunft vorschlug. – Christof erfuhr niemals etwas davon. Als Haßler ihn nicht sah, dachte er:

»Er ist also böse. Um so schlimmer für ihn!«

Er zuckte die Achseln und suchte ihn nicht weiter. Am nächsten Morgen dachte er nicht mehr an ihn.

Am nächsten Morgen aber war Christof weit von ihm entfernt – so weit, daß alle Ewigkeit nicht ausgereicht hätte, um sie wieder zusammenzubringen. Und so blieben beide für immer allein.

 

Peter Schulz war fünfundsiebzig Jahre alt. Seine Gesundheit war immer zart gewesen und das Alter hatte ihn nicht geschont. Er war ziemlich groß, hielt sich aber gebeugt und ließ den Kopf nach vorn hängen; auf der Brust war er etwas schwach; er atmete mühsam. Asthma, Katarrhe, Bronchiten hetzten sich in ihm: und die Spur der Kämpfe, die er zu erdulden gehabt, der vielen Nächte, die er aufrecht, schweißgebadet in seinem Bett gesessen hatte, den Körper nach vorn gebeugt, um nur einen Lufthauch in seine erstickende Brust zu bekommen, hatten sich in den schmerzvollen Falten seines länglichen, mageren, glatt rasierten Gesichtes tief eingeprägt. Die Nase war lang und an ihrer Spitze ein wenig geschwollen. Tiefe Runzeln, die unter den Augen ansetzten, durchzogen quer die durch Zahnlücken ausgehöhlten Wangen. Doch das Alter und die Krankheiten waren nicht die einzigen Bildhauer dieser armen zerbröckelten Maske gewesen; die Kümmernisse des Lebens hatten auch ihr Teil daran gehabt. – Und trotz alledem war er nicht traurig. Der große, ruhige Mund war voll stiller Güte. Vor allem aber gaben die Augen diesem alten Gesicht einen Ausdruck rührender Sanftmut: sie waren von klarem durchsichtigen Hellgrau; sie sahen mit Ruhe und Milde geradeaus; sie offenbarten die ganze Seele: man konnte bis in ihren Grund schauen. Sein Leben war arm an Geschehnissen gewesen. Seit Jahren war er allein. Seine Frau war tot. Sie war nicht sehr gut gewesen, nicht sehr klug, nichts weniger als schön. Aber er bewahrte ihr ein gerührtes Andenken. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er sie verloren: und seitdem war kein Abend vergangen, ohne daß er beim Einschlafen ein kleines traurig-zärtliches Gespräch mit ihr gepflogen hatte; jedem seiner Tage verband er sie so. – Kinder hatte er nicht gehabt: das war der große Kummer seines Lebens. Er hatte dann sein Zärtlichkeitsbedürfnis auf seine Schüler übertragen, an denen er wie ein Vater an seinen Söhnen hing. Er hatte wenig Erwiderung gefunden. Ein altes Herz kann sich einem jungen ganz nahe und fast gleichaltrig fühlen: es weiß, wie kurz die trennenden Jahre sind. Aber der junge Mensch ahnt das nicht: der Greis ist für ihn ein Wesen aus einer andern Epoche: überdies ist er auch von zu viel unmittelbaren Sorgen in Anspruch genommen und wendet instinktiv die Augen von dem melancholischen Ziel seines Strebens ab. Manchmal hatte der alte Schulz ja einige Dankbarkeit bei Schülern gefunden, die von seiner lebhaften frischen Teilnahme an allem Freudigen und Traurigen, was ihnen begegnete, gerührt waren; sie besuchten ihn von Zeit zu Zeit; wenn sie die Universität verließen, schrieben sie ihm Dankesbriefe; manche schrieben ihm noch ein- oder zweimal in den darauffolgenden Jahren. Später hörte der alte Schulz nichts mehr von ihnen, es sei denn durch Zeitungen, die ihm die Beförderung von diesem oder jenem mitteilten: dann freute er sich über ihre Erfolge, als wären es seine eigenen. Er trug ihnen ihr Stillschweigen nicht nach: er fand dafür tausend Entschuldigungen. An ihrer Anhänglichkeit zweifelte er nie und glaubte bei den Eigennützigsten an die Gefühle, die er selbst für sie hegte.

Seine Bücher aber waren seine beste Zuflucht: sie blieben treu, sie enttäuschten nicht. Die Seelen, die er in ihnen liebte, waren dem Strom der Zeit entrückt: sie waren unwandelbar, waren für alle Ewigkeit in die Liebe beschlossen, die sie einflößten und zu erwidern schienen, die sie ihrerseits auf alle, die sie liebten, ausstrahlten. Professor der Ästhetik und Musikgeschichte, war er wie ein alter, von Vogelfang durchschwirrter Wald. Manche dieser Lieder klangen von weit her, sie kamen aus der Tiefe der Jahrhunderte: die waren nicht die geringsten an Lieblichkeit und geheimnisvollem Zauber. – Andere waren ihm vertraut und nahe; das waren liebe Gefährten; jeder ihrer Sätze rief ihm, bewußt oder unbewußt, Freuden und Leiden seines vergangenen Lebens wach: – (denn unter jedem Tag, den das Licht der Sonne erhellt, fließen andere Tage, von unbekanntem Licht erhellt, dahin.) – Endlich gab es wieder andere, die man noch nie vernommen hatte und die Dinge aussprachen, die man seit langem erwartete, deren man bedurfte: das Herz tat sich auf, um sie zu empfangen, wie die Erde unterm Regen. So lauschte der alte Schulz in der Stille seines einsamen Lebens dem von Vögeln erfüllten Wald; und wie über den Mönch der Legende, der unterm Sang des Zaubervogels verzückt entschlafen war, strichen die Jahre über ihn fort, und der Abend des Lebens war gekommen, indessen er immer noch seine zwanzigjährige Seele hatte.

Nicht nur Musik machte ihn reich. Er liebte die Dichter, – die alten wie die neuen. Die seines Vaterlandes zog er allen vor, – besonders Goethe; doch er schätzte auch die anderer Länder. Er war gebildet und las mehrere Sprachen. Dem Geist nach war er ein Zeitgenosse Herders und der großen Weltbürger vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Er hatte die Jahre harter Kämpfe, die 1870 vorangingen und folgten, durchlebt und war von ihren großen Gedanken umrauscht worden. Doch obgleich er Deutschland anbetete, war er darauf nicht stolz. Er dachte mit Herder, daß unter allen Stolzen der auf seine Nationalität Stolze der größte Dummkopf ist, und mit Schiller, daß es ein recht armseliges Ideal ist, für eine einzige Nation zu schreiben. Sein Geist war manchmal ängstlich; aber sein Herz war von wunderbarer Weite und bereit, alles Schöne dieser Welt voll Liebe aufzunehmen. Vielleicht war er Mittelmäßigkeiten gegenüber allzu duldsam; doch sein Instinkt täuschte ihn nie darüber, wo das Bessere sei; und besaß er nicht die Kraft, unechte Künstler, welche die öffentliche Meinung pries, zu verurteilen, so fand er stets die, originelle und starke Künstler, die vom Publikum verkannt, wurden, zu verteidigen. Seine Güte führte ihn manchmal zu weit: er zitterte davor, eine Ungerechtigkeit zu begehen; und liebte er das, was andere liebten, nicht, so war er überzeugt, daß er sich täuschte; und zuletzt liebte er es auch. Zu lieben war ihm so wonnevoll! Liebe und Bewunderung brauchte sein Innenleben noch notwendiger als seine elende Brust die Luft. Und so empfand er eine wahre Dankbarkeit für die, welche ihm einen neuen Anlaß dazu gaben!

Christof konnte nicht ahnen, was seine Lieder ihm waren. Beim Schaffen hatte er sie lange nicht so lebendig gefühlt; denn ihm waren sie ja nur ein paar aus der inneren Schmiede aufstiebende Funken: er hatte sie emporgetrieben, er würde noch viele andere hervorbringen. Für den alten Schulz aber waren sie eine ganze Welt, die sich mit einem Schlage vor ihm auftat, – eine ganze Welt zum Lieben. Sein Leben war von ihnen durchleuchtet worden.

 

Seit einem Jahr hatte er auf seine Universitätstätigkeit verzichten müssen: seine immer zarter werdende Gesundheit erlaubte ihm das Lehren nicht mehr. Er war krank und im Bett gewesen, als das Paket seines Freundes Reinhart eintraf, in dem sich Christofs Lieder befanden. Er lebte allein; kein Verwandter war bei ihm; die wenigen, die er besessen hatte, waren seit langem gestorben. So war er auf die Pflege einer alten Magd angewiesen, die seine Schwäche dazu mißbrauchte, ihm alles, was ihr paßte, aufzuzwingen. Zwei oder drei Freunde, kaum jünger als er, sahen von Zeit zu Zeit nach ihm; aber auch sie hatten keine allzu feste Gesundheit; und wenn das Wetter schlecht war, hielten auch sie sich zu Haus und sparten mit Besuchen. Es war gerade Winter, die Straßen bedeckte schmelzender Schnee: Schulz hatte den ganzen Tag über niemand gesehen. Im Zimmer war es dunkel; ein gelber Nebel hatte sich wie ein Schirm vor die Fenster gelegt und vermauerte den Blick; der Ofen strömte drückende und ermüdende Hitze aus. Von der nahen Kirche sang alle Viertelstunden ein altes Glockenspiel aus dem siebzehnten Jahrhundert greulich falsch und mit klappernder Stimme Bruchstücke eintöniger Choräle, deren Fröhlichkeit, war man selbst unfroh, etwas fratzenhaft erschien. Der alte Schulz lehnte mit dem Rücken gegen einen Berg von Kissen und hustete. Er versuchte, Montaigne, den er liebte, wieder einmal zu lesen; aber heute machte ihm seine Lektüre nicht so viel Freude wie gewöhnlich; er hatte das Buch fallen lassen, atmete mühsam und träumte vor sich hin. Das Postpaket lag auf seinem Bett: er konnte sich nicht aufraffen, es zu öffnen; er fühlte, daß sein Herz traurig war. Endlich seufzte er, knüpfte sorgsam den Bindfaden auseinander, setzte seine Brille auf und begann, die Musikstücke durchzulesen. Seine Gedanken waren nicht bei der Sache: immer wieder kehrten sie zu den Erinnerungen zurück, die er beiseite schieben wollte.

Da fielen seine Blicke auf einen alten Gesangbuchvers, dessen Worte Christof einem naiven und frommen Dichter des siebzehnten Jahrhunderts entnommen hatte, um ihnen einen neuen Ausdruck zu verleihen; es war das Christliche Wanderlied von Paul Gerhardt.

Hoff, o du arme Seele,
Hoff, und sei unverzagt!
......................
Erwarte nur der Zeit,
So wirst du schon erblicken
Die Sonn der schönsten Freud.

Der alte Schulz kannte diese treuherzigen Worte wohl; niemals aber hatten sie so zu ihm gesprochen, so … Das war nicht mehr die stille Frömmigkeit, die die Seele mit ihrer Eintönigkeit beruhigt und einschläfert. Das war eine Seele gleich seiner, die eigene Seele war es, nur jünger, nur stärker, die da litt, die da hoffte, die die Freude schauen wollte, die sie schaute. Seine Hände bebten, große Tränen rannen ihm die Wangen hinab. Er fuhr fort zu lesen:

Auf, auf! gib deinem Schmerze
Und Sorgen gute Nacht!
Laß fahren, was das Herze
Betrübt und traurig macht!
......................

Christof beseelte diese Gedanken mit jugendlich unerschrockenem Feuer, das sich in den letzten vertrauensvollen und naiven Versen zu heldenhaftem Lachen steigerte:

Bist du doch nicht Regente,
Der alles führen soll,
Gott sitzt im Regimente
und führet alles wohl.

Und als dann jene Strophe herrlicher Herausforderung kam, die er mit der Unverschämtheit seines jungen Barbarentums ruhig aus ihrer ursprünglichen Stellung im Zusammenhang des Liedes herausgerissen hatte, um daraus den Schluß des Ganzen zu bilden:

Und ob gleich alle Teufel
Hier wollten widerstehn,
So wird doch ohne Zweifel
Gott nicht zurückegehn:

Was er ihm vorgenommen,
Und was er haben will,
Das muß doch endlich kommen
Zu seinem Zweck und Ziel.

da schwang sich das Lied zu einem Frohsinn auf, einer Kampfestrunkenheit, die etwas vom Triumph eines römischen Imperators hatte.

Der Greis zitterte am ganzen Körper. Atemlos folgte er der stürmischen Musik wie ein Kind, das ein Gefährte bei der Hand gefaßt hat und im Lauf mit fortzieht. Sein Herz klopfte. Seine Tränen rannen. Er stammelte:

»O mein Gott! … o mein Gott! …«

Er fing zu schluchzen an, er lachte: er war glücklich. Er verlor den Atem; ein schrecklicher Hustenanfall packte ihn. Salome, die alte Dienstmagd, kam herbeigelaufen und meinte, es ginge mit dem Alten zu Ende. Aber er weinte und hustete weiter und wiederholte immer wieder:

»O mein Gott! … o mein Gott! …«

Und in den kurzen Erholungspausen, zwischen zwei Hustenanfällen, lachte er ein kleines, spitzes und sanftes Lachen. Salome meinte, er würde verrückt. Als sie endlich den Grund seiner Aufregung begriff, fuhr sie ihn hart an:

»Wie kann man sich nur um eine Dummheit in solche Verfassung bringen! … Geben Sie mir das! Ich tue es fort. Sie sollen es nicht mehr wiedersehen.«

Aber der Alte, immer noch hustend, widersetzte sich ihr; er schrie Salome zu, sie möge ihn in Frieden lassen. Als sie auf ihrem Kopf beharrte, wurde er wütend, fing zu fluchen an und wurde mitten darin von neuen Anfällen gewürgt. Niemals hatte sie ihn so zornig werden und ihr Trotz bieten sehen. Sie war verblüfft und gab nach: aber sie sparte nicht mit strengen Worten: nannte ihn einen alten Narren, sagte, daß sie bisher geglaubt habe, es mit einem wohlerzogenen Menschen zu tun zu haben, daß sie aber jetzt sehe, sie habe sich getäuscht; er rede ja so gotteslästerliches Zeug, daß ein Fuhrknecht darüber erröten würde, seine Augen sprängen ihm aus dem Kopf, und wenn sie Pistolen wären, würde er sie damit totschießen … Sie wäre in ihrer Litanei noch lange so fortgefahren, wenn er sich nicht wütend auf seinen Kissen aufgerichtet und ihr in entschiedenem Tone zugeschrien hätte:

»Gehen Sie hinaus! …«

Darauf ging sie Türen schlagend davon und erklärte, jetzt könne er lange rufen, ehe sie sich bemühte; sie würde ihn jetzt ganz allein verrecken lassen.

Nun wurde es wieder still im Zimmer, in dem die Nacht sich dehnte. Wieder betete das Glockenspiel sein friedliches, wunderliches Geklingel in den Abendfrieden hinein. Der alte Schulz lag reglos auf dem Rücken und wartete, ein wenig beschämt über seinen Zorn, bis sich der Aufruhr seines Herzens beruhigte: die kostbaren Lieder aber drückte er an seine Brust und lachte wie ein Kind.

 

Die folgenden einsamen Tage verlebte er in einer Art Ekstase. Er dachte nicht mehr an seine Krankheit, nicht an den Winter, an das trübe Tageslicht, an seine Verlassenheit. Alles um ihn her war voll Leuchten und Liebe. Dem Tode nahe, fühlte er sich in der Seele eines unbekannten Freundes wieder auferstehen.

Er versuchte, sich Christof vorzustellen. Er sah ihn nicht, wie er war. Er malte ihn sich nach seinem eigenen Idealbild und so wie er selbst wohl hätte sein mögen: blond, schlank, mit blauen Augen, einer zarten etwas verschleierten Stimme, sanft, schüchtern und weichherzig. Aber wie er auch sein mochte, er war jedenfalls ganz bereit, ihn zu idealisieren. Er idealisierte alles, was ihn umgab: seine Schüler, seine Nachbarn, seine Freunde, sein altes Dienstmädchen. Seine anteilnehmende Sanftmut und sein Mangel an Kritik, der teilweise aus dem Wunsch stammte, jeden störenden Gedanken fernzuhalten, – webten rings um ihn her heiter reine Gesichter wie das seine. Er brauchte solch eine gütige Lüge zum Leben. Ganz und gar ließ er sich von ihr nicht täuschen; und oft seufzte er nachts in seinem Bett, wenn er an tausend kleine, am Tage vorgefallene Dinge dachte, die seinem Idealismus widersprachen. Er wußte wohl, daß die alte Salome sich hinter seinem Rücken mit den Klatschbasen der Gegend über ihn lustig machte, und daß sie ihn regelmäßig bei den Wochenabrechnungen bestahl. Er wußte wohl, daß seine Schüler ihn umschmeichelten, so lange sie ihn brauchten, und ihn beiseite schoben, wenn sie allen erdenklichen Nutzen aus ihm herausgezogen hatten. Er wußte, daß seine alten Universitätskollegen ihn seit seinem Abschied völlig vergessen hatten und daß sein Nachfolger seine Aufsätze, ohne ihn zu nennen, beraubte, oder ihn in gemeiner Weise nannte, um einen wertlosen Satz von ihm zu zitieren und seine Irrtümer ans Licht zu ziehen, (ein Verfahren, das in der Welt der Kritik allgemein verbreitet ist.) Er wußte, daß sein alter Freund Kunz ihn noch heute Nachmittag plump angelogen hatte, und daß er die Bücher, die er seinem andern Freund, Pottpetschmidt, auf ein paar Tage geliehen, niemals wiedersehen würde, – was für jemand, der wie er an seinen Büchern wie an lebendigen Menschen hing, schmerzlich war. Viele andere traurige Dinge aus alter und neuer Zeit kamen ihm in den Sinn; er wollte nicht an sie denken; aber sie waren trotzdem in ihm: er fühlte sie. Die Erinnerung daran durchdrang ihn manchmal wie ein stechender Schmerz.

»O mein Gott! mein Gott!«

seufzte er in die Stille der Nacht hinein. – Dann aber trieb er die bösen Gedanken fort: er verleugnete sie; er wollte vertrauensvoll, optimistisch sein, wollte an die Menschen glauben: und er glaubte an sie. Wie oft waren seine Illusionen brutal zerstört worden! – Aber er ließ immer wieder neue erstehen, immer wieder … Er konnte sie nicht entbehren.

Der unbekannte Christof wurde seinem Leben ein strahlendes Leuchtfeuer. Sein erster kalter und mürrischer Brief hätte ihm Schmerz bereiten können; – (vielleicht tat er es auch); – aber das wollte er sich nicht eingestehen; er freute sich an ihm wie ein Kind. Er war so bescheiden und verlangte von den Menschen so wenig; das wenige, was er von ihnen empfing, genügte schon, um sein Liebes- und Dankbarkeitsbedürfnis zu unterhalten. Christof sehen, war ihm ein Glück, auf das er nie zu hoffen gewagt hätte: denn er selbst war jetzt zu alt, um eine Rheinreise zu unternehmen; der Gedanke aber, Christof um einen Besuch zu bitten, war ihm nicht einmal gekommen.

Christofs Depesche erreichte ihn am Abend, im Augenblick, als er sich gerade zu Tisch setzen wollte. Zuerst begriff er nicht recht: die Unterschrift schien ihm unbekannt; er meinte, man habe sich geirrt, die Depesche sei nicht für ihn; dreimal überlas er sie; in seiner Verwirrtheit wollte die Brille nicht fest sitzen, die Lampe brannte schlecht, die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Als er verstanden hatte, war er so außer Fassung, daß er zu essen vergaß. Salome konnte noch so sehr zetern: es war ihm unmöglich, einen Bissen herunterzuschlucken. Er warf seine Serviette auf den Tisch, sogar ohne sie zusammenzufalten, was er sonst nie versäumte; stolpernd stand er auf, nahm seinen Hut und Stock und ging aus. Der erste Gedanke des guten Schulz bei solchem Glück war, es mit andern zu teilen und seine Freunde von der Ankunft Christofs zu benachrichtigen.

Er hatte zwei Freunde, die wie er, große Musikliebhaber waren, und auf die er seine Begeisterung für Christof hatte übertragen können: den Amtsrichter Samuel Kunz und den Zahnarzt Oskar Pottpetschmidt; letzterer war ein ausgezeichneter Sänger. Die drei alten Kameraden hatten oft zusammen von Christof gesprochen, und alle Musik, die sie von ihm hatten auftreiben können, gespielt. Pottpetschmidt sang, Schulz begleitete, Kunz hörte zu. Und dann begeisterten sie sich stundenlang. Wie oft hatten sie beim Musizieren gesagt:

»Ach, wäre Krafft doch hier!«

Auf der Straße lachte Schulz in seiner Freude – seiner eigenen und der, die er bereiten wollte – vor sich hin. Die Nacht kam; Kunz wohnte in einem Dörfchen, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Aber der Himmel war klar: es war ein ganz milder Aprilabend; die Nachtigallen sangen. Das Herz des alten Schulz schwamm in Glück, das Atmen machte ihm keine Mühe, und seine Füße waren wie zwanzigjährig. Er schritt leicht dahin und achtete nicht auf die Steine, an die er im Dunkel stieß. In kecker Munterkeit trat er ein wenig zur Seite, wenn ein Wagen daherkam, und tauschte einen fröhlichen Gruß mit dem Kutscher, der erstaunt dreinschaute, wenn die Laterne im Vorbeifahren den auf den Meilenstein gekletterten Alten beleuchtete.

Als er bei Kunzens Haus, das in einem kleinen Garten lag, ankam, war es völlig Nacht geworden. Er trommelte an seine Türe und rief ihn aus voller Kehle. Ein Fenster öffnete sich, und der bestürzte Kunz erschien. Er versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen und fragte:

»Wer ist da? Was ist los?«

Schulz schrie außer Atem und vergnügt:

»Krafft … Krafft kommt morgen …«

Kunz fand sich nicht zurecht; aber er erkannte die Stimme:

»Schulz! … Wie! So spät? Ja, was ist denn los?«

Schulz wiederholte:

»Er kommt morgen, morgen früh!«

»Was?« fragte Kunz, immer noch verdutzt.

»Krafft!« schrie Schulz.

Kunz brauchte einen Augenblick, um dem Sinn dieses Wortes nachzudenken; plötzlich erklang ein lauter Freudenruf, der bewies, daß er verstanden hatte.

»Ich komme herunter!« rief er.

Das Fenster schloß sich wieder. Er erschien mit einer Lampe in der Hand auf dem Treppenabsatz und kam in den Garten hinab. Er war ein kleiner schmerbäuchiger Alter mit einem dicken Graukopf, rotem Bart und Sommersprossen auf Gesicht und Händen. Seine Porzellanpfeife im Mund, kam er mit kleinen Schritten daher.

Niemals hatte der friedfertige, ein wenig verschlafene Mann sich über irgend etwas im Leben aufgeregt. Die Nachricht aber, die ihm Schulz zutrug, brachte es doch fertig, ihn aus seiner Ruhe aufzustören; er fuhr mit seinen kurzen Armen und seiner Lampe umher und fragte:

»Was? Wirklich? Er kommt?«

»Morgen früh!« wiederholte Schulz triumphierend und schwenkte die Depesche.

Die beiden alten Freunde setzten sich in die Laube auf eine Bank. Schulz nahm die Lampe. Kunz faltete die Depesche sorgsam auseinander, las langsam mit halber Stimme: über seine Schulter hinweg las Schulz laut mit. Kunz prüfte dann noch das Papier, die das Telegramm umrahmenden Angaben, die Zeit, in der es aufgegeben, die Zeit, in der es angekommen war, die Zahl der Worte. Darauf gab er das kostbare Dokument dem behaglich lachenden Schulz zurück, sah ihn kopfnickend an und sagte immer wieder:

»Ach, das ist schön! … Das ist schön! …«

Nachdem er einen Augenblick nachgedacht und eine große Tabakswolke eingesogen und ausgestoßen hatte, legte er seine Hand auf Schulzens Knie und meinte:

»Man muß Pottpetschmidt benachrichtigen.«

»Ich gehe hin,« sagte Schulz.

»Ich komme mit,« sagte Kunz.

Er ging ins Haus, um die Lampe abzustellen, und kam sogleich zurück. Untergefaßt machten sich die beiden Alten auf den Weg. Pottpetschmidt wohnte am andern Ende des Dorfes. Schulz und Kunz wechselten zerstreute Worte, während sie die frohe Botschaft im Herzen bewegten. Plötzlich blieb Kunz stehen und schlug mit seinem Stock auf den Boden:

»Ach! – Donnerwetter! Er ist ja nicht hier! …«

Er erinnerte sich jetzt, daß Pottpetschmidt am Nachmittag zu einer Operation in eine Nachbarstadt hatte fahren müssen, wo er die Nacht verbringen und sich ein oder zwei Tage aufhalten wollte. Schulz war niedergeschmettert; ebenso Kunz. Sie waren so stolz auf Pottpetschmidt; sie hätten gern Ehre mit ihm eingelegt. Mitten auf dem Wege blieben sie stehen und wußten nicht, wozu sie sich entschließen sollten.

»Wie machen wir's? Wie machen wir's?« fragte Kunz.

»Krafft muß unbedingt Pottpetschmidt hören,« meinte Schulz. Er überlegte und sagte:

»Man muß ihm eine Depesche schicken.«

Sie gingen zum Telegraphenamt und setzten gemeinsam eine lange, bewegte Depesche auf, aus der klug zu werden ziemlich schwierig war. Dann kehrten sie heim. Schulz berechnete:

»Wenn er den ersten Zug nimmt, kann er morgen früh schon hier sein.«

Kunz aber machte ihn darauf aufmerksam, daß es zu spät sei, und daß ihm die Depesche sicher erst am nächsten Morgen ausgehändigt würde. Schulz nickte; und sie sagten immer wieder:

»Was für ein Unglück!«

An Kunzens Tür trennten sie sich; denn wie groß auch dessen Freundschaft für Schulz war, so ging sie doch nicht so weit, ihn zu der Unvorsichtigkeit zu verleiten, Schulz aus dem Dorf hinaus zu begleiten, – wenn es auch nur ein kleines Stückchen Weges gewesen wäre, das er allein in der Nacht hätte zurückgehen müssen. Sie verabredeten, daß Kunz am nächsten Tag zum Mittagessen zu Schulz käme. Schulz schaute voller Angst zum Himmel:

»Hoffentlich wird morgen schön Wetter!«

Und es fiel ihm ein Stein vom Herzen, als Kunz, der als ein ausgezeichneter Kenner der Meteorologie galt, nach ernsthafter Prüfung des Himmels meinte (denn ihm lag nicht weniger als Schulz am Herzen, daß Christof ihren kleinen Ort in seiner ganzen Schönheit sähe):

»Morgen wird schönes Wetter sein.«

 

Schulz ging den Weg zur Stadt zurück; mehr als einmal strauchelte er in den Wagenspuren oder stolperte gegen einen am Wegrand aufgestapelten Steinhaufen; schließlich gelangte er aber doch glücklich hin.

Bevor er nach Hause ging, sprach er noch beim Konditor vor, und bestellte bei ihm eine bestimmte Torte, für welche die Stadt berühmt war. Dann kehrte er heim; doch im Augenblick, als er ins Haus treten wollte, kehrte er noch einmal um und erkundigte sich am Bahnhof nach der genauen Ankunftszeit der Züge. Endlich war er daheim, rief Salome und besprach mit ihr lang und breit das Mittagessen für den nächsten Tag. Erst dann legte er sich erschöpft zur Ruhe. Aber er war so übererregt wie ein Kind am Weihnachtsvorabend, und so wälzte er sich, ohne einen Augenblick Schlaf zu finden, die ganze Nacht in seinem Bett herum. Gegen ein Uhr morgens kam ihm der Gedanke aufzustehen, um Salome zu sagen, sie möge doch lieber einen gedämpften Karpfen zum Mittagessen machen; denn der gelang ihr wunderbar. Er sagte es ihr nicht, und tat sicher gut daran. Trotzdem aber stand er auf, um verschiedenes in dem Zimmer, das er für Christof bestimmt hatte, zu ordnen; er nahm sich unsäglich in acht, damit Salome ihn nicht höre: denn er hatte vor ihrem Schelten Angst. Außerdem plagte ihn die ganze Nacht die Furcht, die Ankunft des Zuges zu versäumen, obgleich Christof nicht vor acht Uhr eintreffen sollte. Schon am frühen Morgen war er auf. Sein erster Blick galt dem Himmel. Kunz hatte sich nicht getäuscht, es war herrliches Wetter. Auf den Zehenspitzen stieg Schulz zum Keller hinunter, wo er aus Furcht vor der Kälte und den steilen Treppen seit langem nicht mehr gewesen war; er traf dort eine Auswahl unter seinen besten Weinen, stieß beim Hinaufgehen hart mit dem Kopf gegen die Gewölbedecke und meinte, als er endlich mit seinem beladenen Korb wieder oben an der Treppe angelangt war, nahe am Ersticken zu sein. Darauf ging er mit seiner Baumschere bewaffnet in den Garten; unbarmherzig schnitt er seine schönsten Rosen und seine ersten blühenden Fliederzweige ab. Dann stieg er wieder in sein Zimmer hinauf, rasierte sich in fieberhafter Eile, schnitt sich ein- oder zweimal, zog sich mit aller Sorgfalt an und ging zum Bahnhof. Es war sieben Uhr. Salome brachte ihn nicht dazu, einen Tropfen Milch zu sich zu nehmen; denn er behauptete, Christof würde, wenn er ankäme, sicher ebenfalls noch nichts zu sich genommen haben, und so würden sie, wenn sie vom Bahnhof kämen, zusammen frühstücken.

Dreiviertel Stunden zu früh war er an der Eisenbahn. Er wartete, wartete bis zur Verzweiflung und schließlich verfehlte er Christof doch. Anstatt geduldig am Ausgang zu warten, ging er auf dem Bahnsteig hin und her, und verlor schließlich im Gewirr der Ankommenden und Abfahrenden den Kopf. Trotz der genauen Angaben der Depesche hatte er sich, Gott weiß warum, eingebildet, daß Christof mit einem andern Zuge ankommen müsse; und überdies wäre er nie auf den Gedanken gekommen, daß er aus einem Wagen vierter Klasse aussteigen könne. Nachdem Christof schon längst angekommen und graden Wegs zu ihm nach Haus gegangen war, blieb er noch über eine halbe Stunde wartend auf dem Bahnhof. Um das Unglück vollzumachen, war Salome gerade auf den Markt gegangen. Christof fand die Tür verschlossen. Die Nachbarin, die Salome einfach damit beauftragt hatte, im Fall, daß jemand klingeln würde, zu sagen, sie würde bald zurück sein, richtete die Bestellung, ohne irgend etwas hinzuzufügen, aus. Christof, der nicht Salome besuchen wollte und nicht einmal wußte, wer sie war, fand den Scherz schlecht; er fragte, ob der Herr Universitätsmusikdirektor denn nicht in der Stadt sei. Man antwortete ihm: Doch, konnte ihm aber nicht sagen, wo er wäre. Wütend ging er davon.

Als der alte Schulz mit ellenlangem Gesicht heimkehrte und von Salome, die auch eben zurückgekommen war, erfuhr, was sich ereignet hatte, war er vollständig verzweifelt: er weinte beinahe. Er war voller Zorn gegen die Dummheit des Dienstmädchens, das in seiner Abwesenheit fortgegangen war und es nicht einmal fertiggebracht hatte, anzugeben, daß man Christof warten lassen möge. Salome antwortete ihm im selben Ton, sie hätte sich ebensowenig vorstellen können, daß er dumm genug sei, denjenigen, den er erwartete, zu verfehlen. Doch der Alte hielt sich nicht dabei auf, mit ihr zu streiten; ohne einen Augenblick zu verlieren, stürzte er von neuem seine Treppe hinunter und machte sich wieder auf die Suche nach Christof, der sehr unbestimmten Spur, welche die Nachbarn ihm angaben, nach.

Christof hatte sich gekränkt gefühlt, weil er niemanden und nicht einmal ein Wort der Entschuldigung vorfand. Da er nicht wußte, was er vor dem nächsten Zug anfangen sollte, war er in der Stadt und den umgrenzenden Feldern, die ihm hübsch schienen, spazieren gegangen. Es war ein stilles, verschlafenes, zwischen weiche Hügel gebettetes Städtchen; Gärten rings um die Häuser, blühende Kirschbäume, grüne Rasen, schön schattende Plätze, imitierte Ruinen, weiße Büsten früherer Fürstinnen auf Marmorsäulen inmitten dichten Laubes, sanfte, liebe Gesichter. Rings um die Stadt Felder, Hügel. Amseln sangen fröhlich in blühenden Büschen und vollführten lachende klingende, kleine Flötenkonzerte. Christofs schlechte Laune war bald vorbei: er vergaß Peter Schulz.

Der Greis lief vergeblich durch alle Straßen und fragte die Leute aus; er stieg bis zum alten Schloß auf dem Hügel oberhalb der Stadt hinauf und kam tief unglücklich wieder herunter, – als er mit seinen durchdringenden Augen, die sehr weit sahen, in einiger Entfernung einen Mann entdeckte, der auf eine Wiese hingestreckt, im Schatten eines Gebüsches lag. Er kannte Christof nicht, konnte nicht wissen, ob er es war. Außerdem drehte ihm der Mensch den Rücken zu und hatte den Kopf zur Hälfte ins Gras vergraben. Schulz strich mit klopfendem Herzen auf dem Wege hin und her und umkreiste den Wiesenfleck:

»Er ist es … nein, er ist es nicht …«

Er wagte nicht, ihn anzurufen. Da kam ihm ein Gedanke: er begann die erste Strophe aus Christofs Lied zu singen:

»Auf! Auf! …«

Christof sprang wie ein Fisch aus dem Wasser empor und schrie aus voller Kehle die Fortsetzung. In heller Freude schaute er sich um. Sein Gesicht war rot; Gräser hingen ihm im Haar. Sie riefen sich mit ihrer beider Namen an und liefen aufeinander zu. Schulz sprang über den Chausseegraben, Christof setzte über die Barriere. Sie schüttelten sich überschwenglich die Hand und kehrten laut lachend und schwatzend gemeinsam nach Haus zurück. Der Alte erzählte sein Mißgeschick. Christof, der noch einen Augenblick vorher fest entschlossen gewesen war, seines Weges zu ziehen, ohne einen neuen Versuch zu machen, Schulz zu sehen, fühlte sofort die treuherzige Güte dieser Seele und begann sie zu lieben. Bevor sie noch zu Hause angelangt waren, hatten sie sich schon eine Menge anvertraut.

Bei der Heimkehr fanden sie Kunz vor, der, nachdem er gehört hatte, daß Schulz auf der Suche nach Christof war, seelenruhig wartete. Man servierte den Milchkaffee. Christof sagte jedoch, daß er bereits in einem Gasthof der Stadt gefrühstückt habe. Der Alte war untröstlich: es bereitete ihm aufrichtigen Kummer, daß Christof seine erste Mahlzeit am Ort nicht bei ihm eingenommen hatte; solche kleine Dinge waren für sein warmes Herz von unendlicher Bedeutung. Christof machte das heimlich Spaß, aber er verstand ihn und liebte ihn deswegen nur um so mehr. Um ihn zu trösten, beteuerte er ihm, daß sein Appetit gut genug sei, um zweimal frühstücken zu können: und er bewies es ihm.

Alle seine Nöte waren zerstoben: er fühlte sich inmitten wahrer Freunde, er lebte wieder auf. Humoristisch erzählte er von seiner Reise, seinem Verdruß: wie ein Schuljunge in Ferien war er. Schulz strahlte, ließ kein Auge von ihm und lachte aus vollem Herzen.

Bald war das Gespräch bei dem, was sie alle drei verborgen einte: Christofs Musik. Schulz konnte es nicht erwarten, Christof einige seiner Werke vorspielen zu hören; aber er wagte nicht, ihn darum zu bitten. Christof ging während der Unterhaltung mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Schulz belauerte jede seiner Bewegungen und flehte, wenn er beim offenen Klavier vorbei kam, zum Himmel, daß er davor stehenbleiben möge. Kunz hatte denselben Gedanken. Das Herz klopfte ihnen, als sie sahen, wie er sich, ohne im Sprechen aufzuhören, gedankenlos auf den Klavierstuhl setzte und dann, ohne das Instrument anzuschauen, seine Hände aufs Geratewohl über die Tasten laufen ließ. Es kam, wie Schulz es vorausgesehen hatte: kaum hatte Christof ein paar Arpeggien angeschlagen, als sich der Ton seiner bemächtigte: weiter plaudernd reihte er die Akkorde aneinander; dann wurden es ganze Tonsätze; und schließlich schwieg er, und begann vorzuspielen. Die Alten tauschten einen listig-glücklichen, verständnisvollen Blick.

»Kennen Sie das?« fragte Christof, indem er eins seiner Lieder spielte.

»Ob ich es kenne!« sagte Schulz entzückt.

Christof wandte, ohne sich zu unterbrechen, halb den Kopf und meinte:

»Na! sehr gut ist Ihr Klavier nicht!«

Der Alte war sehr zerknirscht. Er entschuldigte sich.

»Es ist alt,« sagte er bescheiden, »so wie ich.«

Christof drehte sich ganz um, schaute den Greis, der wegen seines Alters um Verzeihung zu bitten schien, an und ergriff lachend seine beiden Hände. Er betrachtete seine treuherzigen Augen: »O Sie,« meinte er, »Sie sind jünger als ich.«

Schulz lachte gutlaunig und sprach von seinem alten Körper, seinen Schwächen.

»Ta ta ta!« sagte Christof, »darum handelt es sich nicht. Ich weiß, was ich sage. Ist es nicht wahr, Kunz?«

(Er ließ das »Herr« schon fort.)

Kunz stimmte ihm aus allen Kräften bei.

Schulz versuchte gleichzeitig die Sache seines alten Klaviers zu befürworten.

»Es hat noch sehr hübsche Töne,« sagte er schüchtern.

Er rührte sie an: vier oder fünf ziemlich frische Töne, eine halbe Oktave im mittleren Register des Instrumentes. Christof verstand, daß es ihm ein alter Freund war, und er sagte freundlich, – während er an Schulzens Augen dachte:

»Ja, es hat noch liebe Augen.«

Schulzens Gesicht hellte sich auf. Er stimmte ein etwas konfuses Loblied auf sein altes Klavier an, schwieg aber sofort wieder; denn Christof hatte von neuem zu spielen begonnen. Lieder folgten auf Lieder; Christof sang halblaut mit. Schulz folgte mit feuchten Augen jeder seiner Bewegungen. Kunz hatte die Hände überm Leib gefaltet und schloß die Augen, um besser zu genießen. Von Zeit zu Zeit schaute sich Christof strahlend zu den beiden Greisen um, die in Verzückung waren; und in naiver Begeisterung, die sie nicht im entferntesten belachten, sagte er:

»Na! Ist das nicht schön! … Und das! Was sagen Sie dazu? Und dies! … Dies ist das schönste von allen … Jetzt will ich Ihnen etwas vorspielen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen …«

Während er ein träumerisches Stück beendete, fing die Kuckucksuhr zu schreien an. Christof sprang mit einem Satz empor und schrie zornig auf. Kunz fuhr auf und rollte seine großen entsetzten Augen umher. Schulz selbst begriff zuerst nicht. Als er dann sah, wie Christof dem Vogel, der ihn grüßte, mit der Faust drohte und schrie, man möge um des Himmels Willen diesen Idioten da, dies bauchrednerische Gespenst davontragen, fand auch er zum erstenmal im Leben, daß dieser Lärm wirklich ganz unerträglich sei; er nahm einen Stuhl und wollte selbst hinaufklettern, um den Störenfried abzuhängen. Aber er fiel beinahe, und Kunz hinderte ihn, es noch einmal zu versuchen; er rief Salome. Sie kam ihrer Gewohnheit nach ohne Eile herbei und stand ganz verdutzt, als man ihr die Wanduhr unter den Arm steckte, die der ungeduldige Christof selbst schon abgehängt hatte.

»Was soll ich denn damit tun?« fragte sie.

»Was du magst. Schaff es fort, daß man es hier nicht mehr sieht!« sagte Schulz, der nicht weniger ungeduldig als Christof geworden war.

(Er fragte sich, wie er dieses Greuel nur so lange hatte ertragen können.)

Salome dachte, daß sie entschieden alle miteinander verrückt seien.

Die Musik fing wieder an. Die Stunden verstrichen. Salome meldete, daß das Essen serviert sei. Schulz hieß sie still sein. Nach zehn Minuten kam sie wieder, dann nach weiteren zehn Minuten noch einmal: diesmal war sie außer sich; sie versuchte eine unbewegte Miene aufzusetzen, kochte aber vor Zorn, pflanzte sich mitten im Zimmer auf, und fragte trotz Schulzens verzweifelter Gebärden mit Trompetenstimme: ob die Herren ihr Mittagbrot lieber kalt oder verbrannt essen wollten; ihr wäre das gleich; sie erwarte ihre Befehle.

Schulz wurde durch diesen Angriff ganz verwirrt und wollte seinem Mädchen eine Szene machen; Christof aber brach in Lachen aus, Kunz tat desgleichen, und Schulz machte es schließlich wie sie. Salome war mit dieser Wirkung zufrieden und schob mit der Miene einer Königin, die ihren reuigen Untertanen wohl oder übel verzeihen will, ab.

»Das ist ein Dragoner!« sagte Christof, während er vom Klavier aufstand. »Sie hat recht. Es gibt nichts Unerträglicheres als ein Publikum, das mitten im Konzert hineinkommt.«

Sie setzten sich zu einem ungeheuren und saftigen Mahl an den Tisch. Schulz hatte Salomes Ehrgeiz aufgestachelt, und sie wünschte sich nichts Besseres, als ihre Kunst zeigen zu können. Übrigens fehlte es ihr nicht an Gelegenheit dazu. Die alten Freunde waren erstaunliche Schlemmer. Kunz war bei Tisch ein anderer Mensch; er ging wie eine Sonne auseinander und wäre einem Gastwirt ein gutes Aushängeschild gewesen. Schulz war für gute Küche nicht weniger empfänglich; doch seine schlechte Gesundheit legte ihm mehr Zurückhaltung auf. Meistens trug er dem allerdings nicht Rechnung und mußte es bezahlen. Für diesmal beklagte er sich nicht: wurde er krank, so wußte er wenigstens, warum. Wie Kunz besaß er selbst Küchenrezepte, die sich seit Generationen, vom Vater zum Sohn, in der Familie vererbt hatten. Salome war also gewohnt, für Kenner zu arbeiten. Diesmal aber hatte sie sich den Kopf zerbrochen, um in einem einzigen Programm alle ihre Meisterwerke zu vereinen: es war wie eine Ausstellung der unvergeßlichen, ehrlichen, unverfälschten deutschen Küche mit ihren Düften aller Kräuter, ihren dicken Saucen, ihren nahrhaften Suppen, ihren vorbildlichen Fleischgerichten, ihren monumentalen Karpfen, ihrem Sauerkraut, ihren Gänsen, ihren Haustorten, ihren Anis- und Kümmelbroten. Christof begeisterte sich mit vollem Munde und aß wie ein Scheunendrescher; er besaß die fabelhafte Aufnahmefähigkeit seines Vaters und Großvaters, die eine ganze Gans verschlungen hätten. Übrigens konnte er ebensogut eine Woche lang von Brot und Käse leben, wie sich bis zum Bersten voll essen, wenn sich dazu die Gelegenheit bot. Der herzlich-feierliche Schulz betrachtete ihn mit gerührten Augen und tränkte ihn mit allen Rheinweinen. Der rötlich schimmernde Kunz erkannte in ihm einen Bruder. Das breite Gesicht Salomes lachte vor Zufriedenheit. – Im ersten Augenblick war sie enttäuscht gewesen, als Christof angekommen war. Schulz hatte ihr im Voraus so viel von ihm erzählt, daß sie sich ihn mit den Zügen einer Exzellenz und mit Titeln und Ehren bedeckt vorgestellt hatte. Beim ersten Anblick hatte sie ausgerufen:

»Was! Mehr ist das nicht?«

Bei Tisch aber eroberte Christof ihre Gunst; sie hatte nie jemand gesehen, der ihrem Talent mit solchem Nachdruck gerecht wurde. Anstatt in ihre Küche zurückzugehn, blieb sie auf der Türschwelle stehn, um Christof zuzusehn, der ohne sich im Essen stören zu lassen, Unsinn schwatzte; und die Fäuste in die Hüften gestemmt, lachte sie aus vollem Halse. Alle waren kreuzfidel. Nur ein dunkler Punkt war in ihrem Glück: Pottpetschmidt war nicht da. Darauf kamen sie oft zurück:

»Ach, wenn er hier wäre! Der kann essen! Der kann trinken! Der kann singen!«

Sie hörten mit Lobreden nicht auf.

– Wenn Christof ihn doch hören könnte! … Aber vielleicht konnte er's noch. Vielleicht kam Pottpetschmidt heut Abend zurück oder spätestens heut Nacht …

»O heut Nacht bin ich weit von hier,« sagte Christof.

Das strahlende Gesicht von Schulz verdunkelte sich.

»Wie das, weit!« meinte er mit zitternder Glimme. »Sie reisen doch noch nicht ab?«

»Doch, doch!« sagte Christof heiter, »ich nehme den Abendzug.«

Schulz war unglücklich. Er hatte damit gerechnet, daß Christof die Nacht, vielleicht mehrere Nächte in seinem Haus verbringen würde. Er stammelte:

»Nein, nein, das ist nicht möglich! …«

Kunz wiederholte:

»Und Pottpetschmidt! …«

Christof schaute sie beide an: die Enttäuschung, die sich auf ihren guten Freundesgesichtern malte, rührte ihn; er sagte:

»Wie lieb Sie sind! … Ich reise morgen früh. Soll ich?«

Schulz faßte seine Hand.

»Ach, wie wunderschön! Vielen vielen Dank!«

Er war wie ein Kind, für das Morgen so fern, so fern liegt, daß man nicht daran zu denken braucht. Christof reiste nicht heut ab, der ganze Tag gehörte ihnen, sie würden den Abend gemeinsam verleben, er würde unter seinem Dach schlafen: das war alles, was Schulz sah; weiter wollte er nicht denken.

Die Heiterkeit setzte von neuem ein. Plötzlich stand Schulz mit feierlicher Miene auf und brachte einen bewegten und schwungvollen Toast auf seinen lieben Gast aus, der ihm die riesige Freude und Ehre angetan hatte, seine kleine Stadt und sein schlichtes Haus zu besuchen; er trank auf seine glückliche Heimkehr, seine Erfolge, seinen Ruhm, auf alles Glück der Welt, das er ihm aus voller Seele wünschte. Sodann hielt er eine andere Rede auf die »edle Musik« – eine andere auf seinen alten Freund Kunz – und noch eine auf den Frühling; – und Pottpetschmidt vergaß er auch nicht. Kunz seinerseits trank auf Schulz und ein paar andere; und Christof beschloß die Reden mit einer auf die Dame Salome, die darüber krebsrot wurde. Dann stimmte er, ohne den Rednern Zeit zum Ausruhen zu lassen, ein bekanntes Lied an, in das die beiden Alten einfielen. Hierauf kam ein anderes an die Reihe, und dann noch ein dreistimmiges, das von Freundschaft, Musik und Wein handelte: das alles wurde von hallendem Lachen und vom Klang der fortwährend angestoßenen Gläser begleitet.

Es war halb vier Uhr, als sie von Tisch aufstanden. Sie fühlten sich ein wenig schwer. Kunz sank in einen Lehnstuhl; er hätte gern ein Schläfchen gemacht. Schulzens Beine waren von den Aufregungen am Morgen, und nicht weniger von seinen Trinksprüchen wie zerschlagen. Alle beide hofften, daß Christof sich ans Klavier setzen und stundenlang spielen würde. Aber ausgelassen und munter wie er war, schlug der schreckliche Bengel nur drei oder vier Akkorde an, schloß dann mit einem Ruck das Klavier, schaute aus dem Fenster und fragte, ob man bis zum Abendbrot nicht eine Tour machen könne. Die Landschaft lockte ihn. Kunz zeigte wenig Begeisterung; Schulz aber fand sofort, daß der Gedanke ausgezeichnet sei, und daß sie ihrem Gast den Schönbuchwälder Spazierweg zeigen müßten. Kunz schnitt ein Gesicht, aber er widersprach nicht und erhob sich mit den andern: es verlangte ihn ebenso wie Schulz danach, Christof die Schönheiten der Gegend zu zeigen.

Sie gingen aus. Christof hatte Schulzens Arm genommen und veranlaßte den Alten, ein wenig schneller auszuschreiten, als ihm lieb war. Kunz folgte schweißtriefend. Sie schwatzten vergnügt drauflos. Die Leute, die sie von ihren Türschwellen aus vorübergehn sahen, fanden, der Herr Professor Schulz sähe wie ein Jüngling aus. Als sie aus der Stadt herauskamen, gingen sie querfeldein. Kunz klagte über die Hitze. Der mitleidlose Christof aber fand die Luft köstlich. Zum Glück für die beiden alten Leute blieb man alle Augenblicke im Eifer des Gesprächs stehen und vergaß bei der Unterhaltung die Länge des Weges. Man kam in den Wald. Schulz zitierte Verse von Goethe und Mörike. Christof liebte Gedichte sehr; aber er konnte keins behalten: er ließ sich beim Hören in unbestimmte Träumereien gleiten, in denen Musik die Worte umhüllte und sie vergessen machte. Er bewunderte Schulzens Gedächtnis. Wie groß war der Unterschied zwischen der geistigen Lebendigkeit dieses kranken, fast gebrechlichen Greises, der das halbe Jahr in seinem Zimmer eingeschlossen, fast das ganze Leben in seiner Provinzstadt eingeschlossen verbrachte, – und Haßler, der jung, berühmt, im Herzen des künstlerischen Lebens stand, Europa auf seinen Konzerttouren durchreiste und doch an nichts Anteil nahm, nichts kennen lernen wollte! Schulz war nicht allein über die Strömungen der Gegenwartskunst, die ja auch Christof kannte, unterrichtet; sondern er wußte auch eine Menge über frühere oder ausländische Musiker, von denen Christof niemals hatte sprechen hören. Sein Gedächtnis glich einem tiefen Brunnen, in dem alle schönen Wasser des Himmels aufgefangen worden sind. Christof wurde nicht müde, darin zu schöpfen; und Schulz war über Christofs Interesse glücklich. Er hatte schon manchmal gefällige Zuhörer oder nachsichtige Schüler getroffen; immer aber hatte ihm ein junges, feuriges Herz gefehlt, mit dem er seine Begeisterung teilen konnte, die manchmal bis zum Ersticken in ihm anschwoll.

Sie waren die besten Freunde der Welt, als der Alte die Ungeschicklichkeit beging, von seiner Bewunderung für Brahms zu reden. Christof geriet in eisigen Zorn; er ließ Schulzens Arm los und sagte in schneidendem Ton, daß, wer Brahms liebe, sein Freund nicht sein könne. Das fiel wie ein kalter Strahl auf ihre Freude. Schulz war zu bescheiden, um zu streiten, zu ehrlich, um zu lügen; er stammelte, versuchte sich zu rechtfertigen; Christof aber unterbrach ihn mit einem scharfen: »Genug!«

das keine Widerrede gestattete. Kaltes Schweigen trat zwischen sie. Sie wanderten weiter. Die beiden Greise wagten sich nicht anzusehen. Kunz hüstelte ein wenig und versuchte dann die Unterhaltung wieder anzuknüpfen, indem er vom Wald und vom schönen Wetter sprach. Christof aber hatte sein Schmollgesicht aufgesetzt, ließ das Gespräch fallen und antwortete nur Einsilbigkeiten. Als Kunz so auf dieser Seite kein Echo fand, versuchte er, um das Schweigen zu brechen, mit Schulz zu plaudern; dem aber war die Kehle zugeschnürt, er konnte nicht sprechen. Christof sah ihn von der Seite an, und die Lust zu lachen überkam ihn: er hatte ihm schon verziehen. Ernsthaft war er ihm nie böse gewesen; er fand sogar, daß er ein Scheusal sei, den armen Alten traurig zu stimmen; aber er mißbrauchte seine Macht ein wenig und wollte sich nicht den Anschein geben, als komme er auf das einmal Gesagte zurück. So blieb es bis zum Waldausgang: man hörte nichts mehr als die schleppenden Schritte der beiden ganz aus der Fassung gebrachten Alten: Christof pfiff vor sich hin und schien sie nicht mehr zu sehen. Plötzlich hielt er's nicht mehr aus. Er fing hell zu lachen an, wandte sich zu Schulz um und packte ihn mit seinen festen Händen bei den Armen:

»Mein guter, lieber, alter Schulz!« und dabei sah er ihn zärtlich an, »wie schön ist es, wie schön! …«

Er redete von der Landschaft und dem schönen Tag; aber seine lachenden Augen schienen zu sagen:

»Du bist gut. Ich bin ein brutaler Kerl. Verzeih mir! Ich habe dich sehr gern.«

Das Herz des Alten schmolz. Es war, als sei es nach einer Sonnenfinsternis wieder hell geworden. Er brauchte noch einen Augenblick, bevor er wieder ein Wort hervorbringen konnte. Christof hatte von neuem seinen Arm genommen und plauderte freundschaftlicher als je; er war so im Zuge, daß er noch einmal so schnell ging und dabei gar nicht darauf achtete, daß er seine beiden Begleiter erschöpfte. Schulz klagte nicht: er war so zufrieden, daß er seine Müdigkeit nicht einmal spürte. Er wußte wohl, daß er alle Unvorsichtigkeiten dieses Tages büßen mußte; aber er sagte sich:

»Desto schlimmer für morgen! Wenn er fort ist, habe ich genug Zeit, mich auszuruhen.«

Der nicht so überschwengliche Kunz aber folgte mit jämmerlicher Miene in einem Abstand von fünfzehn Schritten. Endlich fiel es Christof auf. Ganz verwirrt bat er um Entschuldigung und schlug ihnen vor, sich in den Schatten der Pappeln auf eine Wiese hinzustrecken. Schulz willigte natürlich ein, ohne sich zu fragen, wie das seiner Bronchitis bekommen würde. Glücklicherweise dachte Kunz statt seiner daran; oder er führte das wenigstens als Vorwand an, um sich nicht selber, in Schweiß gebadet, wie er war, in das kühle Gras zu legen. Er schlug vor, an einer nahen Station den Zug zur Stadt zurückzunehmen. So wurde es gemacht. Trotz ihrer Müdigkeit mußten sie schnell ausschreiten, um nicht zu spät zu kommen und sie erreichten genau im Augenblick, als der Zug einlief, den Bahnhof.

Bei ihrem Anblick stürzte ein dicker Mann an das Wagenfenster und brüllte die Namen von Schulz und Kunz, samt der ganzen Liste ihrer Titel und Ämter, wobei er wie ein Verrückter die Arme schwenkte. Schulz und Kunz antworteten mit ebenso großem Geschrei und fuchtelten ebenfalls mit den Armen. Sie stürzten zum Wagen des dicken Mannes, der seinerseits der Begegnung mit ihnen zudrängte und seine Reisegenossen dabei zur Seite puffte. Der verblüffte Christof rannte ihnen nach und fragte:

»Was ist denn los?«

Und die andern schrien frohlockend:

»Das ist Pottpetschmidt!«

Dieser Name sagte ihm nicht viel. Die Trinksprüche vom Mittagessen hatte er vergessen. Pottpetschmidt, Schulz und Kunz, – der eine oben im Wagen, die andern auf dem Trittbrett – vollführten einen betäubenden Lärm: sie wußten sich vor Verwunderung über ihr Glück nicht zu lassen. Schnell schwangen sie sich in den abfahrenden Zug. Schulz stellte vor. Pottpetschmidt verbeugte sich mit plötzlich versteinerten Zügen und kerzengrade wie ein Pfahl; sobald aber die Formalitäten erfüllt waren, fiel er über Christofs Hand her, schüttelte sie fünf- oder sechsmal, als wollte er sie ausrenken, und begann dann wieder zu toben. Christof hörte aus seinem Geschrei heraus, daß er Gott und seinem guten Stern für diese wunderbare Begegnung dankte. Das hinderte ihn nicht, einen Augenblick darauf sich wütend auf die Schenkel zu schlagen und über sein Pech zu schimpfen, das ihn – der doch nie aus der Stadt käme – gerade zur Ankunft des Herrn Kapellmeisters verreisen ließ. Schulzens Depesche war ihm erst am Morgen, eine Stunde nach Abgang des Zuges, überbracht worden; bei ihrer Ankunft hatte er noch geschlafen, und man hatte es für richtig erachtet, ihn nicht zu wecken. Den ganzen Morgen hatte er gegen die Hotelleute gewütet. Er wütete noch jetzt. Seine Patienten hatte er zum Teufel geschickt, seine beruflichen Verabredungen im Stich gelassen und in seiner Eile, heimzukommen, den erstbesten Zug genommen; dieser Teufelszug aber hatte den Anschluß an die große Linie versäumt: Pottpetschmidt hatte drei Stunden auf einem Bahnhof warten müssen. Alle Verzweiflungsrufe seines Wörterschatzes hatte er verausgabt und sein Mißgeschick zwanzigmal den mit ihm wartenden Reisenden und dem Bahnhofsportier erzählt. Endlich war es weitergegangen. Er hatte davor gezittert, zu spät zu kommen … Aber Gott sei gelobt! Gott sei gelobt! …

Er hatte Christofs Hände wieder erfaßt und knetete sie in seinen dicken behaarten Tatzen. Er war fabelhaft groß und dick: ein vierschrötiger Kopf, rote, kurzgeschnittene Haare, ein rasiertes pockennarbiges Gesicht, große Augen, eine große Nase, dicke Lippen, ein Doppelkinn, ein kurzer Hals, ein ungeheuer breiter Rücken, ein Bauch wie eine Tonne, vom Körper abstehende Arme, riesenhafte Hände und Füße, eine gigantische, durch Vielesserei und Bier aus der Form gebrachte Fleischmasse – kurz einer jener menschlichen Tabaksäcke, wie man sie manchmal durch die Straßen bayrischer Städte rollen sieht, und die das Geheimnis dieser Menschenrasse bewahren, welche durch ein dem Geflügelmästen ähnliches Nudelsystem zustande gekommen ist. Er glänzte vor Vergnügen und Hitze wie ein Klumpen Butter: seine Hände ruhten auf seinen gespreizten Knieen oder auch auf denen seiner Nachbarn; unermüdlich schwatzte er drauf los, indem er die Konsonanten mit der Kraft einer Wurfmaschine in die Luft hinausrollte. Manchmal überfiel ihn ein Lachen, das ihn durch und durch schüttelte: er warf den Kopf nach hinten, sperrte den Mund auf, schnaufte, röchelte und erstickte fast. Sein Lachen steckte Schulz und Kunz an, die, war der Anfall vorüber, sich die Augen trockneten und Christof anschauten, als wollten sie fragen:

»Na! … Was sagst du dazu?«

Christof sagte nichts; er dachte voller Entsetzen:

»Dieses Ungeheuer singt meine Musik?«

Sie kehrten in Schulzens Haus zurück. Christof hoffte, den Gesang Pottpetschmidts umgehen zu können, und kam ihm trotz aller Anspielungen Pottpetschmidts, der darauf brannte, sich hören zu lassen, nicht im geringsten entgegen. Schulz und Kunz aber lag es zu sehr am Herzen, mit ihrem Freund Ehre einzulegen: er mußte es über sich ergehen lassen. Ziemlich übellaunig setzte sich Christof ans Klavier; er dachte:

»Junge, Junge, du weißt nicht, was dir droht: wehe dir! Ich lasse dir nichts durchgehen.«

Er sagte sich, daß er Schulz betrüben würde, und war darüber ärgerlich; aber nichtsdestoweniger war er entschlossen, ihm eher Schmerz zu bereiten, als zuzugeben, daß dieser John Falstaff seine Musik zugrunde richtete. Die Reue, seinen alten Freund betrübt zu haben, wurde ihm erspart: der dicke Mann sang mit wundervoller Stimme. Gleich bei den ersten Takten machte Christof eine überraschte Bewegung. Schulz, der ihn nicht aus den Augen ließ, zitterte: er meinte, Christof sei nicht zufrieden; und er war erst beruhigt, als er sah, wie sich dessen Gesicht, je länger er spielte, mehr und mehr erhellte. Er selbst strahlte im Widerschein dieser Freude auf. Und der Augenblick, in dem Christof sich nach beendetem Stück umwandte und rief, daß er noch nie eins seiner Lieder so habe singen hören, gab Schulz tiefere und süßere Wonne als dem zufriedenen Christof und dem triumphierenden Pottpetschmidt: denn jeder der beiden genoß nur seine eigene Freude, Schulz aber die seiner beiden Freunde zusammen. Das Konzert ging weiter. Christof war höchst erstaunt: er konnte nicht verstehen, wie es dies gewöhnliche, schwerfällige Wesen fertigbrachte, den Sinn seiner Lieder zum Ausdruck zu bringen. Allerdings waren nicht alle Nuancen darin; aber Schwung und Leidenschaft waren da, die Christof den berufsmäßigen Sängern niemals hatte einflößen können. Er sah Pottpetschmidt an und fragte sich:

»Fühlt er das wirklich?«

Aber er sah in seinen Augen keine andere Flamme als die befriedigter Eitelkeit. Eine unbewußte Kraft bewegte diese schwere Masse. Und diese blinde passive Kraft war wie eine Armee, die kämpft, ohne zu wissen gegen wen oder warum. Der Geist der Lieder bemächtigte sich ihrer und jubelnd gehorchte sie: denn sie mußte irgend etwas tun; und sich selbst überlassen, hätte sie nicht gewußt, was und wie.

Christof sagte sich, am Schöpfungstage habe sich der große Bildhauer nicht allzuviel Mühe gegeben, um die verstreuten Glieder seiner im groben zugehauenen Geschöpfe recht zu ordnen; er hatte sie wohl, so gut es eben ging, zusammengefügt, ohne sich darum zu kümmern, ob sie gut aneinanderpaßten: so wurde jedes mit Teilen verschiedenster Herkunft verarbeitet; und der eine Mensch war in vier oder fünf verschiedenen Menschen verstreut: das Gehirn war bei dem einen, das Herz bei dem andern, bei einem dritten der Körper, der zu dieser Seele paßte; das Instrument war auf dieser, der Musiker auf jener Seite. Manche Geschöpfe waren wie wundervolle Geigen, die ewig in ihrem Kasten verschlossen bleiben, weil niemand da ist, der sie zu spielen verstünde. Und die, welche geschaffen waren, um darauf zu spielen, mußten sich ihr ganzes Leben lang mit elenden Fiedeln begnügen. Er hatte um so mehr Ursache, so zu denken, als er selbst wütend auf sich war, weil er noch nie eine Musikseite sauber hatte singen können. Seine Stimme war unrein, und er konnte sich nur mit Entsetzen zuhören.

Pottpetschmidt begann indessen, vom Erfolg berauscht, Christofs Lieder »mit Ausdruck« zu singen; das heißt, er wollte seinen eignen an die Stelle von Christofs setzen. Der fand natürlich nicht, daß seine Lieder bei dem Tausch gewannen; und sein Gesicht verfinsterte sich. Schulz merkte es. Sein Mangel an Kritik und die Bewunderung für seine Freunde hätten ihm selbst nicht gestattet, sich von Pottpetschmidts Geschmacklosigkeit Rechenschaft zu geben. Doch durch seine Zuneigung für Christof erkannte er die flüchtigsten Regungen im Denken des jungen Mannes: er lebte nicht mehr in sich, sondern in Christof; und so litt auch er unter Pottpetschmidts Überschwang. Er gab sich alle Mühe, ihn auf dieser abschüssigen Bahn aufzuhalten. Es war nicht leicht, Pottpetschmidt zum Schweigen zu bringen. Schulz hatte alle erdenkliche Mühe, den Sänger daran zu hindern, nachdem Christofs Repertoire erschöpft war, sich noch in den Geistesfrüchten minderwertiger Komponisten hören zu lassen, bei deren bloßen Namen sich Christof schon wie ein Stachelschwein sträubte und zusammenrollte.

Glücklicherweise wurde das Abendbrot gemeldet, wodurch Pottpetschmidts Mund gestopft wurde. Ein neues Feld öffnete sich vor ihm, auf dem er seine Fähigkeit entfalten konnte: hier war er ohne Rivalen; und Christof, den der morgendliche Plünderzug ein wenig ermattet hatte, versuchte nicht zu kämpfen.

Der Abend rückte vor. Sie saßen um den Tisch herum, und die drei alten Freunde tranken Christofs Worte. Es kam Christof ganz sonderbar vor, daß er in diesem Augenblick in der kleinen verlorenen Stadt saß, inmitten dieser alten Leute, die er bis jetzt nie gesehen hatte und denen er sich näher fühlte als der eigenen Familie. Er dachte, welche Wohltat es für einen Künstler sein würde, wenn er eine Ahnung von den unbekannten Freunden hätte, denen sein Gedanke in der Welt begegnet – wie sehr das sein Herz erwärmen, seine Kräfte stärken würde. Aber meistens hat er nichts davon: und jeder lebt und stirbt allein, fürchtet um so mehr sich auszusprechen, als er wahrhaft fühlt und der Aussprache bedarf. Den gewöhnlichen Komplimentenmachern fällt das Reden nicht schwer. Die aber, die am innigsten lieben, müssen sich Gewalt antun, um ihre Zähne auseinanderzubringen und zu sagen, daß sie lieben. So muß man denen, die zu sprechen wagen, recht dankbar sein: sie sind, ohne es zu ahnen, des Künstlers Mitarbeiter. – Christof war von Dankbarkeit für den alten Schulz durchdrungen. Er verwechselte ihn nicht mit seinen beiden Gefährten; daß er die Seele der kleinen Freundesgruppe war, fühlte er wohl: die andern waren nur der Widerschein dieses lebendigen Leuchtfeuers von Güte und Liebe. Die Freundschaft, die Kunz und Pottpetschmidt für ihn empfanden, war ganz andrer Art. Kunz war egoistisch: die Musik verursachte ihm ein wohliges Gefühl wie einer großen Katze, die man streichelt. Für Pottpetschmidt war sie eine Befriedigung der Eitelkeit und eine körperliche Übung. Weder dem einen noch dem andern war es darum zu tun, ihn zu verstehen. Schulz aber vergaß sich selber ganz: er liebte.

Es war spät. Die beiden eingeladenen Freunde gingen fort, in die Nacht. Christof blieb mit Schulz allein. Er sagte zu ihm:

»Jetzt werde ich für Sie allein spielen.«

Er setzte sich ans Klavier und spielte, so wie er spielen konnte, wenn jemand bei ihm war, den er lieb hatte. Er spielte aus seinen neuen Werken. Der Greis geriet in helle Begeisterung. Er saß neben Christof, ließ kein Auge von ihm und hielt seinen Atem an. In seiner Herzensgüte, die unfähig war, das kleinste Glück für sich zu behalten, sagte er wider Willen immer von neuem:

»Ach wie schade, daß Kunz nicht hier ist!«

was Christof ein wenig ungeduldig machte.

Eine Stunde verging. Christof spielte immer noch; sie hatten kein Wort gewechselt. Als Christof geendet hatte, sprach keiner von beiden. Alles war still: Haus und Straße schliefen. Christof wandte sich um und sah den alten Mann weinen: er stand auf, ging auf ihn zu und küßte ihn. Ganz leise redeten sie miteinander in der Stille der Nacht. Vom Nebenzimmer tönte das gedämpfte Tiktak der Wanduhr. Schulz saß mit vorgebeugtem Körper und verschlungenen Händen und sprach mit halber Stimme; er erzählte dem fragenden Christof von seinem Leben, seinen Traurigkeiten; jeden Augenblick aber fühlte er Gewissensbisse, weil er klagte, fühlte das Bedürfnis zu sagen:

»Es ist nicht recht … ich habe nicht das Recht mich zu beklagen … Jedermann ist gut zu mir gewesen …«

Und er beklagte sich in der Tat nicht: eine unwillkürliche Melancholie stieg nur aus dem nüchternen Bericht seines einsamen Lebens auf. In den schmerzlichsten Augenblicken kam dabei das Glaubensbekenntnis eines sehr vagen, sehr sentimentalen Idealismus zum Vorschein, der Christof aufreizte, dem zu widersprechen aber grausam gewesen wäre. Im Grunde war es bei Schulz weniger ein fester Glaube als ein leidenschaftlicher Wunsch zu glauben – eine ungewisse Hoffnung, an die er sich wie an einen Anker klammerte. Er suchte Bestätigung dafür in Christofs Augen. Christof vernahm den Ruf in seines Freundes Blick, der mit rührendem Vertrauen an ihm hing, der die Antwort von ihm erflehte – ihm vorschrieb. Da sprach er die Worte ruhiger Zuversicht und selbstsicherer Kraft, die der Alte erwartete und die ihm wohl taten. Der Alte und der Junge hatten die trennenden Jahre vergessen: sie waren einander nahe wie zwei gleichaltrige Brüder, die sich lieben und helfen; der Schwächere suchte Stütze am Stärkeren: der Greis flüchtete sich in die Seele des Jünglings.

Nach Mitternacht gingen sie auseinander. Christof mußte früh aufstehen, um mit demselben Zug, der ihn hergebracht hatte, weiter zu fahren. So trödelte er beim Ausziehen nicht. Der Alte hatte das Zimmer seines Gastes hergerichtet, als sollte er dort Monate zubringen. Auf den Tisch hatte er eine Vase mit Rosen und einem Lorbeerzweig gestellt. Ein ganz neues Löschblatt lag auf dem Schreibtisch. Er hatte am Morgen ein Pianino hineinstellen lassen. Für das Brettchen am Kopfende des Bettes hatte er ein paar seiner kostbarsten und liebsten Bücher ausgewählt. An jede Einzelheit hatte er mit Liebe gedacht. Aber es war vergebliche Mühe: Christoph sah nichts davon. Er warf sich auf sein Bett und schlief sofort wie ein Kind ein.

Schulz schlief nicht. Die ganze Freude, die er gehabt hatte, und den ganzen Kummer, den ihm die Abreise seines Freundes bereitete, wälzte er gleichzeitig in sich umher. Die Worte, die sie gesprochen, gingen ihm wieder durch den Kopf. Er dachte daran, daß der liebe Christof neben ihm, an der andern Seite der Wand, gegen die sein Bett gestellt war, schlief. Er war von Müdigkeit todesmatt, wie zerschlagen; das Atmen wurde ihm schwer; er fühlte, daß er sich während des Spazierganges erkältet habe, daß er einen Rückfall bekommen würde; aber er hatte nur einen Gedanken:

»Wenn es nur bis nach seiner Abreise dauert!«

Und er zitterte davor, einen Hustenanfall zu bekommen, der Christof aufwecken würde. Er war voller Dankbarkeit gegen Gott und machte sich daran, ein paar Verse über den Gesang des alten Simeon zu machen: Nunc dimittis …. Ganz in Schweiß gebadet stand er auf, um seine Verse niederzuschreiben, und blieb am Tisch sitzen, bis sie sorgfältig abgeschrieben waren und er sie mit einer von Herzlichkeit überströmenden Widmung, seiner Unterschrift und Datum und Stunde versehen hatte. Dann legte er sich fröstelnd wieder hin und konnte sich die ganze übrige Nacht nicht mehr erwärmen.

Die Morgendämmerung kam. Schulz dachte schmerzlich an die des vorhergehenden Morgens. Doch er schalt sich, daß er sich mit solchen Gedanken die letzten Glücksminuten, die ihm blieben, verdarb; er wußte ja, daß er am folgenden Tage die jetzt entfliehende Stunde betrauern würde; so tat er alles, um nichts von ihr zu verlieren. Mit gespanntem Ohr verfolgte er jedes geringste Geräusch aus dem Zimmer nebenan. Christof aber rührte sich nicht. Wo er sich hingelegt hatte, lag er noch; nicht eine Bewegung hatte er gemacht. Schon halb sieben hatte es geschlagen und immer noch schlief er. Nichts wäre leichter gewesen, als ihn seinen Zug versäumen zu lassen; und sicherlich hätte er die Tatsache lachend aufgenommen. Der Alte aber war zu gewissenhaft, um so über einen Freund ohne dessen Einwilligung zu verfügen, wenn er sich auch immer wieder sagte:

»Es wäre ja nicht meine Schuld. Ich hätte keinen Teil daran. Ich brauche nur nichts zu sagen. Und wacht er nicht zur Zeit auf, so kann ich noch einen ganzen Tag mit ihm verbringen.«

Dann widersprach er sich wieder:

»Nein, ich habe kein Recht dazu.«

Und er hielt sich für verpflichtet, ihn aufzuwecken. Er klopfte an seine Tür. Christof hörte nicht sofort: er mußte stärker pochen. Das machte dem Alten großen Kummer; er dachte:

»Ach wie gut er schläft! Bis Mittag wäre er so liegen geblieben! …«

Endlich antwortete Christofs fröhliche Stimme von der andern Seite. Als er die Zeit erfuhr, war er höchst verwundert; und man hörte ihn in seinem Zimmer hin und her rennen, sich geräuschvoll zurechtmachen, Melodienbruchstücke singen, während er zwischendurch Schulz freundschaftlich etwas zurief und Witze machte, die den Alten trotz seines Kummers zum Lachen brachten. Die Tür ging auf: er erschien frisch, ausgeruht, mit glücklichem Gesicht; nicht im entferntesten dachte er daran, daß er so viel Schmerz bereite. In Wahrheit drängte ihn nichts zur Abreise; es hätte ihm nichts ausgemacht, ein paar Tage länger zu bleiben; und welche Freude hätte er Schulz damit gemacht! Aber Christof konnte das nicht ganz ahnen. Übrigens war es ihm bei aller Zuneigung, die er für den Alten empfand, ganz lieb abzureisen: er war von diesem tagelangen Reden, von diesen Seelen, die sich mit verzweifelter Zärtlichkeit an ihn klammerten, ermüdet. Und dann war er jung und dachte, sie würden ja noch viel Zeit haben, sich wiederzusehen: er reiste ja nicht ans Ende der Welt! – Der Greis wußte, daß er selber bald ferner als am Ende der Welt sein würde; und er schaute Christof für alle Ewigkeit an.

Er begleitete ihn trotz übergroßer Müdigkeit zum Bahnhof. Ein feiner, kalter Regen fiel leise nieder. An der Station merkte Christof beim Öffnen seines Portemonnaies, daß er nicht mehr genug Geld für die Fahrkarte nach Hause besaß. Er wußte, daß Schulz es ihm mit Freuden leihen würde; aber er wollte ihn nicht darum bitten … Warum? Warum dem, der dich liebt, die Gelegenheit, – das Glück streitig machen, dir einen Dienst zu erweisen? … Er wollte es nicht aus Zartgefühl, – vielleicht aus Eitelkeit. Er nahm eine Karte bis zu einer Zwischenstation, wobei er sich vornahm, den übrigen Weg zu Fuß zurückzulegen.

Die Abfahrtstunde schlug. Auf dem Trittbrett des Wagens umarmten sie sich. Schulz ließ das während der Nacht geschriebene Gedicht in Christofs Hand gleiten. Er blieb auf dem Bahnsteig zu Füßen des Wagenabteils. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, wie es bei einem Abschied, der sich in die Länge zieht, meist der Fall ist; aber Schulzens Augen fuhren zu reden fort: sie ließen Christofs Gesicht nicht los, bis der Zug abging.

Der Wagen verschwand in einer Kurve. Schulz war wieder allein. Durch die schmutzige Allee kehrte er heim; mühsam schleppte er sich vorwärts: plötzlich fühlte er Müdigkeit, Kälte, die Trübsal des Regentages. Es wurde ihm sehr schwer, bis nach Haus und die Treppen hinaufzukommen. Kaum war er in seinem Zimmer, als er von einem Erstickungs- und Hustenanfall gepackt wurde. Salome kam ihm zu Hilfe. Mitten in seinem unwillkürlichen Stöhnen sagte er immer wieder:

»Welches Glück! … Welches Glück, daß es gewartet hat! …«

Er fühlte sich sehr schlecht. Er legte sich nieder. Salome holte den Arzt. In seinem Bett fiel sein Körper wie eine leblose Masse zusammen; er hätte kein Glied mehr rühren können; nur seine Brust keuchte wie ein Blasebalg. Sein Kopf war schwer und fiebrig. Den ganzen Tag brachte er damit zu, Minute für Minute des verflossenen Tages noch einmal zu durchleben: so quälte er sich und warf sich gleich darauf vor, daß er sich nach solchem Glück beklagte. Die Hände ineinandergeschlungen, das Herz von Liebe geschwellt, dankte er Gott.

 

Christof kehrte, durch diesen Tag aufgeheitert und durch die Zärtlichkeit, die er hinter sich zurückließ, in sich selbst gefestigt, in seine Provinz zurück. Als seine Fahrkarte abgelaufen war, stieg er fröhlich aus und machte sich zu Fuß auf den Weg. Er hatte einige sechzig Kilometer zurückzulegen. Da er keine Eile hatte, streifte er wie ein Schuljunge umher. Es war April. Die Natur war noch ziemlich weit zurück. Die Blätter falteten sich an den Spitzen schwarzer Zweige wie kleine runzelige Hände auseinander; die Apfelbäume standen in Blüte, und die wilden Rosen lächelten von den Hecken. Über entblätterten Wald, in dem ein feiner zart-grüner Flaum emporzusprießen begann, ragte auf dem Gipfel einer Anhöhe, gleich der Trophäe auf einer Lanzenspitze, ein altes romanisches Schloß. In dem sanft blauen Himmel schwebten tiefschwarze Wolken. Ihre Schatten liefen über das frühlinghafte Land; Regenschauer strichen vorüber; dann kam die Sonne wieder zum Vorschein, und die Vögel sangen.

Christof merkte, daß er seit einigen Augenblicken an Onkel Gottfried dachte. Seit langem hatte er nicht an den armen Mann gedacht; und er fragte sich, warum sein Andenken gerade in diesem Augenblick sich ihm hartnäckig aufdrängte; während er durch eine Pappelallee an einem spiegelnden Kanal entlang ging, war er wie behext davon, und so sehr verfolgte ihn das Bild, daß ihm bei der Biegung einer hohen Mauer war, als sähe er ihn auf sich zu kommen.

Der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein heftiger Hagel und Regen stürzte nieder und in der Ferne grollte der Donner. Christof befand sich in der Nähe eines Dorfes, dessen rosa Fassaden und rote Dächer zwischen Baumgruppen ihm entgegenschimmerten. Er beschleunigte den Schritt und flüchtete sich unter das vorspringende Dach des ersten Hauses. Die Hagelkörner fielen dicht gedrängt; sie schlugen auf den Dachziegeln auf und sprangen dann wie Bleikügelchen in die Straße hinab. In den Wagenspuren stand das Wasser bis zum Rand. Zwischen den Blütenhängen, über tiefblauen Wolken spannte ein Regenbogen sein grell leuchtendes Fahnenband.

Auf der Türschwelle stand ein junges Mädchen und strickte. Sie forderte Christof gar freundlich zum Eintreten auf. Er nahm die Einladung an. Der Raum, den er betrat, diente gleichzeitig als Küche, Eßzimmer und Schlafstätte. Über einem Feuer im Hintergrund hing ein großer Kochkessel. Eine Bäuerin, die beim Gemüseputzen war, wünschte Christof einen guten Tag und forderte ihn auf, sich am Feuer zu trocknen. Das junge Mädchen holte eine Flasche und gab ihm zu trinken. Dann setzte sie sich an die andere Seite des Tisches, strickte weiter und beschäftigte sich nebenbei mit zwei Kindern, die sich damit vergnügten, sich gegenseitig Grashalme (von jenen, die man auf dem Lande »Spitzbuben« oder »kleine Savoyarden« nennt) in den Hals zu stecken. Sie knüpfte mit Christof eine Unterhaltung an. Nach einigen Augenblicken erst merkte er, daß sie blind war. Schön war sie nicht. Es war ein kräftiges Mädchen mit roten Wangen, weißen Zähnen und festen Armen; doch den Zügen fehlte es an Regelmäßigkeit: sie hatte das Lächeln und das etwas ausdruckslose Gesicht vieler Blinden und ebenso deren Sucht, von Dingen und Leuten so zu sprechen, als sähe sie sie. Im ersten Augenblick fragte sich Christof, über wen man sich hier lustig mache, als sie zu ihm sagte, daß er wohl aussähe und daß die Landschaft heute sehr hübsch wäre. Nachdem er aber hintereinander die Blinde und deren Mutter angeschaut hatte, sah er, daß niemand erstaunt und niemand zum Scherzen aufgelegt war: – es war ja auch keinerlei Grund dazu da. Die beiden Frauen fragten Christof freundschaftlich aus und erkundigten sich, woher er käme, welchen Weg er genommen habe. Die Blinde mischte sich mit etwas übertriebener Lebhaftigkeit in die Unterhaltung; sie stimmte Christofs Angaben über den Weg und die Felder bei oder machte Bemerkungen dazu. Natürlich trafen ihre Einwürfe nicht immer das Rechte. Aber sie schien sich einreden zu wollen, daß sie ebenso gut sähe wie er.

Andere Mitglieder der Familie waren hereingekommen: ein stämmiger Bauer von einigen dreißig Jahren und seine junge Frau. Christof plauderte mit beiden; dabei schaute er zum Himmel, der sich aufklärte, und wartete auf den Augenblick, um wieder weiter wandern zu können. Die Blinde summte eine Melodie vor sich hin, während die Nadeln ihres Strickzeugs ruhig wetterliefen. Diese Melodie rief in Christof alle möglichen alten Erinnerungen wach.

»Was! Sie kennen das auch?« sagte er.

(Gottfried hatte ihn die Weise früher einmal gelehrt).

Er trällerte die Fortsetzung. Das junge Mädchen begann zu lachen. Sie sang die erste Hälfte der Sätze, und er machte sich den Spaß, sie zu beenden. Als er im Begriff war aufzustehen, um nach dem Wetter zu schauen, wobei er rings um das Zimmer ging und sein Blick mechanisch in alle Winkel drang, fiel ihm in einer Ecke neben dem Küchentisch ein Gegenstand in die Augen. Es gab ihm förmlich einen Ruck. Es war ein langer, gebogener Stab, dessen roh geschnitzter Griff ein grüßendes Männchen in gebückter Haltung darstellte. Christof kannte ihn gut: als ganz kleines Kind hatte er schon damit gespielt. Er stürzte auf den Stock zu und fragte mit gepreßter Stimme:

»Woher haben Sie … Woher haben Sie das?«

Der Mann sah ihn an und sagte:

»Ein Freund hat es uns hinterlassen; ein alter Freund, der inzwischen gestorben ist.«

Christof rief:

»Gottfried!«

Alle wandten sich ihm zu und sagte«:

»Woher wissen Sie das?« …

Und als Christof sagte, daß Gottfried sein Onkel gewesen sei, entstand allgemeine Aufregung. Die Blinde hatte sich erhoben; ihr Wolleknäuel war durchs Zimmer gerollt; sie trat auf ihre Arbeit, hatte Christofs Hände erfaßt und sagte ganz ergriffen immer wieder:

»Sie sind sein Neffe?«

Alle sprachen auf einmal. Christof fragte:

»Aber Sie, woher kennen Sie ihn?«

Der Mann erwiderte:

»Hier ist er gestorben.«

Man setzte sich wieder; und als sich die Erregung ein wenig gelegt hatte, erzählte die Mutter, die inzwischen ihre Arbeit wieder ausgenommen hatte, daß Gottfried seit Jahren ins Haus gekommen sei: auf jedem seiner Streifzüge machte er beim Kommen und Gehen hier Halt. »Bei seinem letzten Besuch – es war im vergangenen Juli – schien er sehr matt. Nachdem er seinen Packen abgeladen hatte, brauchte er eine ganze Weile, bis er ein Wort hervorbringen konnte; aber wir beachteten es nicht, weil wir daran gewöhnt waren, daß er in solchem Zustand eintraf, und man ja wußte, daß er kurzatmig war. Er klagte übrigens nicht. Niemals klagte er: in allen Unannehmlichkeiten fand er noch einen Grund zur Zufriedenheit. Hatte er eine aufreibende Arbeit vor, so freute er sich in dem Gedanken, wie wohl er sich am Abend in seinem Bett fühlen würde; und litt er an irgend etwas, sagte er sich, wie gut er's haben würde, wenn die Beschwerde vorüber wäre … Und dabei ist es gar nicht recht, immer zufrieden zu tun«, fügte die Frau hinzu; »denn klagt man nicht, so bedauern einen die andern auch nie. Ich beklage mich immer …«

So hatte man also nicht acht auf ihn gegeben. Man hatte sogar über sein gutes Aussehen gescherzt und Modesta – das war der Name der jungen Blinden – hatte ihm seinen Pack abgenommen und dabei gefragt, ob er denn niemals müde würde, wie ein Jüngling zu laufen. Statt jeder Antwort hatte er gelächelt; denn er konnte nicht sprechen. Er setzte sich auf die Bank vor der Tür nieder. Jeder ging wieder an seine Arbeit: die Männer aufs Feld, die Mutter in die Küche. Modesta stellte sich neben die Bank: sie lehnte mit ihrem Strickzeug in der Hand an der Tür und plauderte mit Gottfried. Er antwortete ihr nicht: sie erwartete keine Antwort und erzählte ihm alles, was sich seit seinem letzten Besuch ereignet hatte. Er atmete mühsam; und sie merkte, daß er Anstrengungen machte, um zu sprechen. Anstatt sich zu beunruhigen, sagte sie ihm:

»Sprich nicht. Ruhe dich aus. Du kannst später reden … Wie kann man sich nur so übermüden!«

Darauf sprach er nicht mehr, und versuchte es auch gar nicht. Sie nahm ihre Erzählung wieder auf und meinte, er höre zu. Er tat einen Seufzer und wurde dann still. Als die Mutter ein wenig später aus dem Haus trat, fand sie dort Modesta noch immer am Reden und auf der Bank den reglosen Gottfried, dessen Kopf zurückgeworfen und dem Himmel zugewandt lag: seit einigen Minuten hatte Modesta mit einem Toten gesprochen.

Nun verstand sie, daß der arme Mann bemüht gewesen war, vor dem Sterben ihr noch ein paar Worte zu sagen und es nicht mehr vermocht hatte; also hatte er mit seinem traurigen Lächeln darauf verzichtet und die Augen im Frieden des Sommerabends geschlossen …

Der Regen hatte aufgehört. Die Schwiegertochter ging in den Stall; der Sohn nahm seine Hacke und reinigte vor der Tür die Wasserrinne, die der Schmutz verstopft hatte. Modesta war schon beim Beginn der Erzählung verschwunden. Christof blieb mit der Mutter allein im Zimmer und schwieg bewegt. Die etwas schwatzhafte Alte konnte längeres Schweigen nicht gut ertragen; und sie begann ihm die ganze Geschichte ihrer Bekanntschaft mit Gottfried zu erzählen. Sie lag schon lange zurück. Als sie ganz jung gewesen war, hatte Gottfried sie geliebt. Er wagte es ihr nicht zu gestehen, aber man scherzte darüber; sie machte sich über ihn lustig; alle andern taten es auch. (– Das war überall, wo er vorbeikam, so Gewohnheit. –) Gottfried kam nichtsdestoweniger jedes Jahr treu wieder zurück. Er fand es natürlich, daß man sich über ihn lustig machte, natürlich, daß sie ihn nicht liebte, natürlich, daß sie sich verheiratete und mit einem andern glücklich wurde. Allzu glücklich wurde sie, allzu sehr hatte sie sich ihres Glücks gerühmt: da kam das Unglück. Ihr Mann starb plötzlich. Dann verlor ihre Tochter, – ein schönes, gesundes, kräftiges Mädchen, das von aller Welt bewundert wurde und das sich gerade mit dem reichsten Bauernsohn der Umgebung verheiraten wollte, infolge eines Unfalls das Augenlicht. Als sie eines Tages auf den großen Birnbaum hinter dem Haus gestiegen war, um Früchte zu pflücken, war die Leiter ausgerutscht: sie fiel und ein geknickter Zweig traf sie hart neben dem Auge. Man glaubte zuerst, sie würde mit einer Narbe davonkommen; aber seitdem litt sie unaufhörlich an stechenden Schmerzen in der Stirn: ein Auge trübte sich und dann das andere; alle Pflege war vergeblich. Natürlich war es mit der Heirat nichts. Der Zukünftige zog sich ohne weitere Erklärung zurück; und von allen Burschen, die einander einen Monat vorher um einen Walzer mit ihr halbtot geschlagen hätten, hatte nicht einer den Mut – was ganz verständlich ist – sich eine Kranke aufzuladen. Da war die bisher sorglose und lachlustige Modesta in solche Verzweiflung verfallen, daß sie sterben wollte. Sie verweigerte die Nahrung und tat von morgens bis abends nichts anderes als weinen; selbst noch des Nachts hörte man sie in ihrem Bett jammern. Man wußte nicht mehr was tun und konnte nur mit ihr unglücklich sein; sie aber weinte dann nur um so mehr. Schließlich wurde man des Klagens überdrüssig; da fuhr man sie an, und sie redete davon, sich in den Kanal stürzen zu wollen. Manchmal kam der Pastor: er sprach mit ihr vom lieben Gott, von den ewigen Dingen und dem Verdienst, das sie sich für die andere Welt erwürbe, wenn sie ihr Leid trüge; aber das tröstete sie nicht im mindesten. Eines Tages kam Gottfried wieder. Modesta war niemals sehr gut zu ihm gewesen. Nicht etwa weil sie von Natur böse gewesen wäre; aber sie war hochmütig, und dann – sie dachte nicht viel nach, sie lachte gern: es gab kein Neckwort, das sie ihm nicht gegeben, keinen Streich, den sie ihm nicht gespielt hätte. Als er von ihrem Unglück hörte, war er so bestürzt, als gehörte er zur Familie. Aber er zeigte ihr nichts davon, als er sie das erstemal sah. Er setzte sich neben sie, deutete mit keinem Wort auf ihren Unfall und fing ruhig, wie er es vordem getan hatte, mit ihr zu plaudern an. Kein Wort des Bedauerns hatte er für sie; es war, als merke er nicht einmal, daß sie blind sei. Nur sprach er nie mit ihr von irgend etwas, das sie nicht sehen konnte; er sprach ihr von alledem, was sie in ihrem Zustand hören oder merken konnte; und er tat das ganz einfach, wie etwas Selbstverständliches: man hätte meinen können, daß auch er blind sei. Zuerst hörte sie nicht zu und fuhr fort zu weinen. Am nächsten Tage aber lauschte sie schon besser und sprach sogar ein wenig mit ihm …

»Ich weiß nicht recht,« fuhr die Mutter fort, »was er ihr wohl gesagt haben mag; denn wir hatten mit dem Heu zu tun, und ich fand nicht Zeit, mich um sie zu kümmern. Abends jedoch, wenn wir von den Feldern heimkehrten, haben wir sie in ruhigem Plaudern gefunden. Und seitdem wurde es immer besser mit ihr. Es war, als vergäße sie ihr Übel. Von Zeit zu Zeit überfiel es sie wohl noch: sie weinte vor sich hin oder versuchte auch mit Gottfried von Traurigem zu reden; der aber tat, als höre er nicht darauf, oder er antwortete nicht im selben Ton. Er sprach mit ihr bestimmt, fast heiter und über Dinge, die sie beruhigten und interessierten. Endlich brachte er sie dazu, außerhalb des Hauses umherzugehen, was sie seit dem Unfall nicht hatte tun wollen. Zuerst ließ er sie ein paar Schritte um den Garten herum machen, dann weitere Wege, die Felder entlang. Und jetzt ist sie so weit, daß sie sich überall zurechtfindet und alles unterscheidet, als ob sie sähe. Sie merkt sogar manches, worauf wir nicht achten; und an allem nimmt sie Anteil, sie, die vorher für nicht viel anderes als die eigne Person Sinn hatte. Damals blieb Gottfried länger als gewöhnlich bei uns. Wir wagten nicht, ihn um Aufschub seiner Abreise zu bitten; aber er blieb von selbst, bis er sie ruhiger sah. Und eines Tages – sie war dort, im Hof – hörte ich sie lachen. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie mir zumute war. Gottfried schaute auch ganz zufrieden drein. Er saß neben mir. Wir haben uns angesehen, und da – ich schäme mich nicht es Ihnen zu sagen, Herr Krafft, – habe ich ihn geküßt, und von ganzem Herzen. Darauf hat er mir gesagt:

»Jetzt, glaube ich, kann ich fortgehn. Man braucht mich nicht mehr.«

Ich habe versucht, ihn zurückzuhalten. Aber er meinte:

»Nein, jetzt muß ich weiter. Ich kann nicht mehr bleiben.«

Jedermann wußte, daß er wie der ewige Jude war: er konnte nicht an ein und demselben Ort wohnen bleiben; so bestand man nicht darauf. Er zog also davon; aber er richtete es ein, daß er öfters hier vorbeikam; und das war jedesmal eine große Freude für Modesta: stets, wenn er hier gewesen war, ging es mit ihr wieder etwas besser. Sie beschäftigt sich jetzt wieder in der Wirtschaft; ihr Bruder hat sich verheiratet; sie kümmert sich um die Kinder; und jetzt klagt sie niemals mehr und sieht immer glücklich aus. Manchmal frage ich mich, ob sie ebenso glücklich wäre, wenn sie ihre beiden Augen hätte. Ja wirklich, lieber Herr, es kommen Tage, an denen man meint, man wäre besser daran, wenn man wie sie wäre, man brauchte dann manche häßlichen Menschen und manches Böse nicht mit anzusehen. Die Welt wird immer schlechter; von Tag zu Tag wird es schlimmer … Immerhin möchte ich um alles nicht, daß mich der liebe Gott beim Wort nähme; und aufrichtig gesprochen, ich selbst will ja lieber weiter die Welt sehen, häßlich wie sie nun einmal ist …«

Modesta erschien wieder, und die Unterhaltung hörte auf. Christof wollte jetzt, da das Wetter wieder schön war, weiter wandern; aber das gaben sie nicht zu. Er mußte das Abendbrot mit ihnen einnehmen und die Nacht über bleiben. Modesta setzte sich neben Christof und wich während des ganzen Abends nicht von ihm. Er hätte mit dem jungen Mädchen, dessen Schicksal ihn mitleidig bewegte, gern intimer gesprochen. Aber sie gab ihm keinerlei Gelegenheit dazu. Sie versuchte nur, ihn über Gottfried auszufragen. Als Christof ihr einiges mitteilte, was sie noch nicht wußte, war sie zufrieden und gleichzeitig ein wenig eifersüchtig. Sie selbst erzählte nur ungern von Gottfried: man fühlte, daß sie nicht alles sagte; oder wenn sie etwas sagte, bereute sie es sofort: ihre Erinnerungen waren ihr eigen, sie mochte sie mit keinem andern teilen; in ihrer Anhänglichkeit empfand sie mit der Herbheit einer ihrem Heimatboden verwachsenen Bäuerin: der Gedanke, daß jemand Gottfried ebenso sehr liebe wie sie, war ihr unangenehm. Sie wollte es freilich auch nicht glauben; Christof las in ihr und ließ ihr diese Genugtuung. Obgleich sie Gottfried früher ins Angesicht geschaut und ihn sogar mit unduldsamen Augen angesehen hatte, machte sie sich seit ihrer Erblindung von ihm ein Bild, das der Wirklichkeit in nichts entsprach. Das merkte Christof, während er ihr zuhörte. Auf dies Phantom übertrug sie das ganze, in ihr lebende Liebesbedürfnis. Nichts hatte dieser Phantasiearbeit widersprochen. Mit der furchtlosen Sicherheit von Blinden, die, was sie nicht wissen, seelenruhig erfinden, sagte sie zu Christof:

»Sie sehen ihm ähnlich.«

Er begriff, daß sie seit Jahren daran gewöhnt war, in einem Haus mit verschlossenen Läden zu leben, in das die Wirklichkeit nicht mehr eindrang. Und jetzt, da sie gelernt hatte in dem sie umgebenden Dunkel zu sehen, vielleicht sogar das Dunkel zu vergessen, hätte ihr ein Lichtstrahl, der in ihre Finsternis drang, vielleicht Furcht eingeflößt. Sie rief in einem zusammenhanglosen, lächelnden Gespräch mit Christof eine Menge kleiner, ein wenig alberner Nichtigkeiten wach, bei denen er nicht auf seine Rechnung kam. Er ärgerte sich über dies Geschwätz, er konnte nicht verstehen, daß ein Wesen, welches so viel gelitten hatte, nicht mehr Ernst aus seinem Schmerz geschöpft habe und daß es an solchen Oberflächlichkeiten Gefallen finden könne; von Zeit zu Zeit machte er den Versuch, von ernsteren Dingen zu reden; aber sie fanden keinerlei Echo: Modesta konnte – oder wollte – ihnen nicht folgen.

Man ging zu Bett. Christof brauchte lange Zeit, bevor er einschlafen konnte. Er gedachte Gottfrieds und zwang sich, sein Bild aus den kindischen Erinnerungen Modestas zu lösen. Es gelang ihm nur mit Mühe, und er ärgerte sich darüber. Sein Herz zog sich in dem Gedanken zusammen, daß er hier gestorben sei, daß sein Leib wahrscheinlich in diesem Bett geruht habe. Er versuchte, die Angst seiner letzten Augenblicke in sich aufleben zu lassen, als er nicht mehr sprechen und sich der Blinden verständlich machen konnte und die Augen zum Sterben geschlossen hatte. Wie gern hätte er diese Lider gehoben, die Gedanken, die sich unter ihnen verbargen, gelesen, das Mysterium dieser Seele geschaut, die hinweggegangen war, ohne sich ganz erkennen zu lassen, ohne sich vielleicht selbst zu kennen! Sie hatte es nicht versucht; ihre ganze Weisheit war gewesen, die Weisheit nicht zu wollen, den Dingen nicht den eigenen Willen aufzwingen zu wollen, sondern sich ihrem Lauf zu überlassen, sie hinzunehmen und zu lieben. Ohne Nachdenken hatte Gottfried sich so ihrem geheimnisvollen Wesen eingefügt; und wenn er der Blinden, Christof und sicher noch vielen andern so viel Gutes getan hatte, so kam dies daher, weil er, anstatt gewohnte Worte menschlicher Auflehnung gegen die Natur zu sagen, etwas von dem gleichmütigen Frieden der Natur gebracht und dadurch die lenksame Seele getröstet hatte. So wirkte er wohltuend, wie Felder, Wälder, die ganze Natur selber, von der er durchtränkt war. Christof beschwor das Andenken der mit Gottfried auf offenem Felde verlebten Abende herauf, seiner Kinderspaziergänge, der nächtlichen Erzählungen und Lieder. Er gedachte auch des letzten Ganges, den er mit dem Onkel an einem verzweiflungsvollen Wintermorgen über den Hügel oberhalb der Stadt gemacht hatte; die Tränen traten ihm in die Augen. Er wollte nicht schlafen, um mit seinen Erinnerungen zusammenzubleiben. Nichts wollte er von dieser heiligen Nachtwache, in dem kleinen, von Gottfrieds Seele erfüllten Ort verlieren, in den ihn seine Schritte, wie von unbekannter Macht getrieben, geführt hatten. Aber während er dem Rauschen des Brunnens, der in unregelmäßigen Stößen floß, und dem spitzen Schrei der Fledermäuse lauschte, siegte die gesunde. Jugendmüdigkeit über seinen Willen; und der Schlaf übermannte ihn.

Als er erwachte, schien die Sonne; jedermann auf dem Hof war schon an der Arbeit. In dem unteren Raum fand er nur die Alte und die Kleinen vor. Das junge Paar war auf den Feldern, und Modesta war melken gegangen; man suchte vergeblich nach ihr, man fand sie nirgends. Christof wollte ihre Rückkehr nicht abwarten: im Grunde lag ihm wenig daran, sie wiederzusehen, und so sagte er, daß er Eile habe. Nachdem er der guten Frau Grüße für die andern aufgetragen hatte, machte er sich auf den Weg.

Er hatte das Dorf hinter sich, als er bei einer Wegbiegung zu Füßen einer Weißdornhecke die Blinde auf einem Meilenstein sitzen sah. Beim Geräusch seiner Schritte stand sie auf, kam lächelnd auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und sagte:

»Kommen Sie!«

Sie stiegen quer über Wiesen empor bis zu einem beschatteten, blühenden, ganz mit Kreuzen besäten Feld, welches das Dorf beherrschte. Sie führte ihn zu einem Grabe und sagte:

»Das ist es.«

Beide knieten nieder. In Christof erwachte die Erinnerung an ein anderes Grab, an dem er mit Gottfried gekniet hatte, und er dachte:

»Bald ist die Reihe an mir.«

Doch dieser Gedanke hatte in diesem Augenblick nichts Trauriges. Tiefer Friede entströmte der Erde. Christof beugte sich über das Grab und rief Gottfried ganz leise zu:

»Kehr ein in mich! …«

Modesta bewegte mit gefalteten Händen schweigend die Lippen und betete. Dann rutschte sie kniend rings um das Grab, wobei ihre Hände die Erde, Gras und Blumen berührten; sie schien sie zu liebkosen; ihre klugen Finger sahen: sie pflückten sanft tote Epheuzweige und verwelkte Veilchen ab. Um aufzustehen, stützte sie ihre Hand auf den Grabstein; Christof bemerkte, wie ihre Finger flüchtig über Gottfrieds Namen glitten und dabei jeden Buchstaben streiften. Sie sagte:

»Heut ist die Erde lind.«

Sie streckte ihm die Hand hin. Er gab ihr die seine; sie ließ ihn die feuchte laue Erde fühlen. Er ließ ihre Hand nicht los; ihre verschlungenen Hände wühlten sich in den Boden. Er küßte Modesta. Auch sie küßte ihn.

Beide standen auf. Sie reichte ihm ein paar frische Veilchen, die sie gepflückt hatte, und barg die verwelkten an ihrer Brust. Nachdem sie ihre Knie abgestäubt hatten, verließen sie wortlos den Kirchhof. In den Feldern sangen die Lerchen. Weiße Schmetterlinge tanzten um ihre Häupter. Sie setzten sich, ein paar Schritte eins vom andern entfernt, auf einer Wiese nieder. Aus dem Dorf stiegen die Rauchsäulen ganz gerade in den regengewaschenen Himmel auf. Der reglose Kanal schimmerte zwischen den Pappeln. Ein blau leuchtender Dunst hüllte wie Flaum Felder und Wälder ein.

Nach einigem Stillschweigen begann Modesta zu sprechen. Halblaut sprach sie von der Schönheit des Tages, als sähe sie sie. Mit halboffenen Lippen trank sie die Luft; sie belauschte das Geräusch von Wesen und Dingen. Auch Christof kannte den Wert dieser Musik. Er faßte in Worte, was sie dachte, – in Worte, die sie nicht finden konnte. Er nannte manche Laute, manch unmerkliches Säuseln, daß man unterm Grase oder in den Höhen der Luft vernahm, mit Namen. Sie sagte zu ihm:

»Ach! sehen Sie das auch?«

Er antwortete, daß Gottfried ihn gelehrt habe, das alles zu unterscheiden.

»Sie auch?«

Es klang ein wenig gekränkt. Er war versucht zu ihr zu sagen:

»Seien Sie doch nicht eifersüchtig.«

Aber er sah das göttliche Licht, das rings um sie lächelte, sah ihre toten Augen und wurde von Mitleid durchdrungen.

»Also«, fragte er, »war es Gottfried, der Sie gelehrt hat?«

Sie bejahte und sagte, daß sie jetzt alles mehr genieße als vorher … – wovor, sagte sie nicht; sie vermied das Wort »Augen« oder »blind« auszusprechen.

Einen Augenblick schwiegen sie. Christof schaute sie voller Mitgefühl an. Sie fühlte seinen Blick. Er hätte ihr gern gesagt, wie sehr er sie bedauerte, er hätte gewünscht, daß sie sich ausklagte, daß sie sich ihm anvertraute. Herzlich fragte er:

»Waren Sie nicht sehr unglücklich?«

Sie blieb stumm und steif. Sie riß Grashalme aus und kaute sie schweigend. Nach einigen Augenblicken, – der Lerchensang verschwebte im Himmel – erzählte Christof, auch er sei unglücklich gewesen und Gottfried habe ihm geholfen. Er sprach von all seinen Kümmernissen, seinen Prüfungen, als dächte er laut oder spräche sich zu einer Schwester aus. Das Gesicht der Blinden hellte sich bei der Erzählung auf, und sie folgte mit gespannter Aufmerksamkeit. Christof beobachtete sie und sah, daß sie nahe daran war, zu reden: sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihm näherrücken und ihm die Hand reichen. Auch er näherte sich ihr; – aber schon hatte sie sich wieder in ihre Unbewegtheit zurückgezogen; und als er geendet hatte, erwiderte sie seine Erzählung nur mit ein paar nichtssagenden Worten. Hinter ihrer faltenlosen, gewölbten Stirn fühlte man einen kieselharten Bauerntrotz. Sie sagte, sie müsse nun nach Haus zurück, um nach den Kindern und ihrem Bruder zu sehen: und sie sprach mit lächelnder Ruhe davon.

Er fragte:

»Sind Sie glücklich?«

Sie schien es noch mehr zu sein, als ihr Ton verriet. Sie bejahte und hob die Gründe hervor, die sie zum Glücklichsein habe, und versuchte ihn davon zu überzeugen, sich selbst zu überzeugen; sie sprach von den Kindern, vom Hause, von allem, was sie zu tun hätte …

»O ja,« sagte sie, »ich bin sehr glücklich!«

Christof antwortete nichts. Sie stand zum Fortgehen auf; auch er erhob sich. In gleichmütigem, fröhlichem Ton sagten sie sich Lebewohl. Die Hand Modestas zitterte ein wenig in der Christofs. Sie sagte:

»Sie haben heut schönes Wanderwetter.«

Und sie gab ihm ein paar Vorsichtsmaßregeln für eine Wegkreuzung, an der man sich nicht irren dürfe. Es war, als sei von den beiden Christof der Blinde.

Sie trennten sich. Er stieg den Hügel hinab. Als er unten war, drehte er sich um. Sie stand auf dem Hügel am selben Platz, wehte mit dem Taschentuch und machte ihm Zeichen, als sähe sie ihn.

In dieser Hartnäckigkeit beim Verneinen ihres Unglücks war etwas Heroisches und Lächerliches zugleich, was Christof rührte und ihm peinlich war. Er fühlte, wie sehr Modesta Mitleid, ja selbst Bewunderung verdiente; und doch hätte er nicht zwei Tage mit ihr zusammen leben können.

Während er zwischen erblühten Hecken seines Weges weiterging, dachte er auch an den lieben, alten Schulz, an seine klaren, zärtlichen Greisenaugen, vor denen so viel Kümmernisse vorübergezogen waren, die sie nicht sehen wollten, die sie in ihrer verletzenden Wirklichkeit auch nicht sahen.

»Wie sieht er mich selber?« fragte er sich. »Ich bin so anders als die Vorstellung, die er sich von mir macht! Ich bin für ihn der, den er in mir sehen will. Alles ist seinem Bilde nachgeschaffen, rein und edel wie er. Er könnte das Leben nicht tragen, wenn er es sähe, wie es ist.«

Und er gedachte des Mädchens, das, in Finsternis gehüllt, die Finsternis leugnete und sich überreden wollte, daß das, was war, nicht sei, und was nicht war, sei.

Da sah er die Größe des deutschen Idealismus, den er so oft gehaßt hatte, weil er den minderwertigen Seelen eine Quelle von Heuchelei und Albernheit wird. Er sah die Schönheit dieses Glaubens, der sich eine Welt inmitten der Welt und verschieden von ihr schafft, wie eine Insel im Ozean. – In sich selbst aber konnte er diesen Glauben nicht ertragen; ihm widerstrebte, auf diese Toteninsel zu flüchten. Leben! Wahrheit! Er wollte kein Held der Lüge sein. Vielleicht war diese optimistische Lüge, die ein deutscher Kaiser sich unterfing, seinem ganzen Volke zum Gesetz zu machen, schwachen Wesen zum Leben wirklich nötig; und Christof hätte es als Verbrechen empfunden, diesen Unglücklichen die stützende Illusion zu rauben. Vor sich selber aber hätte er solche Ausflüchte nicht brauchen können: lieber wollte er sterben, als von Einbildungen leben. – War denn aber die Kunst nicht auch eine Einbildung? – Nein, sie durfte es nicht sein. Wahrheit! Wahrheit! Mit weit offenen Augen durch alle Poren den allmächtigen Atem des Lebens einsaugen, die Dinge sehen, wie sie sind, seinem Mißgeschick ins Gesicht schauen – und lachen!

 

Mehrere Monate vergingen. Christof hatte jede Hoffnung aufgegeben, aus seiner Vaterstadt herauszukommen. Der einzige, der ihn hätte retten können, Haßler, hatte ihm seine Hilfe verweigert. Und die Freundschaft des alten Schulz war ihm nur geschenkt worden, um ihm gleich wieder genommen zu werden.

Nach seiner Rückkehr hatte er ihm einmal geschrieben; darauf hatte er zwei herzliche Briefe erhalten; in einer Art Müdigkeit aber, vor allem jedoch infolge seiner Schwerfälligkeit, sich schriftlich auszudrücken, zögerte er immer wieder, für die lieben Worte zu danken; von Tag zu Tag schob er die Antwort hinaus. Und als er sich endlich zum Schreiben entschloß, bekam er durch Kunz die Nachricht vom Tode seines alten Gefährten. Schulz habe einen Rückfall seiner Bronchitis bekommen, schrieb er, der sich zur Lungenentzündung verschlimmert hätte; er hätte verboten, daß man Christof beunruhigte, doch hätte er ohne Unterlaß von ihm gesprochen. Trotz äußerster Schwäche, trotz jahrelanger Krankheit war ihm ein langes und schweres Ende nicht erspart geblieben. Kunz hatte er damit beauftragt, Christof die Nachricht zu übermitteln; er sollte ihm sagen, daß er bis zur letzten Stunde an ihn gedacht habe, daß er ihm für alles Glück, das er ihm schulde, danke und daß sein Segen, solange Christof lebe, ihn begleiten werde. – Was Kunz nicht sagte, war, daß der mit Christof verlebte Tag wahrscheinlich die Veranlassung zu dem Rückfall und die Todesursache geworden war.

Christof weinte in der Stille und fühlte nun erst den ganzen Wert des Freundes, der ihm verloren war, fühlte, wie sehr er ihn geliebt hatte; er litt, wie es immer ist, weil er es ihm nicht noch mehr gezeigt hatte. Jetzt war es zu spät. Und was blieb ihm? Der gute Schulz war gerade nur in sein Leben getreten, um, nun da er nicht mehr war, die Leere noch leerer, die Nacht noch schwärzer erscheinen zu lassen. Kunz und Pottpetschmidt aber hatten nur durch die Freundschaft, die sie für Schulz empfunden hatten, und durch die, welche Schulz für sie gefühlt hatte, für ihn einen Wert. Christof schätzte sie richtig ein. Er schrieb ihnen einmal und dabei blieb es. – Er versuchte auch an Modesta zu schreiben; aber sie ließ ihm mit einem nichtssagenden Brief antworten, in dem sie nur über Gleichgültiges sprach. So verzichtete er darauf, die Verbindung aufrecht zu erhalten. Er schrieb an niemand mehr, und niemand schrieb mehr an ihn.

Schweigen. Schweigen. Von Tag zu Tag schlug der schwere Mantel des Schweigens mehr über Christof zusammen. Wie ein Aschenregen fiel es auf ihn nieder. Der Abend schien schon zu kommen; und Christof fing kaum erst zu leben an: noch wollte er nicht verzichten. – Die Schlafenszeit war noch nicht da. Er mußte leben.

Und in Deutschland konnte er nicht mehr leben. Sein Genie wurde von der Enge der kleinen Stadt bedrückt, und die Qual darüber brachte ihn bis zur Ungerechtigkeit gegen sie auf. Seine Nerven lagen bloß: alles verwundete ihn bis aufs Blut. Er war wie eins jener elenden Raubtiere, die in den Löchern und Käfigen, in die man sie im Stadtgarten eingesperrt hatte, vor Langerweile allmählich zugrundegingen. Er besuchte sie aus Mitgefühl öfters; er betrachtete ihre wundervollen Augen, in denen wilde, verzweifelte Flammen brannten, die täglich mehr und mehr verloschen. Ach! wie sehr hätten sie den brutalen befreienden Flintenschuß geliebt, oder den Speer, der sich in die blutenden Eingeweide bohrt! Alles eher als die grausame Gleichgültigkeit dieser Menschen, die ihnen zu leben und zu sterben verwehrten!

Das niederdrückendste für Christof aber war nicht die Feindseligkeit der Leute: es war ihre haltlose Natur, die ohne Gestalt und ohne Tiefe war. Man wußte nicht, wo man sie anpacken sollte. Da ist der verbohrte Widerstand eines jener dick- und hartschädeligen Geschlechter noch besser, die keinen neuen Gedanken begreifen wollen. Gegen Kraft gebraucht man Kraft, – Hacke und Mine, die den Fels schleifen und sprengen. Was aber soll man gegen eine gestaltlose Masse ausrichten, die wie Gallert nachgibt, bei leisester Berührung einsinkt und doch keinen Eindruck bewahrt? Alle Gedanken, alle Energien, alles verschwindet in dem Schlammloch: kaum zucken, beim Hinunterstürzen eines Steines, ein paar Risse über dem Abgrund auf; der Rachen öffnet – schließt sich wieder: und von dem, was war, bleibt nicht die geringste Spur.

Feinde waren das nicht. Wären es nur in Gottesnamen Feinde gewesen! Aber es waren Leute, die weder die Kraft zu lieben noch zu hassen hatten, weder zu glauben, noch nicht zu glauben – und so in Religion, in Kunst, in Politik, im täglichen Leben: – und ihre ganze Kraft gab sich darin aus, das Unvereinbare zu vereinen. Besonders seit den deutschen Siegen taten sie alles, um Kompromisse zu schließen, einen widerlichen Mischmasch aus neuer Macht und alten Grundsätzen zustandezubringen. Auf den alten Idealismus wollte man nicht verzichten: das wäre eine Tat des Freimuts gewesen, zu der man nicht fähig war; man hatte sich, um ihn den deutschen Interessen dienstbar zu machen, damit begnügt, ihn zu verfälschen. Man folgte dem Beispiel Hegels, des heiter doppelzüngigen Schwaben, der Leipzig und Waterloo abgewartet hatte, um den Grundgedanken seiner Philosophie dem preußischen Staat anzupassen, – und änderte jetzt, nachdem die Interessen andere geworden waren, auch die Prinzipien. War man geschlagen, so sagte man, Deutschlands Ideal sei die Menschheit. Jetzt, da man die andern schlug, hieß es, Deutschland sei das Ideal der Menschheit. Solange die andern Länder die mächtigeren waren, sagte man mit Lessing, daß die Vaterlandsliebe eine heroische Schwäche sei, die man sehr gut entbehren könne, und man nannte sich Weltbürger. Jetzt, da man den Sieg davontrug, konnte man nicht genug Verachtung für die »französischen« Utopien aufbringen: als da sind Weltfrieden, Brüderlichkeit, friedlicher Fortschritt, Menschenrechte, natürliche Gleichheit; man sagte, das stärkste Volk habe den andern gegenüber ein absolutes Recht, während die andern als die Schwächeren ihm gegenüber rechtlos seien. Es schien der lebendige Gott und der fleischgewordene Geist zu sein, dessen Fortschritt sich durch Krieg, Gewalttat und Unterdrückung vollzog. Die Macht war jetzt, da man sie auf seiner Seite hatte, heilig gesprochen. Macht war jetzt der Inbegriff alles Idealismus und aller Vernunft geworden.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß man sagen, daß Deutschland Jahrhundertelang so sehr darunter gelitten hatte, Idealismus ohne Macht zu besitzen, daß es nach so viel Prüfungen wohl entschuldbar war, wenn es jetzt das traurige Geständnis ablegte, es bedürfe vor allem der Macht, wie immer sie beschaffen sein möge. Wieviel verborgene Bitternis aber lag in solchem Bekenntnis des Volkes eines Herder und Goethe! Und welch Verzicht, welche Erniedrigung des deutschen Ideals lag in diesem deutschen Sieg! – Und, ach, dieser Verzicht fand nur allzuviel Entgegenkommen in der beklagenswerten Neigung aller besten Deutschen, sich unterzuordnen.

»Was den Deutschen charakterisiert,« sagte Möser schon vor mehr als einem Jahrhundert, »ist der Gehorsam«.

Und Frau von Stael:

»Sie parieren ordentlich. Sie nehmen philosophische Vernunftgründe zu Hilfe, um das Unphilosophischeste auf der Welt zu erklären: den Respekt vor der Macht und die Gewöhnung an Furcht, die den Respekt in Bewunderung verwandelt.«

Christof fand dies Gefühl beim Größten und beim Kleinsten in Deutschland wieder, – vom Wilhelm Tell an, dem bedächtigen, kleinen Spießbürger mit den Lastträgermuskeln, der, wie der freie Jude Börne sagt, »um Ehre und Angst miteinander in Einklang zu bringen, vor dem Pfahl des »lieben Herrn« Geßler mit gesenkten Augen vorbeigeht, damit er sich darauf berufen könne, daß der nicht ungehorsam ist, welcher den Hut nicht sah –«, bis hinauf zu dem ehrenwerten siebzigjährigen Professor Weiße, einem der meistgeachteten Gelehrten der Stadt, der, wenn ein Herr Leutnant an ihm vorüberkam, ihm eilfertig den Fußsteig überließ und auf den Fahrdamm hinunterging. Christofs Blut kochte, wenn er Zeuge solcher kleinen Beweise knechtischer Unterwürfigkeit wurde, die ganz alltäglich waren. Er litt darunter, als habe er sich selbst erniedrigt. Das hochmütige Benehmen der Offiziere, denen er auf der Straße begegnete, und ihre herausfordernde Steifheit versetzten ihn in dumpfe Wut: ganz auffällig zeigte er, daß er keinen Schritt tat, um ihnen Platz zu machen, und erwiderte im Vorübergehen ihre anmaßenden Blicke. Mehr als einmal hätte er sich dadurch beinahe Händel zugezogen; fast sah es aus, als suche er sie. Und doch war er der erste, die gefährliche Überflüssigkeit solcher Kraftprotzereien zu durchschauen; für Augenblicke aber verwirrte sich sein gesundes Fühlen: der fortwährende Zwang, den er sich selbst auferlegte, und seine robusten Kräfte, die sich ansammelten und sich gar nicht ausgaben, machten ihn wütend. Dann war er nahe daran, jede Dummheit zu begehen; und er hatte das Gefühl, er würde verloren sein, wenn er nur noch ein Jahr hier bliebe. Er haßte den brutalen Militarismus, den er auf sich lasten fühlte, all diese Säbel, die auf dem Pflaster klangen, diese Gewehrpyramiden und vor den Kasernen aufgestellten Kanonen, die mit ihrer gegen die Stadt gerichteten Mündung schußbereit dastanden. Zur selben Zeit machten Skandalromane großen Lärm, welche die Verlotterung großer und kleiner Garnisonen aufdeckten; die Offiziere waren darin als bösartige Wesen dargestellt, die außerhalb ihres Automatenberufes nichts anderes kannten als müßiggehen, trinken, spielen, Schulden machen, sich von ihrer Familie erhalten lassen, sich untereinander Böses nachsagen und ihre Macht von oben bis unten durch die ganze Hierarchie hindurch den Untergebenen gegenüber mißbrauchen. Der Gedanke, daß er eines Tages gezwungen sein würde, ihnen zu gehorchen, würgte Christof an der Kehle. Niemals, niemals würde er ihre Demütigungen und Ungerechtigkeiten ertragen können und sich vor ihren Augen dadurch erniedrigen … Er ahnte nicht, welche sittliche Größe in manchen von ihnen lebte, wußte nichts von dem, was sie selber zu tragen hatten: ihre verlorenen Illusionen, ihre schlecht verwandte, verschleuderte Kraft, Jugend, Ehre, Glauben und glühenden Aufopferungsdurst – die ganze Widersinnigkeit einer Karriere, die, wenn sie nur Karriere ist, wenn sie nicht die Selbstaufopferung zum Ziel hat, ein trübseliges Treiben bleibt, eine alberne Parade, ein Ritual, das man ohne Glauben herunterbetet …

Das Vaterland genügte Christof nicht mehr. Er fühlte jene unbekannte Kraft sich in ihm regen, die gleich Ebbe und Flut zu bestimmten Zeiten plötzlich und unwiderstehlich in manchen Vogelarten erwacht: – den großen Wandertrieb. Als er die Werke Herders und Fichtes, die der alte Schulz ihm hinterlassen hatte, las, fand er darin Seelen wie die seine, – nicht »Söhne der Erde«, die knechtisch an der Scholle haften, sondern »Geister, Söhne der Sonne«, die sich unbesiegbar dem Lichte zuwenden, woher immer es kommt.

Wohin sollte er gehen? Er wußte es nicht. Instinktiv aber schauten seine Augen nach dem lateinischen Süden. Und zu allererst nach Frankreich. Nach Frankreich, der ewigen Zuflucht aus deutscher Wirrnis. Wie oft hatte deutsches Denken es nicht in Anspruch genommen, ohne doch je aufzuhören, ihm Böses nachzusagen! Welche unendliche Anziehungskraft entströmte selbst nach Siebzig immer noch der Stadt, die unterm Donner deutscher Kanonen in Trümmern und Rauch gelegen hatte! Die revolutionärsten wie die rückständigsten Denk- und Kunstformen hatten in ihr abwechselnd und manchmal gleichzeitig Vorbilder oder Anregungen gefunden. Und so wandte sich auch Christof, wie so viele andere deutsche Musiker in ihrer Verzweiflung, Paris zu … Was kannte er von Frankreich? – Zwei Frauengesichter und ein paar zufällig gelesene Bücher. Das genügte ihm, um sich ein Land des Lichts vorzustellen, voll Heiterkeit, Heldentum, sogar ein wenig gallischer Großmannssucht, die der herzenskühnen Jugend nicht allzuschlecht steht. Er glaubte an seine Vorstellung, weil er dieses Glaubens bedurfte, weil er mit ganzer Seele wünschte, daß es so sein möchte.

 

Er war zum Fortgehn entschlossen. Aber seiner Mutter wegen konnte er nicht fort.

Luise alterte. Ihr Sohn ging ihr über alles; er war ihre ganze Freude; und sie war der Inbegriff dessen, was er auf Erden liebte. Und doch litten sie beide untereinander. Sie verstand Christof kaum und bemühte sich darum nicht: sie wollte ihn nur lieben. Ihr Geist war beschränkt, schüchtern, dunkel; dafür besaß sie ein wundervolles Herz, ein unendliches Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden; das hatte etwas Rührendes und Drückendes. Sie hatte Respekt vor ihrem Sohn, weil er ihr sehr gelehrt schien; aber sie tat alles, um sein Künstlertum zu ersticken. Sie dachte, er würde sein ganzes Leben bei ihr in der kleinen Stadt bleiben. Seit Jahren lebten sie zusammen; und sie konnte sich nicht vorstellen, daß es nicht immer so weiter gehen würde. So war sie glücklich: wie hätte sie es nicht sein sollen? Alle ihre Träume für ihn reichten nicht weiter, als ihn die Tochter eines angesehenen Bürgers der Stadt heiraten zu sehen, ihn Sonntags die Orgel in seiner Kirche spielen zu hören und nie von ihm verlassen zu werden. Für sie war ihr Junge immer noch zwölf Jahre alt; sie hätte ihn am liebsten nie älter gehabt. Unschuldig quälte sie den unglücklichen jungen Mann, der unter diesem engen Horizont erstickte.

Und dennoch lag viel Wahres, viel sittliche Größe in dieser unbewußten Philosophie der Mutter, die den Ehrgeiz nicht verstehen kann, der alles Glück des Lebens in Familienliebe und der Erfüllung bescheidener Pflichten beschlossen liegt. Sie war eine Seele, die lieben wollte, nichts als lieben. Eher auf das Leben, auf Vernunft, Logik, die Welt der Wirklichkeit, auf alles verzichten als auf Liebe! Und diese Liebe war unendlich, flehend, verlangend; sie gab alles und wollte alles; sie verzichtete aufs Leben, um zu lieben, und forderte den Verzicht von den andern, den Geliebten. Liebeskraft eines schlichten Herzens! Sie findet mit einem Schlage, was tastende Vernunftschlüsse eines schwankenden Genies wie Tolstoi – oder die überfeine Kunst einer sterbenden Kultur nach Jahrhunderten – nach einem ganzen Leben rasender Kämpfe und erschöpfender Anstrengungen entdecken. Doch die gebieterische Welt, die in Christof grollte, hatte ganz andere Gesetze und forderte andere Weisheit.

Schon längst hatte er seinen Entschluß der Mutter mitteilen wollen. Aber er zitterte im Gedanken an den Kummer, den er ihr bereiten würde: und sowie er reden wollte, wurde er feige und verschob es auf später. Indessen machte er zwei- oder dreimal schüchterne Anspielungen auf seine Abreise; Luise jedoch nahm sie nicht ernst: – vielleicht tat sie nur so, um sich selbst einzureden, er spräche bloß im Spaß. Daraufhin wagte er nicht, weiter vorzugehen, aber er blieb finster, zerstreut; und man fühlte, daß auf seinem Herzen etwas lastete. Die arme Frau aber, die ahnte, welches dies Geheimnis sei, bemühte sich ängstlich, sein Geständnis hinauszuschieben. Ja Minuten des Schweigens, wenn sie abends beim Lampenlicht nebeneinander saßen, fühlte sie plötzlich, daß er sprechen wollte; dann fing sie, von Entsetzen erfaßt, ganz schnell und aufs Geratewohl zu reden an, was immer es sein mochte: kaum wußte sie, was sie sagte; um jeden Preis aber mußte sie ihn am Sprechen hindern. Gewöhnlich ließ sie ihr Instinkt das Beste finden, um ihm Schweigen aufzuerlegen: sie klagte über ihre Gesundheit, über ihre geschwollenen Hände und Füße, über ihre steifen Beine: sie übertrieb ihr Übel noch, nannte sich ein altes lahmes Weib, das zu nichts mehr gut sei. Er fiel auf diese naiven Schliche nicht herein; traurig und mit stummem Vorwurf sah er sie an; und einen Augenblick später stand er auf, indem er vorgab, daß er müde sei und zu Bett gehen wolle. Aber all diese Auswege konnten Luise nicht lange retten. Als sie eines Abends wieder zu ihm ihre Zuflucht genommen hatte, raffte Christof seinen Mut zusammen, legte seine Hand auf die der alten Frau und sagte:

»Nein, Mutter, ich habe dir etwas zu sagen.«

Luise war betroffen; aber sie versuchte, ein fröhliches Gesicht zur Schau zu tragen, um dann mit zusammengeschnürter Kehle zu fragen:

»Nun, was denn, mein Junge?«

Christof teilte ihr stammelnd seinen Entschluß mit, fortzugehen. Sie versuchte wohl, die Sache als Scherz aufzufassen und die Unterhaltung wie gewöhnlich abzulenken; aber seine Stirn glättete sich nicht; er fuhr diesmal mit so entschiedener und ernster Miene zu reden fort, daß es keine Möglichkeit des Zweifelns mehr gab. Da schwieg sie; ihr ganzes Blut stockte, und sie konnte ihn nur stumm und erstarrt mit entsetzten Augen anschauen. Ein so unsäglicher Schmerz trat bei seinen Worten in diese Augen, daß auch er die Sprache verlor; und so blieben sie beide, ohne einen Laut von sich zu geben, sitzen. Als sie endlich wieder Atem fand, sagte sie, – ihre Lippen zitterten –: »Das ist nicht möglich … das ist nicht möglich …«

Zwei große Tränen liefen ihre Wangen hinab. Er wandte entmutigt den Kopf fort und verbarg sein Gesicht in den Händen. Beide weinten. Nach einiger Zeit ging er in sein Zimmer und schloß sich dort bis zum nächsten Morgen ein. Dann machten sie keinerlei weitere Anspielungen auf das Geschehene; und da er nicht mehr davon sprach, wollte sie glauben, daß er auf seinen Plan verzichtet habe. Aber sie lebte in Todesängsten.

Jedoch der Augenblick kam, in dem er das Schweigen nicht mehr tragen konnte. Er mußte sprechen, sollte er ihr auch das Herz zerreißen: er litt zuviel. Der Egoismus seines Leids siegte über den Gedanken an den Schmerz, den er ihr bereiten mußte. Er sprach. Er vermied aus Furcht, sich aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, seine Mutter anzusehen und ging bis zum äußersten. Er bestimmte sogar den Tag seiner Abreise, um keine weitere Sekunde der Hin- und Widerrede aushalten zu müssen – er wußte nicht, ob er ein zweitesmal den traurigen Mut, den er heute besaß, finden würde. – Luise schrie:

»Nein, nein, sei still! …«

Er aber riß sich zusammen und fuhr mit unerschütterlicher Entschlossenheit zu reden fort. Als er geendet hatte – sie schluchzte – nahm er ihre Hände und versuchte ihr begreiflich zu machen, wie unbedingt notwendig es für seine Kunst, sein Leben sei, daß er für einige Zeit fortgehe. Sie wollte nicht hören, weinte und sagte nur immer wieder:

»Nein, nein! … ich will es nicht …«

Nach vergeblichen Versuchen, vernünftig mit ihr zu reden, verließ er sie und dachte, die Nacht würde ihre Gedanken schon ändern. Am nächsten Morgen aber beim Frühstück fing er mitleidlos wieder von seinem Plan zu sprechen an. Sie ließ das Stück Brot, das sie gerade zu den Lippen führen wollte, fallen und sagte im Ton schmerzlichen Vorwurfs:

»Willst du mich denn foltern?«

Er wurde gerührt, sagte aber:

»Liebe Mama, es muß sein.«

»Aber nein, aber nein!« wiederholte sie, »es muß nicht sein … Du willst mich nur ärgern … Das ist ja Wahnsinn …«

Sie wollten sich gegenseitig überzeugen; aber sie hörten nicht aufeinander. Er begriff, daß alle Erörterung unnütz sei: sie marterten sich dadurch nur noch mehr; und er begann nachdrücklich seine Reisevorbereitungen zu treffen.

Als sie sah, daß keine ihrer Bitten ihn zurückhielt, verfiel Luise in einen Zustand dumpfer Traurigkeit. Sie schloß sich tagsüber in ihr Zimmer ein; und kam der Abend, so blieb sie auch dann ohne Licht dort; sie sprach nicht mehr, sie aß nicht mehr; nachts hörte er sie weinen. Er wurde dadurch gepeinigt. Er hätte in seinem Beit schreien mögen und wälzte sich die ganze Nacht schlaflos, eine Beule seiner Selbstvorwürfe, umher. Er liebte sie so sehr! Warum mußte er sie leiden lassen? … Ach! Sie würde nicht die einzige bleiben: das sah er klar. Warum aber hatte das Schicksal in ihn Wunsch und Kraft zu einer Mission gelegt, die denen, welche er liebte, Leid bereiten mußte?

»Ach!« dachte er, »wäre ich frei, wäre ich nicht durch grausame Kraft gezwungen, zu sein, was ich sein muß, oder in Schmach und Ekel vor mir selbst zu sterben, wie wollte ich euch glücklich machen, euch, die ich liebe! Laßt mich erst leben, handeln, kämpfen, leiden; dann will ich euch wiederkehren, liebender als zuvor. Dann will ich nur noch lieben, lieben, lieben! …«

Niemals hätte er dem beständigen Vorwurf dieser trostlosen Seele widerstehen können, wenn dieser Vorwurf die Kraft gehabt hätte, stumm zu bleiben. Die schwache, etwas geschwätzige Luise aber konnte die Pein, die sie erstickte, nicht für sich behalten. Sie sprach zu ihren Nachbarinnen darüber. Sie redete ihren beiden andern Söhnen davon. Die ließen sich eine so schöne Gelegenheit nicht entgehen, um Christof ins Unrecht zu setzen. Besonders Rudolf, der nie aufgehört hatte, seinen älteren Bruder zu beneiden, obgleich er im Augenblick wenig Grund dazu hatte – Rudolf, den das leiseste Lob Christofs tief verletzte und der im geheimen, ohne sich selbst solch niederen Gedanken einzugestehen, Christofs zukünftige Erfolge fürchtete, denn er war intelligent genug, um seines Bruders Kraft zu fühlen, und ärgerte sich in dem Gedanken, daß auch andere sie wie er empfänden –, Rudolf war nur allzu glücklich, Christof mit der Wucht seiner Überlegenheit niederzuschmettern. Er hatte sich nie besonders um seine Mutter gekümmert, obgleich er ihre Bedrängnis kannte; war er auch reichlich in der Lage, sie unterstützen zu können, so überließ er doch diese ganze Sorge Christof. Als er jetzt aber von Christofs Plan hörte, entdeckte er sofort ganze Schätze von Zärtlichkeit in sich. Er entrüstete sich darüber, daß Christof seine Mutter verlassen wollte, und bezeichnete diesen Plan als ungeheuerlichen Egoismus. Er hatte die Dreistigkeit, diese Ansicht vor Christof selbst zu wiederholen. Sehr von oben herab las er ihm die Lektion wie einem Kinde, das die Rute verdient. Mit hochmütiger Miene erinnerte er ihn an seine Pflichten gegen seine Mutter und sprach von allen Opfern, die sie ihm gebracht habe. Christof barst beinahe vor Wut. Mit einem Fußtritt in den Hintern warf er Rudolf zur Tür hinaus und nannte ihn einen Lumpen und heuchlerischen Hund. Rudolf rächte sich, indem er der Mutter seine Anschauungen in den Kopf setzte. Luise ließ sich von ihm aufhetzen und kam zur Überzeugung, daß Christof als ein schlechter Sohn an ihr handle. Sie hörte immer wieder sagen, daß er nicht das Recht zum Fortgehen habe, und wünschte nichts Besseres, als es zu glauben. Anstatt ihre Tränen zu gebrauchen, die ihre stärkste Waffe waren, machte sie Christof bittere, ungerechte Vorwürfe, gegen die er sich auflehnte. Einer sagte dem andern unangenehme Dinge; und der Erfolg war, daß Christof, der bisher immer noch gezögert hatte, an nichts anderes mehr dachte, als seine Reisevorbereitungen zu beschleunigen. Er wußte, die barmherzigen Nachbarn bemitleideten seine Mutter und sahen in ihr ein Opfer, in ihm aber einen Henkersknecht. Er biß die Zähne zusammen, stand aber von seinem Entschluß nicht mehr ab.

Die Tage gingen dahin. Christof und Luise sprachen kaum miteinander. Anstatt die letzten gemeinsamen Tage bis zum kleinsten Tropfen auszukosten, verloren diese beiden Menschen, die sich liebten, alle Zeit, die ihnen noch blieb – wie das nur allzuoft der Fall ist – mit unfruchtbarer Schmollerei, in der so viele herzliche Beziehungen zugrundegehen. Sie sahen sich nur bei Tisch, wo sie sich stumm und ohne einander anzusehen gegenübersaßen und sich, weniger um zu essen, als um Haltung zu bewahren, zu ein paar Bissen zwangen. Mit größter Mühe brachte Christof ein paar Worte aus der Kehle: aber Luise antwortete nicht; und wenn sie dann ihrerseits sprechen wollte, schwieg er. Dieser Zustand war für beide unerträglich; und je länger er dauerte, um so schwieriger wurde es, ihn zu überwinden. Sollten sie sich nun so trennen? Luise machte sich jetzt klar. Laß sie ungerecht und ungeschickt gewesen war; aber sie litt zu sehr, um sich zu überlegen, wie sie das Herz ihres Sohnes, das sie verloren zu haben meinte, zurückgewinnen und die Abreise, mit der sie sich nun einmal nicht abfinden wollte, verhindern könnte. Christof sah heimlich in das bleiche, verschwollene Gesicht seiner Mutter und wurde von Gewissensbissen gefoltert; da er aber zum Fortgehn entschlossen war und wußte, daß es sich um sein Leben handelte, wünschte er in seiner Feigheit schon fort zu sein, um seinen inneren Ovalen zu entgehen. Die Abreise war für den übernächsten Tag festgesetzt. Sie waren wieder einmal nach trübseligem Zusammensitzen auseinandergegangen. Sie hatten zu Abend gespeist und dabei kein Wort miteinander geredet; endlich hatte Christof sich in sein Zimmer zurückgezogen. Unfähig zu irgendeiner Arbeit saß er, den Kopf in die Hände gestützt, vor seinem Tisch und zermarterte sich das Hirn. Die Nacht schritt vor; es war gegen ein Uhr morgens. Plötzlich hörte er ein Geräusch, hörte im Nebenzimmer einen Stuhl umfallen. Die Tür ging auf, und seine Mutter im Nachthemd und mit bloßen Füßen warf sich ihm schluchzend an den Hals. Sie glühte im Fieber, küßte ihren Sohn und stöhnte zwischen verzweiflungsvollen Tränenstößen:

»Geh nicht fort! Geh nicht fort! Ich flehe dich an! Ich flehe dich an! Geh nicht fort! … Ich sterbe dran … Ich kann, ich kann es nicht aushalten! …«

Verstört und erschreckt umarmte er sie und sagte immer wieder:

»Liebe Mama, beruhige dich, beruhige dich, ich bitte dich!«

Sie aber fuhr fort:

»Ich kann es nicht ertragen … Ich habe nur noch dich. Was soll aus mir werden, wenn du fortgehst? Ich will nicht fern von dir sterben. Ich will nicht allein sterben. Warte, bis ich tot bin! …«

Ihre Worte zerrissen ihm das Herz. Er wußte nicht, was er ihr zum Trost sagen sollte. Welche Vernunftgründe konnten diesem Ausbruch von Liebe und Schmerz standhalten! Er zog sie auf seine Knie und suchte sie mit Küssen und zärtlichen Worten zu beruhigen. Nach und nach wurde die alte Frau still und weinte nur noch leise vor sich hin. Als sie ein wenig besänftigt war, sagte er zu ihr:

»Lege dich wieder hin. Du wirst dich erkälten.«

Sie wiederholte:

»Geh nicht fort!«

Ganz leise sagte er:

»Ich werde nicht fortgehen.«

Sie schauerte zusammen und faßte nach seiner Hand:

»Wirklich?« fragte sie. »Wirklich nicht?«

Er wandte entmutigt den Kopf ab.

»Morgen,« sagte er, »morgen werde ich dir sagen … Laß mich, ich bitte dich darum! …«

Gefügig stand sie auf und ging in ihr Zimmer zurück.

Am nächsten Morgen schämte sie sich ihres Anfalls von Verzweiflung, der sie mitten in der Nacht wie Wahnsinn gepackt hatte, und sie zitterte vor dem, was ihr Sohn ihr sagen würde. Sie hatte sich in eine Zimmerecke gesetzt und erwartete ihn; um sich abzulenken, hatte sie ein Strickzeug genommen; ihre Hände aber verweigerten den Dienst: sie ließ es fallen. Christof kam herein. Halblaut, ohne sich ins Gesicht zu schauen, sagten sie sich Guten Morgen. Es war dunkel; er stellte sich mit dem Rücken gegen seine Mutter ans Fenster und blieb dort, ohne zu sprechen, stehen. Ein Kampf tobte in ihm. Er wußte den Ausgang im voraus nur allzugut und suchte deshalb, ihn hinauszuschieben. Luise wagte nicht, das Wort an ihn zu richten, nicht die Antwort heraufzubeschwören, die sie erwartete und fürchtete. Sie zwang sich, ihr Strickzeug wieder vorzunehmen, aber sie sah nicht, was sie tat, und die Maschen fielen herunter. Draußen regnete es. Nach langem Schweigen trat Christof auf sie zu. Sie regte sich nicht; aber ihr Herz klopfte. Christof schaute sie unbeweglich an; plötzlich warf er sich auf die Knie, verbarg sein Gesicht im Kleid der Mutter, und ohne ein Wort zu sagen, weinte er. Da verstand sie, daß er blieb; und ihr Herz war von tödlicher Angst befreit; – gleich aber zog die Reue darin ein. Denn sie fühlte es, welches Opfer ihr Sohn ihr brachte; und nun begann sie all das zu leiden, was Christof ausgestanden hatte, solange er über sie hinwegschreiten wollte. Sie neigte sich über ihn und bedeckte ihm Stirn und Haare mit Küssen. Schweigend flossen ihre Tränen und Schmerzen zusammen. Endlich hob er das Gesicht; Luise nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und senkte ihre Augen in die seinen. Am liebsten hätte sie ihm gesagt:

»Ziehe davon!«

Und sie konnte es nicht.

Er hätte ihr gern gesagt:

»Ich bleibe mit Freuden.«

Und er konnte es nicht.

Ihre Lage war unentwirrbar; weder der eine noch der andere konnte daran etwas ändern. In ihrer schmerzvollen Liebe seufzte sie:

»Ach! wären wir doch alle miteinander geboren, um auch miteinander zu sterben!«

Bei diesem naiven Wunsch durchdrang ihn tiefe Zärtlichkeit; er trocknete seine Tränen, zwang sich zu einem Lächeln und sagte:

»Wir werden zusammen sterben.«

Sie drang in ihn:

»Ganz gewiß? Du gehst nicht fort?«

Er erhob sich:

»Ich habe es gesagt. Sprechen wir nicht mehr davon. Wir brauchen darauf nicht mehr zurückzukommen.«

Christof hielt Wort: er sprach nicht mehr vom Fortgehen; aber er konnte nicht hindern, daß er daran dachte. Er blieb; aber er ließ seine Mutter das ihr gebrachte Opfer teuer mit seiner Traurigkeit und schlechten Laune bezahlen. Und die ungeschickte Luise – um so ungeschickter, als sie genau wußte, daß sie es war, und unfehlbar stets das tat, was sie nicht hätte tun sollen, – drang in ihn, er möchte ihr den Grund seines Kummers sagen, den sie doch nur allzugenau kannte. Sie quälte ihn mit ihrer guten Herzlichkeit, die stets besorgt, ängstlich, geschwätzig war und ihn in jedem Augenblick daran erinnerte, wie verschieden sie waren, – was er so gern vergessen hätte. Wie oft wollte er sich ihr vertrauensvoll eröffnen! Im Augenblick des Sprechens aber richtete sich die chinesische Mauer zwischen ihnen auf; und er verschloß seine Geheimnisse in sich. Sie ahnte das; aber sie wagte nicht, ihn zum Sprechen zu ermuntern; oder sie verstand es nicht zu tun. Versuchte sie es, so brachte sie es nur dahin, daß die Geheimnisse, die so schwer auf ihm lasteten und die er so brennend gern ausgesprochen hätte, nur noch tiefer in ihn zurückströmten.

Tausend Kleinigkeiten, harmlose Angewohnheiten trennten sie ebenfalls von ihm und reizten Christof. Die gute Alte faselte ein wenig. Es war ihr Bedürfnis, die Geschichten aus der Nachbarschaft zu besprechen; dann besaß sie jene gewisse Ammenzärtlichkeit, die hartnäckig immer wieder auf die Nichtigkeiten erster Jahre, auf alles, was sich an die Wiege knüpft, zurückkommt. Mit so vieler Mühe ist man herausgewachsen, ist ein Mann geworden! Und immer wieder muß Julias Amme kommen, muß die schmutzigen Windeln und törichten Gedanken hervorziehen, die ganze unselige Zeit beschwören, in der eine werdende Seele sich gegen den Druck der gemeinen Materie, der erstickenden Umgebung wehrt!

Und zwischen all dem zeigte sie rührende Zärtlichkeitsausbrüche, – wie gegen ein kleines Kind; sie griffen ihm ans Herz, und er gab sich ihnen hin – wie ein kleines Kind.

Das Schlimmste war, daß sie vom Morgen bis zum Abend zusammenlebten, immer zusammen und von allen übrigen Menschen abgeschlossen. Wenn man zu zweit leidet, und einer kann die Pein des andern nicht heilen, so wird das zu einer Qual, durch die man außer sich gerät: jeder macht den andern schließlich für seinen Kummer verantwortlich; und jeder glaubt zuletzt an seine Schuld. Da ist es besser: allein sein – denn man leidet allein.

Jeder Tag wurde beiden zur Folter. Sie hätten sich niemals losgerungen, wenn nicht, wie so oft, der Zufall das grausame Netz, in dem sie zappelten, scheinbar mit unglücklicher, in Wahrheit mit glücklicher Hand zerschnitten hätte.

 

Es war an einem Oktobersonntag. Vier Uhr nachmittags. Das Wetter war strahlend. Christof war den ganzen Tag, in sich selbst versunken, auf seinem Zimmer geblieben und hatte »an seiner Melancholie gesogen«.

Jetzt hielt er's nicht mehr aus; ein wilder Wunsch kam über ihn, auszugehen, zu marschieren, seine Kräfte zu gebrauchen, sich abzumatten, nur um nicht zu denken.

Seit dem Abend vorher stand er mit seiner Mutter kühl. Er war im Begriff fortzugehen, ohne ihr Lebewohl gesagt zu haben. Schon war er auf dem Flur, als er an den Kummer dachte, den er ihr damit für den ganzen einsamen Abend bereiten würde. So ging er noch einmal hinein und gebrauchte sich selbst gegenüber den Vorwand, daß er in seinem Zimmer etwas vergessen habe. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter stand halb offen. Er steckte den Kopf durch die Spalte. Er sah seine Mutter ein paar Sekunden lang … (Wie viel sollten ihm diese wenigen Sekunden für den Rest seines Lebens bedeuten!) …

Luise war eben vom Nachmittagsgottesdienst zurückgekehrt. Sie saß an ihrem Lieblingsplatz in der Fensterecke. Die schmutzig weiße, abgeblätterte Mauer des gegenüberliegenden Hauses verdeckte die Aussicht. Aber von dem Winkel, in dem sie saß, konnte man rechts über die beiden Höfe der Nachbarhäuser hinweg eine kleine Rasenecke, groß wie ein Taschentuch, sehen. Vom Fensterbrett kletterte eine Schlingpflanze an einem Bindfaden entlang und spannte ihr feines Netz, das ein Sonnenstrahl küßte, über einen Regenbogen hin. Luise saß mit rundem Rücken auf einem niederen Stuhl und hatte ihre dicke Bibel offen auf den Knien liegen, doch sie las nicht. Ihre beiden Hände ruhten flach auf dem Buch – ihre Hände, deren Adern geschwollen, deren Nägel viereckig und ein wenig gekrümmt waren wie die einer Arbeiterin; – ihre Augen schauten voller Liebe auf die kleine Pflanze und das Stückchen Himmel, das man durch sie hindurch sah. Ein Sonnenreflex auf grüngoldnen Blättern erhellte ihr müdes, von etwas Kupferausschlag marmoriertes Gesicht, ihre weißen, sehr feinen und gelichteten Haare und ihren lächelnden halboffnen Mund. Sie genoß die Ruhestunde. Es war ihr schönster Augenblick der Woche. Sie benutzte ihn, um sich dem gedankenlosen Zustand hinzugeben, der den Bekümmerten so süß ist, um unterzutauchen in die leise Betäubung des Seins, aus der nur das halbentschlummerte Herz spricht.

»Mutter,« sagte er, »ich möchte ein wenig ausgehen. Ich werde eine kleine Wanderung in der Richtung nach Buir machen; vielleicht komme ich ziemlich spät zurück.«

Luise, die vor sich hindämmerte, fuhr leicht zusammen. Dann wandte sie ihm den Kopf zu und sah ihn mit ihren guten, friedfertigen Augen an.

»Geh, mein Junge,« sagte sie zu ihm; »du hast recht, benutze das schöne Wetter.«

Sie lächelte ihm zu. Auch er lächelte zu ihr hinüber. So blieben sie einen Augenblick und schauten einander an; dann winkten sie sich mit Kopf und Augen ein kleines zärtliches »Guten Abend« zu. Leise schloß er die Tür. Sie sank langsam wieder in ihre Träumerei zurück, in die das Lächeln ihres Sohnes einen Widerschein warf, gleich dem Sonnenstrahl auf den bleichen Blättern der Schlingpflanze.

So verließ er sie – für sein ganzes Leben.

 

Ein Oktoberabend. Lauer blasser Sonnenschein. Das welke Land entschlummert. Kleine Dorfglöckchen klingen gemächlich in die Stille der Felder hinein. Mitten aus den Äckern steigen Rauchsäulen langsam empor. In der Ferne weben feine Dunstschleier. Weiße Nebelteppiche liegen auf der feuchten Erde und warten, um sich zu heben, aufs Nahen der Nacht … Ein Jagdhund umschreibt, die Nase am Boden, in einem Rübenfeld weite Kreise. Über den grauen Himmel ziehen große Krähenschwärme.

Christof ging träumend und ohne festes Ziel dahin; instinktiv aber nahmen seine Schritte doch eine bestimmte Richtung. Seine Spaziergänge um die Stadt herum endeten seit ein paar Wochen, ob er es wollte oder nicht, meist in der Nähe eines Dorfes, wo er sicher war, ein schönes Mädchen zu treffen, das ihn bezauberte. Es war allerdings nur ein Reiz; aber er war stark und etwas verwirrend. Christof konnte es kaum ohne irgendeine Liebe aushalten; und sein Herz blieb selten leer: stets stand irgendein schönes Bild darin, das ihm Idol wurde. Meistens lag ihm wenig daran, ob dies Idol von seiner Liebe wußte: ihm war es nur Bedürfnis zu lieben; das Feuer durfte nicht verlöschen, nie sollte in seinem Herzen Nacht sein.

Der Brennstoff der neuen Flamme war ein Bauernmädchen, das er, wie Elieser die Rebekka, am Brunnen getroffen hatte; doch zu trinken hatte sie ihm nichts gereicht: hatte ihm nur Wasser ins Gesicht gespritzt. Sie kniete am Rand eines Baches in der Höhlung des Uferwalls zwischen zwei Weiden, deren Wurzeln gleichsam ein Nest um sie schlangen, und wusch mit mächtigem Eifer Wäsche; ihre Zunge war dabei ebenso tätig wie ihre Arme: sie plauderte und lachte sehr laut mit andern Dorfmädchen, die an der gegenüberliegenden Seite des Baches ebenfalls wuschen. Christof hatte sich, ein paar Schritte von ihr entfernt, ins Gras gestreckt; und das Kinn in seine Hände gestützt, blickte er die Mädchen an. Das schüchterte sie wenig ein: sie schwatzten weiter, und zwar in einer Ausdrucksweise, die manchmal recht kräftig wurde. Er hörte kaum zu: er lauschte nur dem Klang ihrer lachenden Stimmen, der sich mit dem Geräusch der Wäsche und fernem Rindergebrüll auf den Wiesen mischte; so träumte er vor sich hin und ließ dabei die Augen nicht von der schönen Wäscherin. Ein frohes junges Gesicht schenkte ihm für einen ganzen Tag Freude. – Die Mädchen hatten bald den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit herausgefunden: sie machten unter sich boshafte Anspielungen darauf. Seine Erwählte hatte es mit keineswegs zarten Bemerkungen auf ihn abgesehen. Da er sich immer noch nicht regte, stand sie auf, nahm einen Haufen gewaschener und ausgewrungener Wäsche und fing an, sie unter den Büschen auszubreiten, ein Vorwand, näher an ihn heranzukommen und ihn in Augenschein nehmen zu können. Als sie an ihm vorbeikam, bespritzte sie ihn wie zufällig mit den feuchten Tüchern und sah ihn dazu lachend und frech an. Sie war mager und kräftig, hatte ein starkes, etwas aufwärtsgebogenes Kinn, eine kurze Nase, schön gebogene Brauen, dunkelblaue, kühne, glänzende und harte Augen, einen schönen starklippigen Mund, der ein wenig vorstand wie bei einer griechischen Maske, eine Fülle blonder, am Hinterkopf zusammengewundener Haare und gebräunte Haut. Den Kopf trug sie sehr grade, lachte bei jedem Wort, das sie sagte, lachte selbst ohne etwas zu sagen und marschierte wie ein Mann, indem sie mit den sonnverbrannten Händen schlenkerte. Sie breitete weiter ihre Wäsche aus, sah dabei Christof herausfordernd an – und wartete darauf, daß er sie anspräche. Auch Christof fixierte sie; aber er hatte keinerlei Wunsch, mit ihr zu reden. Schließlich lachte sie ihm laut ins Gesicht und ging zu ihren Gefährtinnen zurück. Er blieb auf seinem Platz liegen, bis der Abend sank und er sie mit ihrer Bütte auf dem Rücken davongehen sah, die nackten Arme gekreuzt, mit gebeugtem Rücken, weiter schwatzend und lachend.

Zwei oder drei Tage später sah er sie in der Stadt auf dem Markt zwischen Bergen von Karotten, Tomaten, Gurken und Kohl wieder. Er schlenderte umher und schaute sich in der Menge der Verkäuferinnen um, die da in einer Reihe wie Sklavinnen zum Verkauf standen. Der Schutzmann schritt bei einer jeden mit seiner Geldkatze und seiner Markenrolle vorüber, empfing sein Geldstück und verabfolgte dafür ein Papierchen. Die Kaffeeverkäuferin ging mit einem Korb voll kleiner Kaffeetöpfchen von Reihe zu Reihe. Eine alte gutmütige und rundliche Nonne machte mit zwei großen Körben an den Armen die Runde um den Markt, erbettelte sich ohne besondere Demut Gemüse und sprach dabei vom lieben Gott. Man schrie durcheinander. Die altertümlichen Wagen mit ihren grüngemalten Tellern rasselten und klirrten mit Kettenlärm. Große Hunde, die vor Wägelchen gespannt waren, bellten vergnügt und stolz auf ihre Wichtigkeit. Inmitten des Getöses bemerkte Christof Rebekka. – Mit ihrem richtigen Namen hieß sie Lorchen. – Sie hatte sich auf ihr blondes Haar ein schönes weißgrünes Kohlblatt gelegt, das eine ausgezackte Spitzenkappe bildete. So saß sie vor einer Unmenge goldiger Zwiebeln, rosiger Rübchen, Bohnen und hochroter Äpfel auf einem Korb, knabberte Äpfel und kümmerte sich nicht um ihren Verkauf. Unaufhörlich aß sie. Von Zeit zu Zeit wischte sie sich Kinn und Hals mit ihrer Schürze, schob die Haare mit ihrem Arm empor, rieb sich die Wange an der Schulter oder die Nase mit dem Handrücken. Oder sie ließ, die Hände auf den Knien, kleine Schoten unaufhörlich von einer in die andere rieseln. Mit müßiger Dilettantenmiene schaute sie umher. Doch sie verlor nichts von dem, was rings um sie vorging; und alle ihr zugedachten Blicke fing sie, ohne daß man's merkte, auf. Sie sah Christof ganz genau. Sie hatte eine bestimmte Art, die Brauen zusammenzuziehen, wodurch sie über die Köpfe ihrer Käufer hinweg ihren Verehrer beobachten konnte. Dabei benahm sie sich würdig und ernst wie ein Papst; im stillen aber machte sie sich über Christof lustig. Er verdiente es wohl: er blieb ein paar Schritte von ihr entfernt aufgepflanzt stehen und verschlang sie mit den Augen; und dann ging er fort, ohne mit ihr gesprochen zu haben. Nicht die geringste Lust verspürte er dazu.

Mehr als einmal kam er wieder auf den Markt zurück oder strich um das Dorf, indem sie wohnte, herum. Auf ihrem Gutshof ging sie ab und zu: und er blieb auf dem Wege stehen, um sie anzuschauen. Zwar gestand er sich nicht ein, daß er um ihretwillen kam; und wirklich, er tat es fast gedankenlos. War er, wie das oft geschah, in die Komposition eines Werkes vertieft, so befand er sich gleichsam in schlafwandlerischem Zustand: indessen seine bewußte Seele den musikalischen Gedanken weiter verfolgte, blieb sein übriges Wesen der andern, unbewußten Seele ausgeliefert, die jeder geringsten geistigen Zerstreutheit auflauerte, um das Weite zu suchen. Oft war er vom Gesumm seiner musikalischen Gedanken ganz betäubt, wenn er plötzlich ihr gegenüber stand; und noch während er sie ansah, träumte er weiter. Er hätte nicht behaupten können, daß er sie liebte; er dachte nicht einmal daran; es machte ihm Freude, sie anzuschauen: das war alles. Von dem Wunsch, der ihn immer wieder ihr entgegenführte, gab er sich gar keine Rechenschaft. Seine Hartnäckigkeit aber brachte Klatschereien auf. Man machte sich auf dem Bauernhof lustig darüber, nachdem man herausbekommen hatte, wer Christof sei. Übrigens ließ man ihn in Frieden; denn er war recht ungefährlich. Alles in allem machte er einen ziemlich närrischen Eindruck: doch darum kümmerte er sich nicht.

 

Im Dorf war Kirchweih. Die Gassenbuben zerdrückten Knallerbsen zwischen zwei Kieseln und schrien dazu: »Der Kaiser lebe hoch!« Man hörte ein Kalb in seinem Stalle brüllen und den Gesang der Kneipenden im Wirtshaus. Kometengeschweifte Papierdrachen stiegen über den Feldern auf und schwankten in der Luft hin und her. Die Hühner scharrten wie närrisch im Stroh und im goldigen Dünger: der Wind blähte sich in ihren Federn, als hätte er's mit den Röcken einer alten Dame zu tun. Ein rosiges Schwein schlief selig in der Sonne.

Christof wandte sich zum Wirtshaus der »Drei Könige«, auf dessen rotem Dach ein Fähnchen flatterte. An der Fassade hatte man Zwiebelkränze aufgehängt, und die Fenster waren mit roter und gelber Kapuzinerkresse geschmückt. Er trat in den tabaksrauchigen Saal, an dessen Wänden vergilbte Farbdrucke hingen und am Ehrenplatz das kolorierte, von einem Eichenkranz umrahmte Bild des Kaisers. Man tanzte. Also war Christof ganz sicher, daß seine Schöne auch da sein würde. Und wirklich, sie war das erste Gesicht, das er sah. Er ließ sich in einer Ecke des Saales nieder, von wo er in aller Ruhe dem Tanze folgen konnte. Aber trotz aller Vorsicht, nicht bemerkt zu werden, entdeckte ihn Lorchen dennoch sofort in seinem Winkel. Während sie sich in endlosen Walzern drehte, warf sie ihm, über die Schulter ihrer Tänzer hinweg, schnelle Blicke zu, um sich zu vergewissern, daß er sie beständig anschaue; dabei machte es ihr Spaß, ihn zu reizen: sie kokettierte mit den Burschen vom Dorf und lachte mit ihrem großen schönen Mund. Sie sprach laut und redete dummes Zeug, unterschied sich also in nichts von den jungen Mädchen der Gesellschaft, die, sobald man sie ansieht, meinen, sie müßten lachen, sich in Bewegung setzen und sich vor dem Publikum einfältig aufführen, anstatt das lieber unter sich zu besorgen; – worin sie eigentlich gar nicht so einfältig sind: denn sie wissen ganz gut, daß das Publikum sie anschaut und nicht anhört. Christof saß mit aufgestützten Ellbogen, das Kinn in der Faust, da und folgte mit glühenden und wütenden Augen dem Treiben des Mädchens. Sein Kopf war frei genug, um sich von ihren Listen nicht anführen, aber doch nicht so frei, um sich von ihnen nicht überrumpeln zu lassen; und so brummte er denn vor Zorn, um gleich wieder heimlich zu lachen und die Achseln darüber zu zucken, daß er ins Garn gehen sollte.

Außer dem jungen Mädchen beobachtete ihn noch ein anderer: Lorchens Vater. Er war klein, stämmig, kahl und hatte einen dicken Kopf mit kurzer Nase; – sein von der Sonne gebräunter Schädel war von einem Kranz einst blonder Haare umrahmt, die sich in dicken Locken wie beim Dürerschen Johannes krausten; gut rasiert, ein unbewegliches Gesicht, seine lange Pfeife im Mundwinkel, – so unterhielt er sich bedächtig mit andern Bauern, während er von der Seite Christofs Mienenspiel beobachtete; still lachte er vor sich hin. Einmal hüstelte er, und ein spitzbübischer Blick glänzte in seinen kleinen grauen Augen auf; dann setzte er sich zu Christof an den Tisch. Christof wandte sich ihm höchst unzufrieden mit saurem Gesicht zu: da begegnete er einem Schelmenblick des Alten, der, ohne seine Pfeife aus dem Mund zu ziehen, vertraulich das Wort an ihn richtete. Christof kannte ihn und wußte, daß er ein alter Schurke war; aber die Schwäche, die er für die Tochter hatte, machte ihn dem Vater gegenüber duldsam und ließ ihn sogar ein absonderliches Vergnügen darin finden, mit ihm zusammen zu sein: der alte Gauner ahnte das deutlich. Er sprach vom Regen und vom schönen Wetter, machte eine neckende Anspielung auf die anwesenden schönen Mädchen, auf sein Fernbleiben vom Tanze und schloß, daß Christof ganz recht habe, sich nicht anzustrengen; man habe es ja auch weit besser am Tisch vor seinem Glase; und er lud sich ohne Umstände selber ein, mit ihm eins zu leeren. Während er trank, redete er, wie immer, ohne Eile weiter. Er sprach von seinen kleinen Geschäften, von den schwierigen Lebensbedingungen, den schlechten Zeiten, von der allgemeinen Teuerung. Christof hörte kaum hin und antwortete nur mit einigem Gebrumm: das alles interessierte ihn nicht; er schaute Lorchen an. Minuten des Schweigens traten ein: der Bauer erwartete ein Wort; keinerlei Antwort kam: da nahm er ruhig das Gespräch wieder auf. Christof fragte sich, was ihm wohl die Ehre der Gesellschaft des Alten und seiner vertraulichen Mitteilungen verschaffte. Endlich kam er dahinter. Der Alte hatte sein Klagelied erschöpft und ging zu einem andern Kapitel über: er lobte seine ausgezeichneten Produkte, seine Gemüse, sein Geflügel, seine Eier, seine Milch; und plötzlich fragte er Christof, ob er ihm nicht die Kundschaft des Hofes verschaffen könnte. Christof fuhr empor:

»Woher zum Teufel wissen Sie? … Kennen Sie mich denn?«

»Ja gewiß,« sagte der Alte. »Man kann alles wissen …«

Ohne jedoch hinzuzufügen:

»… wenn man sich die Mühe gibt, sein eigner kleiner Polizeispitzel zu sein.«

Indessen sagte Christof sich das selbst. Es machte ihm nun ein boshaftes Vergnügen, ihm beizubringen, daß, obgleich man »alles wissen kann«, man wahrscheinlich doch nicht von seinem kürzlichen Zerwürfnis mit dem Hof unterrichtet sei; und daß, wenn er sich jemals habe schmeicheln können, in den großherzoglichen Bedientenzimmern und Küchen irgendwelches Vertrauen zu genießen (was er stark bezweifle), dieses Vertrauen gegenwärtig tot und begraben sei. Der Alte verzog unmerklich den Mund. Er ließ sich indessen nicht entmutigen; und bald darauf fragte er, ob Christof ihn nicht wenigstens dieser oder jener Familie empfehlen könnte. Und er nannte ihm wirklich alle die, mit denen Christof in Beziehung gestanden hatte; denn er hatte sich, auf seinem Wege zum Markt, sehr genau unterrichtet; und es war nicht zu befürchten, daß er eine Einzelheit von Nutzen vergessen hätte. Christof wäre über diese Spionage wütend geworden, wenn er nicht in dem Gedanken, daß der Alte bei all seiner Schlauheit der Genasführte sein würde, hätte lachen müssen, denn er ahnte kaum, daß die Empfehlung, die er verlangte, eher dazu geeignet war, ihn seine Kundschaft verlieren zu lassen, als ihm neue zu verschaffen. Er ließ ihn also für nichts und wieder nichts seine Spule plumper kleiner Listen abhaspeln; und er antwortete weder nein noch ja. Aber der Bauer ließ nicht locker; schließlich machte er sich an Christof selber und an Luise, die er sich als Letztes aufgespart hatte, und wollte ihnen mit aller Gewalt seine Milch, Butter und Sahne aufschwatzen. Er fügte hinzu, Christof sei ja Musiker, und es gäbe bekanntlich nichts Besseres für die Stimme, als morgens und abends ein rohes Ei herunterzuschlucken: er aber mache sich anheischig, ihm welche zu liefern, die noch warm von der Henne kämen. Über den Gedanken, daß der Alte ihn für einen Sänger nahm, mußte Christof laut herauslachen. Der Bauer benutzte das, um eine neue Flasche zu bestellen. Danach schien ihm, daß er alles, was er für den Augenblick aus Christof ziehen konnte, aus ihm herausgezogen habe, und er ging ohne weitere Förmlichkeiten davon.

Die Nacht war gekommen. Die Tänze waren immer lebhafter geworden. Lorchen schenkte Christof keinerlei Beachtung mehr: sie war allzusehr damit beschäftigt, einem jungen Dorfschlingel den Kopf zu verdrehen, dem Sohn eines reichen Pächters, um den sich alle Mädchen stritten. Christof machte der Kampf Spaß: die jungen Damen lächelten einander zu und hätten einander mit Wonne zerkratzt. Christof war als guter Kerl selbstlos genug, Lorchen dabei die Daumen zu halten. Als der Sieg jedoch errungen war, fühlte er sich ein wenig niedergeschlagen. Er warf sich das vor. Er liebte Lorchen nicht, es lag ihm nichts daran, von ihr geliebt zu werden: es war nur natürlich, daß sie liebte, wen sie wollte. – Zweifellos. Aber es war nicht vergnüglich, selbst so wenig Zuneigung zu finden, wenn man sie so gerne eingeflößt und gespürt hätte. Wie in der Stadt war er auch hier allein. Alle diese Leute interessierten sich nur für ihn, um ihn auszunützen und sich hinterher über ihn lustig zu machen. Er seufzte, lächelte beim Anblick Lorchens, welche die Freude, ihre Rivalinnen wütend zu machen, zehnmal hübscher erscheinen ließ, und machte sich zum Fortgehen bereit. Es war beinahe neun Uhr, und er hatte zwei gute Meilen zur Stadt zurückzulegen.

Als er vom Tisch aufstand, öffnete sich die Tür und ein Dutzend Soldaten polterten herein. Ihr Auftreten schien einen kalten Luftzug in den Saal zu wehen. Die Leute begannen zu tuscheln. Ein paar tanzende Paare hielten an und warfen beunruhigte Blicke auf die Neuangekommenen. Die Bauern, die neben der Tür standen, drehten ihnen auffällig den Rücken zu und unterhielten sich untereinander; doch, ohne daß es den Anschein hatte, waren sie darauf bedacht, sorgsam beiseite zu treten, um sie vorbeizulassen. – Seit einiger Zeit befand sich die ganze Gegend in stillem Kampf gegen die rings um die Stadt gelagerte Festungsgarnison. Die Soldaten langweilten sich tödlich und ließen das die Bauern entgelten. Sie machten sich derb über sie lustig, behandelten sie schlecht, gingen mit den Mädchen wie in unterworfenen Ländern um. In der vorigen Woche hatten einige von ihnen, in Weinstimmung, die Kirmeß eines Nachbardorfes gestört und einen Pächter beinahe umgebracht. Christof wußte über diese Dinge Bescheid und teilte die Stimmung der Bauern; er setzte sich wieder an seinen Platz und wartete, was geschehen würde.

Die Soldaten kümmerten sich nicht um den unwilligen Empfang, der ihnen bereitet wurde, sondern setzten sich lärmend an vollen Tischen nieder, von denen sie, um sich Platz zu schaffen, die Leute fortpufften: das war in einem Augenblick geschehen. Die meisten rückten brummend beiseite. Ein Alter, der am Ende einer Bank saß, stand nicht schnell genug auf: da kippten sie die Bank um und der Alte purzelte inmitten schallenden Gelächters herunter. Christof fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg; empört erhob er sich; aber als er gerade im Begriff stand, dazwischenzufahren, sah er, wie der Alte sich mühsam wieder aufrichtete und anstatt sich zu beschweren, eine Entschuldigung nach der andern hervorstotterte. Da traten zwei Soldaten an Christofs Tisch: als er sie kommen sah, ballte er die Fäuste. Aber er brauchte sich ihrer nicht zu bedienen. Beide waren kräftige, aber gutmütige Burschen, die wie Hammel einem oder zwei Wagehälsen folgten und sie nachzuahmen suchten. Sie wurden durch Christofs hochmütige Miene sofort eingeschüchtert; und als er in dürrem Ton zu ihnen sagte:

»Der Platz ist besetzt«

entschuldigten sie sich eilig und rückten, um ihn nicht zu stören, ans Ende der Bank. Seine Stimme hatte herrisch geklungen: die natürliche Unterwürfigkeit gewann die Oberhand. Sie merkten sofort, daß Christof kein Bauer war.

Durch diese unterwürfige Haltung wurde Christof ein wenig besänftigt und beobachtete nun mit mehr Kaltblütigkeit. Er sah ohne weiteres, daß die ganze Bande von einem Unteroffizier geführt wurde, einer kleinen Bulldogge mit harten Augen und heuchlerischem, bösem Domestikengesicht: er war einer der Helden des Krawalls vom vergangenen Sonntag. Er saß schon betrunken an einem Tisch neben Christof, starrte alle Leute unverschämt an und warf ihnen verletzende Spöttereien an den Kopf, die sie scheinbar überhörten. Vor allem hielt er sich an die tanzenden Paare und bezeichnte in gemeinen Ausdrücken, die seine Gefährten zum Lachen brachten, ihre körperlichen Vorzüge oder Fehler. Die Mädchen erröteten und die Tränen traten ihnen in die Augen; die Burschen knirschten mit den Zähnen und schluckten ihre Wut herunter. Der Blick des Unholds lief langsam, ohne einen zu schonen, um den Saal herum: Christof sah, wie er sich ihm näherte. Er ergriff fest seinen Schoppen und wartete so, die Faust auf dem Tisch, entschlossen, bei der ersten Beleidigung dem Unteroffizier das Glas auf den Kopf, zu schlagen. Er sagte sich:

»Ich bin verrückt. Ich täte besser, fortzugehen. Ich werde mir noch den Bauch aufschlitzen lassen; und wenn ich dem entgehe, wird man mich ins Gefängnis werfen: das ist wirklich nicht der Mühe wert. Gehen wir, bevor er mich gestellt hat.« Doch sein Stolz widersetzte sich: er wollte sich nicht den Anschein geben, als ergriffe er vor diesen Kerlen die Flucht. – Der tückische und brutale Blick heftete sich auf ihn. Christof richtete sich kerzengerade auf und fixierte ihn voller Zorn. Der Unteroffizier betrachtete ihn einen Augenblick: Christofs Gesicht brachte ihn in Schwung; er stieß seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und machte ihn grinsend auf den jungen Mann aufmerksam; schon öffnete er den Mund, um ihn zu beschimpfen. Christof raffte sich zusammen und war im Begriff, ihm sein Glas in großem Bogen an den Kopf zu werfen. – Diesmal rettete ihn der Zufall noch. – Im Augenblick, als der Trunkenbold reden wollte, stieß ein ungeschicktes Tänzerpaar gegen ihn, so daß sein Glas umfiel. Wütend wandte er sich um und schüttete einen ganzen Karren von Schimpfreden über sie aus. Seine Aufmerksamkeit war abgelenkt: er dachte nicht mehr an Christof. Der wartete noch ein paar Minuten; als er dann sah, daß sein Feind auf die Auseinandersetzung nicht mehr zurückkommen wollte, stand er auf, nahm langsam seinen Hut und bahnte sich ohne Hast einen Weg zur Tür. Die Augen ließ er nicht von der Bank, auf der der andere saß, um ihm recht fühlbar zu machen, daß er ihm nicht ausweiche. Aber der Unteroffizier hatte ihn vollständig vergessen: niemand beschäftigte sich mehr mit ihm.

Er drückte die Türklinke nieder: noch ein paar Sekunden, und er war draußen. Aber es war beschlossen, daß er so nicht herauskommen sollte. Hinten im Saal erhob sich ein Lärm. Die Soldaten hatten getrunken und wollten nun tanzen. Und da alle Mädchen bereits ihre Kavaliere hatten, jagten sie die Tänzer davon, was diese sich gefallen ließen. Lorchen aber war dafür nicht zu haben. Sie hatte nicht umsonst so kühne Augen, und dies eigenwillige Kinn, das Christof so gut gefiel. Sie walzte wie toll, als der Unteroffizier, der ein Auge auf sie geworfen hatte, auf sie zukam und sie ihrem Tänzer entreißen wollte. Sie stampfte mit dem Fuß auf, schrie, stieß den Soldaten zurück und erklärte, daß sie niemals mit solch einem Trampel, wie er einer sei, tanzen würde. Der andere sprang ihr nach. Die Leute, hinter die sie sich zu flüchten suchte, stieß er mit Faustschlägen beiseite. Schließlich floh sie hinter einen Tisch; und den Augenblick, in dem sie dort vor ihm geschützt Atem schöpfte, benutzte sie, um ihn zu beschimpfen; sie sah, daß ihr ganzer Widerstand ihr nichts helfen würde, sie trampelte vor Wut, suchte die verletzendsten Worte und verglich seinen Kopf mit dem verschiedener Tiere ihres Wirtschaftshofes. Er stand mit bösem Lächeln auf der andern Seite des Tisches; und seine Augen glühten vor Zorn. Plötzlich nahm er einen Anlauf und setzte über den Tisch und packte sie. Wie eine echte Kuhmagd wehrte sie sich mit Händen und Füßen. Da er nicht mehr allzu fest auf den Beinen war, kam er dabei beinahe aus dem Gleichgewicht. Wütend stieß er sie an die Wand und versetzte ihr eine Ohrfeige. Aber er hatte nicht die Zeit, noch einmal auszuholen: denn jemand war von rückwärts auf ihn zugesprungen, ohrfeigte ihn mit aller Kraft und beförderte ihn mit einem Fußtritt in die Mitte der Zechenden. Es war Christof, der ohne nachzudenken, was er tat, Tische und Leute beiseite gestoßen und sich auf ihn gestürzt hatte. Der Unteroffizier wandte sich in wahnsinniger Wut um und zog den Säbel; aber bevor er ihn gebrauchen konnte, hatte ihn Christof mit einem Holzschemel niedergeschmettert. Das Ganze hatte sich dermaßen schnell abgespielt, daß keiner der Zuschauer auf den Gedanken gekommen war, dazwischenzutreten. Doch als man den Soldaten wie einen Stier auf die Diele hinschlagen sah, erhob sich ein ungeheurer Tumult. Die andern Soldaten liefen mit gezücktem Säbel auf Christof zu. Die Bauern stürzten sich auf sie. Das Handgemenge wurde allgemein. Maßkrüge flogen durch den Saal, Tische stürzten um. Die Bauern wurden munter: es galt einen alten Haß zu stillen. Man wälzte sich auf der Erde und biß wütend aufeinander ein. Lorchens verjagter Tänzer, ein stämmiger Gutsknecht, hielt einen Soldaten, der ihn vorher beleidigt hatte, beim Kopf gepackt und hämmerte ihn wild gegen die Wand. Lorchen hatte sich mit einem Knüttel bewaffnet und schlug wie toll drauflos. Die andern Mädchen flohen heulend, außer zwei oder drei derben Frauenzimmern, die sich gütlich taten. Die eine, eine dicke kleine Blondine, sah, wie ein riesiger Soldat – derselbe, der sich an Christofs Tisch gesetzt hatte, – mit den Knien die Brust seines zu Boden gefallenen Gegners bearbeitete; sie lief zum Herd, kam zurück, bog den Kopf des Kerls nach rückwärts und warf ihm eine Handvoll glühender Asche in die Augen. Der Mann brüllte auf. Das Mädchen jubelte und beschimpfte den entwaffneten Feind, den die Bauern jetzt nach Herzenslust verhauen konnten. Endlich zogen sich die Soldaten als die Schwächeren ins Freie zurück; zwei ließen sie schwer verwundet auf dem Platz. Der Kampf dauerte auf der Dorfstraße fort. Mit Höllengeschrei drangen sie in die Häuser ein und wollten alles plündern. Die Bauern verfolgten sie mit ihren Heugabeln und ließen ihre bissigen Hunde auf sie los. Ein dritter Soldat fiel; man hatte ihm eine Mistgabel in den Leib gestoßen. Die übrigen mußten fliehen und wurden noch aus dem Dorf hinausgejagt; von fern schrien sie dann, daß sie Kameraden holen und gleich wieder zurückkehren würden.

Als die Bauern Herren des Schlachtfelds geblieben waren kehrten sie in den Gasthof zurück. Sie frohlockten; das war die seit langem erwartete Rache für die Mißhandlungen, die sie hatten erdulden müssen. Noch dachten sie nicht an die Folgen des tollen Scharmützels. Alle redeten durcheinander und jeder rühmte sich seiner Heldentaten.

Alle verbrüderten sich mit Christof im frohen Gefühl der Zusammengehörigkeit. Lorchen ergriff seine Hand, hielt sie einen Augenblick in ihren rauhen Pfötchen und lachte ihm dabei ins Gesicht. Jetzt fand sie ihn nicht mehr lächerlich.

Man nahm sich der Verwundeten an. Unter den Dörflern hatte es nur eingeschlagene Zähne, einige gebrochene Rippen, Beulen und blaue Flecken ohne ernstere Bedeutung gesetzt. Anders aber unter den Soldaten. Drei waren ernsthaft verletzt: der Koloß mit den verbrannten Augen, dem die halbe Schulter durch einen Beilschlag fortgerissen war, der Mann mit dem aufgeschlitzten Bauch, der röchelnd dalag, und der von Christof niedergeschlagene Unteroffizier. Man hatte sie in der Nähe des Herdes auf die Erde gelegt. Der Unteroffizier, der von den dreien am wenigsten Verwundete, hatte die Augen eben wieder aufgeschlagen. Er sah mit langem, haßerfülltem Blick auf den Kreis der über ihn gebeugten Bauern. Kaum kam ihm wieder zum Bewußtsein, was sich ereignet hatte, als er sie auch bereits zu beschimpfen begann. Er schwor, er würde sich rächen, ihnen allen würde er's heimzahlen; er erstickte fast vor Wut; man hatte das Gefühl, daß er sie alle am liebsten umgebracht hätte. Sie versuchten zu lachen; aber es klang gezwungen. Ein junger Bauer schrie dem Verwundeten zu:

»Halt's Maul, oder ich schlag dich tot!«

Der Unteroffizier versuchte sich aufzurichten, mit seinen blutunterlaufenen Augen starrte er den Sprecher an und sagte:

»Dreckluder! schlagt mich tot! Dann haut man euch den Kopf herunter.«

Er fluchte weiter. Der mit dem aufgeschlitzten Bauch schrie wie ein gestochenes Schwein. Der dritte lag reglos und steif wie ein Toter. Ein lähmendes Entsetzen bemächtigte sich der Bauern. Lorchen und ein paar Frauen trugen die Verwundeten in ein anderes Zimmer. Die Verwünschungen des Unteroffiziers und das Geschrei des Sterbenden klangen gedämpfter aus der Ferne. Die Bauern schwiegen still: sie blieben bewegungslos im Kreise stehen, als lägen die drei Körper noch immer zu ihren Füßen hingestreckt; sie wagten nicht sich zu rühren und sahen einander verängstigt an. Schließlich sagte Lorchens Vater:

»Da habt ihr was Schönes angerichtet!«

Furchtsames Murmeln wurde laut: sie würgten an ihrer Angst. Dann fingen sie alle auf einmal zu sprechen an. Zuerst flüsterten sie, als hätten sie Furcht, daß man sie an der Tür hören könnte; bald aber wurde der Ton lauter und heftiger: einer beschuldigte den andern: gegenseitig warfen sie sich die Schläge vor, die sie ausgeteilt hatten. Immer heftiger wurde der Streit: sie schienen nahe daran, einander in die Haare zu geraten, als Lorchens Vater sie alle unter einen Hut brachte. Mit gekreuzten Armen wandte er sich Christof zu und deutete auf ihn:

»Und der,« sagte er, »was hat der hier zu suchen gehabt?«

Der ganze Zorn des Haufens kehrte sich gegen Christof:

»Das stimmt! Das stimmt!« schrie man, »er hat angefangen! Ohne ihn wäre gar nichts geschehen!«

Christof stand verblüfft; er versuchte zu erwidern:

»Was ich dabei getan habe, geschah nicht um meinetwillen; für euch hab' ich's getan; das wißt ihr doch.«

Aber wütend gaben sie zur Antwort:

»Können wir uns etwa nicht selbst verteidigen? Haben wir nötig, daß erst ein Stadtherr kommt und uns sagt, was wir zu tun haben? Wer hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt? Und vor allem, wer hat Sie um Ihr Kommen gebeten? Konnten Sie nicht bleiben, wo Sie waren?«

Christof zuckte die Achseln und wandte sich zur Tür. Lorchens Vater aber versperrte ihm den Weg und kläffte:

»So! So! jetzt möchte er sich davonmachen, nachdem er uns in die Patsche gebracht hat. Er darf nicht fort!«

Die Bauern heulten:

»Er darf nicht fort! Er ist an allem schuld. Er soll für alles büßen!«

Sie umringten ihn, sie ballten gegen ihn die Fäuste. Christof sah sich von einem Kreis drohender Gesichter umzingelt: die Furcht machte sie rasend. Er sagte kein Wort, schnitt eine Grimasse des Ekels, warf seinen Hut auf den Tisch und setzte sich, indem er ihnen allen den Rücken drehte, hinten in den Saal.

Aber Lorchen stürzte sich empört mitten unter die Bauern. Ihr hübsches Gesicht war vor Zorn ganz rot und verzerrt. Derb stieß sie die, welche Christof umringten, zurück:

»Feiglinge! Viecher!« schrie sie. »Schämt ihr euch nicht? Ihr wollt glauben machen, daß er alles getan hat! Als ob man euch nicht gesehen hätte! Als ob ein einziger unter euch wäre, der nicht nach besten Kräften drauflosgeschlagen hätte! … Und wäre ein einziger da, der mit verschränkten Armen dabei gestanden hätte, während die andern sich schlugen, so würde ich ihm ins Gesicht spucken und ihm Feigling! Feigling! zurufen.«

Die Bauern standen einen Augenblick überrascht von diesem unerwarteten Ausbruch schweigend da; dann aber fingen sie wieder zu schreien an:

»Er hat angefangen! Ohne ihn wäre nichts geschehn.«

Lorchens Vater machte seiner Tochter vergeblich Zeichen. Sie begann von neuem:

»Allerdings hat er angefangen! Darauf braucht ihr weiß Gott nicht stolz zu sein! Ohne ihn hättet ihr euch beschimpfen lassen, hättet euch immer weiter beschimpfen lassen, Hasenfüße! Bangbüchsen!«

Sie fuhr ihren Freund an:

»Und du! Kein Wort hast du gesagt; süß getan hast du, den Hintern hast du den Fußtritten noch hingehalten; viel hat nicht gefehlt, und du hättest sogar Danke schön gesagt. Schämst du dich nicht? … Schämt ihr euch nicht alle? Ihr seid ja gar keine Männer! Hasenfüße seid ihr, Muttersöhnchen, Kopfhänger! Der dort hat euch erst ein Beispiel geben müssen! – Und jetzt wollt ihr ihm alles aufhalsen? … Also das geschieht nicht, das sage ich euch! Er hat sich für uns geschlagen. Entweder ihr bringt ihn in Sicherheit oder ihr löffelt die Suppe mit ihm zusammen aus. Darauf gebe ich euch mein Wort!«

Lorchens Vater riß sie am Arm; er war außer sich und schrie:

»Halt den Mund, halt den Mund! … Wirst du wohl den Mund halten, verdammtes Frauenzimmer!«

Sie aber stieß ihn fort und legte nur um so mehr los. Die Bauern fluchten. Sie schrie noch lauter als sie und mit so durchdringender Stimme, daß einem das Trommelfell platzen konnte:

»Erstens, du, was hast du zu sagen? Meinst du, ich hätte dich vorhin nicht gesehen, wie du mit den Hacken gegen den losgetrampelt bist, der dort nebenan wie tot liegt? Und du da, zeige mal deine Hände her! … Da ist ja noch Blut daran. Glaubst du, ich hätte dich nicht mit deinem Messer gesehen? Wenn ihr das geringste gegen ihn unternehmt, sage ich alles, was ich gesehen habe, alles! Ich lasse euch alle verurteilen.«

Aufgebracht drängten die Bauern ihre wütenden Fratzen an Lorchen und kreischten ihr ins Gesicht. Einer machte Miene, sie zu ohrfeigen; aber Lorchens Freund packte ihn am Kragen, und die beiden schüttelten sich gegenseitig, bereit, einander krumm und lahm zu schlagen. Ein Alter sagte zu Lorchen:

»Wenn wir verurteilt werden, wirst du es auch.«

»Ich auch«, erwiderte sie. »Ich bin nicht so feige wie ihr.«

Und sie fing ihr Lied von vorn an.

Nun wußten sie sich nicht mehr zu helfen und wandten sich hilfesuchend an ihren Vater.

»Willst du ihr nicht den Mund stopfen?«

Der Alte hatte begriffen, daß es unklug war, Lorchen bis zum äußersten zu treiben. Er suchte die andern durch Zeichen zu beschwichtigen. Da wurde es still. Lorchen allein redete weiter; als sie jedoch keinen Widerspruch mehr fand, hörte auch sie, wie ein Feuer ohne Nahrung, auf. Nach einer kleinen Weile hüstelte ihr Vater und sagte:

»Nun also, was willst du eigentlich? Du willst uns doch nicht ins Verderben stürzen?«

»Ich will, daß man ihn in Sicherheit bringt,« sagte sie bestimmt.

Nun begann man nachzudenken. Christof hatte sich nicht vom Platze gerührt: er saß in seinen Stolz versteift und schien nicht zu hören, daß es sich um ihn handelte; aber Lorchens Eingreifen rührte ihn. Lorchen schien ebensowenig zu wissen, daß er da war: sie lehnte an dem Tisch, an dem er saß, und fixierte mit herausforderndem Blick die Bauern, die rauchend umherstanden und zur Erde schauten. Endlich sagte ihr Vater, nachdem er eine Weile an seiner Pfeife gekaut hatte:

»Ob man etwas sagt oder nicht, – bleibt er, so ist die Angelegenheit für ihn klar. Der Unteroffizier hat ihn erkannt: er wird ihm nichts erlassen. Es gibt für ihn nur eins: Das ist: sofort über die Grenze entwischen.«

Er hatte sich überlegt, daß es für sie schließlich vorteilhafter wäre, wenn Christof sich davonmachte: er würde sich auf diese Weise selbst denunzieren; und war er nicht mehr da und konnte sich nicht mehr verteidigen, würde man weiter keine Mühe haben, die Schuld an der ganzen Geschichte auf ihn abzuwälzen. Die andern stimmten zu. Sie verstanden einander vollkommen. – Jetzt aber, da sie entschlossen waren, hatten alle die größte Eile, Christof fortzuschaffen. Ohne die geringste Verlegenheit wegen ihrer noch eben gezeigten Haltung näherten sie sich ihm und taten, als interessierten sie sich lebhaft für sein Wohl.

»Keine Minute ist zu verlieren, Herr Krafft,« sagte Lorchens Vater. »Sie werden zurückkommen. Eine halbe Stunde brauchen sie zur Festung. Eine halbe Stunde zurück … Es ist gerade noch Zeit zu entwischen.«

Christof war aufgestanden. Auch er hatte nachgedacht. Er wußte, wenn er blieb, war er verloren. Aber fortgehen, – fortgehen, ohne seine Mutter wieder zu sehen? … Nein, das ging nicht. Er sagte, daß er zuerst zur Stadt zurückgehen wolle; er habe noch Zeit, in der Nacht von dort über die Grenze zu kommen. Aber die andern erhoben ein Zetergeschrei. Eben noch hatten sie ihm die Tür versperrt, um ihn am Fliehen zu hindern, jetzt widersetzten sie sich einem Aufschub seiner Flucht. In die Stadt zurückkehren hieße sich unvermeidlich abfangen lassen: bevor er noch angelangt sei, würde man dort schon benachrichtigt sein; man würde ihn zu Hause festnehmen. Er aber wollte auf seinem Willen bestehen. Lorchen hatte ihn verstanden:

»Sie wollen Ihre Mutter noch sehen? … Ich werde statt Ihrer gehen.«

»Wann?«

»Heut Nacht.«

»Wirklich? Das wollten Sie tun?«

»Ich gehe hin.«

Sie nahm ihr Umschlagetuch und wickelte sich hinein.

»Schreiben Sie etwas auf, ich bringe es ihr hin. Kommen Sie hier herein; ich gebe Ihnen Tinte.«

Sie zog ihn in das Hinterzimmer; auf der Schwelle wandte sie sich um und fuhr ihren Verehrer an:

»Und du, mach dich fertig, du wirst ihn begleiten. Du verläßt ihn nicht eher, als bis du ihn jenseits der Grenze siehst.«

»Schon gut, schon gut,« brummte er.

Ihm war es wie allen anderen darum zu tun, Christof so schnell wie möglich in Frankreich und womöglich noch weiter fort zu wissen.

Lorchen trat mit Christof in das andere Zimmer. Noch zögerte Christof. Der Gedanke, daß er seine Mutter nicht mehr umarmen sollte, zerriß ihm das Herz. Wann würde er sie wiedersehen? Sie war so alt, so erschöpft, so einsam! Dieser neue Schlag würde ihr den Rest geben. Was würde ohne ihn aus ihr werden? Was aber würde aus ihr werden, wenn er bliebe, sich verurteilen, sich Jahre lang einsperren ließe? Würde das für sie nicht noch sicherer Verlassenheit und Elend bedeuten? War er wenigstens frei, wenn auch noch so fern, so konnte er ihr helfen, konnte sie nachkommen lassen. – Doch er hatte nicht Zeit, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Lorchen hatte seine Hände erfaßt; sie stand hoch aufgerichtet neben ihm und sah ihn an; ihre Gesichter berührten sich fast; sie schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund:

»Schnell! schnell!« sagte sie ganz leise und wies auf den Tisch. Er versuchte nicht mehr nachzudenken. Er setzte sich. Sie riß aus einem Rechnungsbuch ein karriertes Blatt Papier mit roten Querstrichen.

Er schrieb:

»Meine liebe Mutter! Verzeih mir! Ich werde dir einen großen Schmerz bereiten. Ich konnte nicht anders handeln. Unrechtes hab' ich nichts getan. Aber ich muß jetzt fliehen und das Land verlassen. Das Mädchen, das dir diese Zeilen bringt, wird dir alles erzählen. Ich wollte dir Lebewohl sagen. Aber man will es nicht. Man behauptet, ich würde vorher gefangengenommen werden. Ich bin so unglücklich, daß ich keinerlei Willen mehr habe. Ich werde über die Grenze gehen, aber ganz in der Nähe bleiben, bis du mir geschrieben hast; das Mädchen, das dir meinen Brief gibt, wird mir deine Antwort zurückbringen. Sage mir, was ich tun soll. Was du mir auch sagst, werde ich tun. Willst du, daß ich zurückkomme? Rufe mich zurück! Der Gedanke, dich allein zurückzulassen, ist mir schrecklich. Wie wirst du dich durchschlagen? Verzeih mir! Verzeih mir! Ich liebe und umarme dich …«

Lorchens Freund öffnete halb die Tür:

»Wir müssen schnell machen, Herr Krafft, sonst wird es zu spät,« sagte er.

Christof unterzeichnete eilig den Brief und gab ihn Lorchen:

»Sie bringen ihn selbst hin?«

»Freilich,« sagte sie.

Sie war schon zum Gehen gerüstet.

»Morgen bringe ich Ihnen die Antwort,« fuhr sie fort. »Erwarten Sie mich in Leiden (– es war dies die erste Station außerhalb Deutschlands –) auf dem Bahnsteig.«

(Die Neugierige hatte, während Christof schrieb, den Brief über seine Schulter hinweg gelesen.)

»Sie werden mir doch alles erzählen, auch wie sie den Schlag ertragen hat, und alles, was sie gesagt hat? Sie werden mir nichts verhehlen?« fragte Christof flehend.

»Ich werde Ihnen alles sagen.«

Sie konnten nicht mehr so frei miteinander sprechen: von der Türschwelle schaute der Bursche ihnen zu.

»Ich werde sie manchmal besuchen, Herr Christof,« sagte Lorchen; »ich schreibe Ihnen dann, wie es ihr geht. Seien Sie ganz unbesorgt.«

Sie schüttelte ihm kräftig wie ein Mann die Hand.

»Los!« sagte der Bauer.

»Los!« sagte Christof.

Sie gingen alle drei hinaus. Auf dem Wege trennten sie sich. Lorchen ging nach der einen, Christof mit seinem Führer nach der anderen Seite. Sie sprachen nicht. Der zunehmende Mond verschwand dunstumhüllt hinter Wäldern. Ein bleiches Licht lag überm Feld. In den Tiefen brauten Nebel, dicht und weiß wie Milch. In der feuchten Luft standen wie schauernd die Bäume.

Kaum einige Minuten hinterm Dorf zuckte der Bauer plötzlich zusammen und machte Christof ein Zeichen, stillzustehen. Sie lauschten. Auf dem Wege vor ihnen näherten sich die taktmäßigen Schritte einer Abteilung Soldaten. Der Bauer setzte über die Hecke ins freie Feld hinein. Christof ihm nach. Quer über Äcker gingen sie weiter. Sie hörten die Soldaten auf dem Wege vorüberziehen. Der Bauer schüttelte im Dunkel die Faust gegen sie. Christofs Herz krampfte sich zusammen wie das eines gehetzten Tieres, an dem die Meute vorbeirast. Sie wanderten weiter, vermieden die Dörfer und einsamen Höfe, wo das Anschlagen der Hunde sie der ganzen Gegend verraten hätte. Als sie einen bewaldeten Hügel hinabstiegen, entdeckten sie in der Ferne die roten Signallichter der Eisenbahnlinie. Sie richteten sich nach diesen Leuchtfeuern und beschlossen, den Weg nach der nächsten Station einzuschlagen. Das war nicht leicht. Je mehr sie ins Tal kamen, um so tiefer gerieten sie in Nebel. Sie mußten zwei oder drei kleine Bäche überspringen. Dann ging es über endlose Rübenfelder und Ackerland; es war ihnen, als sollten sie niemals herauskommen. Die Ebene war holprig: ein ewiger Wechsel von Erhebungen und Höhlungen so daß man Gefahr lief, zu fallen. Nachdem sie aufs Geratewohl umhergeirrt und vom Nebel ganz durchnäßt waren, sahen sie plötzlich, wenige Schritte vor sich, auf der Höhe eines Dammes die Bahnlaternen. Sie erkletterten die Böschung. Auf die Gefahr hin, überrascht zu werden, gingen sie die Schienen entlang, bis sie einige hundert Meter vor der Station waren: dort nahmen sie wieder den Weg. Zwanzig Minuten, bevor der Zug in die Station einlief, erreichten sie den Bahnhof. Trotz Lorchens Ermahnung verließ der Bauer jetzt Christof. Ihm war darum zu tun, schnell nach Haus zu kommen, um zu sehn, was aus den anderen und seinem Hab und Gut geworden war. Christof nahm eine Fahrkarte nach Leiden und setzte sich allein in den öden Wartesaal dritter Klasse. Ein Bahnbeamter, der auf einem Bänkchen geduselt hatte, sah Christofs Billet an und öffnete ihm bei der Ankunft des Zuges die Tür. Der Wagen war leer. Alles schlief im Zuge. Alles schlief ringsumher. Christof allein schlief nicht, trotz seiner Müdigkeit. Je näher ihn die schweren Eisenräder der Grenze zutrugen, je heißer fühlte er den bebenden Wunsch, in Sicherheit zu kommen. In einer Stunde sollte er frei sein. Aber bis dahin genügte ein Wort und er war gefangen … gefangen! Sein ganzes Wesen bäumte sich bei dem Gedanken auf, von abscheulicher Übermacht erstickt zu werden! … Der Atem verging ihm vor Empörung. Mutter und Vaterland, die er verließ, waren aus seinen Gedanken verschwunden. Im Egoismus der bedrohten Freiheit dachte er nur an diese Freiheit, an sein Leben, das er retten wollte. Um welchen Preis es auch sei! Ja, selbst um den Preis eines Verbrechens … Er machte sich bittere Vorwürfe, daß er den Zug genommen hatte, anstatt den Weg bis zur Grenze zu Fuß zurückzulegen. Er hatte ein paar Stunden gewinnen wollen. Schöner Vorsprung! Er rannte selbst in den Rachen des Wolfs hinein. Gewiß erwartete man ihn an der Grenzstation. Befehle waren sicherlich inzwischen ausgegeben worden: man würde ihn arretieren … Einen Augenblick dachte er daran, vor der Station von dem fahrenden Zug abzuspringen; er öffnete sogar die Tür; aber es war schon zu spät: der Zug hielt. Fünf Minuten Aufenthalt. Eine Ewigkeit. Christof saß in die Tiefe seines Wagenabteils zurückgezogen und schaute, hinter dem Vorhang verborgen, angstvoll auf den Bahnsteig, auf dem regungslos ein Gendarm stand. Der Bahnhofsvorsteher trat mit einer Depesche in der Hand aus seinem Büro heraus und ging eilig in der Richtung auf den Gendarm zu. Christof zweifelte nicht, daß es sich um ihn handelte. Er suchte nach einer Waffe. Doch er besaß nur ein starkes Messer mit zwei Klingen; das öffnete er in seiner Tasche. Ein Schaffner, der eine Laterne an der Brust befestigt trug, wechselte einige Worte mit dem Bahnhofsvorsteher und ging dann am Zug entlang. Christof sah ihn kommen. Er hielt die Faust in seiner Tasche um den Griff des Messers gekrampft und dachte:

»Ich bin verloren!«

Er war in einem Zustand so furchtbarer Überreiztheit, daß er fähig gewesen wäre, sein Messer dem Mann in die Brust zu stoßen, wenn der den unglückseligen Einfall gehabt hätte, geradeswegs auf ihn zuzukommen und sein Wagenabteil zu öffnen. Aber der Bedienstete blieb am Wagen nebenan stehen und kontrollierte die Fahrkarte eines eben eingestiegenen Reisenden. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Christof hielt sein pochendes Herz im Zaum. Er regte sich nicht. Kaum wagte er sich zu gestehen, daß er gerettet sei. Er wollte es nicht eher glauben, als bis die Grenze hinter ihm lag … Der Tag brach leise an. Die Umrisse von Bäumen traten aus der Nacht. Ein Wagen mit Schellengeläut und einem blinzelnden Laternenauge fuhr gleich einem phantastischen Schatten auf der Straße vorüber … Christof versuchte, das Gesicht an die Fensterscheiben gedrückt, den Pfahl mit dem kaiserlichen Wappen zu entdecken, der die Grenzen seiner Hörigkeit bezeichnte. Er suchte ihn im erwachenden Tageslicht noch immer, als der Zug pfiff, um die Ankunft in der ersten belgischen Station zu melden.

Er stand auf, öffnete die Türe weit und trank die eisige Luft. Frei! Sein ganzes Leben vor ihm! Freude zu leben! … Gleich aber überkam ihn auch die ganze Traurigkeit über das, was er ließ, die ganze Traurigkeit über das, was ihm bevorstand; und die Erschöpfung nach dieser ereignisreichen Nacht warf ihn nieder. Er sank auf die Bank. Kaum eine Minute trennte ihn noch von der Ankunft. Als eine Minute später der Schaffner die Wagentür öffnete, fand er Christof eingeschlafen. Er rüttelte ihn am Arm; Christof erwachte verwirrt und meinte, eine Stunde geschlafen zu haben. Schwerfällig stieg er aus und schleppte sich zur Zollrevision; und nun, da ihn der fremde Boden unwiderruflich ausgenommen hatte, da er sich nicht mehr zu verteidigen brauchte, streckte er sich der Länge nach auf eine Bank des Wartesaals aus und fiel wie eine schwere Masse in Schlaf.

 

Gegen Mittag wachte er auf. Lorchen konnte kaum vor zwei oder drei Stunden ankommen. Er schritt auf dem Bahnsteig der kleinen Station auf und ab und sah die Züge vorübersausen. Dann ging er weiter geradeaus zwischen den Feldern dahin. Es war ein grauer, freudloser Tag, an dem man den nahenden Winter spürte. Das Licht schien verschlafen. Nur der klagende Pfiff eines rangierenden Zuges unterbrach die traurige Stille. Christof blieb ein paar Schritte vor der Grenze in der öden Landschaft stehen. Vor ihm lag ein ganz kleiner Teich, ein spiegelklarer Wasserfleck, in dem sich ein schwermütiger Himmel spiegelte. Er war von einer Hecke umschlossen, und zwei Bäume standen an seinem Ufer. Rechts eine Pappel, deren entblätterter Wipfel im Morgenwind bebte. Hinter ihr, gleich einem ungeheuren Polypen, ein großer Nußbaum mit nackten schwarzen Zweigen. Schwärme von Raben schaukelten sich schwerfällig auf ihnen. Die letzten dürren Blätter lösten sich von selber und fielen eins nach dem andern in den reglosen Weiher …

Christof war, als habe er das schon einmal gesehen: diese beiden Bäume, diesen Weiher … – Und plötzlich durchlebte er eine jener schwindelnden Minuten, wie sie sich ab und zu im Leben einstellen. Eine Lücke in der Zeit. Man weiß nicht mehr, wo man ist, wer man ist, in welchem Jahrhundert man lebt, seit wie vielen Jahrhunderten man da ist. Christof hatte das Gefühl, daß dies alles schon einmal gewesen, daß, was jetzt schien, nicht jetzt war, sondern in einer anderen Zeit. Er war nicht mehr er selbst. Er sah sich von außen, von weit her, als einen anderen, der hier schon einmal am selben Platz gestanden hatte. Ein Schwarm von uralten Erinnerungen, von unbekannten Wesen, summte in ihm: So war's … So war's … so ist's gewesen …

Manch andere Kraffts hatten vor ihm das Schicksal erlitten, unter dem er heute stand, hatten das Weh der letzten Stunde auf heimatlichem Boden ausgekostet. Sie waren ein ewig umherirrendes Geschlecht, immer und überall fortgetrieben von Freiheitsdrang und unstetem Sinn. Immer eine Beute des inneren Dämons, der ihnen keine Ruhe ließ. Dennoch verwachsen mit dem Boden, von dem es sie fortriß, den zu lieben sie nie aufhörten.

Nun war die Reihe an Christof, dieselben schmerzensreichen Pfade zu gehen; und er fand auf dem Wege die Spuren derer, die vor ihm gewesen waren. Mit tränenvollen Augen sah er im Dunst den Boden der Heimat verschwimmen, der er Lebewohl sagen mußte. – Hatte er nicht heiß gewünscht, sie zu verlassen? – Ja, aber jetzt, da er sie wirklich verließ, war er von Angst erfüllt« Nur ein rohes Herz kann sich empfindungslos von der heimatlichen Erde lösen. Ob glücklich oder unglücklich, hat man doch mit ihr gelebt; sie war die Mutter, die Gefährtin: man hat auf ihr geschlafen, man ist von ihr durchtränkt; in ihrem Busen ruht der Schatz unsrer Träume, unser ganzes, vergangenes Leben, und die geweihte Asche derer, die wir geliebt haben. Christof sah die Tage seiner Jugend an sich vorüberziehen, sah die lieben Gestalten, die er auf dieser Erde oder unter ihr zurückließ. Seine Leiden waren ihm nicht weniger teuer als seine Freuden. Minna, Sabine, Ada, der Großvater, Onkel Gottfried, der alte Schulz – alle tauchten im Verlauf weniger Minuten wieder vor seinen Augen auf. Er konnte sich von seinen Toten nicht losreißen (er zählte auch Ada zu den Toten); der Gedanke an seine Mutter, die er als einzige Lebende von allen, die er liebte, inmitten dieser Schatten zurückließ, war ihm unerträglich. Er war nahe daran, wieder über die Grenze zu gehen; so feige schien es ihm plötzlich, die Flucht ergriffen zu haben. Er war fest entschlossen zurückzukehren, falls die Antwort, die Lorchen ihm von seiner Mutter bringen würde, allzugroßen Schmerz verraten sollte, – koste es, was es wolle. Wenn er aber keinerlei Nachricht bekäme? Wenn Lorchen nicht bis zu Luise gelangt war oder die Antwort nicht bringen konnte? Nun, dann würde er eben umkehren.

Er ging zum Bahnhof zurück. Nach trübseligem Warten lief der Zug endlich ein. Christof spähte nach Lorchens keckem Gesicht: denn er war überzeugt, Laß sie ihr Versprechen halten würde; aber sie ließ sich nicht blicken. Unruhig lief er von einem Wagenabteil zum andern. Er sagte sich, sie hätte als eine der ersten aussteigen müssen, wenn sie im Zug gewesen wäre. Als er sich noch durch die Flut der Reisenden, die in entgegengesetzter Richtung daherkamen, hindurchstieß, fiel ihm ein Gesicht auf, das ihm nicht unbekannt schien. Es war ein pausbackiges Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren, untersetzt, rot wie ein Apfel, mit einem breiten Stülpnäschen, einem großen Mund und einem dicken Zopf, der um den Kopf gerollt lag. Als er sie genauer ansah, bemerkte er in ihrer Hand einen alten Koffer, der seinem eigenen glich … Auch sie beobachtete ihn verstohlen von der Seite; und als sie merkte, daß er sie ansah, machte sie ein paar Schritte auf ihn zu; dann blieb sie aufgepflanzt vor ihm stehn und starrte ihm wortlos mit ihren kleinen Mausaugen ins Gesicht. Christof erkannte sie wieder: es war eine kleine Kuhmagd aus Lorchens Hof. Er wies auf den Koffer und sagte:

»Der gehört mir, nicht wahr?«

Die Kleine rührte sich nicht und antwortete mit einfältiger Miene: »Erst wissen, woher kommen Sie?«

»Aus Buir.«

»Und wer schickt Ihnen das?«

»Lorchen. Nur zu, gib her.«

Das Mädchen reichte ihm den Koffer.

»Da habens ihn!«

Und sie fügte hinzu:

»O, ich habe Sie gleich erkannt!«

»Ja warum hast du denn so lange gewartet?«

»Ich hab darauf gewartet, daß Sie mir sagten, Sie wären es.«

»Und Lorchen?« fragte Christof. »Warum ist sie nicht gekommen?«

Die Kleine antwortete nicht. Christof begriff, daß sie unter den vielen Menschen nichts sagen wollte. Sie mußten erst bei der Zollrevision vorbei. Als sie das hinter sich hatten, führte Christof das Mädelchen an das äußerste Ende des Bahnhofs:

»Die Polizei war da,« erzählte das jetzt sehr gesprächige Dorfkind. »Fast gleich nachdem Sie gegangen waren, sind sie gekommen. Sie sind in die Häuser gegangen, haben alle Leute ausgefragt und haben den großen Sami und Christine und den Vater Kaspar festgenommen. Und auch Melanie und Gertrud, obgleich die schrien, daß sie nichts getan hätten; und sie weinten; und Gertrud hat die Gendarmen gekratzt. Man konnte ihnen noch so sehr sagen, daß Sie alles getan haben.«

»Wieso ich!« rief Christof aus.

»Na ja,« meinte die Kleine seelenruhig, »das macht doch nichts, nicht wahr? Sie waren doch fort! Darauf hat man Sie überall gesucht und hat in jeder Richtung Leute nach Ihnen ausgeschickt.«

»Und Lorchen?«

»Lorchen war nicht da. Sie ist erst später aus der Stadt zurückgekommen.«

»Hat sie meine Mutter gesprochen?«

»Ja. Hier ist der Brief. Und sie wollte selber kommen; aber man hat sie auch festgenommen.«

»Ja, wie hast du es denn angestellt …?«

»Das kam so: sie ist, ohne von der Polizei gesehen zu werden, ins Dorf zurückgekommen; und sie wollte schon wieder fort. Aber Irma, Gertruds Schwester, hat sie angezeigt. Da kam man und wollte sie kriegen. Als sie nun die Gendarmen kommen sah, ist sie in ihr Zimmer hinaufgegangen und hat ihnen zugerufen, sie würde sofort unten sein, sie zöge sich nur an. Ich war gerade hinterm Hause im Weinberg; da hat sie mich ganz leise vom Fenster aus gerufen: Lydia! Lydia! Ich bin gekommen; da hat sie mir Ihren Koffer und den Brief Ihrer Mutter heruntergelassen; und sie hat mir erklärt, wo ich Sie finden würde; sie hat gesagt, ich solle laufen und mich nicht kriegen lassen. Ich bin gelaufen, was ich konnte, und da bin ich.«

»Weiter hat sie nichts gesagt?«

»Doch. Sie hat mir aufgetragen. Ihnen noch dies Tuch zu bringen, damit Sie sähen, daß sie mich schickt.«

Christof erkannte das weiße Tuch mit roten Punkten und gestickten Blumen, das Lorchen, als sie sich am Abend vorher von ihm trennte, um den Kopf gebunden hatte. Und er lächelte nicht über den naiv unwahrscheinlichen Vorwand, dessen sie sich bedient hatte, um ihm dies Liebeszeichen zu senden.

»So,« meinte die Kleine, »da ist der andere Zug, der zurückfährt. Ich muß heim. Guten Abend.«

»Warte doch,« sagte Christof. »Wie hast du denn das Geld zur Reise bekommen?«

»Lorchen hat es mir gegeben.«

»Nimm trotzdem,« sagte Christof, und drückte ihr ein paar Geldstücke in die Hand.

Er hielt die Kleine, die davon wollte, am Arm zurück.

»So, und nun …« sagte er, und damit beugte er sich herab und küßte sie auf beide Wangen. Das Mädelchen machte Miene, sich zu sträuben.

»Wehre dich doch nicht,« sagte Christof scherzend. »Es ist nicht für dich bestimmt.«

»O ich weiß wohl,« erwiderte sie schnippisch, »es ist für Lorchen.«

Es war indessen nicht nur Lorchen, die Christof in den rundlichen Wangen der kleinen Kuhmagd küßte: es war sein ganzes Deutschland.

Die Kleine entwand sich ihm und lief zu ihrem Zuge. Sie blieb am Fenster stehn und winkte ihm mit dem Taschentuch zu, bis sie ihn nicht mehr sah. Er folgte mit den Augen der kleinen Botin, die ihm eben zum letzten Male den Atem des Vaterlandes und derer, die er liebte, gebracht hatte.

Als sie entschwunden war, fühlte er sich ganz einsam, diesmal fremd auf fremder Erde. Noch hielt er den Brief seiner Mutter und das Liebe atmende Kopftuch in der Hand. Er drückte es wie ein Amulett an seine Brust und wollte den Brief öffnen; aber seine Hand zitterte. Was würde er lesen? Welch Leid würde er darin finden? – Nein, er würde den schmerzlichen Vorwurf, den er schon zu hören meinte, nicht aushalten: er würde umkehren. Endlich öffnete er den Brief aber doch und las:

»Mein armes Kind, ängstige dich nicht um meinetwillen. Ich werde tapfer sein. Der liebe Gott hat mich bestraft. Ich sollte nicht egoistisch sein und dich hier behalten. Geh nach Paris. Vielleicht ist das besser für dich. Kümmere dich nicht um mich. Ich werde schon durchkommen. Die Hauptsache ist, daß du glücklich bist. Ich küsse dich.

Mutter.

Schreibe mir, wenn du kannst.«

Christof setzte sich auf seinen Koffer und weinte.

 

Der Bahnhofsportier rief den Zug nach Paris aus. Er lief mit Getöse ein. Christof trocknete seine Tränen, stand auf und sagte sich:

»Es muß sein.«

Er schaute in der Richtung, in der Paris liegen mußte, zum Himmel. Der überall düstere Horizont war dort noch düsterer, wie ein gähnender schwarzer Abgrund. Christofs Herz zog sich zusammen; aber er wiederholte sich:

»Es muß sein«

Er stieg in den Zug und schaute, ans Fenster gelehnt, weiter zum drohenden Horizont:

»O Paris!« dachte er, »Paris! Komm mir zu Hilfe! Rette mich! Rette meine Gedanken!«

Dunkler und dichter wurde der Nebel. Hinter Christof, über dem Lande, das er verließ, lächelte ein kleines Stückchen blaßblauen Himmels, groß wie zwei Augen – wie Sabines Augen – lächelte traurig inmitten schwerer Wolkenschleier und verlosch. Der Zug fuhr ab. Der Regen fiel. Die Nacht sank nieder.


 << zurück