Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

Eines Sonntags war Christof von seinem Musikdirektor in das kleine Landhaus, das Tobias Pfeiffer eine Stunde von der Stadt entfernt besaß, zum Essen eingeladen. Er nahm einen Rheindampfer. Auf dem Deck setzte er sich neben einen jungen Burschen seines Alters, der ihm mit Zuvorkommenheit Platz machte. Christof beachtete es nicht. Aber nach einem Augenblick, als er merkte, daß sein Nachbar nicht aufhörte ihn zu beobachten, sah auch er ihn scharf an. Es war ein Blondkopf mit rosigen, runden Wangen, einem artigen Scheitel auf der Seite und einem flaumigen Schimmer auf der Oberlippe; er hatte trotz aller Mühe, die er sich gab, als Gentleman aufzutreten, die treuherzige Miene eines großen pausbäckigen Kindes; angezogen war er mit gesuchter Sorgfalt: Flanellanzug, Helle Handschuhe, weiße Schuhe, blaßblaue Kravatte; in der Hand trug er ein kleines Spazierstöckchen. Er sah Christof mit einem Seitenblick an, doch ohne den Kopf zu wenden, mit steifem Hals, wie eine Henne; und als nun Christof seinerseits zu ihm hinschaute, errötete er bis zu den Ohren, zog eine Zeitung aus der Tasche und tat, als ob er sich mit wichtiger Miene hinein vertiefte. Aber einige Minuten später bückte er sich eilfertig, um Christofs Hut, der heruntergefallen war, aufzuheben. Christof, den soviel Höflichkeit überraschte, sah den jungen Burschen wieder an, und dieser errötete von neuem; Christof dankte trocken; denn er mochte diesen kriechenden Eifer nicht; es war ihm greulich, wenn man sich mit ihm beschäftigte. Immerhin konnte er nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen.

Bald dachte er nicht mehr daran. Seine Aufmerksamkeit wurde auf die Landschaft gelenkt. Seit langem hatte er der Stadt nicht entfliehen können; auch genoß er gierig die Luft, die sein Gesicht peitschte, das Anschlagen der Wellen gegen den Dampfer, die große Wasserfläche und das wechselnde Schauspiel der Ufer: graue niedere Böschungen, im Strom sich badende Weidengebüsche, Städte, die mit gotischen Türmen und rauchenden Fabrikschornsteinen gekrönt waren, gelbe Weinberge sagenhafte Felsen. Als er darüber ganz laut in Verzückung geriet, ließ sein Nachbar, wie von ungefähr, schüchtern und mit erstickter Stimme einige historische Einzelheiten über die geschickt restaurierten und mit Efeu umzogenen Ruinen fallen: er tat, als hielte er sich selbst einen Vortrag. Christofs Aufmerksamkeit wurde gefesselt und er befragte ihn weiter. Der andere war ganz glücklich, seine Kenntnisse zu zeigen, und beeilte sich zu antworten; und mit jedem Satz wandte er sich jetzt direkt an Christof, indem er ihn »Herr Hofviolinist« anredete.

»Sie kennen mich also?« fragte Christof.

»O ja!« sagte der Junge im Ton so naiver Bewunderung, daß es Christofs Eitelkeit angenehm berührte.

Sie plauderten miteinander. Der junge Bursche hatte Christof oft im Konzert gesehen und seine Phantasie war durch alles, was man sich über ihn erzählte, angeregt worden. Er sagte es Christof zwar nicht; doch dieser fühlte es und war freudig überrascht. Er war wenig gewohnt, daß man mit ihm in solchem Ton tiefgefühlten Respektes sprach. Er befragte seinen Nachbar weiter über die Geschichte der Gegend; dieser kramte seine erst eben erworbenen Kenntnisse nur allzugern aus; und Christof bewunderte seine Gelehrsamkeit. Doch das war alles nur Vorwand für ihre Unterhaltung: hauptsächlich war es ihnen darum zu tun, sich gegenseitig kennen zu lernen. Das wagten sie zunächst nicht offen einzugestehen. Dann und wann tasteten sie sich durch ungeschickte Fragen aneinander heran. Endlich gingen sie entschiedener vor und Christof erfuhr, daß sein neuer Freund sich »Herr Otto Diener« nannte und der Sohn eines reichen Kaufmanns in der Stadt war. Es stellte sich natürlich heraus, daß sie gemeinsame Bekannte hatten, und nach und nach löste sich ihre Zunge. Als das Schiff in der Stadt hielt, wo Christof aussteigen mußte, waren sie in lebhaftester Unterhaltung begriffen. Otto stieg ebenfalls aus. Dieser Zufall erschien ihnen höchst bedeutsam; und Christof schlug vor, bis zur Stunde seines Mittagessens ein wenig gemeinsam zu bummeln. Sie wandten sich quer in die Felder hinein. Christof hatte vertraulich Ottos Arm genommen und erzählte ihm von seinen Plänen, als ob er ihn von Geburt an kenne. Er war so sehr jeder Gesellschaft von Altersgenossen entwöhnt, daß er eine unaussprechliche Freude empfand, mit diesem gebildeten und gut erzogenen jungen Menschen, der Sympathie für ihn hegte, zusammen zu sein.

Die Zeit verging unmerklich. Diener war auf das Vertrauen des jungen Musikers zu stolz, um ihn daran zu erinnern, daß die Stunde seiner Einladung schon geschlagen hatte. Endlich aber glaubte er sich dazu verpflichtet. Christof jedoch, der gerade einen Hügel mitten im Gehölz erklomm, antwortete, erst müsse man den Gipfel erreichen. Als sie oben waren, streckte er sich im Gras aus, als ob er die Absicht habe, den Tag dort zu verbringen. Nach einer Viertelstunde, als Diener sah, daß er sich immer noch nicht rühren wollte, fragte er von neuem schüchtern:

»Und Ihr Mittagessen?«

Christof, der, die Hände hinterm Kopf, der Länge nach hingestreckt lag, machte seelenruhig:

»Ph!«

Als er jedoch Ottos bestürzte Miene sah, begann er zu lachen: »Es ist hier zu schön,« erklärte er. »Ich gehe nicht hin. Mögen sie auf mich warten!«

Er setzte sich halb auf:

»Haben Sie Eile? Nein, nicht wahr? Wissen Sie, was wir machen sollten? Wir essen zusammen Mittag. Ich kenne ein Wirtshaus.«

Diener hätte wohl gern einige Einwände erhoben. Zwar erwartete ihn niemand, aber es war ihm an sich unangenehm, irgendeine unvorhergesehene Entscheidung zu treffen: pedantisch, wie er war, mußte er sich immer alles im voraus zurechtlegen. Christofs Frage jedoch war in einem Ton gestellt, der die Möglichkeit einer Absage kaum zuließ. So ließ er sich denn mitschleppen; und sie fingen wieder zu plaudern an.

Im Restaurant ließ ihr Feuer etwas nach. Beide waren mit der ernsten Frage beschäftigt, wer den andern zum Essen einlüde; und jeder setzte heimlich seine Ehre darein, daß er der Gebende sei: Diener, weil er der Reichere, Christof, weil er der Ärmere war. Sie spielten nicht darauf an; aber Diener bemühte sich, seine Rechte geltend zu machen, indem er in möglichst bestimmtem Ton das Menü bestellte. Christof bemerkte seine Absicht; und er überbot ihn und bestellte noch andere ausgesuchte Gerichte; er wollte ihm zeigen, daß er so gut wie irgendeiner sich darauf verstände. Als Diener einen neuen Versuch machte, indem er sich der Wahl des Weins bemächtigte, schmetterte ihn Christof mit einem Blick nieder und ließ eine Flasche des teuersten Gewächses, das man in dem Gasthaus führte, kommen.

Vor der nun so reichlich besetzten Tafel fanden sie sich ein wenig eingeschüchtert. Sie wußten sich nichts zu sagen, aßen bedächtig und fühlten sich in ihren Bewegungen beengt und geniert. Sie merkten plötzlich, daß sie Fremde füreinander waren, und sie beobachteten sich. Anstrengungen, das Gespräch wieder zu beleben, waren vergeblich; es fiel immer wieder in sich zusammen. So wurde die erste halbe Stunde tödlich langweilig. Glücklicherweise tat die Mahlzeit bald ihre Schuldigkeit, und die beiden Tischgenossen betrachteten sich mit größerem Vertrauen. Besonders Christof, der an solche Schlemmerei nicht gewöhnt war, wurde eigentümlich beredt. Er erzählte von seinem schweren Leben; und Otto, der nun auch aus seiner Zurückhaltung heraustrat, gestand, daß auch er nicht glücklich sei. Er wäre schüchtern und schwächlich und seine Kameraden nützten das aus. Sie machten sich über ihn lustig, sie verziehen ihm nicht, daß er ihre schlechten Manieren mißbilligte, sie spielten ihm schlimme Streiche. – Christof ballte die Fäuste und sagte, daß es ihnen nicht gut gehen sollte, wenn sie in seiner Gegenwart damit anfangen würden. – Otto fühlte sich auch von den Seinen unverstanden. Christof kannte diesen Schmerz aus Erfahrung, und so bemitleideten sie ihr gemeinsames Mißgeschick. Dieners Eltern beabsichtigten aus ihm einen Kaufmann zu machen, damit er das väterliche Geschäft übernehme. Er aber wollte Dichter werden. Ja, er würde ein Dichter sein, sollte er selbst, wie Schiller, aus seiner Vaterstadt fliehen und dem Elend Trotz bieten! (Nebenbei bemerkt: er erbte seines Vaters ganzes Vermögen, und das war beträchtlich.) Er gestand errötend, daß er schon Verse über die Traurigkeit des Lebens geschrieben habe; doch konnte er sich, trotz Christofs Bitten, nicht dazu entschließen, sie herzusagen. Schließlich jedoch zitierte er, vor Ergriffenheit stotternd, zwei oder drei. Christof fand sie wunderschön. Sie tauschten ihre Zukunftspläne aus: später würden sie zusammen arbeiten; sie würden Dramen und Liederzyklen schreiben. Sie bewunderten sich gegenseitig. Außer seinem musikalischen Ruf imponierte Otto Christofs Kraft und sein beherztes Benehmen. Und Christof war für Ottos Eleganz, seine guten Manieren – alles in dieser Welt ist relativ – und für sein großes Wissen empfänglich, ein Wissen, das ihm ganz und gar fehlte und nach dem er dürstete.

Durch die Mahlzeit träge geworden, die Ellbogen auf dem Tisch, sprachen sie so und hörten einander mit Rührung in den Augen zu. Der Nachmittag war vorgeschritten. Man mußte aufbrechen. Otto machte einen letzten Versuch, sich der Rechnung zu bemächtigen. Christof jedoch zwang ihn mit einem bösen Blick auf seinen Platz, so daß ihm jede Lust zum Widerstand verging. Christof hatte nur eine Sorge: daß man mehr von ihm verlangen könnte, als er besaß; er würde seine Uhr und alles, was er an sich hatte, lieber hingegeben haben als Otto davon das Geringste zu verraten. Aber es kam nicht soweit; er durfte sich damit zufrieden geben, beinahe sein ganzes Monatsgeld für dieses Mittagessen zu opfern.

Sie stiegen den Hügel wieder hinab. Das Abenddunkel begann sich über das Tannengehölz zu breiten; die Wipfel schwammen noch in rosigem Licht; sie wallten feierlich auf und nieder und rauschten wie das Meer; der violette Nadelteppich dämpfte den Klang der Schritte. Beide schwiegen. Christof fühlte sein Herz von seltsamer und süßer Bewegtheit erfüllt, er war glücklich, wollte sprechen, doch irgendeine Angst bedrängte ihn. Er stand einen Augenblick still, und auch Otto hielt an. Ringsum schwieg alles. Mücken summten hoch oben in einem Sonnenstrahl. Ein trockner Zweig fiel nieder. Christof ergriff Ottos Hand und fragte mit bebender Stimme:

»Wollen Sie mein Freund sein?«

Otto murmelte:

»Ja.«

Sie schüttelten sich die Hände, ihre Herzen schlugen; kaum wagten sie, sich anzusehen.

Nach einer kleinen Weile machten sie sich wieder auf den Weg. Sie gingen, einige Schritte von einander entfernt, und redeten bis zum Waldrand nichts mehr: sie hatten vor sich selbst und ihrer geheimnisvollen Ergriffenheit Furcht, gingen sehr schnell und hielten nicht eher inne, als bis sie aus dem Dunkel der Bäume traten. Da beruhigten sie sich und faßten sich wieder bei der Hand. Sie begeisterten sich an dem durchsichtig sinkenden Abend und sprachen in abgerissenen Worten miteinander.

Als sie auf dem Schiff im durchglänzten Dunkel des Vorderdecks saßen, versuchten sie von gleichgültigen Dingen zu plaudern; aber sie hörten kaum auf das, was sie sagten; sie waren in selige Mattigkeit gebadet. Sie empfanden nicht das Bedürfnis miteinander zu sprechen noch sich die Hand zu geben oder sich auch nur anzuschauen: sie waren einander nahe.

Kurz vor der Ankunft verabredeten sie, sich am nächsten Sonntag wieder zu treffen. Christof begleitete Otto bis zu dessen Tür. Beim Schein der Gaslaterne lächelten sie sich schüchtern zu und stammelten ein bewegtes Auf Wiedersehen. Sie waren so matt von der Spannung, in der sie die letzten Stunden hindurch gelebt hatten, von der Pein, die es sie gekostet hatte, mit irgendeinem Wort die feierliche Stille zu brechen, daß ihnen die Trennung eine Erleichterung war.

Christof ging allein durch die Nacht nach Hause. Sein Herz sang: »Ich habe einen Freund, ich habe einen Freund!« Er sah nichts, hörte nichts; er dachte nichts anderes.

Er fiel vor Müdigkeit fast um und schlief, kaum heimgekehrt, sofort ein. Zwei- oder dreimal in der Nacht wurde er wie durch eine fixe Idee geweckt. Dann wiederholte er sich: »Ich habe einen Freund« – und entschlummerte gleich wieder.

 

Am nächsten Morgen war ihm, als habe er alles nur geträumt. Um sich der Wirklichkeit zu vergewissern, begann er, sich die geringsten Einzelheiten des vorhergehenden Tages ins Gedächtnis zurückzurufen. In diese Beschäftigung vertiefte er sich noch, während er Stunden gab; selbst am Nachmittag bei der Orchesterprobe war er so zerstreut, daß er sich beim Fortgehen kaum an das, was er gespielt hatte, erinnerte.

Bei seiner Heimkehr fand er einen Brief vor. Er brauchte sich nicht erst zu fragen, woher er käme. Er lief in sein Zimmer und schloß sich ein, um ihn zu lesen. Auf blaßblauem Papier stand in einer sorgfältigen, langgezogenen, korrekten, aber unentschlossenen Handschrift geschrieben:

»Lieber Herr Christof, – oder darf ich sagen: sehr verehrter Freund?

Ich denke sehr viel an unsern gestrigen Ausflug, und ich danke Ihnen unendlich für Ihre mir bewiesenen Freundlichkeiten. Ich bin Ihnen für alles, was Sie getan haben, so dankbar, sowohl für Ihre guten Worte wie für den entzückenden Spaziergang und das ausgezeichnete Mittagessen! Ich bin nur böse, daß Sie für dieses Mittagessen so viel Geld ausgegeben haben. Welch herrlicher Tag! Ist es nicht, als habe die Vorsehung unser wunderbares Zusammentreffen gewünscht? Ich glaube, das Schicksal selber hat uns einander zuführen wollen. Wie freue ich mich. Sie nächsten Sonntag wiederzusehen! Ich hoffe, Sie haben wegen des versäumten Mittagessens bei dem Herrn Hofmusikdirektor nicht allzuviel Unannehmlichkeiten gehabt. Es wäre mir sehr peinlich, wenn Sie meinetwegen Ärger hätten!

Ich bin auf ewig, liebster Herr Christof, Ihr ganz ergebener Freund
Otto Diener.

P. S. – Holen Sie mich Sonntag bitte nicht von Hause ab. Wenn's Ihnen recht ist, treffen wir uns lieber im Schloßgarten.

Christof las diesen Brief mit Tränen in den Augen. Er küßte ihn; er brach in Lachen aus; er machte einen Luftsprung auf seinem Bett. Dann lief er zum Tisch und nahm die Feder, um sogleich zu antworten. Keine Minute hätte er warten können. Aber er war das Schreiben nicht gewohnt; er wußte nicht, wie er das, was sein Herz erfüllte, ausdrücken sollte. Er durchstach das Papier mit der Feder und beschmutzte seine Finger mit Tinte; vor Ungeduld stampfte er mit den Füßen auf. Endlich, nachdem er fünf oder sechs Entwürfe zerrissen hatte, brachte er es fertig, in unförmlichen Buchstaben, die nach allen Seiten auseinanderliefen, und mit ungeheuren orthographischen Fehlern folgendes zu schreiben:

»Mein Herz! Wie darfst Du von Dankbarkeit sprechen, da ich Dich doch liebe! Habe ich Dir nicht gesagt, wie traurig und verlassen ich war, bevor ich Dich kannte? Deine Freundschaft ist mir das höchste aller Güter. Gestern war ich so glücklich, so glücklich! Das erstemal in meinem Leben. Lese ich Deinen Brief, so weine ich vor Freude. Ja, zweifle nicht, mein Geliebter, das Schicksal ist es, das uns einander nahe bringt; es will, daß wir Freunde seien, um Großes zu vollbringen. Freunde! Welch himmlisches Wort! Ist es möglich, daß ich endlich einen Freund habe? O – Du wirst mich nie verlassen, nicht wahr? Du wirst mir treu bleiben? Ewig! Ewig! … Wie schön wird es sein, wenn wir zusammen aufwachsen, zusammen arbeiten, unser Tun gemeinsam verwerten, ich meine musikalischen Einfälle, all die verrückten Dinge, die mir durch den Kopf gehen, und Du Deine Klugheit und Deine erstaunliche Gelehrsamkeit! Wieviel weißt Du! Nie habe ich einen so klugen Menschen gesehen wie Dich. Manchmal mache ich mir Sorgen: mir ist, als sei ich Deiner Freundschaft nicht wert. Du bist so edel und so vollkommen, und ich bin Dir so dankbar, daß Du einen so plumpen Kerl wie mich liebst! … Aber nein! Ich will Dir etwas sagen, wir dürfen nie von Dankbarkeit sprechen. In der Freundschaft gibt es weder Schuldner noch Wohltäter. Wohltaten würde ich nicht annehmen. Wir sind einander ebenbürtig, weil wir uns lieben. Wer hält mich davon zurück. Dich zu sehn? Ich werde, da Du es nicht willst, Dich nicht von Hause abholen, – obgleich ich, aufrichtig gesprochen, all diese Vorsichtsmaßregeln nicht verstehe; aber Du bist der Klügere, sicherlich hast Du recht …

Nur ein Wort noch! Sprich nie mehr von Geld. Ich hasse das Geld: das Wort und es selbst. Bin ich auch nicht reich, so bin ich's doch stets genug, um meinen Freund zu feiern; und es ist mir eine Freude, alles, was ich besitze, für ihn hinzugeben. Würdest Du nicht dasselbe tun? Wärest Du nicht der erste, der mir sein ganzes Vermögen geben würde, wenn ich es brauchte? – Dazu aber wird es nie kommen! Ich habe gute Fäuste und einen klaren Kopf und werde stets das Brot, das ich esse, zu verdienen wissen. – Auf Sonntag! Gott! eine ganze Woche, ohne Dich zu sehn! Und vor zwei Tagen kannte ich Dich noch gar nicht! Wie habe ich so lange ohne Dich leben können?

Der Taktschläger hat zu brummen versucht. Aber mache Dir deswegen keine größeren Sorgen als ich! Was gehen mich die andern an? Ich verachte, was sie von mir denken und jemals denken werden. Nur Du bist mir wichtig. Liebe mich sehr, mein Herz, liebe mich, wie ich Dich liebe! Ich kann Dir nicht sagen, wie sehr ich Dich liebe. Ich bin Dein, Dein, Dein, – vom Scheitel bis zur Sohle. Dein auf ewig.

Christof.«

Christof verzehrte sich die Woche über vor Ungeduld. Er machte Umwege und ging weit von seiner Richtung ab, um in der Gegend von Ottos Haus herumzustreichen; – er erwartete nicht einmal, ihn zu sehen; aber der Anblick des Hauses allein genügte ihm, um vor Erregung blaß und rot zu werden. Am Donnerstag hielt er es nicht mehr aus und sandte einen zweiten noch überspannteren Brief als den ersten. Otto antwortete darauf voller Gefühl.

Endlich kam der Sonntag und Otto erschien pünktlich zum Stelldichein. Aber schon fast eine Stunde vorher verging Christof beinahe vor Erwartung auf der Promenade. Er fing an, sich wegen Ottos Ausbleibens zu quälen. Er zitterte, Otto könne krank sein; denn daß er sein Wort nicht halten würde, nahm er keinen Augenblick an. Ganz leise sagte er vor sich hin: »Mein Gott, mache, daß er kommt!« Und er schlug mit einem Stock nach Kieseln in der Allee und sagte sich, wenn er dreimal nicht träfe, würde Otto nicht kommen, doch wenn er den rechten berührte, müßte Otto gleich erscheinen. Trotz seiner Gespanntheit und der Leichtigkeit der Aufgabe, geschah es dabei, daß er dreimal sein Ziel verfehlte; da sah er aber Otto auch schon mit seinem ruhigen und gesetzten Schritt ankommen: Otto blieb stets korrekt, war er auch noch so bewegt. Christof lief auf ihn zu und wünschte ihm mit trockner Kehle guten Tag. Otto antwortete: guten Tag; aber mehr wußten sie nicht zu sagen, höchstens, daß das Wetter wunderschön sei und daß es zehn Uhr fünf oder sechs sei, – es könne aber auch zehn Uhr zehn sein, da die Schloßuhr immer nachgehe.

Sie gingen zum Bahnhof und nahmen den Zug nach einer benachbarten Station, einem beliebten Ausflugsort. Unterwegs gelang es ihnen kaum, zehn Worte miteinander zu wechseln. Sie versuchten durch beredte Blicke einen Ersatz zu schaffen; doch das hatte ebensowenig Erfolg. Wenn sie sich auch noch so gerne dadurch sagen wollten, welch gute Freunde sie seien: ihre Augen redeten gar nicht, sie spielten Komödie. Christof merkte es mit Beschämung. Er begriff nicht, warum er es so schlecht fertig brachte, das auszudrücken, ja selbst alles das zu fühlen, was ihm noch eine Stunde vorher das Herz erfüllt hatte. Otto gab sich von diesem Mißgeschick vielleicht nicht ebenso klar Rechenschaft, weil er weniger aufrichtig war und in sich selbst mit mehr Rücksicht hineinschaute; aber er fühlte die gleiche Enttäuschung. In Wahrheit verhielt es sich so, daß die beiden Kinder in den acht Tagen ihrer Trennung voneinander ihre Gefühle so emporgeschraubt hatten, daß es ihnen unmöglich wurde, sie in der Wirklichkeit auf dieser Höhe zu erhalten, und daß ihr erster Eindruck beim Wiedersehen notwendigerweise Enttäuschung sein mußte. Dies aber wollten sie sich nicht eingestehen.

Den ganzen Tag irrten sie auf dem Lande umher, ohne den verdrießlichen Zwang, der auf ihnen lastete, abzuschütteln. Es war Festtag: die Wirtshäuser und Wälder waren von einer Menge Spaziergänger überfüllt – kleinbürgerlichen Familien, die großen Lärm machten und überall tafelten. Das erhöhte ihre schlechte Laune; sie schoben es auf diese lästigen Leute, daß sie die Zwanglosigkeit des ersten Ausflugs so gar nicht wiederfinden konnten. Indessen redeten sie aufeinander ein und gaben sich alle erdenkliche Mühe, einen Gesprächsstoff zu finden; sie hatten Angst davor, zu merken, daß sie sich eigentlich nichts zu sagen hatten. Otto kramte seine Schulweisheit aus. Christof erging sich in technischen Erläuterungen musikalischer Werke und des Violinspielens. Sie langweilten sich gegenseitig tödlich, und jeder ärgerte sich über seine eigenen Worte. Und dabei zitterten sie davor, aufzuhören, und sprachen beständig weiter; denn sonst öffneten sich Abgründe des Schweigens, die sie erstarren machten. Otto hatte die größte Lust zu weinen; und Christof war nahe daran, ihn sitzen zu lassen und sich so schnell wie möglich davon zu machen; so voller Scham und Ärger war er.

Erst eine Stunde vor der Rückfahrt tauten sie auf. Tief im Walde schlug nämlich ein Hund an; er jagte dort auf eigene Rechnung. Christof machte den Vorschlag, sich auf der Fährte zu verstecken, um vielleicht das verfolgte Tier sehen zu können. Sie liefen mitten ins Dickicht hinein. Der Hund entfernte sich bald, bald kam er wieder näher. Sie folgten nach rechts, nach links, drangen vor und kehrten wieder zum Ausgangspunkt zurück. Das Gebell wurde stärker. Der Hund erstickte fast an seinem Bellen vor Ungeduld und Blutgier; jetzt kam er auf sie zu. Christof und Otto lagen auf dem dürren Laub, in der Spur eines Fußpfades, warteten und atmeten nicht. Das Bellen schwieg. Der Hund hatte die Spur verloren; noch einmal hörte man ihn in der Ferne kläffen; dann sank die Stille wieder über den Wald. Kein Laut mehr: einzig das Gesumme der Millionen von Wesen, – Insekten und Würmern, die unaufhörlich zerstörend den Wald benagen, – der ewig gleiche Atemzug des Todes, der niemals still steht. Gerade im Augenblick, als sie sich entmutigt erhoben und sagten: »Es ist aus. Er kommt nicht« – bäumte sich ein kleiner Hase aus dem Dickicht auf; er kam gerade auf sie zu: sie sahen ihn beide zu gleicher Zeit und stießen ein Freudengeheul aus. Der Hase überschlug sich auf der Stelle und sprang zur Seite: und schon sahen sie ihn sich Hals über Kopf seitwärts in die Büsche schlagen; das Rauschen der Zweige lief wie ein Kielwasser hinter ihm her und verklang. Obgleich sie ihr Aufschreien nun bereuten, brachte das Abenteuer sie doch in vergnügte Stimmung. Sie bogen sich vor Lachen, wenn sie an den erschreckten Purzelbaum des Hasen dachten, und Christof ahmte ihn in plumpdrolliger Weise nach. Auch Otto versuchte es. Dann jagten sie sich gegenseitig. Otto war der Hase, Christof der Hund; sie rannten quer durch Wald und Heide, setzten über Hecken und sprangen über Gräben. Ein Bauer fluchte ihnen nach, weil sie mitten durch ein Roggenfeld getobt waren; sie hörten nicht auf ihn und liefen weiter. Christof ahmte das heisere Hundegebell so vollkommen nach, daß Otto vor Lachen weinte. Schließlich ließen sie sich einen Abhang hinunterrollen und schrien dabei wie toll. Als sie schließlich keinen Laut mehr hervorbringen konnten, setzten sie sich hin und schauten sich mit lachenden Augen an. Jetzt waren sie völlig glücklich und mit sich selbst zufrieden. Und nur deshalb, weil sie sich nicht mehr als Freundschaftsheroen aufzuspielen versuchten; sie gaben sich offen als das, was sie waren: zwei Kinder.

Auf dem Rückweg faßten sie sich unter und sangen Lieder ohne allen Sinn. Als sie jedoch in die Stadt zurückkehren wollten, fanden sie es für gut, ihre Rolle wieder aufzunehmen, und sie schnitten in den letzten Baum des Waldes ihre verschlungenen Namenszüge. Aber ihre gute Laune triumphierte über die Sentimentalität; und auf der Rückfahrt brachen sie jedesmal, wenn sie einander anschauten, in Lachen aus. Als sie sich trennten, waren sie überzeugt, einen »kolossal entzückenden« Tag verbracht zu haben; und diese Überzeugung befestigte sich in ihnen, sobald jeder wieder allein war.

 

Von neuem nahmen sie, Bienen gleich, geduldig und erfindungsreich ihre Bauarbeit wieder auf; mit einigen minderwertigen Erinnerungsbrocken gelang es ihnen, sich ein wunderbares Bild ihrer selbst und ihrer Freundschaft zurecht zu modeln. Nachdem sie sich so die ganze Woche idealisiert hatten, sahen sie sich Sonntags wieder; und trotz des Mißverhältnisses, das zwischen Wahrheit und Trugbild bestand, gewöhnten sie sich daran, es nicht zu bemerken und die Dinge nach ihrem Wunsch umzubilden.

Sie waren stolz darauf, Freunde zu sein. Sogar der Gegensatz ihrer Naturen brachte sie einander nahe. Christof kannte nichts Schöneres als Otto. Seine feinen Hände, seine hübschen Haare, sein frischer Teint, seine schüchterne Sprache, die Höflichkeit seiner Manieren und die peinliche Sorgfalt seines Anzugs entzückten ihn. Otto wurde von der überströmenden Kraft und Freiheitlichkeit Christofs bezwungen. Durch jahrhundertelang ererbte Erziehung an Respekt vor religiöser wie jeder andern Autorität gewöhnt, genoß er eine mit Gruseln vermischte Freude, sich einem von Natur jeder festgesetzten Regel gegenüber vollkommen unehrerbietigen Kameraden zu gesellen. Es überlief ihn ein kleiner wollüstiger Schreckschauer, wenn er Christof alle Berühmtheiten der Stadt kritisieren hörte und den Großherzog in Person unverschämt nachäffen sah. Christof merkte die Anziehungskraft, die er so auf seinen Freund ausübte; und er übertrieb noch seine herausfordernde Art. Wie ein alter Revolutionär untergrub er alle sozialen Konventionen und Staatsgesetze. Otto lauschte entsetzt und begeistert; schüchtern versuchte er mit einzustimmen; aber er trug Sorge, rings umher zu schauen, ob ihn auch niemand hören könnte.

Christof versäumte bei ihren gemeinschaftlichen Ausgängen nie, über die Umzäunungen eines Feldes hinüberzuspringen, sobald er sah, daß eine Aufschrift es verbot, oder er pflückte wohl auch Früchte über die Mauern der Grundstücke hinweg. Otto war in Todesangst, ertappt zu werden; aber solche Aufregungen hatten besonderen Reiz für ihn; und war er abends heimgekehrt, hielt er sich für einen Helden. Er bewunderte Christof voll heimlicher Furcht. Sein angeborener Sinn für Gehorsam fand in einer Freundschaft, in der er sich nur dem Willen eines andern zu fügen brauchte, Befriedigung. Niemals machte ihm Christof die Mühe, die geringste Entscheidung zu treffen: er beschloß über alles, setzte fest, was man am Tage tun würde, ja sogar schon, was man im Leben beginnen sollte, und entwickelte für Ottos und seine Zukunft Pläne, wobei er keinerlei Widerspruch duldete. Otto stimmte zu, zuweilen ein wenig gereizt, wenn er Christof über sein Vermögen verfügen hörte, um daraus später ein Theater nach seiner Idee zu bauen. Aber durch den Herrscherton seines Freundes eingeschüchtert, widersprach er nicht, denn schließlich fühlte er sich durch Christof überzeugt, daß das durch Herrn Kommerzienrat Oskar Diener erworbene Geld keine bessere Anwendung finden könnte. Christof kam keinen Augenblick der Gedanke, daß er Ottos Willen Gewalt antue. Er war Despot aus Instinkt und konnte sich nicht vorstellen, daß sein Freund etwas anderes wünsche als er. Hätte Otto einen Wunsch ausgesprochen, er hätte sich nicht besonnen, ihm seine persönlichen Neigungen zu opfern. Er hätte ihm noch viel mehr geopfert. Er war von dem Wunsch besessen, sich seinetwegen in Gefahr zu stürzen. Er ersehnte leidenschaftlich eine Gelegenheit, die seine Freundschaft auf die Probe stellen würde. Auf ihren Spaziergängen hoffte er stets, irgendeinem Abenteuer ausgesetzt zu werden, um es bestehen zu können. Er wäre mit Wonne für Otto gestorben. Unterdessen wachte er mit liebevoller Fürsorge über ihm, gab ihm wie einem kleinen Mädchen auf schlechten Wegen die Hand, war besorgt, daß er müde würde, war besorgt, daß es ihm zu heiß wäre, besorgt, daß er sich erkälten könnte; er zog seine Jacke aus, um sie, wenn sie sich niedersetzten, ihm über die Schultern zu werfen; er trug ihm, wenn sie wanderten, seinen Mantel; er hätte ihn selber getragen. Wie ein Verliebter ließ er kein Auge von ihm. Und offen gesagt, war er auch verliebt.

Er wußte es nicht; ahnte er doch noch gar nicht, was Liebe ist. Für Augenblicke jedoch, wenn sie zusammen waren, überfiel ihn eine seltsam erregte Befangenheit, – dieselbe, die ihm am ersten Tag ihrer Freundschaft in dem Tannengehölz das Herz zusammengeschnürt hatte; heiße Wellen stiegen ihm zu Gesicht und tauchten seine Wangen in Rot. Er hatte Angst. In instinktiver Übereinstimmung entfernten sich dann beide Knaben furchtsam voneinander, flohen sich; der eine blieb auf dem Weg zurück; der andere eilte weit voran; sie taten, als seien sie sehr damit beschäftigt, Brombeeren in den Büschen zu suchen; sie wußten nicht, was sie beunruhigte.

Besonders aber in ihren Briefen erhitzten sich ihre Gefühle. Hier liefen sie nicht Gefahr, durch die Tatsachen widerlegt zu werden; nichts konnte ihre Phantasie beschränken noch einschüchtern. Sie schrieben sich jetzt zwei- bis dreimal wöchentlich in leidenschaftlich lyrischem Stil. Von wirklichen Ereignissen und täglichen Vorkommnissen sprachen sie kaum. Sie behandelten in dunklem Ton die ernstesten Fragen und glitten von Begeisterung, ohne Übergang, in Verzweiflung. Sie nannten sich: »mein Eigen, meine Hoffnung, mein Geliebter, mein Selbst«; von dem Worte »Seele« machten sie einen ungeheuren Gebrauch. Mit tragischen Farben malten sie ihr unglückliches Geschick aus, und jammerten darüber, ihres Freundes Dasein mit ihrem Schicksal zu beunruhigen.

Ich bin dir böse, mein Lieb, schrieb Christof, daß du dich meinetwegen bekümmerst. Ich kann es nicht vertragen, daß du leidest: du darfst es nicht, ich will es nicht. (Er unterstrich diese Worte mit einem Federzug, der das Papier zerriß.) Wo soll ich die Kraft zum Leben hernehmen, wenn du leidest? Mein einziges Glück ruht in dir! O, sei glücklich! Alles Böse will ich freudig auf mich nehmen! Denke mein! Liebe mich! Ich habe ein übermäßiges Bedürfnis nach Liebe. Aus deiner Liebe strömt mir eine Wärme entgegen, die mir das Leben wiedergibt. Wenn du wüßtest, wie ich vor Kälte zittere. In meinem Herzen ist Winter und schneidender Wind. Ich umarme deine Seele.

Mein Gedanke küßt den deinen, erwiderte Otto.

Ich nehme dein Haupt in meine Hände, antwortete Christof, und was ich nie tat und meine Lippen niemals tun werden, mein ganzes Wesen tut es: ich küsse dich so, wie ich dich liebe. Ermiß das!

Otto tat, als ob er zweifle:

Liebst du mich ebenso sehr, wie ich dich liebe?

O Gott! entsetzte sich Christof, nicht ebenso, aber zehn-, aber hundert-, tausendmal mehr! Wie! Fühlst du es nicht? Was soll ich tun, um dein Herz zu rühren?

Wie schön ist unsere Freundschaft! seufzte Otto. Ward in der Geschichte je eine ähnliche gesehen? Süß und frisch ist sie wie ein Traum. Daß sie doch niemals aufhörte! Wenn du mich jemals nicht mehr liebtest!

Wie dumm du bist, mein Geliebter, erwiderte Christof. Verzeih, aber deine kleinmütige Besorgnis empört mich. Wie kannst du fragen, ob ich aufhören könnte, dich zu lieben! Für mich ist leben, dich lieben. Der Tod kann meiner Liebe nichts anhaben. Du selbst könntest nichts dagegen tun, wolltest du sie zerstören. Wenn du mich verrietest, wenn du mir das Herz zerrissest, so würde ich sterbend die Liebe segnen, die du mir einflößest. Höre doch ein für allemal auf, dich mit diesen feigen Ängsten zu quälen und mich zu betrüben.

Aber eine Woche darauf schrieb er: Jetzt sind drei ganze Tage vergangen, und ich höre nicht ein einziges Wort aus deinem Munde. Ich zittere. Vergißt du mich vielleicht? Mein Blut erstarrt bei solchem Gedanken … Ja, es ist kein Zweifel … Neulich merkte ich schon deine Kälte gegen mich. Du liebst mich nicht mehr. Du denkst daran, mich zu verlassen! … Höre, wenn du mich vergißt, wenn du mich jemals verrätst, töte ich dich wie einen Hund!

Du kränkst mich, mein liebes Herz, stöhnte Otto. Du entreißest mir Tränen. Das verdiene ich wirklich nicht. Aber du kannst dir alles erlauben. Du hast solche Rechte an mich, daß, wenn du mir selbst die Seele zerbrechen würdest, ein Splitter davon ewig leben würde, um dich zu lieben!

Himmlische Mächte! erregte sich Christof. Ich habe meinen Freund weinen machen! … Beschimpfe mich! Schlage mich! Tritt mich mit Füßen. Ich bin ein elender Mensch. Ich verdiene deine Liebe nicht!

Sie hatten besondere Arten, ihre Adresse auf den Brief zu schreiben, die Briefmarke verkehrt, schräg, unten in die rechte Ecke des Umschlags zu kleben, um ihre Briefe von denen, die sie an Gleichgültige schrieben, zu unterscheiden. Diese kindlichen Geheimnisse hatten für sie den Reiz holder Liebesmysterien.

 

Als Christof eines Tages aus einer Stunde kam, bemerkte er Otto in einer benachbarten Straße in Gesellschaft eines Knaben seines Alters. Sie lachten und plauderten vertraulich miteinander. Christof erbleichte und verfolgte sie mit den Augen, bis sie an der Straßenecke verschwanden. Sie hatten ihn gar nicht gesehen. Er kehrte heim. Ihm war, als sei eine Wolke vor der Sonne vorbeigezogen. Alles war verdunkelt.

Als sie sich am folgenden Sonntag wieder trafen, sprach Christof zuerst kein Wort. Doch, nachdem sie eine halbe Stunde spazieren gegangen waren, sagte er mit erstickter Stimme:

»Ich habe dich Mittwoch in der Kreuzgasse gesehen.«

»So!« sagte Otto.

Und er errötete.

Christof fuhr fort:

»Du warst nicht allein.«

»Nein,« sagte Otto, »ich war mit jemand zusammen.«

Christof würgte an seiner Erregung und fragte in einem Ton, der gleichmütig sein wollte:

»Wer war es denn?«

»Mein Vetter Franz.«

»Ach!« sagte Christof.

Und nach einem Augenblick:

»Du hast mir nie von ihm erzählt.«

»Er wohnt in Rheinbach.«

»Siehst du ihn oft?«

»Er kommt manchmal her.«

»Und du? Gehst du auch zu ihm?«

»Manchmal.«

»Ach!« wiederholte Christof.

Otto, dem es nicht unangenehm war, das Gespräch abzulenken, machte auf einen Vogel aufmerksam, der mit dem Schnabel in einen Baum hackte. Sie sprachen von andern Dingen. Zehn Minuten später fing Christof plötzlich wieder an:

»Verstehst du dich gut mit ihm?«

»Mit wem?« fragte Otto.

(Er wußte ganz genau mit wem.)

»Mit deinem Vetter.«

»Ja. Warum?«

»Nur so.«

Otto liebte seinen Vetter, der ihn mit schlechten Späßen quälte, nicht besonders. Aber ein sonderbar boshafter Instinkt trieb ihn dazu, einige Augenblicke später hinzuzufügen:

»Er ist sehr nett.«

»Wer?« fragte Christof.

(Er wußte sehr wohl wer.)

»Franz.«

Otto erwartete eine Bemerkung von Christof; dieser aber schien nicht gehört zu haben. Er schnitt von einem Haselnußstrauch eine Gerte.

Otto fing wieder an:

»Er ist so unterhaltend. Immer weiß er Geschichten.«

Christof pfiff nachlässig.

Otto überbot sich.

»Und er ist so klug … und wohlerzogen! …«

Christof zuckte die Achseln, als wollte er sagen:

»Welches Interesse kann dieser Mensch wohl für mich haben?«

Und als, nun einmal aufgereizt, Otto gerade fortfahren wollte, schnitt er ihm brutal das Wort ab und zeigte ihm ein Ziel, nach dem sie laufen wollten.

Während des ganzen Nachmittags berührten sie den Gegenstand nicht mehr; aber sie behandelten sich mit Kälte, wenn sie dabei auch eine übertriebene Höflichkeit zur Schau trugen, die zwischen ihnen, besonders von Christofs Seite, ganz ungewohnt war. Dem blieben die Worte in der Kehle stecken. Endlich hielt er es nicht mehr aus und wandte sich mitten auf dem Wege zu Otto um, der fünf Schritt hinter ihm ging, ergriff voller Ungestüm seine Hände und brach auf einmal los:

»Höre, Otto! Ich will, ich will nicht, daß du mit Franz so intim bist, weil … weil du mein Freund bist; und ich will nicht, daß du irgend jemand mehr liebst als mich! Ich will es nicht! Schau, du bist mir alles. Du kannst nicht … Du darfst nicht … Wenn ich dich nicht hätte, bliebe mir nichts als sterben. Ich weiß nicht, was ich täte. Ich würde mich töten. Ich würde dich töten. Nein. Verzeih!«

Die Tränen stürzten ihm aus den Augen.

Otto war gerührt und erschreckt von der Wahrhaftigkeit dieses Schmerzes, der dabei in Drohungen grollte, und schwor eiligst, daß er nie jemand so wie Christof lieben würde, daß Franz ihm gleichgültig sei und daß er ihn nicht wiedersehen wolle, wenn Christof es wünsche. Christof verschlang seine Worte, und sein Herz lebte wieder auf. Er lachte sehr laut und atmete hörbar. Voller Überschwang dankte er Otto. Er schämte sich über den Auftritt, aber er war doch von einer schweren Last befreit. Nun schauten sie wieder einander gerade in die Augen und hielten sich reglos bei der Hand; sie fühlten sich sehr glücklich und wußten sich gar nicht zu benehmen. Schweigsam kehrten sie heim; dann begannen sie von neuem zu sprechen und fanden ihre Fröhlichkeit wieder: mehr als je fühlten sie sich verbunden.

Doch es blieb nicht bei dem einen Auftritt dieser Art. Jetzt, da Otto seine Macht über Christof kannte, war er versucht, sie zu mißbrauchen; er wußte, wo er verletzbar war, und empfand eine unwiderstehliche Lust, den Finger auf die wunde Stelle zu legen. Zwar machten ihm Christofs Zornausbrüche durchaus kein Vergnügen: im Gegenteil; er fühlte sich dabei gar nicht wohl; aber er erprobte seine Macht, indem er Christof leiden ließ. Er war nicht bösartig, aber er hatte das Herz einer Dirne.

So fuhr er denn trotz aller Versprechungen fort, sich mit Franz oder mit irgendeinem andern Kameraden untergefaßt zu zeigen. Sie benahmen sich dann stets sehr laut und lachten auffällig. Wenn Christof ihm Vorstellungen machte, grinste er und tat, als ob er sie nicht sehr ernst nähme, bis er Christofs Augen die Farbe wechseln und seine Lippen vor Zorn zittern sah; dann packte ihn die Angst, auch er änderte den Ton und versprach, nicht wieder von vorn anfangen zu wollen. Am nächsten Morgen aber begann er das Spiel von neuem. Christof schrieb ihm wütende Briefe, in denen er ihn »Lump!« nannte:

Wenn ich nur nichts mehr von dir zu hören brauchte! Ich kenne dich nicht mehr. Der Teufel soll dich holen, dich und alle Hunde deiner Art!

Aber es genügte, daß Otto ein weinerliches Wort sprach oder, wie er's einmal tat, ihm eine Blume als Sinnbild ewiger Treue schickte, um Christof in Reue hinschmelzen zu machen; und er schrieb:

Mein Engel! Ich bin ein Narr. Vergiß meine Dummheit. Du bist der beste aller Menschen. Dein kleiner Finger für sich allein ist mehr wert als der ganze blöde Christof. Du trägst Schätze erfindungsreicher und feinsinniger Zärtlichkeit in dir. Ich küsse deine Rose mit Tränen. Sie ruht hier auf meinem Herzen. Ich presse sie mit der Faust in meine Haut; ich wünschte, sie würde mich bis aufs Blut stechen, damit ich deine einzigartige Güte und meine niederträchtige Dummheit tiefer empfinde! …

Doch bei all dem wurden sie einander überdrüssig. Es ist falsch, wenn man behauptet, kleine Zwiste erhielten die Freundschaft. Christof grollte Otto wegen der Ungerechtigkeiten, die er durch Ottos Schuld beging. Er versuchte wohl, sich zur Vernunft zu bringen, und warf sich seine Herrschsucht vor. Seine unverfälschte, heftige Natur, die zum erstenmal die Probe der Liebe bestand, gab sich ganz hin und verlangte, daß auch der andere Teil sich ganz hingäbe, ohne ein Stückchen des Herzens zurückzubehalten. Er erlaubte in der Freundschaft keine Teilung. Ebenso wie er bereit war, dem Freund alles zu opfern, fand er es gerecht und sogar notwendig, daß der Freund ihm alles und sich selber opfere. Aber er fing zu begreifen an, daß die Welt nicht nach dem Muster seiner unbeugsamen Natur gebaut war und daß er von den Dingen etwas erwartete, was sie nicht geben konnten. So suchte er sich zu unterwerfen. Er klagte sich hart an, behandelte sich als Egoisten, der nicht das Recht habe, der Freiheit seines Freundes Abbruch zu tun, seine Zuneigung in Beschlag zu nehmen. Er machte aufrichtige Anstrengungen, ihn, was es ihn auch kostete, völlig frei zu geben. Er zwang sich sogar aus Erniedrigungsdrang dazu, Otto zuzureden Franz nicht zu vernachlässigen; er gab sich alle Mühe, sich die Überzeugung beizubringen, daß es ihm wohl tat, Otto Vergnügen in anderer Gesellschaft als der seinen finden zu sehen. Doch wenn Otto, der darauf durchaus nicht hereinfiel, ihm boshaft gehorchte, konnte er nicht anders als ein saures Gesicht dazu machen; und urplötzlich brach er dann wieder los.

Im Notfall hätte er Otto verziehen, daß dieser ihm andere Freunde vorzog; aber was er nicht vertragen konnte, war die Lüge. Otto war weder falsch noch heuchlerisch: es wurde ihm von Natur schwer, die Wahrheit zu reden, wie es einem Stotterer schwer wird, deutliche Worte zu sprechen; was er sagte, war nie ganz wahr und nie ganz falsch; sei es aus Schüchternheit oder aus Unsicherheit seiner eignen Empfindung gegenüber, er sprach selten in ganz klarer Art und Weise; seine Antworten waren zweideutig; vornehmlich aber machte er aus allem eine Geheimniskrämerei und ein mysteriöses Getue, das Christof außer sich brachte. Wenn man ihn auf einem Fehler ertappte, – oder auf etwas, das nach den Gesetzen ihrer Freundschaft einen Fehler bedeutete, – leugnete er trotzig, anstatt es zuzugeben, und erzählte die widersinnigsten Geschichten. Eines Tages war Christof darüber so aufgebracht, daß er ihn ohrfeigte. Er meinte, das sei das Ende ihrer Freundschaft und Otto würde ihm das nie verzeihen. Aber, nachdem dieser ein paar Stunden geschmollt hatte, kam er wieder zu ihm, als sei nichts geschehen. Er trug Christof seine Gewalttätigkeiten nicht im geringsten nach; vielleicht mißfielen sie ihm nicht einmal und er fand eine Art Reiz darin. Jedoch wußte er Christof schlechten Dank, daß dieser sich hintergehen ließ und all seine Märchen mit offnem Munde anhörte; er verachtete ihn deswegen ein wenig und dünkte sich der Überlegenere. Christof seinerseits grollte Otto, weil dieser seine Grobheiten ohne Widerstand hinnahm.

Sie betrachteten sich nicht mehr mit den Augen der ersten Tage. Beider Fehler traten ins volle Licht. Otto fand weniger Gefallen an Christofs Freiheitlichkeit. Christof war auf Spaziergängen ein peinlicher Begleiter. Er kümmerte sich nicht im geringsten um sein äußeres Auftreten. Er machte sich's bequem, zog seinen Rock aus, knöpfte die Weste auf, ließ seinen Kragen offen stehen, stülpte die Hemdsärmel in die Höhe, hängte seinen Hut an das Stockende und dehnte sich in der freien Luft. Beim Wandern schlenkerte er mit den Armen, pfiff und sang aus voller Kehle; er war rot, schweißbedeckt und bestaubt; wie ein Bauer sah er aus, der von der Kirmeß heimkehrt. Dem aristokratischen Otto war es entsetzlich, in seiner Gesellschaft getroffen zu werden. Sah er einen Wagen auf dem Weg, versuchte er zehn Schritt zurückzubleiben und tat, als ginge er allein spazieren. Nicht weniger peinlich war es, wenn Christof in einem Restaurant oder auf der Rückfahrt im Kupee zu reden anfing. Er unterhielt sich geräuschvoll, sagte alles, was ihm durch den Kopf ging, und behandelte Otto mit aufreizender Vertraulichkeit; er ließ Meinungen, die jedes Wohlwollens bar waren, über allgemein bekannte Persönlichkeiten laut werden, sogar über das Äußere von ihm ganz nahe sitzenden Leuten; oder er erging sich auch in intimen Einzelheiten über seine Gesundheit und sein häusliches Leben. Otto konnte noch so sehr die Augen rollen und Zeichen der Empörung geben: Christof schien sie nicht zu bemerken und nahm sich nicht mehr zusammen, als wenn er allein gewesen wäre. Otto sah, wie seine Nachbarn das Lächeln nicht bezwingen konnten, und hätte in die Erde sinken mögen. Er fand Christof ungeschlacht und begriff nicht, wie er je von ihm hatte entzückt sein können.

Das schlimmste war, daß Christof sich mit derselben Ungeniertheit betrug, wenn es sich um Hecken, Gatter, Zäune, Mauern, Wegsperren, Androhungen von Geldstrafe, kurz jede Art Verbot handelte, das sich anmaßte, seine Freiheit zu beschränken, um geheiligtes Eigentum gegen sie zu schützen. Otto lebte in beständiger Angst, und seine Vorstellungen nützten gar nichts: Christof trieb es aus Prahlerei nur noch ärger.

Eines Tages, als er mit Otto auf seinen Fersen sich mitten in einem Privatgehölz erging, dessen Mauern sie trotz oder gerade wegen der darauf angebrachten Flaschenscherben überklettert hatten, fanden sie sich plötzlich einem Wächter gegenüber, der sie mit Schimpfworten überhäufte und, nachdem er sie einige Minuten lang mit einer Anzeige bedroht hatte, auf die schmählichste Weise hinauswarf. Otto trug bei dieser Gelegenheit keinen Ruhm davon. Er sah sich schon im Gefängnis, jammerte und behauptete albern, daß er aus Versehen hereingekommen sei und daß er, ohne zu wissen, wo er ginge, nur Christof gefolgt sei. Als er sich gerettet sah, machte er, anstatt sich zu freuen, Christof bittere Vorwürfe; er beklagte sich, daß Christof ihn bloßstelle. Der andere vernichtete ihn mit einem Blick und nannte ihn: »Memme!« Sie wechselten heftige Worte. Otto hätte Christof einfach stehen lassen, wenn er gewußt hätte, wie er allein nach Hause kommen sollte: so war er ihm zu folgen gezwungen; aber sie taten, als gehörten sie nicht zusammen.

Ein Gewitter zog auf. In ihrem Zorn sahen sie es nicht kommen. Das glühende Land summte von Insektenlauten. Plötzlich schwieg alles. Sie merkten die Stille erst nach einigen Minuten: ihre Ohren brausten. Sie hoben die Augen: der Himmel war verfinstert; riesige, schwere Regenwolken hatten ihn überzogen; von allen Seiten kamen sie wie ein Reitergeschwader an. Wie von einem Strudel des Himmels eingesogen, schienen sie von überall herbeizulaufen. Der geängstete Otto wagte seine Befürchtungen Christof nicht einzugestehen; und dieser empfand ein boshaftes Vergnügen daran, sich nichts merken zu lassen. Immerhin näherten sie sich einander, wenn auch ohne zu sprechen. Sie waren allein auf der Heide. Stille. Nicht ein Lufthauch. Kaum ein fieberhafter Schauer, der momentweise die kleinen Blätter an den Bäumen beben ließ. Plötzlich fegte ein Wirbelwind den Staub auf, bog die Bäume und peitschte sie wütend. Und wieder sank die Stille nieder, düsterer als zuvor. Otto entschloß sich mit zitternder Stimme zu sprechen:

»Das Gewitter kommt. Wir müssen heim.«

Christof sagte:

»Kehren wir um.«

Aber es war zu spät. Ein blendendes brutales Licht blitzte auf; der Himmel brüllte, das Wolkengewölbe grollte. Einen Augenblick später waren sie vom Orkan umbraust, von Blitzen umhüllt, vom Donner betäubt und vom Kopf bis zu den Füßen durchnäßt. Sie befanden sich auf flachem Feld, mehr als eine halbe Stunde von jeder Behausung entfernt. Durch den wirbelnden Regen, durch das fahle Licht, leuchteten die Riesenscheine der Blitze auf. Die Knaben hatten Lust zu laufen; aber ihre, durch den Regen festgeklebten Kleider hinderten sie am Gehen, ihre Stiefel platschten, Wasser rieselte ihnen den ganzen Leib entlang. Sie konnten nur mühsam Atem schöpfen. Otto schlugen die Zähne vor Kälte aufeinander; er war rasend vor Wut und sagte Christof verletzende Dinge; er wollte nicht weiter, behauptete, es sei lebensgefährlich zu wandern, drohte, sich mitten auf den Weg zu setzen, sich auf die Erde, mitten in die beackerten Felder zu legen. Christof antwortete nicht; er setzte, von Wind, Regen und Blitzen geblendet, seinen Weg fort; auch er war bestürzt und ein wenig beunruhigt, hütete sich aber wohl, es zuzugeben.

Und plötzlich war alles vorbei. Das Gewitter war vorübergezogen, so schnell wie es gekommen war. Aber die beiden waren in einem jämmerlichen Zustand. Christof war ja für gewöhnlich schon so schäbig, daß ihn ein wenig mehr Unordnung kaum veränderte. Der so gepflegte, so peinlich auf seinen Anzug bedachte Otto aber machte jetzt eine traurige Figur; es war, als habe er eben völlig angezogen ein Bad genommen, und als Christof sich zu ihm umwandte, konnte er, als er ihn so sah, einen Lachausbruch nicht zurückhalten. Otto war dermaßen erschöpft, daß er nicht einmal die Kraft fand, aufzubrausen. Christof hatte Mitleid mit seinem Zustand und sprach ihm fröhlich zu. Otto antwortete nur mit einem wütenden Blick. Christof führte ihn in einen Bauernhof; sie trockneten sich vor einem großen Feuer und tranken heißen Wein. Christof fand das Abenteuer amüsant und versuchte darüber zu lachen. Aber dergleichen war ganz und gar gegen Ottos Geschmack, und er bewahrte während des übrigen Weges ein trübseliges Schweigen. Schmollend kehrten sie heim und reichten sich beim Verlassen nicht die Hand.

Nach diesem Ausflug sahen sie sich über eine Woche nicht wieder. Sie urteilten mit Härte übereinander. Aber nachdem sie sich selber bestraft hatten, indem sie sich ihrer Sonntagsspaziergänge beraubten, langweilten sie sich dermaßen, daß ihr Groll sich legte. Christof bot wie gewöhnlich als erster die Hand zur Versöhnung. Otto nahm sie gnädig an, und sie schlossen Frieden.

Trotz dieser Uneinigkeiten war es ihnen unmöglich, einer ohne den andern auszukommen. Sie hatten zwar beide Fehler, waren beide egoistisch; aber dieser Egoismus war naiv, kannte noch nicht die Berechnung des reifen Alters, die ihn so abstoßend macht, – er kannte sich selbst noch nicht: fast war er liebenswert; jedenfalls hinderte er sie nicht, sich aufrichtig gern zu haben. Sie hatten ein solches Bedürfnis nach Liebe und Aufopferung. Der kleine Otto weinte in sein Kopfkissen und erzählte sich dabei romantische Geschichten, in denen er der Held war; er erfand tragische Abenteuer, in denen er stark, tapfer, unerschrocken auftrat und Christof beschützte, den er glühend zu lieben sich einbildete. Christof seinerseits sah und hörte nichts Schönes oder Merkwürdiges, ohne daß er dachte: wenn doch Otto da wäre! Er vermählte des Freundes Bild seinem ganzen Leben; und dies Bild verklärte sich, wurde so sanft und süß, daß er trotz allem, was er von ihm wußte, wie berauscht davon war. Gewisse Worte Ottos, deren er sich noch lange nachher erinnerte und die er verschönte, machten ihn vor Rührung beben. Sie ahmten sich gegenseitig nach. Otto äffte Christofs Manieren, Bewegungen, Schriftzüge nach. Manchmal war Christof über diesen seinen Schatten ganz aufgebracht, der jedes Wort von ihm wiederholte und ihm seine eignen Gedanken wie neue auftischte. Aber er merkte nicht, daß er selbst von Otto beeinflußt wurde, seine Art, sich zu kleiden und zu gehen und gewisse Worte auszusprechen, kopierte. Es war wie eine Verzauberung. Sie waren einer vom andern durchtränkt, und ihr Herz strömte von Zärtlichkeit über. Wie eine Quelle ergoß sie sich nach allen Seiten. Jeder meinte, sein Freund sei davon die Ursache. Sie wußten nicht, daß es das Erwachen des Jünglings in ihnen war.

 

Da Christof gegen niemand Mißtrauen hegte, ließ er seine Papiere überall herumliegen. Indessen verbarg er in instinktiver Scham die Entwürfe zu den Briefen, die er an Otto kritzelte, und dessen Antworten. Er verschloß sie jedoch nicht, sondern legte sie einfach zwischen die Blätter eines seiner Notenhefte, wo er sicher meinte, daß man sie nicht suchen würde. Er dachte dabei nicht an die Bosheit seiner Brüder.

Seit einiger Zeit sah er sie, wenn sie seiner gewahr wurden, lachen und miteinander tuscheln: sie sagten sich Bruchstücke von Reden ins Ohr, über die sie in wahre Lachkrämpfe verfielen. Christof gelang es nicht, ihre Worte zu verstehen; außerdem behandelte er sie seit langem in einer Weise, die vollständige Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sie sagen oder tun mochten, zur Schau trug. Doch einige Worte erregten seine Aufmerksamkeit; er meinte sie wiederzuerkennen. Und bald konnte er nicht mehr daran zweifeln, daß seine Brüder seine Briefe gelesen hatten. Aber als er Ernst und Rudolf anfuhr, die sich mit possenhaftem Ernst »meine süße Seele« anredeten, konnte er nichts aus ihnen herausbekommen. Die Buben taten, als verständen sie nichts, und meinten, sie hätten doch das Recht, sich zu nennen, wie es ihnen beliebte. Und da Christof alle seine Briefe an ihrem Platz gefunden hatte, wollte er nicht weiter nachforschen.

Kurze Zeit darauf ertappte er Ernst auf frischer Tat beim Diebstahl: der kleine Taugenichts kramte in der Schieblade, in der Luise das Geld verschloß. Christof schüttelte ihn gehörig und nahm die Gelegenheit wahr, ihm alles, was er auf dem Herzen hatte, zu sagen; er zählte ihm in Ausdrücken, die der Höflichkeit ziemlich entbehrten, alle seine Missetaten auf; und diese Liste war nicht kurz. Ernst nahm die Strafpredigt schlecht auf; er antwortete hochnäsig, daß Christof ihm nichts vorzuwerfen habe, und er ließ über seines Bruders Freundschaft mit Otto zweideutige Dinge fallen. Christof verstand das nicht; doch als er hörte, daß man Otto in ihren Streit mischte, befahl er Ernst, sich deutlicher zu erklären. Der Kleine grinste; dann als er Christof vor Zorn erbleichen sah, bekam er Angst und wollte nichts mehr sagen. Christof merkte, daß er so nichts weiter herausbekäme; er setzte sich, zuckte die Achseln und trug tiefe Verachtung für Ernst zur Schau. Gereizt begann dieser seine Unverschämtheiten von neuem; er mühte sich, seinen Bruder zu kränken, und sagte ihm eine Litanei von Dingen her, eins immer grausamer und häßlicher als das andere. Christof nahm sich mit aller Gewalt zusammen, um nicht aufzufahren. Als er aber endlich verstand, wurde er wie rasend: er sprang mit einem Satz vom Stuhl. Ernst hatte nicht mehr Zeit zu schreien, denn Christof hatte sich auf ihn gestürzt, ihn mitten ins Zimmer gewälzt und stieß ihm den Kopf gegen den Boden. Bei dem fürchterlichen Geschrei des Opfers rannten Luise, Melchior, das ganze Haus zusammen. Man befreite Ernst, der schlimm zugerichtet war. Christof wollte nicht von der Verfolgung abstehen: man mußte auf ihn selber mit Schlägen eindringen. Wilde Bestie nannte man ihn, und er sah wahrhaftig so aus. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, er fletschte die Zähne und er hatte nur den einen Gedanken, sich wieder auf Ernst zu stürzen; als man ihn fragte, was vorgefallen sei, verdoppelte sich seine Wut, und er schrie, er werde ihn töten. Ernst weigerte sich gleichfalls zu reden.

Christof konnte weder essen noch schlafen. Er zitterte im Fieber und weinte in seinem Bett. Er litt nicht nur Ottos wegen. Eine Revolution vollzog sich in ihm. Ernst ahnte wohl kaum, was er seinem Bruder Böses getan hatte. Christofs Reinheitsbegriffe waren von puritanischer Strenge; er konnte den Schmutz des Lebens nicht mit Nachsicht betrachten und entdeckte ihn auch nur nach und nach mit Abscheu. Bei ganz freiem Leben und starken Trieben, war er mit seinen fünfzehn Jahren doch noch seltsam harmlos. Seine natürliche Reinheit und seine rastlose Arbeit hatten ihn beschützt. Seines Bruders Worte öffneten Abgründe vor ihm. Nie wäre er selber auf die Vorstellung solcher Gemeinheit gekommen; jetzt aber, da der Gedanke daran in ihm geweckt wurde, war ihm die ganze Freude am Lieben und Geliebtwerden verdorben. Nicht nur seine Freundschaft für Otto, jede Freundschaft war ihm vergiftet. Noch viel schlimmer wurde es, als einige sarkastische Anspielungen ihn, vielleicht mit Unrecht, glauben ließen, daß er der Gegenstand ungesunder Neugierde von Seiten der kleinen Stadt war, besonders, als Melchior kurze Zeit darauf ihm Vorstellungen wegen seiner Spaziergänge mit Otto machte. Wahrscheinlich sah Melchior nichts Böses darin; aber einmal gewarnt, las Christof jetzt aus allen Worten einen Verdacht; fast kam er sich schuldig vor. Otto machte gleichzeitig eine ähnliche Krise durch.

Noch versuchten sie, sich im geheimen zu sehen. Aber es war ihnen unmöglich, die ungezwungene Art der früheren Zusammenkünfte wiederzufinden. Die Harmlosigkeit ihrer Beziehungen war gestört. Beide Kinder, die sich mit so scheuer Zärtlichkeit liebten, die sich nie ein größeres Glück vorgestellt hatten, als sich zu sehen, zu verstehen, ihre Träume auszutauschen, fühlten sich von dem Verdacht niederer Herzen besudelt. Sie sahen schließlich in den unschuldigsten Handlungen Böses: in einem Blick, einem Händedruck; sie erröteten und hatten schlechte Gedanken. Ihre Beziehungen wurden unerträglich.

Ohne sich darüber zu verständigen, sahen sie sich seltener. Sie versuchten es mit Schreiben; aber sie nahmen sich bei jedem Ausdruck in acht. Ihre Briefe wurden kalt und geschmacklos. So verloren sie den Mut. Christof schob seine Arbeit, Otto seine Beschäftigungen vor, um die Korrespondenz abzubrechen. Bald darauf ging Otto zur Universität; und die Freundschaft, die einige Monate ihres Lebens erhellt hatte, verlosch völlig. Auch flammte eine neue Liebe, von der diese nur ein Vorläufer gewesen war, in Christofs Herzen auf und ließ jedes andere Licht darin erbleichen.


 << zurück weiter >>