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II

L' alba vinceva l' ora mattutina,
Che fuggia innanzi, si che di lontano
Conobbi li tremolar della marina.

Purg.I

Die Kraffts waren Antwerpischen Ursprungs. Der alte Hans Michel hatte das Land infolge toller Jugendstreiche verlassen, nachdem einmal eine seiner wilden Schlägereien, wie er sie als der verteufelte Kampfhahn, der er war, oft bestand, einen schlimmen Ausgang genommen hatte. Vor nun bald einem halben Jahrhundert war ihm die kleine Fürstenstadt zur Heimat geworden, deren spitzgiebelige rote Dächer und schattige Gärten, die auf sanftem Hügelabhang übereinander gebaut waren, sich in den blaßgrünen Augen des Vater Rhein spiegelten. Als ausgezeichneter Musiker hatte er sich in einem Lande, wo alle musikalisch sind, sofort in Ansehen zu bringen gewußt. Er faßte noch mehr Wurzel, als er mit mehr als vierzig Jahren Clara Sartorius, die Tochter des fürstlichen Kapellmeisters, heiratete, der ihm seine Stelle überließ. Clara war eine sanfte Deutsche, die nur zwei Leidenschaften kannte, die Küche und die Musik. Mit ihrem Gatten trieb sie einen Kultus, der nur dem zu vergleichen war, den sie ihrem Vater geweiht hatte. Hans Michel bewunderte seine Frau nicht weniger. Während fünfzehn Jahren hatten sie in vollkommener Harmonie miteinander gelebt und vier Kinder gehabt. Dann war Clara gestorben. Und Hans Michel heiratete, nachdem er sehr viel Tränen vergossen, fünf Monate später Ottilie Schütz, ein zwanzigjähriges, rotwangiges, robustes, lachendes Mädchen. Ottilie besaß gerade so viele gute Eigenschaften wie Clara, und Hans Michel liebte sie gerade so sehr. Nach achtjähriger Ehe kam an sie die Reihe zu sterben, nicht ohne daß ihr vorher die Zeit gelassen war, ihm sieben Kinder zu schenken. Im ganzen waren es elf Kinder, von denen ein einziges am Leben geblieben war. Obgleich er sie alle heiß geliebt hatte, waren soviel Schicksalsschläge dennoch nicht imstande gewesen, seine unverwüstliche gute Laune zu erschüttern. Die härteste Probe war Ottiliens Tod vor nunmehr drei Jahren gewesen, der ihn in einem Alter getroffen hatte, in dem es schwierig ist, sein Leben wieder anzufangen und sich ein neues Heim zu gründen. Aber nach einem Moment der Verwirrung hatte der alte Hans Michel sein moralisches Gleichgewicht, das er in keinem Unglück ganz verlor, wieder erlangt.

Er war ein gutherziger Mensch. Aber seine Gesundheit ging ihm über alles. Gegen Traurigkeit hatte er eine unüberwindliche physische Abneigung und ein Bedürfnis nach Frohsinn, nach derbem flämischen Frohsinn, nach herzhaftem kindlichen Lachen. Welchen Kummer er auch haben mochte, er leerte darum keinen Becher weniger, noch ließ er sich bei Tisch einen Bissen entgehen. Und die Musik ruhte niemals. Unter seiner Führerschaft erlangte das Hoforchester eine kleine Berühmtheit in den rheinischen Landen, wo Hans Michel durch seine Athletengestalt und seine Zornanfälle einen sagenhaften Ruf erworben hatte. Seiner Wutausbrüche konnte er nicht Herr werden, so sehr er sich auch Mühe gab: denn der heftige Mensch war im Grunde schüchtern, und er befürchtete, sich lächerlich zu machen. Er liebte es, den Anstand zu wahren, und war ganz von der öffentlichen Meinung abhängig. Aber sein Blut riß ihn mit sich fort: er wurde plötzlich von wahnsinniger Ungeduld überfallen und kam vor Raserei außer sich, und zwar nicht nur bei Orchesterproben, sondern mitten im Konzert, wo es ihm einmal vor dem Fürsten geschehen war, seinen Dirigentenstab voller Wut hinzuwerfen, wie ein Besessner mit den Füßen zu stampfen und dabei einen seiner Musiker mit rasender, stammelnder Stimme anzufahren. Der Fürst amüsierte sich darüber. Aber die betroffenen Künstler trugen es ihm nach. Es nützte nicht viel, wenn Hans Michel, beschämt über seinen eignen Ausfall, einen Augenblick später sich bemühte, ihn durch übertriebene Höflichkeit vergessen zu machen: bei der ersten Gelegenheit platzte er um so schöner heraus; und diese außergewöhnliche, mit dem Alter sich erhöhende Reizbarkeit machte schließlich seine Stellung schwierig. Er fühlte es selbst; und eines Tages, als einer seiner Zornanfälle beinahe den Streik des gesamten Orchesters heraufbeschworen hätte, reichte er seinen Abschied ein. Er hoffte, daß man auf Grund seiner geleisteten Dienste Schwierigkeiten machen würde, sein Ansuchen zu genehmigen, daß man ihn anflehen würde, zu bleiben: aber nichts dergleichen geschah, und da er zu stolz war, um sein Gesuch zurückzuziehen, ging er tief erbittert und klagte über den Undank der Menschheit.

Seit jener Zeit wußte er nicht, wie er seine Tage ausfüllen sollte. Er hatte die Siebzig überschritten; noch war er rüstig und fuhr fort zu arbeiten, von morgens bis abends in der Stadt herumzulaufen. Stunden zu geben, zu diskutieren, hochtrabende Reden zu führen und sich in alles zu mischen. Er wurde erfinderisch, um sich auf alle mögliche Weise nur zu beschäftigen: er fing an, Musikinstrumente zu reparieren, er dachte sich allerhand aus, versuchte und fand auch manchmal Verbesserungen. Er komponierte auch und strengte sich riesig an, um etwas fertig zu bringen. Einst hatte er eine Missa solemnis geschrieben, von der er viel sprach und die der Stolz der Familie war. Sie hatte ihm soviel Mühe gekostet, daß er beim Schreiben beinahe einen Schlaganfall bekommen hätte. Er versuchte sich einzureden, daß es ein geniales Werk sei; und doch wußte er ganz gut, aus welcher Gedankenleere heraus es geschrieben war; er wagte das Manuskript selbst nicht mehr anzuschauen, weil er jedesmal in den Melodien, die er sein eigen glaubte, Bruchstücke aus andern Komponisten wiedererkannte, die er mühselig und mit aller Willensanstrengung aneinander gereiht hatte. Das erfüllte ihn mit großer Trauer. Manchmal kamen ihm Ideen, die er herrlich fand. Bebend lief er an den Tisch: würde diesmal endlich die Offenbarung standhalten? – Aber kaum hatte er die Feder in der Hand, so befand er sich wieder allein, in der Stille. Und alle seine Anstrengungen, die verschwindenden Stimmen zu beleben, endeten darin, ihn die bekannten Melodien Mendelssohns oder Brahms' hören zu lassen.

»Es gibt«, schreibt George Sand, »unglückliche Genies, denen der Ausdruck fehlt, die ihren Ideenschatz mit ins Grab nehmen, wie Geoffroy Saint-Hilaire, ein Glied dieser großen Familie erlauchter Stummer oder Stotterer sagte.« Der alte Hans Michel gehörte zu dieser Familie. Es gelang ihm ebensowenig, sich durch Musik wie durch Worte auszudrücken. Und immer gab er sich Illusionen hin; denn er hätte gar zu gern geredet, geschrieben, wäre so gern ein großer Musiker, ein gewandter Redner gewesen! Das war seine geheime Wunde; er sprach zu niemandem davon; er gestand es sich nicht einmal selbst, er versuchte nicht daran zu denken; aber er dachte, ohne daß er es wollte, daran und es bekümmerte ihn tief.

Armer alter Mann! In gar nichts gelang es ihm ganz, er selbst zu sein. Er trug so viel schöne und kraftvolle Saatkörner in sich; aber sie kamen nicht zur Blüte. Ein tiefer rührender Glaube an die Würde der Kunst, an den moralischen Wert des Lebens; aber er setzte sich meist in eine pathetische lächerliche Form um. Soviel edler Stolz; und im Leben eine fast knechtische Bewunderung der Höheren. Ein so starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit; und in der Wirklichkeit ein unbedingtes Sichfügen. Ansprüche eines starken Geistes; und aller Aberglauben. Begeisterung für Heldentum und wahren Mut; und soviel Schüchternheit! – Eine Natur, die auf halbem Wege stehen bleibt.

 

Hans Michel hatte alle seine Hoffnungen auf seinen Sohn übertragen; und Melchior versprach zuerst, sie zu erfüllen. Er zeigte von Kindheit an große Begabung für Musik. Er lernte mit erstaunlicher Leichtigkeit und erlangte als Violinist eine Technik, die ihn für lange Zeit zum Liebling, ja fast zum Abgott der Hofkonzerte machte. Auch spielte er äußerst gewandt Klavier und andere Instrumente. Er war ein Schönredner, gut gebaut, wenn auch ein wenig plump, und der Typus dessen, was in Deutschland als klassische Schönheit gilt: eine breite ausdruckslose Stirn, starke regelmäßige Züge und ein lockiger Bart: ein Jupiter vom Rheinufer. Der alte Hans Michel genoß mit Wollust seines Sohnes Erfolge. Er, der niemals irgendein Instrument sauber hatte spielen können, versank in Begeisterung vor seinen Virtuosenkunststücken. Melchior, ja der war sicher nicht in Verlegenheit, um auszudrücken, was er dachte.

Das Unglück war nur, daß er gar nichts dachte; und er machte sich nicht einmal etwas daraus. Er hatte ganz die Seele eines mittelmäßigen Komödianten, der seine Stimmbildung übt, unbekümmert, was sie ausdrückt, aber mit ängstlicher Eitelkeit ihren Eindruck auf das Publikum beobachtet.

Das Sonderbarste war, daß bei ihm, trotz seiner beständigen Sorge um das Sich-in-Szene-setzen, trotz seiner scheuen Ehrfurcht vor allen sozialen Konventionen, wie bei Hans Michel immer irgend etwas Heftiges, Unerwartetes, Unbesonnenes zutage trat, das die Leute sagen ließ, alle Kraffts seien ein wenig übergeschnappt. Zuerst schadete ihm das nicht. Es schien, als ob seine Maßlosigkeiten selber den Beweis für das Genie erbrächten, das man ihm zutraute. Denn es versteht sich unter Leuten von gesundem Menschenverstand von selbst, daß ein Künstler ihn nicht haben kann. Jedoch man kam sehr bald hinter den Charakter seiner Extravaganzen: ihre gewöhnliche Quelle war die Flasche. Nietzsche sagt zwar, daß Bachus der Gott der Musik sei; und Melchiors Instinkt war derselben Ansicht; jedoch in diesem Falle zeigte sich sein Gott recht undankbar gegen ihn: weit davon entfernt, ihm die Ideen einzugeben, die ihm fehlten, entführte er ihm die wenigen, welche er hatte. Nach seiner absurden Heirat, – absurd in den Augen der Welt und folglich auch in den seinen, – ließ er sich mehr und mehr gehen. Er vernachlässigte sein Spiel und war dabei seiner überlegenen Sicherheit so gewiß, daß er sie in kurzer Zeit ganz verlor. Andere Virtuosen überholten ihn und verdrängten ihn aus der Gunst des Publikums: das war ihm bitter; aber anstatt seine Energie zu wecken, trugen solche Niederlagen nur dazu bei, ihn zu entmutigen. Er rächte sich, indem er mit seinen Genossen im Wirtshaus auf seine Rivalen schimpfte. In seinem albernen Hochmut zählte er darauf, als Musikdirektor seinem Vater zu folgen: ein anderer wurde ernannt. Er glaubte sich verfolgt und setzte die Miene des verkannten Genies auf. Dank der Achtung, deren sich der alte Krafft erfreute, behielt er seinen Platz als Violinist im Orchester; aber er verlor nach und nach alle seine Stunden in der Stadt. War dieser Schlag seiner Eitelkeit sehr fühlbar, so war er es noch mehr seiner Kasse. Seit einigen Jahren schon hatten sich infolge verschiedener Unglücksfälle die Geldquellen sehr verringert. Nachdem man tatsächlich Überfluß gekannt hatte, war man in Dürftigkeit zurückgesunken, die von Tag zu Tag wuchs. Melchior weigerte sich, davon etwas merken zu wollen und gab keinen Pfennig weniger für seine Kleidung und sein Vergnügen aus.

Er war kein schlechter Mensch, aber ein halbguter, was vielleicht schlimmer ist; schwach, ohne jede Spannkraft, ohne moralischen Widerstand, und dabei überzeugt, ein guter Vater, guter Sohn, guter Ehemann, guter Mensch zu sein; vielleicht war er es auch, wenn dazu eine billige Güte genügt, die leicht mittrauert, und eine gewisse animalische Anhänglichkeit, welche die Seinen wie einen Teil des Selbst lieben läßt. Man hätte nicht einmal sagen können, daß er sehr egoistisch gewesen wäre: er war nicht genug Persönlichkeit dazu. Er war nichts. Es ist etwas Schreckliches im Leben um die Leute, die nichts sind. Wie ein träges Gewicht, das man in der Luft sich selbst überläßt, haben sie die Neigung zu fallen, – müssen unbedingt fallen; und alles, was um sie ist, zerren sie in ihrem Sturze mit.

 

In dem Augenblick, als die Lage der Familie am schwierigsten wurde, fing der kleine Christof gerade an zu verstehen, was um ihn her vorging.

Er war nicht mehr das einzige Kind. Melchior machte seiner Frau jedes Jahr ein Kind, ohne sich darum zu sorgen, was später aus ihnen werden würde. Zwei waren im ersten Alter gestorben. Zwei andere zählten drei und vier Jahre. Melchior beschäftigte sich nie mit ihnen, und Luise, die gezwungen war auszugehen, vertraute sie Christof an, der jetzt sechs Jahre alt war.

Das kostete Christof etwas; denn er mußte um dieser Pflicht willen auf seine schönen Nachmittage in den Feldern verzichten. Aber stolz darauf, daß man ihn als Mann behandelte, unterzog er sich ernsthaft seiner Aufgabe. Indem er den Kleinen seine eigenen Spiele zeigte, unterhielt er sie nach besten Kräften; er bemühte sich mit ihnen so zu sprechen, wie er seine Mutter mit den Babys plaudern gehört hatte. Oder er trug wohl einen nach dem andern auf den Armen, wie er es andre hatte machen sehn. Er krümmte sich unter der Last, aber er biß die Zähne zusammen und drückte den kleinen Bruder mit aller Kraft an seine Brust, damit er nicht fiele. Die Kleinen wollten immer getragen werden; dessen wurden sie niemals müde; und wenn Christof nicht mehr konnte, gab es endlose Tränen. Sie machten es ihm recht sauer und sie wurden ihm oft sehr beschwerlich. Schmutzig wie sie waren, bedurften sie mütterlicher Pflege. Christof wußte nicht was er tun sollte. Sie mißbrauchten ihn. Manchmal hatte er Lust sie zu ohrfeigen; aber er dachte: Sie sind klein, sie wissen es nicht besser. Und er ließ sich großmütig kneifen, schlagen und quälen. Ernst heulte um ein Nichts; er strampelte, er wälzte sich vor Zorn; er war ein nervöses Kind und Luise hatte Christof geraten, seinen Launen nicht zu widersprechen. Rudolf dagegen war von affenartiger Bosheit; trug Christof Ernst auf dem Arm, so nützte er es stets aus, um hinter seinem Rücken alle nur möglichen Dummheiten anzustellen; er zerbrach die Spielsachen, goß Wasser um, beschmutzte sein Kleid und kramte so lange im Wandschrank, bis die Speiseschüsseln hinunterfielen. Er trieb es so herrlich, daß Luise, wenn sie heimkehrte und die Verwüstungen sah, zu Christof, anstatt ihn zu loben, mit bekümmerter Miene, wenn auch ohne zu schelten sagte:

»Mein armer Junge, du bist nicht sehr geschickt.«

Christof war tief gekränkt und dem Weinen nahe.

 

Luise, die sich keine Gelegenheit entgehen ließ, Geld zu verdienen, verdingte sich bei besondern Anlässen, bei Hochzeitsessen oder Kindtaufen als Kochfrau. Melchior tat, als ob er nichts davon wisse: denn es verletzte seine Eitelkeit; aber er war nicht böse, daß es trotzdem geschah. Der kleine Christof hatte noch keine Ahnung von den Schwierigkeiten des Lebens; er kannte für seinen Willen keine andere Schranke als den seiner Eltern, der nicht besonders störend war; denn man ließ ihn so ziemlich aufs Geratewohl aufwachsen. Sein ganzes Verlangen ging dahin, groß zu werden, um alles tun zu können, was er wollte. Er ließ sich nichts von den Widerständen träumen, an die man sich bei jedem Schritt stößt; und vor allem hätte er nie gedacht, daß seine Eltern nicht völlig Herren ihrer selber seien. Am Tage, als er zum erstenmal durchschaute, daß es unter den Menschen solche gäbe, die befehlen, und andere, die gehorchen, und daß weder die Seinen noch er zu den Befehlenden gehörten, bäumte sich sein ganzes Wesen auf: dies wurde die erste Krisis seines Lebens.

Es war an einem Nachmittage. Seine Mutter hatte ihm seinen saubersten Anzug angezogen, einen alten geschenkten Anzug, aus dem die erfinderische Geduld Luises noch etwas Brauchbares verfertigt hatte. Er machte sich, wie es verabredet war, auf den Weg, um sie in dem Hause, wo sie arbeitete, aufzusuchen. Der Gedanke, allein dort hineinzugehen, verschüchterte ihn sehr. Unter dem Portal schlenderte ein Diener auf und ab; er hielt das Kind an und fragte in gönnerhaftem Ton, was es da mache. Christof stotterte errötend, er käme, um »Frau Krafft« zu besuchen, – wie man es ihm zu sagen eingeschärft hatte.

»Frau Krafft? – Was willst du denn von Frau Krafft?« fuhr der Diener fort, indem er das Wort »Frau« ironisch betonte. Ist das deine Mutter? Da geh hinauf, du wirst Luise am Ende des Korridors in der Küche finden.

Röter und röter werdend, ging er weiter. Er schämte sich, seine Mutter so vertraulich Luise nennen zu hören; am liebsten wäre er davongelaufen, zu seinem lieben Fluß, in den Schutz der Büsche, dorthin, wo er sich Geschichten erzählte.

In der Küche geriet er mitten zwischen die anderen Dienstboten, die ihn mit lärmenden Zurufen empfingen. Hinten am Herd lächelte ihm seine Mutter mit zärtlichem und etwas verlegenem Ausdruck zu. Er lief auf sie zu und warf sich in ihre Röcke. Sie trug eine weiße Schürze und hielt einen Holzlöffel in der Hand. Sie erhöhte seine Verwirrung noch, indem sie ihn zwang das Kinn zu erheben, damit man sein Gesicht sähe, und wollte, daß er jedem einzelnen die Hand reiche und ihm guten Tag sage. Dazu ließ er sich nicht bewegen. Er drehte sich zur Wand und verbarg den Kopf in seinem Arm. Nach und nach aber faßte er sich ein Herz und wagte von seinem Versteck aus einen kleinen glänzenden und lachlustigen Blick, der jedesmal wieder verschwand, wenn man ihn ansah. Verstohlen beobachtete er die Leute. Seine Mutter hatte eine geschäftige und wichtige Miene aufgesetzt, die er an ihr nicht kannte. Sie ging von einer Kasserolle zur andern, kostete, gab ihre Ansicht kund, und erklärte in sicherm Ton Rezepte, welche die gewöhnliche Köchin mit Ehrfurcht anhörte. Das Herz des Knaben schwoll vor Stolz, als er sah, wie man seine Mutter schätzte und welche Rolle sie in diesem schönen, mit prächtigen Goldgefäßen und blitzendem Kupfer geschmückten Gemach spielte.

Plötzlich brachen alle Gespräche ab. Die Tür öffnete sich. Mit einem Rauschen steifer Stoffe trat eine Dame ein. Sie warf einen mißtrauischen Blick um sich. Sie war nicht mehr jung, doch trug sie ein helles Kleid mit weiten Ärmeln. Ihre Schleppe hielt sie in der Hand um nirgends anzustreifen. Das hinderte sie jedoch nicht, nahe an den Herd zu kommen, die Gerichte zu betrachten und sogar davon zu kosten. Als sie ein wenig die Hand hob, fiel der Ärmel zurück und ließ den bis zum Ellbogen nackten Arm sehen, was Christof häßlich und unanständig fand. In welch trockenem und schneidendem Ton sprach sie mit Luise! Und wie demütig ihr Luise antwortete! Christof wurde davon betroffen. Er verbarg sich in seinem Winkel, um nicht bemerkt zu werden; aber das nützte ihm gar nichts. Die Dame fragte, wer der kleine Junge sei; Luise kam, um ihn zu holen und vorzustellen; sie hielt ihm die Hände fest, damit er nicht das Gesicht verstecken könne; und obgleich Christof Lust hatte, sich zu verteidigen und davonzulaufen, fühlte er doch instinktmäßig, daß er diesmal keinerlei Widerstand leisten dürfe. Die Dame sah die verstörte Miene des Kindes und, ihrer ersten ganz mütterlichen Regung folgend, lächelte sie ihm freundlich zu. Aber gleich darauf setzte sie ihre Gönnermiene wieder auf und stellte ihm in bezug auf sein Betragen, seine Frömmigkeit Fragen, auf die er nichts antwortete. Sie sah auch nach, wie die Kleider paßten; und Luise beeilte sich, ihr zu versichern, daß sie wundervoll wären, und sie zupfte an der Jacke, um die Falten zu verstreichen. Christof hatte Lust zu schreien, so wurde er geschnürt. Er verstand nicht, warum seine Mutter sich bedankte. Die Dame nahm ihn bei der Hand und sagte, sie wolle ihn zu ihren Kindern führen. Christof warf einen verzweifelten Blick auf seine Mutter; aber diese lächelte der Herrin mit so zuvorkommender Miene zu, daß er sah, von ihr war nichts zu erhoffen; und er folgte seiner Führerin wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank schleppt. Sie gelangten in einen Garten, wo zwei mürrisch ausschauende Kinder, ein Knabe und ein Mädchen in ungefähr gleichem Alter wie Christof, miteinander zu schmollen schienen. Christofs Ankunft brachte Ablenkung. Sie kamen näher, um den Neuankömmling genau zu betrachten. Christof, der nun auch von der Dame verlassen war, blieb in einer Allee festgepflanzt stehen und wagte nicht die Augen zu heben. Die beiden andern, einige Schritte davon und ebenfalls unbeweglich, sahen ihn vom Kopf bis zu den Füßen an, stießen sich mit den Ellbogen und lächelten höhnisch. Endlich entschlossen sie sich zu etwas. Sie fragten ihn, wer er wäre, woher er käme, was sein Vater machte. Christof antwortete in seiner Erstarrtheit gar nichts: er war bis zu Tränen eingeschüchtert, besonders durch das kleine Mädchen, das blonde Zöpfe und nackte Beine hatte und einen kurzen Rock trug.

Sie fingen an zu spielen. Als Christof gerade begann, sich ein wenig zu beruhigen, machte der kleine Herrensohn plötzlich vor ihm Halt, tippte auf seinen Anzug und sagte:

»Sieh einer, der gehört ja mir!«

Christof verstand nicht. Von der anmaßenden Meinung verletzt, daß sein Anzug einem andern gehören sollte, schüttelte er zum Widerspruch energisch den Kopf.

»Ich werde ihn doch wohl wiedererkennen,« meinte der Kleine. »Es ist mein alter blauer Anzug: da hat er einen Fleck.«

Und er zeigte mit dem Finger darauf. Hiernach fuhr er mit der Untersuchung fort, beschaute Christofs Füße und fragte, woraus eigentlich die Flicken seiner ausgebesserten Schuhe gemacht seien. Christof wurde dunkelrot. Das Mädelchen verzog den Mund und flüsterte ihrem Bruder zu, – Christof hörte es, – daß es ein kleiner Armer sei; darauf fand Christof die Sprache wieder. Er glaubte solche beleidigende Meinung siegreich niederzuschlagen, indem er mit erstickter Stimme hervorstammelte, er sei der Sohn von Melchior Krafft, und seine Mutter wäre Luise, die Kochfrau. – Ihm schien dieser Titel ebenso schön wie irgendein anderer; und er hatte damit durchaus Recht. – Aber die beiden Kleinen, welche die Nachricht übrigens interessierte, schienen ihn deshalb nicht höher einzuschätzen. Sie nahmen im Gegenteil einen gönnerhaften Ton an. Sie fragten ihn, was er später machen wolle und ob er auch Koch oder Kutscher werden würde. Christof fiel in seine Stummheit zurück. Er fühlte, wie ihm etwas Eisiges ins Herz drang.

Durch sein Stillschweigen kühn geworden, suchten die beiden kleinen Reichen, die plötzlich gegen den armen Jungen eine jener grausamen und grundlosen Kinderantipathien gefaßt hatten, nach irgendeinem unterhaltsamen Mittel, um ihn zu quälen. Das Mädchen war ganz besonders darauf erpicht. Sie merkte, daß Christof wegen seiner engen Kleider nur mit Mühe laufen konnte; und sie kam auf die raffinierte Idee, ihn Hindernissprünge vollführen zu lassen. Man baute aus kleinen Bänken eine Barriere und forderte Christof auf, darüberzusetzen. Der unglückliche Junge wagte nicht zu sagen, was ihn am Springen hindere; er raffte seine Kräfte zusammen, gab sich einen Schwung und fiel der Länge nach auf die Erde. Ringsumher gab es helles Gelächter. Er mußte von vorn beginnen. Die Augen voller Tränen, machte er eine verzweifelte Anstrengung. Diesmal gelang es ihm wirklich, hinüberzukommen. Das genügte jedoch seinen Peinigern durchaus nicht; sie fanden, daß die Barriere nicht hoch genug sei; sie bauten sie noch höher, bis es ein unfehlbar halsbrecherisches Gerüst wurde. Christof versuchte sich zu empören; er erklärte, daß er da nicht hinüber wollte. Darauf nannte ihn das kleine Mädchen feige und schalt ihn furchtsam. Christof konnte das nicht vertragen; obgleich er sicher war, daß er hinschlagen würde, sprang er und fiel. Seine Füße verfingen sich in dem Hindernis, alles brach mit ihm herunter. Er riß sich seine Hände blutig und zerschlug sich beinahe den Kopf. Um das Unglück voll zu machen, platzte sein Anzug an den Knien und anderen Stellen auf. Er war krank vor Scham; er hörte die beiden Kinder vor Vergnügen um ihn herumtanzen, und er litt entsetzlich. Er fühlte, daß sie ihn verachteten, daß sie ihn haßten: Warum? warum? Er hätte sterben mögen! – Es gibt keinen grausameren Schmerz, als den eines Kindes, das zum erstenmal die Schlechtigkeit anderer entdeckt; es glaubt sich dann von der ganzen Welt verfolgt und nichts hat es, was es hilfreich stützte: nichts mehr, nichts! … Christof versuchte sich zu erheben: der kleine Herrensohn stieß ihn zurück, so daß er wieder hinfiel. Das Mädchen gab ihm Fußtritte. Er versuchte es von neuem, sie warfen sich alle beide über ihn, setzten sich auf seinen Rücken und drückten sein Gesicht zur Erde. Da ergriff ihn die Wut: das war zu viel des Unglücks! Seine brennenden Hände, sein zerrissener schöner Anzug – für ihn ein tragisches Verhängnis! – die Schmach, der Kummer, die Empörung gegen die Ungerechtigkeit, all dies Elend auf einmal verschmolz sich in ihm zu einer wütenden Raserei. Er stützte sich im Bogen auf seine Knie und Hände, schüttelte sich wie ein Hund, so daß seine Verfolger übereinander fielen; und als sie es noch einmal mit ihm versuchten, drang er mit gesenktem Schädel auf sie ein, ohrfeigte das kleine Mädchen und warf mit einem Faustschlag den Jungen mitten in ein Gartenbeet.

Das wurde ein Geheul! Mit durchdringenden Schreien flohen die Kinder ins Haus. Man hörte Türenschlagen und zornige Ausrufe. Die Dame kam, so schnell es die Kleiderschleppe ihr erlaubte, herbeigelaufen. Christof sah sie kommen und versuchte nicht einmal zu entfliehen; er schauderte vor dem, was er getan hatte: ja es war etwas Unglaubliches, ein Verbrechen; aber er bedauerte nichts. Er wartete und fühlte sich verloren. Um so besser! Er war sowieso der Verzweiflung ausgeliefert. Die Dame stürzte sich auf ihn. Er fühlte, wie er geschlagen wurde. Er hörte, daß sie mit wütender Stimme und einem Schwall von Worten auf ihn einsprach; aber er unterschied nichts. Seine beiden kleinen Feinde waren, um seiner Schande beizuwohnen, zurückgekehrt und keiften aus vollem Halse. Dienstboten standen herum: es gab einen wahren Stimmenwirrwarr. Um ihn vollends zu Boden zu drücken, erschien jetzt auch Luise, die man gerufen hatte; und anstatt ihn zu verteidigen, fing sie ebenfalls, bevor sie noch irgend etwas wußte, an, ihn zu schlagen; sie verlangte, daß er um Verzeihung bitte. Er sträubte sich wütend. Sie schüttelte ihn stärker, zerrte ihn an der Hand vor die Dame und die Kinder, damit er vor ihnen niederknie. Aber er strampelte, heulte und biß seine Mutter in die Hand. Endlich rettete er sich in die Mitte der lachenden Dienstboten.

Das Herz drohte ihm zu zerspringen; der Zorn und die empfangenen Schläge brannten in seinem Gesicht; so ging er davon. Er versuchte an nichts zu denken und beschleunigte den Schritt, weil er auf der Straße nicht weinen mochte. Er wünschte sich nach Hause, um seinen Tränen freien Lauf zu lassen; seine Kehle war ihm zugeschnürt, das Blut sauste ihm im Kopf, daß er zu bersten drohte.

Endlich gelangte er heim, er lief die alte schwarze Treppe empor bis zu seiner gewohnten Fensternische, oberhalb des Flusses; außer Atem warf er sich hinein, und nun kam eine Tränensintflut. Er wußte nicht genau, warum er weinte; aber er mußte weinen. Und als der erste Strom so ziemlich vorüber war, weinte er noch immer, weil er weinen wollte, in einer Art von Wut, um sich leiden zu machen, als strafte er damit die andern gleichzeitig mit sich selbst. Dann dachte er daran, daß sein Vater bald heimkehre, daß seine Mutter ihm alles erzählen würde und daß sein Unglück noch nicht am Ende sei. Er beschloß zu fliehen, ganz gleich wohin, um niemals wiederzukehren.

Gerade im Augenblick, als er hinunterging, stieß er an den heimkehrenden Vater.

»Was machst du da, Bengel, wo willst du hin?« fragte Melchior.

Er antwortete nicht.

»Du hast irgendeine Dummheit angestellt. Was hast du getan?«

Christof schwieg hartnäckig.

»Was du getan hast?« wiederholte Melchior. »Willst du antworten?«

Das Kind begann zu weinen, Melchior zu schreien, einer immer lauter als der andere, bis man den eiligen Schritt Luises hörte, welche die Treppe hinaufstieg. Sie war ganz aufgeregt. Sie begann sogleich mit heftigen Vorwürfen, die sie mit neuen Ohrfeigen begleitete, und denen Melchior, sobald er begriffen hatte, worum es sich handele, – und wahrscheinlich schon vorher – seine Hiebe hinzufügte, die einen Stier hätten erschlagen können. Sie schrien alle beide. Das Kind heulte. Schließlich stritten sie mit demselben Zorn einer gegen den andern. Während Melchior noch mitten im Schlagen war, sagte er plötzlich, der Kleine habe ganz recht getan, man sähe ja, wohin es führe, wenn man Leute bedienen gehe, die sich alles erlauben zu können meinten, weil sie Geld hätten. Luise schrie ihrem Mann zu, daß er ein brutaler Kerl sei, daß sie ihm nicht erlaube, den Kleinen anzurühren und daß er ihn verwundet habe. Christof blutete wirklich etwas aus der Nase, aber er dachte kaum daran und wußte seiner Mutter durchaus keinen Dank dafür, daß sie ihn mit einem angefeuchteten Leinentuch grob abtupfte, wobei sie immer weiter schalt. Zuletzt stieß man ihn in eine dunkle Kammer, wo man ihn ohne Abendbrot einsperrte.

Er hörte, wie die Eltern sich gegenseitig anschrien, und er wußte nicht, wen er am meisten verabscheute. Es schien ihm, es wäre die Mutter; denn von ihr hatte er niemals eine solche Schlechtigkeit erwartet. Alle Leiden des Tages drückten ihn gleichzeitig nieder: alles was er erlitten hatte, die Ungerechtigkeit der Kinder, die Ungerechtigkeit der Dame, die Ungerechtigkeit seiner Eltern, und – was er ebenfalls wie eine frische Wunde fühlte, wenn er sich davon auch nicht Rechenschaft gab – die Erniedrigung seiner bisher mit solchem Stolz betrachteten Eltern vor so schlechten und verächtlichen Leuten. Diese Feigheit, die ihm zum erstenmal unbestimmt bewußt wurde, erschien ihm gemein. Alles in ihm war erschüttert: die Bewunderung für die Seinen, die religiöse Ehrfurcht, die sie ihm einflößten, seine Lebenszuversicht, das kindliche Bedürfnis, die andern zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, sein blindes, aber unbedingtes moralisches Vertrauen. Es war ein vollständiger Zusammenbruch. Er wurde, ohne irgendeine Möglichkeit, sich zu verteidigen, sich jemals wieder zu befreien, von einer brutalen Macht erdrückt. Er erstickte; er glaubte sterben zu müssen; er bäumte sich mit seinem ganzen Wesen in einer verzweifelten Empörung auf. Er schlug mit Fäusten, Füßen und Kopf gegen die Wand, heulte, wurde von Zuckungen erfaßt und fiel, indem er an den Möbeln anprallte, zur Erde.

Seine Eltern liefen herbei und nahmen ihn in die Arme. Jetzt wollte es einer dem andern an Zärtlichkeit zuvortun. Seine Mutter zog ihn aus, trug ihn ins Bett und setzte sich zu Häupten seines Lagers, bis er ruhiger wurde. Aber er ließ sich durchaus nicht rühren, er verzieh ihr nichts und er tat, als ob er schliefe, nur um sie nicht zu küssen. Seine Mutter erschien ihm schlecht und feige. Er ahnte nicht, wie schwer es ihr wurde, für sich und ihn das Leben zu verdienen, und wie sie, als sie Partei gegen ihn nahm, gelitten hatte.

Nachdem er den unglaublich reichen Tränenvorrat, den Kinderaugen fassen, bis zum letzten Tropfen erschöpft hatte, fühlte er sich ein wenig erleichtert. Er war matt und gebrochen; aber seine Nerven waren noch zu angespannt, als daß er hätte schlafen können. Die eben erlebten Bilder fingen von neuem an, durch seine Halbbetäubung zu streichen. Vor allem sah er das kleine Mädchen immer wieder, mit ihren glänzenden Augen, ihrer kleinen hochmütig erhobenen Nase, ihren Haaren über den Schultern, den nackten Beinen und ihrer kindlichen und gezierten Sprache. Er zitterte, wenn er sich einbildete, ihre Stimme von neuem zu hören. Er dachte daran, wie dumm er sich ihr gegenüber benommen habe, und empfand einen wilden Haß gegen sie; er konnte ihr nicht verzeihen, daß sie ihn so erniedrigt hatte, und er wurde von dem Wunsche verzehrt, sie nun ihrerseits zu demütigen, sie weinen zu machen. Er suchte nach Mitteln und fand keines. Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie sich jemals um ihn kümmern würde; aber um sein Herz zu erleichtern, bildete er sich ein, daß alles so wäre, wie er es sich wünschte. Er setzte also voraus, daß er sehr einflußreich und berühmt geworden sei; und gleichzeitig beschloß er, daß sie in ihn verliebt sein müsse. Dann fing er an, sich eine seiner tollen Geschichten zu erzählen, die er schließlich für wahrer hielt als die Wirklichkeit.

Sie starb vor Liebessehnsucht; er aber verachtete sie. Wenn er an ihrem Haus vorüberschritt, sah sie ihm, hinter den Vorhängen verborgen, nach; er fühlte, daß sie ihn anschaute, aber er tat, als achte er nicht darauf, und unterhielt sich fröhlich. Er verließ sogar das Land und reiste weit fort, nur um ihre Pein zu erhöhen. Er vollführte große Taten. – Hier fügte er seinem Bericht einige ausgewählte Bruchstücke aus Großvaters Heldenerzählungen ein. – Währenddessen wurde sie krank vor Kummer. Und ihre Mutter, die hochmütige Dame, kam, um ihn anzuflehen: »Mein armes Kind stirbt. Ich bitte Sie um alles in der Welt, kommen Sie!« Er kam. Sie lag da mit bleichem, eingefallenem Gesicht. Sie streckte ihm die Arme entgegen. Sie konnte nicht sprechen; aber sie nahm seine Hände und küßte sie weinend. Und dann sah er mit bewundernswürdiger Güte und Sanftmut auf sie nieder. Er sagte ihr, daß sie genesen solle, und erlaubte ihr gnädig, ihn zu lieben. Als er an dieser Stelle seiner Erzählung angekommen war und, um ihre Befriedigung auszukosten, sich mehrmals die Stellungen und Worte wiederholte, übermannte ihn der Schlaf, und er schlummerte getröstet ein.

Als er die Augen von neuem öffnete, war der Tag gekommen; und dieser Tag leuchtete nicht mit der Unbewußtheit vorhergehender Morgen. Irgend etwas war in der Welt verändert. Christof wußte, was Ungerechtigkeit war.

 

Man hatte im Haus Augenblicke sehr fühlbarer Not zu überstehen; sie wurden nach und nach immer häufiger. An solchen Tagen gab es magern Tisch. Niemand merkte es besser als Christof. Der Vater sah nichts; er bediente sich als erster, und für ihn gab es immer genug. Er unterhielt sich lärmend, lachte laut über seine eignen Worte und beachtete nicht den Blick seiner Frau, die mit gezwungener Miene lächelte und ihn ängstlich überwachte, während er zulangte. War die Schüssel an ihm vorübergegangen, so blieb nur noch die Hälfte darin. Luise gab den Kleinen: jedem zwei Kartoffeln. Kam die Reihe an Christof, blieben oft nur drei auf dem Teller, und seine Mutter war noch nicht bedient. Er wußte es schon im voraus, denn er hatte sie gezählt, bevor sie zu ihm kamen. Dann raffte er seinen Mut zusammen und sagte mit ungezwungener Miene:

»Nur eine, Mama.«

Sie sorgte sich ein wenig.

»Zwei, wie die andern.«

»Nein, bitte schön, nur eine einzige.«

»Hast du denn keinen Hunger?«

»Nein, ich habe keinen großen Hunger.«

Aber auch sie nahm nur eine, und sie schälten sie mit Sorgfalt, teilten sie in ganz kleine Stücke, suchten sie so langsam wie nur möglich zu essen. Seine Mutter beobachtete ihn. War er dann fertig:

»Nun also, nimm noch diese.«

»Nein, Mama.«

»Ja, bist du denn krank?«

»Ich bin nicht krank, aber ich habe genug gegessen.«

Es kam vor, daß sein Vater ihm vorwarf, er spiele den Verwöhnten, und sich selbst die letzte Kartoffel aneignete. Aber Christof wurde jetzt vorsichtig; und er behielt sie für seinen kleinen Bruder Ernst auf dem Teller, der, ein rechter Vielfraß, vom Anfang des Essens an danach hinschielte und schließlich fragte:

»Du ißt sie nicht? So gib sie mir, gelt Christof.«

Oh, wie verabscheute Christof seinen Vater, wie grollte er ihm, daß er nicht an sie dachte, nicht einmal auf den Gedanken kam, daß er ihr Teil fort aß! Er hatte solchen Hunger, daß er ihn haßte und es ihm gern gesagt hätte; aber in seinem Stolz dachte er, daß er nicht das Recht dazu habe, solange er seinen Unterhalt nicht selbst verdiene. Dies Brot, das sein Vater ihm nahm, – sein Vater hatte es erworben. Er aber war zu nichts nütze; er war für alle eine Last; er hatte kein Recht zu sprechen. Später – da würde er alles sagen, – wenn es bis zum Später käme. Ach! er würde vorher Hungers sterben! … Er litt mehr als manches andere Kind an solchen jungen Bitternissen. Sein robuster Magen folterte ihn; manchmal überfiel ihn ein Zittern; der Kopf tat ihm weh; er fühlte ein Loch in der Brust; ein Loch, das sich drehte und immer größer wurde wie von einem Bohrer. Aber er klagte nicht; er fühlte sich von seiner Mutter beobachtet und setzte eine gleichgültige Miene auf. Luise begriff halb und halb und mit gepreßtem Herzen, daß ihr kleiner Junge sich das Essen versagte, damit die andern um so mehr hätten; sie wies den Gedanken von sich; aber er kam ihr immer wieder. Sie wagte nicht, die Sache ganz aufzuklären und Christof zu fragen, ob es wahr sei; denn war es auch so, was hätte sie machen können? Sie selbst war von klein auf an Entsagungen gewöhnt. Was nützt es zu klagen, wenn man nichts ändern kann? Allerdings ahnte sie mit ihrer zarten Gesundheit und ihren geringen Bedürfnissen nicht, daß der Knabe mehr leiden müsse als sie. Sie sagte nichts zu ihm; aber ein- oder zweimal, als die andern ausgegangen waren, die Kinder auf der Straße, Melchior bei seinem Beruf, bat sie ihren Ältesten zurückzubleiben, um ihr irgendeinen kleinen Dienst zu leisten. Christof hielt ihr das Knäuel, während sie es aufwickelte. Plötzlich warf sie alles hin und zog ihn leidenschaftlich, an sich; sie nahm ihn auf den Schoß, obgleich er schon recht schwer war; sie drückte ihn an sich. Er umschlang heftig ihren Hals und sie weinten alle beide und küßten sich wie Verzweifelte.

»Mein armer kleiner Junge! …«

»Mama, liebe Mama! …«

Mehr sprachen sie nicht; aber sie verstanden sich.

 

Es dauerte ziemlich lange, bis Christof merkte, daß sein Vater trank. Melchiors Unmäßigkeit überschritt gewisse Grenzen nicht, wenigstens nicht im Anfang. Sie war durchaus nicht brutal. Sie zeigte sich viel eher in übermäßigen Freudenausbrüchen. Er sagte Albernheiten und sang stundenlang aus vollem Halse, während er dazu auf den Tisch schlug; und manchmal wollte er mit aller Gewalt mit Luise und den Kindern tanzen. Christof sah wohl, daß seine Mutter ein trauriges Gesicht machte; sie setzte sich abseits und senkte den Blick auf ihre Arbeit; sie vermied, den Betrunkenen anzusehen; und sie versuchte ihn sanft zum Schweigen zu bringen, wenn er Unflätigkeiten sagte, die sie erröten ließen. Aber Christof verstand das nicht; er hatte ein solches Bedürfnis nach Fröhlichkeit, daß ihm die lärmende Heimkehr des Vaters fast ein Fest bedeutete. Das Zu-Hause war traurig; und solche Tollheiten waren ihm eine Aufheiterung. Er lachte von Herzen über Melchiors groteske Bewegungen und seine dummen Späße; er sang und tanzte mit ihm; er fand es von seiner Mutter sehr häßlich, daß sie ihm mit ärgerlicher Stimme aufzuhören befahl. Wie konnte das schlecht sein, wenn es sein Vater doch tat? Obgleich ihm durch seine stets wache Beobachtungsgabe, die ihn nicht einmal Geschehenes vergessen ließ, manches im Betragen seines Vaters aufgefallen war, was nicht mit seinem kindlichen und unabweislichen Gerechtigkeitssinn übereinstimmte, fuhr er doch immer fort, ihn zu bewundern. Das ist einem Kinde ein Bedürfnis! Sicher ist es eine Form des Selbstgefühls. Solange der Mensch zu schwach ist oder sich als zu schwach erkennt, um seine Wünsche zu erfüllen und seinen Stolz zu befriedigen, überträgt er sie als Kind auf die Eltern, als vom Leben besiegter Mann seinerseits auf die eignen Kinder. Sie sind oder werden alles, was er zu sein geträumt hat, seine Verfechter, seine Rächer; und in diesem stolzen Verzichtleisten zu ihren Gunsten mischen sich Liebe und Selbstsucht in berauschender Süße und Kraft. Christof vergaß so die gegen seinen Vater gehegten Beschwerden und versuchte alles, um Gründe zu finden, ihn zu bewundern; er bewunderte seine Gestalt, seine starken Arme, seine Stimme, sein Lachen, seinen Frohsinn; und er strahlte vor Stolz, wenn er sein Virtuosentalent loben hörte oder wenn Melchior selber von den Schmeicheleien erzählte, die man ihm gesagt hatte und die er noch übertrieb. Er glaubte seinen Prahlereien; und er hielt seinen Vater für ein Genie, für einen von Großvaters Helden.

Eines Abends, gegen sieben Uhr, war er allein zu Hause. Die kleinen Brüder gingen mit Hans Michel spazieren. Luise wusch Wäsche am Fluß. Die Tür öffnete sich, und Melchior brach herein. Er war ohne Hut, mit halboffenen Kleidern; er vollführte, um einzutreten, eine Art Luftsprung und fiel gleich darauf auf einen Stuhl am Tisch. Christof fing zu lachen an, weil er meinte, es handle sich um einen seiner gewöhnlichen Späße; und er kam zu ihm. Aber sowie er ihn aus der Nähe sah, verging ihm die Lust zum Lachen. Melchior saß da mit hängenden Armen, schaute, ohne etwas zu sehen, mit blinzelnden Augen vor sich hin; sein Gesicht war dunkelrot; der Mund stand ihm auf, und von Zeit zu Zeit quoll ein glucksendes, blödes Lachen daraus hervor. Christof wurde betroffen. Zuerst meinte er, daß sein Vater Scherz treibe; aber als er sah, daß er sich nicht rührte, packte ihn die Angst.

»Papa! Papa!« schrie er.

Melchior fuhr fort wie eine Henne zu glucksen. Christof ergriff ihn verzweifelt am Arm und schüttelte ihn aus allen Kräften: »Papa, lieber Papa, antworte mir doch! Bitte, bitte!«

Melchiors Körper schwankte wie ein widerstandsloses Ding und fiel beinahe um; sein Kopf neigte sich Christof zu; er sah ihn an und gurgelte unzusammenhängende und erregte Silben. Als Christofs Blick diese unklaren Augen traf, bemächtigte sich seiner ein wahnsinniges Entsetzen. Er floh in den Hintergrund des Zimmers, warf sich vor dem Bett auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Decken. Lange blieben sie so. Melchior schaukelte sich schwerfällig auf seinem Stuhl und gurrte.

Christof verstopfte sich die Ohren, um es nicht zu hören, und zitterte am ganzen Körper. Was in ihm vorging, war unbeschreiblich: es war ein entsetzlicher Aufruhr, ein Schrecken, ein Schmerz, so als wenn jemand gestorben wäre, jemand, den man liebte und verehrte.

Niemand kehrte heim, sie blieben beide allein. Die Nacht sank und Christofs Angst steigerte sich von Minute zu Minute. Er konnte es nicht unterlassen zu lauschen, und sein Blut erstarrte, wenn er diese Stimme, die er nicht wiedererkannte, hörte: die Stille machte sie noch fürchterlicher. Die hölzerne Standuhr schlug den Takt zu dem sinnlosen Geplapper. Er hielt es nicht mehr aus; er wollte fliehen. Aber um hinauszukommen, mußte er an seinem Vater vorbei; und Christof schauerte bei dem Gedanken, seine Augen wieder zu sehen: ihm schien, er müßte davon sterben. Er versuchte, auf Händen und Knien bis zur Zimmertür zu rutschen. Er atmete nicht, er schaute nicht auf, er hielt bei der geringsten Bewegung Melchiors inne, dessen Füße er unter dem Tisch sah. Ein Bein des Betrunkenen zitterte. Christof gelangte zur Tür; mit bebender Hand drückte er auf die Klinke; aber in seiner Verwirrung ließ er sie los: sie fiel heftig zu, Melchior wendete sich, um zu sehen; der Stuhl, auf dem er sich wiegte, verlor das Gleichgewicht: er fiel mit Gepolter um. Der entsetzte Christof fand nicht die Kraft zu fliehen. Er blieb an die Wand gepreßt stehen, sah seinen Vater der Länge nach zu seinen Füßen und schrie um Hilfe.

Der Fall ernüchterte Melchior etwas. Nachdem er geschimpft, geflucht und den Stuhl, der ihm diesen Streich gespielt, mit Faustschlägen gepufft hatte, nachdem er vergebens versucht hatte, sich zu erheben, setzte er sich aufrecht und lehnte den Rücken an den Tisch; so erkannte er das umgebende Land. Er sah den weinenden Christof: er rief ihn heran. Christof wollte fliehen; er konnte sich nicht regen. Melchior rief ihn von neuem; und als das Kind nicht kam, fluchte er vor Zorn. Christof, der an allen Gliedern zitterte, kam näher. Melchior zog ihn an sich heran und setzte ihn auf seine Knie. Er fing damit an, ihn an den Ohren zu ziehen und ihn mit schwerfälliger und lallender Zunge eine Predigt über den Respekt zu halten, den ein Kind seinem Vater schulde. Dann kam er plötzlich auf einen andern Gedanken und schwang den Knaben, indem er Albernheiten einherleierte, in den Armen auf und ab: er bog sich vor Lachen. Hierauf ging er ohne Vermittelung zu traurigen Ideen über; er wehklagte über den Kleinen und über sich selbst; er drückte ihn an sich als wollte er ihn erwürgen, und überströmte ihn mit Küssen und Tränen; und schließlich wiegte er ihn, indem er das De Profundis dazu anstimmte. Christof machte nicht die geringste Bewegung, um sich zu befreien; er war vor Entsetzen erstarrt. Fast erstickt an der Brust seines Vaters, fühlte er über seinem Gesicht den weindurchtränkten Atem und das Aufstoßen des Betrunkenen, wurde von seinen Küssen und widerlichen Tränen genäßt und verging vor Ekel und Furcht. Er wollte schreien, aber kein Laut entrang sich seinem Munde. Ein Jahrhundert – so schien es ihm – blieb er in diesem entsetzlichen Zustand, bis die Tür sich öffnete und Luise mit einem Wäschekorb in der Hand eintrat. Sie stieß einen Schrei aus, ließ den Korb fallen, eilte auf Christof zu und riß ihn mit einer Heftigkeit, die ihr niemand zugetraut hätte, aus Melchiors Armen:

»Elender Trunkenbold, du!« rief sie.

Ihre Augen flammten vor Zorn.

Christof meinte, sein Vater würde sie töten. Aber Melchior war von der drohenden Erscheinung seiner Frau so betroffen, daß er nichts erwiderte und nur in neue Tränen ausbrach. Er wälzte sich auf der Erde; er schlug seinen Kopf an die Möbel und wimmerte, daß sie recht habe, daß er ein Trinker sei, der das Unglück der Seinen ausmache, daß er seine armen Kinder zugrunde richte und sterben wolle. Luise hatte ihm voller Verachtung den Rücken gedreht; sie trug Christof in das anstoßende Zimmer, sie liebkoste ihn und suchte ihn zu beruhigen. Der Kleine fuhr fort heftig zu zittern und antwortete nicht auf der Mutter Fragen; schließlich brach er in Schluchzen aus. Luise badete ihm das Gesicht in Wasser; sie küßte ihn, sprach ihm zärtlich zu, sie weinte mit ihm. Endlich beruhigten sie sich alle beide. Sie kniete nieder und ließ ihn neben sich dasselbe tun. Sie beteten, daß der liebe Gott den Vater von seiner widerlichen Gewohnheit heilen möge, und ihn gut und tüchtig wie früher werden ließe. Luise brachte das Kind zu Beit. Es wollte daß sie an seinem Bette bliebe und seine Hand halte. Luise verbrachte einen Teil der Nacht bei Christof, der in Fieber verfallen war. Indessen schnarchte der Betrunkene auf der Diele.

Als einige Zeit nach diesem Vorfall Christof in der Schule, wo er gewöhnlich seine Zeit damit verbrachte, die Fliegen an der Decke zu betrachten und seinen Nachbarn Püffe auszuteilen, um sie von der Bank zu werfen, sich selbst einmal zum Spaß von seinem Sitz fallen ließ, machte der Lehrer, der längst wegen seiner ewigen Unruhe, seiner Faulheit und Lachlust gegen ihn eingenommen war, eine unpassende Anspielung auf eine gewisse bekannte Persönlichkeit, deren Spuren er glänzend folgen zu wollen schien. Alle Kinder brachen in Gelächter aus; und einige hielten es für nötig, die Anspielungen durch ebenso energische wie klare Kommentare zu verdeutlichen. Christof erhob sich, rot vor Scham, ergriff sein Tintenfaß und schleuderte es in hohem Bogen an den Kopf des ersten, den er lachen sah. Der Lehrer fiel über ihn her; er wurde mit der Rute gehauen, mußte in einer Ecke knien und wurde zu einem riesenhaften Strafpensum verurteilt.

Leichenblaß und voll schweigender Wut kehrte er heim; er erklärte kalt, daß er nicht mehr in die Schule wollte. Man schenkte seinen Worten keine Beachtung. Am nächsten Morgen, als seine Mutter ihn erinnerte, daß es Zeit wäre fortzugehen, erklärte er mit Ruhe, daß er gesagt habe, er würde nicht mehr hingehen. Wie Luise auch bat, schrie, drohte: nichts half. Er blieb mit eigensinniger Stirn im Winkel sitzen. Melchior schlug ihn halb lahm: er heulte; aber auf alle Aufforderungen, die man nach jeder Strafe an ihn richtete, antwortete er wütender: »Nein!« Man bat ihn wenigstens zu sagen, warum: er preßte die Zähne aufeinander und wollte mit der Sprache nicht heraus. Melchior packte ihn, trug ihn zur Schule und übergab ihn dem Lehrer. Kaum saß er wieder auf seiner Bank, fing er an, systematisch alles ihm Erreichbare zu zerbrechen: sein Schreibzeug, seine Feder; er zerriß sein Heft und sein Buch; – alles dies tat er ganz offensichtlich, während er den Lehrer dabei herausfordernd ansah. Man sperrte ihn in den Karzer. – Einige Augenblicke später fand ihn der Lehrer mit seinem Taschentuch um den Hals geknüpft, im Begriff, aus allen Kräften an den beiden Enden zu ziehen: er versuchte sich zu erdrosseln.

Man mußte ihn heimschicken und in eine andere Schule geben.

 

Christof war gegen das Leiden abgehärtet. Er hatte vom Vater und Großvater die robuste Natur geerbt. Man war in der Familie nicht verzärtelt: krank oder nicht, geklagt wurde niemals, und nichts war imstande, an den Gewohnheiten der beiden Kraffts, Vater und Sohn, irgend etwas zu ändern. Bei jedem Wetter, ob Sommer oder Winter, gingen sie aus, blieben stundenlang in Regen oder Sonne, manchmal aus Nachlässigkeit oder Prahlerei mit bloßem Kopf und offnen Kleidern; sie legten, ohne müde zu werden, Meilen zurück und sahen mit verächtlichem Mitleid auf die arme Luise herab, die zwar nichts sagte, aber die wohl oder übel mit geschwollenen Beinen und zum Springen klopfendem Herzen Halt machen mußte. Christof war nicht weit davon entfernt, ihre Geringschätzung der Mutter zu teilen; er verstand nicht, daß man krank sein könne; ob er fiel, sich stieß, sich schnitt oder verbrannte, er weinte nicht; aber er war gegen das feindliche Objekt aufgebracht: die Brutalitäten seines Vaters und seiner kleinen Kameraden, der Gassenjungen, mit denen er sich schlug, härteten ihn gehörig ab. Er fürchtete keine Schläge; und mehr als einmal kam er mit blutender Nase oder mit Beulen auf der Stirn nach Hause. Eines Tages mußte man ihn fast erstickt aus einem tollen Handgemenge befreien, bei dem er unter seinen Gegner gewälzt worden war, der ihm in aller Wildheit den Kopf auf das Pflaster stieß. Er fand das ganz natürlich und war durchaus bereit, mit den andern ebenso umzugehen, wie man es mit ihm tat.

Jedoch vor unendlich vielen Dingen hatte er Furcht; und obgleich man nichts davon wußte – denn er war sehr stolz – litt er während eines Teils seiner Kindheit unter nichts so sehr wie unter diesen beständigen Todesängsten. Besonders während zweier oder dreier Jahre wüteten sie in ihm gleich einer Krankheit. Er hatte Angst vor dem Geheimnisvollen, das sich im Dunkel verkriecht, vor den bösen Mächten, die dem Leben aufzulauern scheinen, vor dem schreckenerregenden Gewimmel, das jedes Kinderhirn mit Entsetzen in sich trägt und mit allem, was es sieht, verbindet: wohl als die letzten Überbleibsel einer verschwundenen Fauna, der Gesichte erster Tage, die dem Nichts noch nahe sind, dem furchtbaren Schlaf im Mutterleibe, dem Erwachen der Larve in der Tiefe der Materie.

Er hatte Angst vor der Bodentür. Sie führte auf die Treppe und stand fast immer halb offen. Wenn er vorbeigehn mußte, fühlte er sein Herz pochen; er nahm einen Anlauf und sprang, ohne hinzuschauen, vorüber; ihm schien, irgend jemand oder irgend etwas sei dahinter. An den Tagen, wo sie geschlossen war, hörte er deutlich durch das geöffnete Abzugsloch, wie sich hinter der Tür etwas bewegte. Es war das nicht erstaunlich, denn es lebten dort große Ratten; aber er stellte sich ein Ungeheuer vor, mit zerstückelten Knochen, mit Fleisch wie Lumpen, einem Pferdekopf, todbringenden Augen und unzusammenhängenden Formen; er wollte nicht daran denken und dachte trotzdem daran. Er vergewisserte sich mit bebender Hand, daß der Riegel gut vorgeschoben war: was ihn nicht verhinderte, wenn er die Stufen hinunterstieg, sich zehnmal umzudrehen. Er hatte Angst vor der Nacht im Freien. Es geschah, daß er sich beim Großvater verspätete oder daß man ihn abends wegen einiger Besorgungen ausschickte. Der alte Krafft wohnte ein wenig außerhalb der Stadt, im letzten Haus auf der Kölner Landstraße. Zwischen diesem Haus und den ersten erhellten Fenstern der Stadt lagen zwei- bis dreihundert Schritt, die Christof gut als das Dreifache erschienen. Einige Minuten lang machte der Weg eine Biegung, und man sah gar nichts. Das Land lag um die Dämmerzeit verödet; die Erde wurde schwarz und der Himmel von erschreckender Bleiche. Verließ man das den Weg einfassende Gebüsch und erkletterte die Böschung, so sah man am äußersten Horizont noch einen gelblichen Schimmer, aber dieser Schein hellte nicht und war beängstigender als die Nacht; er schuf ein tieferes Dunkel rings um sich her: es war ein Leichenlicht. Die Wolken senkten sich fast bis zum Erdboden. Die Büsche wurden ungeheuerlich und bewegten sich. Die Baumskelette ähnelten grotesken Greisen. Die Meilensteine hatten Reflexe wie fahle Tücher. Das Dunkel regte sich. Zwerge saßen in den Gräben, Leuchtkäfer im Gras, erschreckende Flügelschläge sausten durch die Luft, Mark und Bein durchdringende Insektenschreie tauchten wer weiß woher auf. Christof war immer in angstvoller Erwartung irgendeiner unheilvollen Seltsamkeit der Natur. Er lief, so schnell er konnte, und sein Herz flog in seiner Brust.

Sah er in Großvaters Zimmer das Licht, war er beruhigt. Aber das schlimmste war, daß der alte Krafft manchmal noch nicht heimgekehrt war. Dann wurde es noch schrecklicher. Das alte in der Landschaft verlorene Haus schüchterte das Kind bei hellem Tage ein. War der Großvater da, so vergaß es seine Ängste; aber manchmal ließ der Alte ihn allein und ging aus, ohne ihm vorher etwas zu sagen. Christof hatte nicht acht darauf gegeben. Das Zimmer war friedlich. Alle Gegenstände waren vertraut und freundlich. Da stand ein großes Bett aus weißem Holz. Zu Häupten des Bettes lag auf einem Brettchen eine dicke Bibel, auf dem Kamin künstliche Blumen und die Photographie der beiden Frauen und der elf Kinder, – der Alte hatte auf eine jede unten das Geburtsdatum und den Todestag geschrieben. An den Wänden eingerahmte Verse und schlechte Buntdrucke von Mozart und Beethoven. In einer Ecke ein kleines Klavier, in einer andern ein Cello. Borte mit einem Durcheinander von Büchern; aufgehängte Pfeifen; auf dem Fensterbrett Geraniumtöpfe. Man war wie von Freunden umgeben. Des Alten Schritte kamen und gingen im Zimmer nebenan, man hörte ihn feilen oder nageln; er sprach mit sich selbst, nannte sich einen Dummkopf oder sang mit seiner starken Stimme ein Potpourri aus Choralbruchstücken, sentimentalen Liedern, kriegerischen Märschen und Trinkgesängen. Man fühlte sich in Sicherheit. Christof saß im großen Lehnstuhl am Fenster, ein Buch auf den Knien; über die Bilder gebeugt, versenkte er sich in sie; der Tag neigte sich, seine Augen wurden trübe; schließlich sah er nichts mehr und verfiel in unbestimmte Träumereien. Das Rollen von Wagenrädern gurrte auf entferntem Pfad. Eine Kuh brüllte in den Feldern. Die müden und schläfrigen Glocken der Stadt läuteten das Abendgebet ein. Verschwommene Sehnsüchte, dunkle Ahnungen erwachten im Herzen des träumenden Kindes.

Plötzlich schreckte Christof, von dumpfer Unruhe ergriffen, auf. Er hob die Augen: Nacht. Er lauschte: Stille. Großvater war eben ausgegangen. Ein Schauer überrieselte ihn. Er lehnte sich aus dem Fenster, um ihm nachzusehen: der Weg lag öde; die Dinge fingen an, ein drohendes Aussehen anzunehmen. Gott! wenn sie kommen würde. – Wer? Er hätte es nicht sagen können. Das entsetzliche Etwas. – Die Türen schlossen schlecht. Die Holztreppe knarrte wie unter einem Schritt. Das Kind sprang empor, zog den Armsessel, die beiden Stühle und den Tisch in den geschütztesten Winkel des Zimmers und baute eine Schutzmauer daraus: den Sessel mit dem Rücken gegen die Wand, einen Stuhl zur Rechten, einen zur Linken und den Tisch davor. In die Mitte stellte er eine Trittleiter. Oben auf ihrer Spitze nistete er sich fest, wie zum Belagerungszustand mit seinem Buch und einigen anderen als Munition versehen, und atmete nun auf; denn er hatte mit seiner Kinderphantasie bei sich selbst beschlossen, daß der Feind in keinem Fall den Schutzwall überschreiten dürfe: das war nicht erlaubt.

Aber der Feind tauchte manchmal aus dem Buche selber auf. Zwischen den alten Schmökern, die vom Großvater aufs Geratewohl zusammengekauft waren, befanden sich einige mit Bildern, die auf den Knaben einen tiefen Eindruck machten: sie zogen ihn an, wie sie ihn erschreckten. Da waren phantastische Erscheinungen zu sehen, Versuchungen des heiligen Antonius, wo Vogelskelette in Flaschen nisteten, wo Myriaden von Eiern sich wie Würmer in aufgeschlitzten Fröschen bewegten, wo die Köpfe auf Tatzen liefen, wo die Hintern Trompete bliesen und wo Hausgeräte und Tierkadaver in große Tücher gehüllt sich ernsthaft vorwärtsbewegten und sich mit Knixen wie alte Damen grüßten. Christof empfand Ekel vor diesen Bildern und kehrte, von seinem Abscheu gezogen, doch immer wieder zu ihnen zurück. Lange betrachtete er sie und warf von Zeit zu Zeit einen eiligen Blick ringsumher, um zu sehen, was sich in den Vorhangsfalten regte. – Noch greulicher war ihm ein Muskelmensch in einem anatomischen Werk. Er zitterte davor, die Seite umzuwenden, wenn er sich dem Teil des Buches näherte, wo dieser sich befand. Dieses ganze unförmliche Durcheinander übte eine wunderbare Macht auf ihn aus. Die jedem Kinderhirn innewohnende schöpferische Kraft ergänzte die Armseligkeit des Dargestellten. Er sah keinen Unterschied zwischen jenen Schmierereien und der Wirklichkeit. Nachts beeinflußten sie seine Träume stärker als die während des Tages empfangenen lebendigen Eindrücke.

Er hatte Angst vor dem Schlaf. Während mehrerer Jahre vergifteten böse Träume seine Ruhe: er irrte in Kellern umher und sah den fratzenschneidenden Muskelmann durch die Luke hereinkommen. – Er war allein in einem Zimmer und hörte im Flur ein Rascheln von Schritten; er warf sich der Tür entgegen, um sie zu schließen, und hatte gerade noch Zeit, die Klinke zu erfassen; aber man zog sie von hinten auf; er konnte den Schlüssel nicht umdrehen, er ermattete, rief um Hilfe. Und andererseits wußte er genau, wer hereinkommen wollte. – Er war inmitten der Seinen; und plötzlich veränderten sich ihre Gesichter; sie taten wahnsinnige Dinge. – Er las ruhig; und er fühlte, ein unsichtbares Wesen war um ihn herum. Er wollte fliehen und fühlte sich gebannt. Er wollte schreien und war geknebelt. Eine widrige Umklammerung schnürte ihm den Hals zu; er schreckte wie erstickt und zähneklappernd auf und fuhr lange noch, nachdem er erwacht war, fort zu zittern; seine Angst zu vertreiben, gelang ihm nicht.

Das Zimmer, in dem er schlief, war ein Verschlag ohne Fenster und Türen. Vom Zimmer der Eltern trennte ihn nur ein alter Vorhang, der oberhalb des Eingangs an einer Stange befestigt war. Die dicke Luft nahm Christof den Atem. Seine Brüder, die im selben Bett schliefen, gaben ihm Fußtritte. Der Kopf brannte ihm, und er wurde eine Beute seiner Halbträume, in denen alle kleinen Tagessorgen, ins Unendliche vergrößert, wiederkehrten. In diesem, dem Alpdruck verwandten Zustand äußerster nervöser Anspannung war ihm der geringste Stoß eine Qual. Das Krachen der Diele verursachte ihm Entsetzen. Das Schnarchen seines Vaters schwoll ihm phantastisch an; das schien kein menschlicher Atem mehr, sondern ein ungeheurer Lärm, der ihm Grauen einflößte: es war, als läge dort ein Tier im Schlaf. Die Nacht lastete erdrückend auf ihm, nie würde sie zu Ende sein, ewig würde es so bleiben; seit Monaten lag er schon so da. Er keuchte, hob sich halb aus seinem Bett, setzte sich auf und trocknete mit dem Hemdsärmel sein schweißbedecktes Gesicht. Manchmal puffte er seinen Bruder Rudolf, um ihn aufzuwecken; aber der knurrte, zog den Rest der Decke an sich und schlief ruhig wieder ein.

So blieb er in Fieberangst, bis unten am Vorhang ein bleicher Strahl auf der Diele erschien. Dieser schüchterne blasse Schimmer des fernen Morgens erfüllte ihn sogleich mit Frieden. Er fühlte ihn ins Zimmer gleiten, wenn ihn sonst noch niemand im Dunkel hätte entdecken können. Alsbald sank sein Fieber, sein Blut beruhigte sich wie ein übergetretener Fluß, der in sein Bett zurückkehrt; gleichmäßige Wärme rann in seinen Körper, und seine von Schlaflosigkeit brennenden Augen fielen ihm, gegen seinen Willen, zu.

Am Abend sah er die Schlafenszeit mit Schrecken wiederkehren. Er schwor sich, diesmal nicht nachzugeben und aus Furcht vor den bösen Träumen die ganze Nacht zu wachen. Aber die Müdigkeit übermannte ihn schließlich doch, und immer gerade dann, wenn er es am wenigsten erwartete, kamen die Ungeheuer wieder.

Fürchterliche Nacht! Den meisten Kindern so süß und einigen wenigen unter ihnen so schrecklich! … Er hatte Angst zu schlafen; er hatte Angst nicht zu schlafen. Schlaf oder Wachen, – er war von gespenstischen Bildern umgeben, den Einbildungen seines Hirns, den Larven, die in der Dämmerung der Kindheit auf- und niederwogen, wie im unheilvollen Helldunkel der Krankheit.

Aber diese eingebildeten Schrecken sollten bald vor dem großen Grauen hinschwinden, das alle Menschen erregt und das die Weisheit sich vergeblich zu vergessen oder zu verneinen müht: dem Tod.

 

Als Christof eines Tages in einem Wandschrank stöberte, kamen ihm verschiedene Gegenstände, die er nicht kannte, unter die Finger: ein Kinderkleid und ein gestreiftes Mützchen. Er brachte sie triumphierend seiner Mutter, die, anstatt ihm zuzulächeln, ein böses Gesicht machte und ihm befahl, sie wieder an Ort und Stelle zurückzutragen. Als er zu gehorchen zögerte und warum fragte, riß sie ihm, ohne zu antworten, alles aus den Händen und drückte es in ein Fach, das er nicht erreichen konnte. Äußerst neugierig gemacht, bestürmte er sie mit Fragen. Sie sagte ihm schließlich, daß das einem kleinen Bruder gehörte, der gestorben sei, bevor er selbst zur Welt gekommen wäre. Davon wurde er ganz niedergeschmettert: niemals hatte er von ihm reden hören. Einen Augenblick blieb er schweigsam, dann versuchte er mehr zu erfahren. Seine Mutter schien zerstreut; sie sagte ihm jedoch, daß er Christof geheißen habe wie er, daß er aber artiger gewesen sei. Er stellte noch andere Fragen; aber sie mochte nicht antworten. Sie sagte nur noch, daß er im Himmel sei und für sie alle bete. Christof konnte nichts mehr aus ihr herausbekommen; sie befahl ihm zu schweigen und sie arbeiten zu lassen. Sie schien sich wirklich in ihre Näherei zu vertiefen; ihr Gesicht war sorgenvoll, und sie hob die Augen nicht empor; aber nach einiger Zeit schaute sie in den Winkel, in den er sich zum Schmollen zurückgezogen hatte, begann wieder zu lächeln und sagte ihm freundlich, er möge draußen spielen.

Diese Gesprächsbrocken erregten Christof tief. Es hatte also einmal ein Kind gegeben, einen kleinen Jungen seiner Mutter, ganz so wie er, mit demselben Namen, der ihm beinahe gleich und der gestorben war! – Gestorben, er wußte nicht ganz genau, was das war; aber es mußte etwas Schreckliches sein. – Und niemals sprach man von diesem andern Christof; er war vollständig vergessen; es würde ihm also ebenso gehen, wenn an ihn die Reihe zu sterben käme? – Dieser Gedanke arbeitete noch in ihm, als er sich abends mit der ganzen Familie bei Tisch befand und er sie lachen und von gleichgültigen Dingen reden hörte. So würde man lachen können, nachdem er selbst gestorben wäre! O – niemals hätte er geglaubt, daß seine Mutter selbstsüchtig genug sein könnte, um nach dem Tode ihres kleinen Jungen noch zu lachen! Er haßte sie alle; er hatte Lust, über sich selbst zu weinen, im voraus über seinen eignen Tod. Gleichzeitig hätte er eine Menge Fragen stellen mögen; aber er wagte es nicht, denn er dachte an den Ton, in dem seine Mutter ihm Schweigen auferlegt hatte. – Endlich aber hielt er es nicht mehr aus; und als er zu Bett ging, fragte er Luise, die kam, um ihm den Gutenachtkuß zu geben:

»Mama, hat er in meinem Bett geschlafen?«

Die arme Frau zuckte zusammen; und mit einer Miene, die gleichmütig sein sollte, fragte sie:

»Wer?«

»Der kleine Junge … der gestorben ist,« erwiderte Christof, indem er die Augen senkte.

Seiner Mutter Hände umfingen ihn krampfhaft:

»Schweig still, schweig still,« sagte sie.

Ihre Stimme zitterte; Christof, der den Kopf an ihre Brust gelehnt hatte, hörte ihr klopfendes Herz. Einen Augenblick herrschte Schweigen; dann sagte sie:

»Du mußt niemals mehr davon sprechen, mein Liebling … Schlaf ruhig … Nein, sein Bett ist das nicht.«

Sie küßte ihn; er meinte zu fühlen, daß ihre Wange feucht sei, er hätte es gern sicher gewußt. Ein wenig war er erleichtert; sie empfand doch wenigstens Kummer! Jedoch einen Augenblick später zweifelte er wieder daran, als er sie nebenan im Zimmer mit ruhiger Stimme reden hörte, mit ihrer alltäglichen Stimme. Was war nun wahr, das Jetzt oder das Vorhin? – Er warf sich lange im Bett hin und her, ohne die Antwort zu finden. Er hätte gewünscht, daß seine Mutter sich grämte: zwar hätte es auch ihn bekümmert, wenn er hätte denken müssen, daß sie traurig sei; aber trotz allem hätte es ihm so wohl getan! Er hätte sich weniger einsam gefühlt. – Endlich schlief er ein und am nächsten Morgen dachte er nicht mehr daran.

Einige Wochen später kam einer der Buben, mit denen er zusammen auf der Straße spielte, nicht zur gewohnten Stunde. Einer aus der Bande sagte, er sei krank; und man gewöhnte sich daran, ihn nicht mehr mitspielen zu sehen: man hatte die Erklärung; es war ganz einfach. – Eines Abends lag Christof im Bett; es war noch früh; und von dem Verschlag aus, wo sein Lager stand, sah er das Licht im Zimmer seiner Eltern. Man klopfte an die Tür. Eine Nachbarin kam zum Plaudern herüber. Er hörte nur zerstreut hin, denn er erzählte sich, seiner Gewohnheit nach, eine Geschichte; die Worte des Gesprächs drangen nicht alle an sein Ohr. Plötzlich hörte er die Nachbarin sagen, daß »er gestorben sei«. All sein Blut stockte; denn er hatte begriffen, um wen es sich handelte. Er lauschte, hielt seinen Atem an. Seine Eltern antworteten mit verwunderten Ausrufen. Melchiors lärmende Stimme schrie:

»Christof, hörst du? Der arme Fritz ist gestorben.«

Christof nahm sich zusammen und erwiderte in ruhigem Ton:

»Ja, Papa.«

Seine Brust war ihm wie in einen Schraubstock geschnürt.

Melchior kam noch einmal darauf zurück:

»Ja, Papa! Das ist alles, was du zu sagen weißt? Tut es dir nicht mal leid?«

Luise, die das Kind verstand, sagte:

»St! Laß ihn schlafen!«

Und man sprach leiser. Aber Christof erlauschte mit gespitzten Ohren alle Einzelheiten: die Krankheit, ein Nervenfieber, die kalten Bäder, das Irrereden, der Schmerz der Eltern. Er fand keinen Atem mehr; etwas wie eine Kugel, die ihm in den Hals stieg, erstickte ihn; er schauerte zusammen: all diese entsetzlichen Dinge meißelten sich in sein Hirn ein. Vor allem behielt er, daß das Leiden ansteckend sei, das heißt, daß auch er auf dieselbe Art sterben könne; und das Grauen machte ihn erstarren; denn er erinnerte sich, daß er das letztemal, als er Fritz gesehen, ihm die Hand gegeben hatte und daß er am selben Tage noch am Haus vorbeigegangen war. – Jedoch hütete er sich, das geringste Geräusch zu machen, um nicht sprechen zu müssen; und als sein Vater nach dem Fortgang der Nachbarin ihn fragte: »Christof, schläfst du?« antwortete er nicht. Er hörte, wie Melchior zu Luise sagte:

»Das Kind hat kein Herz.«

Luise erwiderte nichts; aber einen Augenblick später kam sie, hob sanft den Vorhang in die Höhe und sah in das kleine Bett. Christof hatte gerade noch Zeit, die Augen zu schließen und den regelmäßigen Atemzug, den er von seinen schlafenden Brüdern kannte, nachzuahmen. Luise entfernte sich auf den Zehenspitzen. Und dennoch, wie gern hätte er sie zurückgehalten! Was hätte er darum gegeben, um ihr zu sagen, welche Angst er habe, um sie zu bitten, ihn zu retten, ihn wenigstens zu beruhigen! Aber er fürchtete, daß man ihn verspotten und als Feigling behandeln würde; und dann wußte er auch schon allzugut, daß alles, was man ihm hätte sagen können, nichts nützte. Stundenlang blieb er voller Angst liegen, und glaubte, die Krankheit zu fühlen, die in ihn hineinkroch, die Kopfschmerzen, die Herzbeklemmung, und er dachte entsetzt: »Es ist alles aus, ich liege krank, ich werde sterben, ich werde sterben! …« Einmal richtete er sich in seinem Bett auf und rief leise die Mutter; aber sie schliefen, und er wagte nicht, sie aufzuwecken.

Von dieser Zeit an wurde seine Kindheit durch den Todesgedanken vergiftet. Seine Nerven ergaben sich allen möglichen grundlosen kleinen Leiden, Beklemmungen, Stichen, plötzlichen Atemnöten. Seine Phantasie brachte ihn solchen Schmerzen gegenüber außer sich, und ließ ihn in jedem das mörderische Ungeheuer sehn, das ihm das Leben nehmen würde. Wie oft litt er, nur wenige Schritte von seiner Mutter entfernt, Todesqualen, ohne daß sie davon etwas ahnte! Denn in seiner Feigheit hatte er doch den Mut, seine Schrecken in sich zu verschließen, und zwar in einem sonderlichen Gemisch von Gefühlen: dem Stolz, nicht zu andern um Hilfe zu kommen, der Scham, Furcht zu haben, und den Gewissensbissen einer zärtlichen Liebe, die nicht beunruhigen will. Aber er dachte unaufhörlich: »Diesmal bin ich krank, ich bin schwerkrank. Das ist eine beginnende Bräune …« Er hatte zufällig den Namen Bräune aufgefangen … »Mein Gott! Nur diesmal nicht! …«

Er kam auf religiöse Gedanken: er glaubte gern, was die Mutter sagte, daß nach dem Tode die Seele zum Herrn emporstiege und daß, wenn sie fromm wäre, sie in den Paradiesgarten eingehe. Aber er dachte sich diese Reise viel eher angstvoll als angenehm. Er beneidete durchaus nicht die Kinder, die Gott, nach dem was seine Mutter sagte, zur Belohnung mitten aus dem Schlaf zu sich riefe, ohne sie vorher leiden zu lassen. Er zitterte im Augenblick des Einschlafens, daß Gott ihm gegenüber diese Laune haben könnte. Es mußte schrecklich sein, plötzlich aus dem warmen Bett losgelöst und in die Leere geschleppt zu werden, vor Gottes Angesicht. Er stellte sich Gott als eine riesenhafte Sonne vor, die mit Donnerstimme redete; wie weh das tun mußte! sicher verbrannte es Augen und Ohren und die ganze Seele! Und dann konnte Gott ja auch strafen! Man wußte nie Bescheid … Übrigens verhinderte dies alles nicht die andern Entsetzlichkeiten, die er zwar nicht genau kannte, die er aber aus den Gesprächen erraten hatte: der Leib ganz allein in einem Kasten auf dem Grund einer Grube, wo er verloren in der Menge eines jener widerwärtigen Kirchhöfe blieb, auf die man ihn zum Beten hinführte … Gott! Gott! Wie traurig! …

Und dabei war es doch gar nicht heiter zu leben, Hunger zu haben, den betrunkenen Vater zu sehen, brutal behandelt zu werden, auf tausend Arten zu leiden: durch die Schlechtigkeit anderer Kinder, durch das beleidigende Mitleid der Großen, und von niemand, selbst nicht von seiner Mutter, verstanden zu werden. Alle Welt demütigte einen, keiner liebte einen, man war allein, ganz allein und zählte so wenig! – Ja; aber gerade das flößte ihm die Lust zum Leben ein. Er fühlte in sich eine von Zorn gärende Kraft. Es war etwas Seltsames um diese Kraft! Noch vermochte sie nichts; sie war gleichsam fern und geknebelt, eingeschnürt, gelähmt; er hatte keine Ahnung, was sie wolle, was sie später sein würde. Aber sie war in ihm: er war ihrer sicher; er fühlte sie sich regen und murren. Morgen, morgen, wie würde er sich da Genugtuung verschaffen. Er hatte ein rasendes Verlangen zu leben, um sich für all das Böse, für all die Ungerechtigkeiten zu rächen, um die Schlechten zu strafen, um Großes zu vollbringen. »O – wenn ich nur leben bliebe …« – er überlegte ein wenig – »nur bis zum achtzehnten Jahr!« Ein anderes Mal ging er bis einundzwanzig. Das war die äußerste Grenze. Er meinte, das würde ihm genügen, um die Welt zu unterwerfen. Er dachte an die Helden, die ihm teuer waren, an Napoleon, an jenen andern, noch Ferneren, den er aber am meisten liebte, an Alexander den Großen. Sicherlich würde er wie sie werden, wenn er nur noch zwölf Jahre … zehn Jahre lebte. Die zu beklagen, die mit dreißig Jahren starben, kam ihm nicht in den Sinn. Die waren alt; sie hatten das Leben genossen: es war ihre Schuld, wenn sie es verfehlt hatten. Aber jetzt zu sterben – welche Verzweiflung! Es wäre zu traurig, ganz klein dahin zu gehen und ewig im Gedächtnis der Leute ein kleiner Junge zu bleiben, dem Vorwürfe zu machen, jeder das Recht zu haben glaubte! Er weinte vor Wut darüber, als wäre er schon gestorben.

Diese Angst vor dem Tode quälte ihn jahrelang – einzig gemildert durch den Ekel vor dem Leben, die Trübsal seines Lebens.

 

Inmitten des schweren Dunkels dieses Daseins, in der erstickenden Nacht, die sich von Stunde zu Stunde rings um ihn zu verdichten schien, fing wie ein verlorener Stern im düstern Raume ein Licht zu glänzen an, das sein Leben erleuchten sollte: die göttliche Musik.

Großvater hatte gerade seinen Kindern ein altes Pianino geschenkt, das er von einem seiner Schüler übernommen und das seine erfinderische Geduld einigermaßen instand gesetzt hatte. Das Geschenk war nicht sehr freundlich empfangen worden. Luise fand, daß das Zimmer schon ohnedies klein genug sei; und Melchior sagte, daß Papa Hans Michel sich nicht gerade ruiniert hätte; das wäre ja reines Brennholz. Einzig der kleine Christof war über den Neuankömmling vergnügt, ohne recht zu wissen warum. Ihm war, als sei das ein Zauberkasten, voll wunderbarer Geschichten, wie sie in dem Märchenbuch standen – einem Band von Tausend und eine Nacht – aus dem Großvater ihm von Zeit zu Zeit einige Seiten vorlas, die sie beide entzückten. Er hatte gehört, wie sein Vater am ersten Tage, um die Tasten zu probieren, daraus einen kleinen Sprühregen von Arpeggien hervorlockte, dem ähnlich, den ein lauer Wind nach einem Platzregen aus den feuchten Zweigen eines Gehölzes niederfallen läßt. Er hatte in die Hände geklatscht und »Weiter!« gerufen. Aber Melchior hatte das Klavier verächtlich geschlossen und gesagt, daß es nichts tauge. Christof bestand nicht darauf; aber er strich seitdem unaufhörlich um das Instrument herum; und sowie man den Rücken drehte, hob er den Deckel und schlug leise eine Taste an, als berührte er mit dem Finger das grüne Rückenschild eines großen Insektes: er wollte das darunter eingeschlossene Tier herauslocken. Manchmal tippte er in seinem Eifer ein wenig zu stark; und seine Mutter rief ihm zu: »Wirst du dich wohl ruhig halten? Faß' nicht alles an!« Oder er klemmte sich arg, wenn er den Kasten schloß, und schnitt jämmerliche Gesichter, indem er an dem verletzten Finger sog …

Seine größte Freude ist es jetzt, wenn seine Mutter tagsüber einen Dienst hat oder einen Weg in die Stadt macht. Er lauscht, wie ihre Schritte die Treppe hinuntergehen: nun sind sie in der Straße; nun entfernen sie sich. Er ist allein. Er öffnet das Klavier, schiebt einen Stuhl heran, er nistet sich darauf ein, seine Schultern reichen bis zur Höhe der Tasten: genug für seine Wünsche. Warum wartet er, bis er allein ist? Niemand würde ihn am Spielen hindern, vorausgesetzt, daß er nicht zuviel Lärm macht. Aber er schämt sich vor den andern, er getraut sich nicht. Und dann spricht man auch und bewegt sich; das verdirbt das Vergnügen. Es ist so viel schöner, wenn man allein ist! – Christof hält seinen Atem an, damit es noch stiller wird, und dann weil er auch ein wenig erregt ist, als sollte er eine Kanone losschießen. Das Herz schlägt ihm, wenn er den Finger auf die Taste setzt; manchmal hebt er ihn wieder auf, nachdem er ihn schon zur Hälfte niedergedrückt hat, um ihn auf eine andere zu tun. Weiß man, ob aus dieser nicht noch etwas Schöneres als aus jener kommt? – Plötzlich steigt der Ton empor: tiefe sind darunter und spitze, solche die klingen und andere die grollen. Das Kind lauscht ihnen lange, einem nach dem andern, bis sie schwächer werden und hinschwinden. Sie wiegen sich wie Glocken, die der Wind, wenn man in den Feldern ist, wechselweise herträgt und entführt; dann, wenn man genau hinhört, vernimmt man in der Ferne andere verschiedene Töne, die sich verschlingen und kreisen, wie Insektenflüge; sie scheinen dich zu rufen, dich ins Weite zu ziehen, weit fort … immer weiter, in geheimnisvolle Schlupfwinkel, wo sie niedertauchen und versinken … Nun sind sie verschwunden! … Nein, sie murmeln noch … ein kleiner Flügelschlag … – Wie seltsam das alles ist! Sie sind wie Geister. Doch warum sie so gehorchen, warum sie in dieser alten Kiste so gefangen gehalten werden, das kann man gar nicht verstehen!

Aber das Allerschönste ist, wenn man zwei Finger gleichzeitig auf zwei Tasten setzt. Nie weiß man ganz genau, was geschehen wird. Manchmal sind die beiden Geister Feinde; sie zürnen, sie schlagen, hassen einander, sie brummen mit verdrießlicher Miene: ihre Stimme schwillt an; manchmal schreit sie voll Zorn, manchmal voll Wehmut. Christof begeistert das: wie entfesselte Ungeheuer sind sie, die ihre Bande zerreißen, gegen ihre Gefängniswände anrennen; es scheint, daß sie sie einreißen und nach außen durchbrechen werden wie die, von denen das Märchenbuch erzählt, die in arabischen Truhen unter Salomons Siegel gefangenen Dämonen. – Andere schmeicheln dir: sie versuchen dich zu betören; aber man fühlt ganz gut, daß sie nur beißen wollen und daß sie Fieber haben. Christof weiß nicht recht, was sie wollen; aber sie ziehen ihn an und beunruhigen ihn gleichzeitig; fast machen sie ihn erröten. – Und noch ein andermal erscheinen Töne, die sich lieben: die Klänge umschlingen sich, wie man mit den Armen macht, wenn man sich küßt; sie sind reizend und sanft. Gute Geister sind es mit lächelnden, faltenlosen Gesichtern; sie lieben den kleinen Christof und der kleine Christof liebt sie; die Tränen treten ihm in die Augen, wenn er sie hört und er wird nicht müde, sie herbeizurufen. Das sind seine Freunde, seine lieben, zärtlichen Freunde …

So wandert das Kind im Wald der Töne, und fühlt tausend unbekannte Kräfte rings um sich, die es belauern und zu sich rufen, um es zu liebkosen oder zu verschlingen …

Eines Tages überraschte ihn Melchior so. Mit seiner lauten Stimme ließ er ihn erschreckt auffahren. Christof glaubte sich auf einer Übeltat ertappt und hielt eilig seine Hände an die Ohren, um sie gegen die fürchterlichen Klapse zu schützen. Aber Melchior schimpfte seltsamerweise nicht, er war guter Laune, er lachte.

»Das interessiert dich also, Schlingel?« fragte er, indem er ihn freundschaftlich auf den Kopf patschte. »Willst du, daß ich dich Klavierspielen lehre?«

Ob er wollte! … Er murmelte ein entzücktes Ja. Sie setzten sich zu zweit vor das Klavier. Christof wurde diesmal auf einen Stoß dicker Bücher gehoben; so nahm er sehr aufmerksam seine erste Stunde. Zuerst lernte er, daß seine summenden Geister sonderbare Namen hatten, die aus einer einzigen Silbe oder sogar aus einem einzigen Buchstaben bestanden. Er war darüber sehr erstaunt, er hatte sie sich anders vorgestellt: als schöne Kosenamen wie die der Märchenprinzessinnen. Er mochte die Vertraulichkeit, mit der sein Vater von ihnen sprach, gar nicht leiden. Außerdem waren sie, wenn Melchior sie beschwor, nicht mehr dieselben Wesen; sie hatten ein ganz charakterloses Aussehen, wenn sie unter seinen Fingern daherrollten. Immerhin war Christof zufrieden, die Beziehungen kennen zu lernen, die zwischen ihnen bestanden, ihre Hierarchie, die Tonleitern, deren erste Note einem König glich, der eine Armee befehligt, oder die wie eine Negerbande in Reih und Glied dahermarschierten. Mit Erstaunen sah er, daß jeder Soldat oder jeder Neger seinerseits Herrscher werden durfte, oder Haupt einer ähnlichen Kolonne und daß man sogar daraus ganze Bataillone von oben bis unten auf dem Klavier aufziehen lassen konnte. Es amüsierte ihn den Faden zu halten, an dem sie liefen. Aber all dies war kindlicher geworden als das, was er zuerst geschaut hatte: er fand seinen Zauberwald nicht wieder; dennoch gab er sich Mühe; denn es war nicht langweilig, und er war von seines Vaters Geduld überrascht. Melchior ermüdete durchaus nicht; zehnmal ließ er ihn dasselbe wieder anfangen. Christof konnte sich nicht erklären, warum er sich soviel Mühe gab: sein Vater hatte ihn also lieb? Wie gut er war! Und das Herz voller Dankbarkeit arbeitete der Knabe.

Er wäre wohl weniger gefügig gewesen, hätte er gewußt, was im Kopf seines Lehrers vorging.

 

Von diesem Tage an nahm ihn Melchior zu einem Nachbar mit, bei dem man dreimal wöchentlich Kammermusiknachmittage veranstaltete. Melchior spielte erste Violine, Hans Michel Cello. Die beiden andern waren ein Bankbeamter und der alte Uhrmacher aus der Schillerstraße. Von Zeit zu Zeit gesellte sich der Apotheker zu ihnen und brachte seine Flöte mit. Man kam um fünf Uhr zusammen und blieb bis neun. Zwischen je zwei Stücken nahm man Bier zu sich. Nachbarn kamen und gingen, lauschten schweigend ein wenig, während sie an der Wand stehen blieben, nickten mit dem Kopf, bewegten den Fuß im Takt und füllten das Zimmer mit Tabakswolken. Seite folgte auf Seite, Stück auf Stück, ohne daß die Geduld der Ausführenden jemals müde wurde. Vor Aufmerksamkeit in sich zusammengezogen, mit gefalteter Stirn, sprachen sie nichts und stießen nur hin und wieder ein vergnügtes Gebrumm hervor, da sie durchaus unfähig waren, in andrer Weise die Schönheit eines Werkes nicht nur auszudrücken, sondern sogar zu fühlen. Sie spielten weder sehr richtig, noch sehr im Takt; aber sie entgleisten niemals und befolgten treu die angegebenen Ausdruckszeichen. Sie besaßen jene musikalische Leichtigkeit, die sich mit Wenigem begnügt, und jene Vollkommenheit im Mittelmäßigen, die in der Rasse, welche man die musikalischste der Welt nennt, überreich vorhanden ist. Auch besaßen sie jenen Kunstheißhunger, der in bezug auf die Qualität der Nahrung wenig schwierig ist, vorausgesetzt, daß die Quantität genügt, hatten den gesunden Appetit, dem jede Musik gut scheint, je nahrhafter desto besser, – und der keinen Unterschied zwischen Brahms und Beethoven macht oder im Werk desselben Meisters zwischen einem hohlen Konzert und einer ergreifenden Sonate, da sie ja beide aus gleichem Teig sind.

Christof hielt sich abseits, hinter dem Piano in einem Winkel, der ihm gehörte. Dort konnte ihn nichts stören, denn man mußte auf allen Vieren hineinkriechen. Es war fast dunkel dort; und das Kind hatte gerade Platz, um auf dem Boden zusammengekrümmt zu sitzen. Der Tabaksqualm drang ihm in Augen und Kehle; ebenso der Staub; Flocken dick wie Schafwolle lagen umher; aber er achtete nicht darauf; er saß wie ein Türke auf seinen Beinen, hörte ernsthaft zu, und weitete dabei mit seinen schmutzigen kleinen Fingern die Löcher in der Klavierbespannung. Er mochte nicht alles, was man spielte; aber nichts langweilte ihn und er suchte niemals, sich seine Meinungen klar zu machen. Denn er dachte, er sei noch zu klein und verstehe nichts davon. Nur schläferte die Musik ihn manchmal ein, ein anderes Mal machte sie ihn munter; in keinem Fall war sie unangenehm. Ohne, daß er's selbst wußte, war es doch fast immer die gute Musik, die ihn begeisterte. Sicher, nicht gesehen zu werden, schnitt er mit seinem ganzen Gesicht Grimassen; er rümpfte die Nase, biß die Zähne aufeinander oder streckte die Zunge heraus, er machte zornige oder schmachtende Augen, bewegte Arme und Beine mit herausfordernder und tapferer Miene, er hatte Lust zu marschieren, zu schlagen, die Welt in Stücke zu hauen. Er gebärdete sich so unsinnig, daß sich schließlich ein Kopf über das Klavier hinüberbeugte und ihm zuschrie: »Ja aber Bengel, bist du verrückt geworden? Wirst du das Klavier in Ruhe lassen? Wirst du deine Hand da fortnehmen? Ich werde dich bei den Ohren kriegen!« Was ihn ganz verblüfft und wütend machte. Warum mußte man ihm sein Vergnügen stören? Er tat nichts Böses. Immer mußte man ihn quälen! Sein Vater stimmte mit ein. Man warf ihm vor, Lärm zu machen und die Musik nicht zu lieben. Bis er es schließlich selber glaubte.

Man hätte die braven, mit dem Herunterleiern von Konzerten beschäftigten Beamten höchlichst verwundert, wenn man ihnen gesagt hätte, daß der einzige von dieser Gesellschaft, der Musik wirklich fühle, dieser kleine Junge sei.

Wenn man wollte, daß er sich ruhig halte, warum spielte man denn Melodien, die zum Marschieren bestimmt waren? Er hörte Weisen, die wilde Rosse malten, Degen, Kriegsgeschrei und Siegerstolz: und man hätte gern gesehen, daß er wie sie mit dem Kopfe dazu wackelte und mit dem Fuß den Takt schlüge! Man hätte ihm ja nur friedliche Träumereien vorspielen brauchen oder geschwätzige Sachen, die reden, um nichts zu sagen; daran fehlte es in der Musik nicht: zum Beispiel das Stück von Goldmark, von dem der alte Uhrmacher noch eben mit entzücktem Lächeln sagte: »Das ist hübsch. Da gibts keinerlei Härten. Alle Ecken sind abgerundet …« Dabei verhielt sich der Kleine ganz ruhig. Er wurde schläfrig. Er wußte nicht, was man spielte; ja schließlich hörte er gar nicht mehr hin; aber er war doch glücklich, seine Glieder wurden schwer, er träumte.

Seine Träume waren keine folgerichtigen Geschichten; sie hatten weder Beginn noch Ende. Kaum sah er von Zeit zu Zeit ein deutliches Bild: seine Mutter, die einen Kuchen backte und mit einem Messer den zwischen ihren Fingern gebliebenen Teig abstrich; eine Wasserratte, die er am Abend vorher im Strom hatte schwimmen sehen; eine Peitsche, die er aus einer Weidenrute machen wollte … Gott weiß warum ihm jetzt gerade diese Erinnerungen kamen! – Aber meistens sah er überhaupt nichts; und doch fühlte er unendlich vieles. Gleichsam eine Menge sehr bedeutsamer Dinge, die man nicht sagen konnte, oder die zu sagen unnütz war, weil man sie so gut kannte und weil es von jeher so gewesen war. Es kamen auch traurige Bilder, todestraurige; aber sie hatten nichts Qualvolles wie die, denen man im Leben begegnet; sie waren nicht häßlich und erniedrigend, wie wenn Christof von seinem Vater Ohrfeigen bekommen hatte oder wenn er mit vor Scham krankem Herzen an irgendeine Demütigung dachte: sie erfüllten den Geist mit einer schwermütigen Ruhe. Und es gab andere, leuchtende, die Freudenschauer verbreiteten; und Christof dachte: »Ja, so – so werde ich es später machen.« Er wußte durchaus nicht, wie das So war, noch warum er es sagte; aber er fühlte, daß er es sagen mußte, und daß es klar wie der Tag war. Er hörte das Rauschen eines Meeres, dem er ganz nahe war, von dem ihn nur eine Dünenwand trennte. Christof hatte keine Ahnung, was dieses Meer bedeute und was es von ihm wolle; aber er war sich bewußt, daß es über seine Dämme treten würde, und daß dann! … daß dann alles gut sein und er vollkommen glücklich sein würde. Es da ganz nahe zu vernehmen, sich im Brausen seiner starken Stimme zu wiegen, schon das stillte alle kleinen Leiden und Demütigungen; sie blieben stets traurig, aber sie waren nicht mehr schmachvoll, nicht mehr kränkend: alles schien natürlich und fast holdselig.

Sehr oft war es mittelmäßige Musik, die ihm solche Trunkenheit verschaffte. Die, welche sie geschrieben hatten, waren arme Teufel, die nur ans Geldverdienen dachten, oder sich über die Leere ihres Lebens hinwegtäuschen wollten, wenn sie nach bekannten Rezepten – falls sie originell sein wollten, auch im Gegensatz zu den Rezepten – Noten zusammenstellten. Aber selbst, wenn sie von einem Toren gehandhabt werden, lebt in den Tönen noch solche Gewalt des Lebens, daß sie in einem unberührten Herzen Stürme entfesseln können. Vielleicht sind die Träume, welche die Toren vermitteln, sogar noch freier und geheimnisreicher als jene, die ein machtvoller Gedanke einhaucht, der gewaltsam mitreißt; denn die Bewegung, die ins Leere schwingt, und das gehaltlose Geschwätz stören den Geist nicht in seinen eignen Betrachtungen …

So blieb das Kind, vergessen und vergessend, in dem Klavierwinkel, – bis es plötzlich fühlte, wie ihm Ameisen die Beine hinaufkrochen. Und es erinnerte sich dann, daß es ein kleiner Junge mit schwarzen Nägeln war, der seine Nase an der weißen Mauer rieb und seine Füße in den Händen hielt.

 

An dem Tage, an dem Melchior auf den Zehenspitzen ins Zimmer geschlichen war, um das vor dem allzuhohen Klavier sitzende Kind zu überraschen, hatte er Johann Christof einen Augenblick beobachtet. Da war eine plötzliche Erleuchtung über ihn gekommen: Ein kleines Wunderkind! … Wie kam es nur, daß er nicht schon früher darauf verfallen war? … Welch ein Goldschatz für die Familie! … Er hätte zwar wetten mögen, daß der Bengel nur ein grober, kleiner Bauernklotz wie seine Mutter sei. Aber ein Versuch kostete ja nichts. Das konnte doch immerhin zum Glück ausschlagen. Er würde mit ihm durch Deutschland, vielleicht sogar durch fremde Länder reisen. Und dabei hätte man ein vergnügtes Leben, das obendrein noch vornehm wäre. – Melchior versäumte niemals verborgenen Edelsinn in allem seinen Denken und Tun zu suchen; und mit einiger Mühe fand er ihn meistens auch.

Durch dieses Selbstvertrauen gestärkt, pflanzte er das Kind, gleich nach dem Nachtessen, mit dem letzten Bissen im Mund, von neuem vor das Klavier und ließ es die am Tage empfangene Lektion wiederholen, bis ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen. Darauf dreimal am nächsten Morgen, ebenso am übernächsten; und so alle Tage fort. Christof wurde dessen bald überdrüssig; er langweilte sich tödlich; endlich hielt er's nicht mehr aus und versuchte, sich zu widersetzen. Was man ihn da machen ließ, war ja sinnlos; es kam doch wahrhaftig nicht nur darauf an, mit möglichster Schnelligkeit, indem man den Daumen verschwinden ließ, über die Tasten zu laufen oder den vierten Finger, der ungeschickt an seinen beiden Nachbarn kleben blieb, geschmeidig zu machen; er wurde ganz nervös davon; und es war gar nichts Schönes dabei. Zu Ende wars mit dem geheimnisvollen Widerhall, mit den lockenden Ungeheuern, der ganzen, einen Augenblick lang geahnten Welt der Träume … Trockne, einförmige, alberne Tonleitern und Übungen folgten einander, die noch abgeschmackter waren als die ewig gleichen Tischgespräche, die sich immer um die Gerichte, und ewig um dieselben Gerichte drehten. Der Knabe begann, den väterlichen Stunden zerstreut zuzuhören. Hart zurechtgewiesen, spielte er dann in schlechter Laune weiter. Rippenstöße beachtete er nicht und setzte ihnen den schlimmsten Trotz entgegen. Allem aber wurde die Krone aufgesetzt, als er eines Tages im Nebenzimmer Melchior seine Pläne entwickeln hörte. Um ihn also wie ein dressiertes Tier auszustellen, langweilte man ihn so schrecklich und zwang ihn, den ganzen Tag lang, Elfenbeinplättchen auf und nieder zu bewegen. Er fand nicht einmal mehr die Zeit seinen lieben Fluß zu besuchen. Was hatte man sich denn ewig gegen ihn zu verschwören? – Er war empört, in seinem Stolz, seinem Freiheitsgefühl verletzt. Er beschloß, gar nicht mehr Musik zu machen oder so schlecht, daß er seinen Vater entmutigte. Es würde ihm schwer fallen; aber er mußte seine Unabhängigkeit retten.

Von der nächsten Stunde an versuchte er, seinen Plan auszuführen. Er gab sich gewissenhaft Mühe, daneben zu greifen und alle seine Läufe zu verderben. Melchior schrie; dann brüllte er; und Schläge fielen hagelweise. Er hatte ein starkes Lineal; bei jeder falschen Note schlug er damit dem Kind auf die Finger, während er ihm gleichzeitig, als solle es taub werden, in die Ohren donnerte. Christof verzog vor Schmerz das Gesicht; er biß sich, um nicht zu weinen, in die Lippen, fuhr mit stoischer Ruhe fort, seine Noten falsch aneinander zu reihen und zog vor jeder Ohrfeige, die er kommen sah, seinen Kopf zwischen die Schultern. Aber er sollte bald merken, daß seine Methode schlecht war. Melchior war ebenso starrköpfig wie er und schwor, daß, sollten sie auch zwei Tage und zwei Nächte damit zubringen, er ihm keine einzige Note schenken würde, bevor er nicht alles richtig spielen könnte. Dann aber gab sich Christof auch zu viel Mühe, um niemals richtig zu spielen; und Melchior fing an die List zu durchschauen, als er sah, wie bei jeder Stelle die kleine Hand schwerfällig und mit sichtlich bösem Willen danebenfiel. Die Linealschläge verdoppelten sich. Christof fühlte seine Finger gar nicht mehr. Er weinte jämmerlich vor sich hin und schluchzte und schluckte Tränen wie Schluchzen in sich hinein. Er begriff, wenn er so fortführe, gewänne er nichts; er mußte einen verzweifelten Schritt wagen. Er hielt im Spielen inne, und während er im voraus bei dem Gedanken an den Sturm, den er entfesseln würde, zitterte, sagte er mutig:

»Papa, ich will nicht mehr spielen.«

Melchior wollte vor Zorn bersten.

Er schüttelte ihn am Arm, als wolle er ihn zerbrechen. Christof hob den Ellbogen, um sich gegen die Schläge zu schützen, und wiederholte, immer mehr zitternd:

»Ich will nicht mehr spielen. Erstens, weil ich nicht immer geschlagen werden will. Und dann …«

Er konnte nicht zu Ende sprechen. Eine furchtbare Ohrfeige nahm ihm den Atem. Melchior brüllte:

»So! du willst nicht geschlagen werden? du willst nicht? …« Ein Hagel von Schlägen folgte. Christof schrie zwischen seinem Schluchzen:

»Und dann … ich mag die Musik nicht! … Ich mag die Musik nicht! …«

Er ließ sich von seinem Sitz gleiten. Melchior setzte ihn brutal wieder hinauf und stieß ihm die Knöchel gegen das Klavier. Er schrie:

»Du spielst!«

Und Christof schrie:

»Nein, nein! Ich spiele nicht!«

Melchior mußte vorläufig darauf verzichten. Er setzte ihn vor die Tür und sagte ihm, er würde den ganzen Tag, den ganzen Monat nichts zu essen bekommen, ehe er nicht alle seine Übungen, ohne eine einzige auszulassen, gespielt hätte. Er stieß ihn mit einem Fußtritt hinaus und schlug die Tür knallend zu.

Christof befand sich auf der Treppe, der schmutzigen, dunklen Treppe mit den wurmstichigen Stufen. Ein Zugwind fegte durch die zerbrochene Scheibe einer Bodenluke; die Feuchtigkeit tropfte von den Wänden. Christof setzte sich auf eine der schmierigen Stufen; sein Herz hüpfte vor Zorn und Erregtheit in seiner Brust. Flüsternd beschimpfte er seinen Vater:

»Tier! Ja, das bist du! Ein Tier … ein grober Kerl … eine Bestie! ja, eine Bestie! … Ich hasse dich, ich hasse dich … o ich wünschte, daß du tot wärst, daß du tot wärst!«

Seine Brust schwoll. Er schaute verzweiflungsvoll auf die schmierige Treppe, das vom Wind bewegte Spinngewebe, oberhalb der zerbrochenen Scheibe. Er fühlte sich einsam und seinem Unglück preisgegeben. Er sah die Leere zwischen den Geländerstäben … Wenn er sich hinunterstürzte? … Oder auch aus dem Fenster? … Ja, wenn er sich, um sie zu strafen, das Leben nähme? … Welche Gewissensbisse würden sie dann haben! Er hörte sich schon mit Getöse durchs Treppenhaus stürzen. Die Tür oben öffnete sich hastig. Angstvolle Stimmen schrien: Er ist gefallen! Er ist hinuntergefallen! Schritte stolperten die Treppe hinab. Weinend warfen sich Vater und Mutter über ihn. Mutter schluchzte: Es ist deine Schuld! Du hast ihn getötet! Der Vater rang die Hände, warf sich auf die Knie, schlug seinen Kopf gegen das Geländer und schrie: Ich bin ein elender Mensch, ein elender Mensch! – Diese Vorstellung besänftigte Christofs Schmerz ein wenig. Er war schon nahe daran, mit denen, die ihn beweinten, Mitleid zu haben; aber gleich danach dachte er, daß ihnen ganz recht geschehe, und er genoß seine Rache …

Als er seine Geschichte zu Ende gedacht hatte, fand er sich oben auf der Treppe, im Dunkeln; er sah noch einmal hinunter und hatte nicht mehr die geringste Lust, sich hinabzustürzen. Es überlief ihn sogar ein kleiner Schauer, und er rückte ein wenig vom Rand ab, weil er meinte, er könne fallen. Dann fühlte er, daß er unabwendbar gefangen sei, wie ein armer Vogel im Käfig, auf ewig gefangen, ohne eine andre Rettung als sich den Kopf zu zerschlagen und sich sehr weh zu tun. Er weinte und weinte; und er rieb sich mit seinen kleinen, schmutzigen Händen die Augen, daß er in einem Augenblick ganz beschmiert war. Noch ganz in Tränen betrachtete er doch weiter die Dinge ringsumher und das zerstreute ihn. Er hörte einen Augenblick zu schluchzen auf, um die Spinne zu beobachten, die sich eben in Bewegung gesetzt hatte. Dann fing er von neuem wieder an, doch mit etwas weniger Überzeugung. Er hörte sich weinen und fuhr mechanisch mit seinem Plärren fort, ohne mehr recht zu wissen, warum er's tat. Bald danach stand er auf; das Fenster zog ihn an. Er setzte sich auf die Fensterbank, jedoch mit aller notwendigen Vorsicht, und beobachtete die Spinne, die ihn interessierte aber zugleich anwiderte.

Der Rhein rollte tief unten zu Füßen des Hauses. In dem Treppenfenster schwebte man über dem Fluß wie in einem belebten Himmel. Niemals versäumte Christof, wenn er die Stufen hinuntersprang, den Strom lange anzuschauen; aber nie hatte er ihn so wie heute gesehen. Der Kummer schärft die Sinne; es ist als präge sich alles tiefer in die Blicke, nachdem Tränen die Spuren verblaßter Erinnerungen fortgespült haben. Der Fluß erschien dem Kinde wie ein Wesen – ein unerklärliches Wesen, aber um wieviel machtvoller als alle, die er kannte! Christof beugte sich, um besser sehen zu können, weit vor; er drückte Mund und Nase an der Scheibe platt. Wo ging Er hin? Was wollte Er? Er machte einen so freien, wegsichern Eindruck … Nichts konnte Ihn aufhalten. Welche Tages- oder Nachtstunde es auch war, ob Regen oder Sonne am Himmel, Freude oder Leid im Haus, Er zog ruhig weiter; und man fühlte, daß Ihm alles gleich war, daß Er niemals litt und nur die eigne Kraft genoß. Welche Wonne, wie Er zu sein, quer über die Felder zu laufen, über die Weidenzweige, über blinkende, kleine Kiesel und rieselnden Sand und sich um nichts zu kümmern, von nichts bedrückt zu werden, frei zu sein! …

Der Knabe schaute und lauschte begierig; ihm war, als werde er vom Fluß getragen, als zöge er mit ihm … Schloß er die Augen halb, so sah er Farben: blau, grün, gelb, rot und große, fliehende Schatten, und breite Sonnenstreifen … Die Bilder verdeutlichen sich. Da kommt eine weite Ebene, Schilfrohr und unterm Windhauch wogende Garben, die nach frischem Gras und Minze duften. Blumen überall, Kornblumen, Mohn, Veilchen. Wie schön das ist! Wie köstlich die Luft! Wie gut es sein muß, sich im dichten, weichen Gras hinzustrecken! … Christof fühlt sich froh und ein wenig betäubt, so wie an Festtagen, an denen sein Vater ihm in das große Glas einen Schluck Rheinwein geschenkt hat … – Der Fluß zieht weiter … Die Landschaft hat sich verändert … Jetzt sind es Bäume, die sich übers Wasser neigen. Ihre gezackten Blätter tauchen hinein wie kleine Hände und bewegen und drehen sich in den Fluten. Und zwischen den Bäumen spiegelt sich ein Dorf im Fluß. Man sieht die Zypressen und Kreuze des Kirchhofs über die weiße Mauer ragen, die der Strom beleckt. Dann kommen Felsen, eine Bergkette, Reben an den Hängen, ein kleines Tannengehölz, und Burgruinen … Und wieder Felder, Garben, Vögel, Sonne …

Das große grüne Flußband zieht immer weiter, wie ein einziger Gedanke, wellenlos, fast faltenlos, in leuchtendem und vollem Glanz. Christof sieht nichts mehr. Er hat die Augen ganz geschlossen, um besser zu lauschen. Das fortgesetzte Murmeln erfüllt ihn und macht ihn schwindlig. Aufgesogen fühlt er sich von diesem ewigen und gebieterischen Traum, dessen Weg er nicht kennt. Über der wilden Flutentiefe schwingen sich leichte Rhythmen in tollem Jubel. Und längs dieser Rhythmen hebt sich Musik, gleich einer Rebe, die sich an einem Gitter emporrankt: Arpeggienketten, klagende Geigen, schmeichelnde Flöten mit vollen Tönen … Die Landschaft ist verschwunden; der Fluß ist verschwunden. Eine seltsam süße, abendliche Luft umwebt Christof. Sein Herz zittert vor Bewegtheit. Was sieht er denn jetzt? Oh! welche entzückenden Erscheinungen! … Ein junges Mädchen mit braunen Locken ruft ihn, schmachtend und spöttisch … Das blasse Gesicht eines blauäugigen Knaben schaut ihn schwermütig an … Andere Lächeln, andere Augen, – neugierige und herausfordernde, deren Blick ihn erröten läßt, – zärtliche und wehmütige Augen, die dem guten Blick eines Hundes gleichen, – gebieterische Augen, und leidvolle … Und nun ein bleiches Frauenantlitz mit schwarzen Haaren, gepreßtem Mund, das nur Augen zu sein scheint, Augen, die ihn mit einer Gewalt anschaun, die weh tut. Aber das holdeste von allen ist eines mit klaren grauen Augen, die ihn anlächeln, mit ein wenig geöffnetem Munde, in dem die kleinen Zähne blinken … Ach, welch nachsichtig liebevolles Lächeln! Es schmilzt das Herz vor Zärtlichkeit! Wie gut das tut, geliebt zu werden! Länger! Lächle mir noch länger! Gehe nimmer fort! … – Ach, schon ist es verblichen! Aber es läßt im Herzen eine unaussprechliche Wonne zurück. Nichts Böses mehr, nichts Trauriges, nichts mehr … Nichts als ein leiser Traum, eine helle Musik, die wie Sommerfäden in einem Lichtstrahl schwebt … – Was war das doch, was da vorüberzog? Was für Bilder sind es, die das Kind in wehmütigem und süßem Schauer durchdringen? Nie zuvor hat es sie gesehen – und dennoch kennt es sie: es hat sie wiedererkannt. Woher kommen sie? Aus welchem dunklen Abgrund des Seins? Aus dem, was war … oder aus dem, was sein wird? …

Alles ist jetzt erloschen, jede Form zergangen … Ein letztes Mal erscheint noch der Strom durch Nebelschleier hindurch, und so, als schwebe man hoch über ihm im Äther; er ist über die Ufer getreten, bedeckt die Felder und wogt majestätisch, langsam, fast regungslos dahin. Und ganz in der Ferne, wie ein stählerner Schimmer am Rand des Horizontes, eine zitternde Wellenlinie, – die See. Der Fluß strömt zu ihr hin. Er scheint ihr entgegenzufluten. Sie ersehnt ihn. Er begehrt sie. Er wird darin verströmen … Die Musik wirbelt auf, die schönen Tanzrhythmen schaukeln sich flügelfroh empor; alles wird in ihren sieghaften Wirbel hineingerissen … Die befreite Seele durchschneidet den Raum, wie lufttrunkene Schwalben, die den Himmel mit schrillen Schreien durcheilen … Wonne! Wonne! Nichts anderes gibt es mehr! … O unendliches Glück! …

Stunden waren vergangen, der Abend war gekommen, das Treppenhaus lag in Nacht. Regentropfen zeichneten auf dem Flußkleid Kreise, die die Strömung tanzend entführte. Manchmal zog ein Zweig oder ein Stückchen dunkler Baumrinde lautlos vorbei und entschwand. Die mörderische Spinne hatte sich gesättigt in den dunkelsten Winkel zurückgezogen. – Und der kleine Christof saß immer noch zusammengekauert auf dem Fensterbrett, mit seinem blassen, beschmierten, glückstrahlenden Gesichtchen – und schlief.


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