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III

E la faccia del sol nascere ombrata

Purg. XXX

Er hatte nachgeben müssen. Trotz eines heroisch hartnäckigen Widerstandes hatten die Schläge seinem bösen Willen gegenüber das letzte Wort behalten. Christof wurde jeden Morgen drei Stunden und jeden Nachmittag drei Stunden vor das Folterinstrument gesetzt. Während ihm dicke Tränen an Wangen und Nase herunterliefen, saß er verärgert in Gespanntheit und Überdruß da und ließ seine kleinen, roten, vor Kälte oft starren Hände über die weißen und schwarzen Tasten laufen, immer bedroht von dem bei jeder falschen Note heruntersausenden Lineal und dem Geschimpfe seines Lehrers, das ihm noch widerlicher als die Schläge war. Er glaubte die Musik zu hassen. Und doch war er mit einem erbitterten Eifer dabei, für den die Furcht vor Melchior keine genügende Erklärung war. Gewisse Worte vom Großvater hatten Eindruck auf ihn gemacht. Als der Alte seinen Enkel weinen sah, hatte er ihm mit jenem Ernst, den er auch dem Kinde gegenüber nicht aufgab, gesagt, daß es sich wohl lohne, ein wenig für die schönste und edelste Kunst, die den Menschen zu ihrem Trost und Ruhm gegeben sei, zu leiden. Und Christof, der dem Großvater dafür Dank wußte, daß er wie zu einem Manne zu ihm sprach, war im geheimen von diesem schlichten Worte getroffen worden, das gut zu seinem kindlichen Stoizismus und seinem aufkeimenden Stolz paßte.

Aber mehr noch als alle Gründe war es die Erinnerung gewisser ergreifender musikalischer Eindrücke, welche ihn, ohne daß er's wollte, fürs Leben der verhaßten Kunst verband und unterjochte, gegen die er sich vergeblich aufzulehnen suchte.

Es gab in der Stadt ein Theater, in dem man Opern, komische Opern, Operetten, Dramen, Lustspiele und Burlesken aufführte, überhaupt alles, was sich nur spielen ließ, welcher Art und Stiles es auch immer sei. Die Vorstellungen fanden dreimal wöchentlich von sieben bis zehn Uhr abends statt. Der alte Hans Michel fehlte bei keiner und bezeugte jeder ein gleiches Interesse. Einmal nahm er seinen Enkel mit sich. Schon mehrere Tage vorher hatte er ihm den Inhalt des Stückes lang und breit erzählt. Christof hatte nichts davon verstanden, aber er hatte behalten, daß entsetzliche Dinge darin geschahen, und obgleich er darauf brannte, das alles zu sehen, hatte er doch, ohne daß er es sich zu gestehen wagte, große Furcht davor. Er wußte, daß in dem Stück ein Gewitter vorkam, und er fürchtete sich sehr, vom Blitz erschlagen zu werden. Er wußte, daß es eine Schlacht gab, und er war durchaus nicht sicher, ob man ihn nicht töten würde. Am Abend vorher hatte er in seinem Bett eine wahrhafte Angst davor; und am Tage der Vorstellung wünschte er fast, daß Großvater am Kommen verhindert sein möchte. Als aber die Stunde näher rückte und Großvater zunächst wirklich nicht kam, wurde er ganz verzweifelt und schaute jeden Augenblick durchs Fenster. Endlich erschien der Alte, und sie gingen zusammen fort. Dem Knaben sprang das Herz in der Brust; die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er konnte keine Silbe hervorbringen.

Sie gelangten zu dem geheimnisvollen Gebäude, von dem in den Gesprächen zu Hause so oft die Rede war. An der Tür traf Hans Michel Bekannte; und der Kleine, der aus Furcht, ihn verlieren zu können, seine Hand mit allen Kräften festhielt, begriff nicht, wie in diesem Augenblick alle so seelenruhig miteinander plaudern und lachen konnten.

Großvater machte sich's auf seinem gewohnten Sitz in der ersten Reihe, gleich hinter dem Orchester, bequem. Er lehnte sich über die Balustrade und begann sogleich mit dem Kontrabaß eine ausführliche Unterhaltung anzuknüpfen. Hier fühlte er sich an seinem Platz. Hier, wo seine musikalische Autorität etwas galt, hörte man ihm zu; und er machte gehörigen Gebrauch davon: man konnte fast sagen, er nützte es aus. Christof war unfähig, irgend etwas zu vernehmen. Er war ganz bedrückt von der Erwartung auf das Schauspiel, dem Anblick des Theaterraumes, der ihm überaus prächtig erschien, dem Andrang des Publikums, das ihn gräßlich einschüchterte. Er wagte nicht, den Kopf zu wenden, weil er meinte, alle Blicke seien auf ihn gerichtet. Krampfhaft drückte er seine kleine Mütze zwischen die Knie und starrte den Zaubervorhang mit großen Augen an.

Endlich ertönte das Klingelzeichen. Großvater schneuzte sich und zog sein Textbuch aus der Tasche, dem er gewissenhaft zu folgen pflegte; so sehr, daß ihm zuweilen entging, was auf der Bühne geschah. Das Orchester setzte ein. Von den ersten Akkorden an fühlte sich Christof beruhigt. In dieser Welt der Töne war er wie zu Hause. Und nun schien ihm, so Außergewöhnliches in der Oper auch geschehen mochte, alles natürlich.

Der Vorhang hob sich und man sah Bäume aus Pappdeckel und Wesen, die nicht viel wirklicher schienen. Der Kleine saß mit offenem Munde in Bewunderung da; aber er war nicht überrascht. Und doch spielte das Stück in einem Phantasie-Orient, von dem er keinerlei Ahnung haben konnte. Die Dichtung war ein Gewebe von Albernheiten, in dem man sich unmöglich zurechtfinden konnte. Christof kannte sich darin gar nicht aus. Er warf alles durcheinander, nahm eine Gestalt für die andere, zog Großvater am Ärmel, um ganz ungereimte Fragen an ihn zu stellen, die zeigten, daß er gar nichts verstanden hatte. Trotzdem war er weit davon entfernt, sich zu langweilen; nein, er war sogar leidenschaftlich interessiert. Auf dem läppischen Textbuch baute er einen Roman eigner Erfindung auf, der keinerlei Beziehung zu dem, was man spielte, hatte; die Ereignisse widerlegten ihn in jedem Augenblick, und er mußte ihn umarbeiten, aber das störte den Knaben nicht. Er hatte unter den Personen, die sich auf der Bühne mit mannigfachem Geschrei bewegten, seine Wahl getroffen; und er verfolgte zitternd die Schicksale derer, denen er seine Sympathie zugewandt hatte. Vor allem wurde er durch eine schöne Person reiferen Alters verwirrt, die leuchtend blonde, lange Haare und übernatürlich große Augen hatte und mit bloßen Füßen herumlief. Die Unwahrscheinlichkeiten der Inszenierung störten ihn durchaus nicht. Seine scharfen Kinderaugen bemerkten weder die groteske Häßlichkeit der großen, fetten Schauspieler, der in jeder Hinsicht unmöglichen Choristen, die in zwei Reihen aufgestellt waren, noch die Albernheit der Bewegungen; nicht die durch das Gebrüll hochgeröteten Gesichter, die bauschigen Perücken, die hohen Absätze des Tenors noch die Schminke auf dem mit vielfarbigen Stiften tätowierten Gesicht seiner Schönen. Er befand sich im Zustand eines Liebenden, dem seine Leidenschaft nicht erlaubt, den geliebten Gegenstand so zu sehen, wie er ist. Die wunderbare Illusionskraft, die Kindern eigen ist, hielt alle unangenehmen Eindrücke im Entstehen auf und formte sie nach seinem Wunsche um.

Vor allem war es die Musik, die diese Wunder tat. Sie tauchte alle Dinge in eine Nebelluft, in der alles schön, edel und begehrenswert wurde. Sie erfüllte die Seele mit unwiderstehlichem Liebesdrang; und gleichzeitig bot sie ihr von allen Seiten Phantome der Liebe dar, um die Leere, die sie selber geschaffen hatte, auszufüllen. Der kleine Christof war ganz bestürzt vor Erregung. Einige der vorkommenden Worte, Gebärden und musikalischen Phrasen verursachten ihm Unbehagen; er wagte dabei nicht die Augen zu heben, wußte nicht, was davon gut oder schlecht sei, und errötete und erblaßte abwechselnd; manchmal traten ihm Schweißtropfen auf die Stirn; und er zitterte, daß alle anwesenden Leute seine Verwirrung bemerken könnten. Als dann die unumgänglichen Katastrophen eintraten, die im vierten Akt der Opern auf die Liebenden herniederbrechen, um dem Tenor und der Primadonna die Gelegenheit zu geben, die Herrlichkeit ihrer höchsten Töne zur Geltung zu bringen, glaubte der Knabe, ersticken zu müssen. Der Hals tat ihm weh, als habe er sich erkältet; er umklammerte seine Kehle mit den Händen; er konnte den Speichel nicht mehr herunterschlucken; die Tränen saßen ihm im Hals; er hatte eiskalte Hände und Füße. Glücklicherweise war Großvater nicht viel weniger bewegt. Er genoß das Theater mit kindlicher Naivität. Bei den dramatischen Stellen hüstelte er mit gleichgültiger Miene, um seine Erregung zu verbergen. Christof aber merkte es wohl; und das machte ihm großes Vergnügen. Es war entsetzlich heiß, Christof fiel vor Müdigkeit fast um, und das Sitzen wurde ihm beschwerlich. Er dachte jedoch nichts anderes als: »Wird es auch noch lange dauern? Hoffentlich geht es noch nicht zum Schluß!« – Aber ganz plötzlich und, ohne daß er verstand, warum, war doch alles zu Ende. Der Vorhang fiel, alle Welt erhob sich, der Zauberbann war gebrochen.

Sie gingen zusammen durch die Nacht heim, die beiden Kinder, der Alte und der Kleine. Welch schöne Nacht! Welch stilles Mondlicht! Beide schwiegen und kosteten in der Erinnerung alles noch einmal durch. Endlich fragte der Alte: »Bist du zufrieden, Kleiner?«

Christof konnte nicht antworten. Er war von seiner Ergriffenheit noch ganz verschüchtert und mochte durch Sprechen diese Stimmung nicht zerstören; er machte eine große Anstrengung, um schließlich ganz leise und mit einem tiefen Seufzer zu murmeln:

»Oh! ja!«

Der Alte lächelte. Nach einiger Zeit fing er wieder an:

»Siehst du nun, welch herrlicher Beruf es ist, ein Musiker zu sein? Gibt es etwas Großartigeres als solche Wesen, solche wunderbaren Schauspiele zu schaffen? Das heißt Gott auf Erden sein.«

Der Kleine wurde betroffen. Wie! Ein Mensch hatte das alles geschaffen! Daran hatte er gar nicht gedacht. Es war ihm eher wie etwas, das ganz von selber geworden war, wie ein Werk der Natur vorgekommen. Aber ein Mensch, ein Musiker, wie er selbst eines Tages einer sein würde! Oh! das einen einzigen Tag wirklich zu sein, nur einen einzigen Tag! Und dann – dann – was immer! Sterben, wenn es sein mußte! Er fragte:

»Großvater, wer hat das alles gemacht?«

Großvater erzählte ihm von Franz Maria Haßler, einem jungen deutschen Künstler, der in Berlin wohnte und den er früher gekannt hatte. Christof war ganz Ohr. Plötzlich fragte er:

»Und du, Großvater?«

Der Alte zuckte zusammen.

»Was denn?« fragte er.

»Hast du denn auch solche Sachen gemacht?«

»Gewiß,« brummte der Alte mit ärgerlicher Stimme.

Er schwieg und nach einigen Schritten seufzte er tief auf. Das war eine seiner geheimen Wunden. Er hatte stets ersehnt, etwas für das Theater zu schreiben; und die göttliche Eingebung hatte ihn stets getäuscht. Wohl bewahrte er einen oder zwei Akte seiner Feder in seinen Mappen auf. Aber er hatte sich so wenig Illusionen über ihren Wert erhalten, daß er niemals wagte, sie einem fremden Urteil zu unterbreiten.

Sie sprachen bis zum Heimkommen kein Wort mehr miteinander und konnten dann alle beide nicht schlafen. Der Alte wurde von seinem Kummer gequält und hatte, um sich zu trösten, seine Bibel vorgenommen. – Christof durchlebte in seinem Bett alle Ereignisse des Abends noch einmal; er rief sich die kleinsten Einzelheiten zurück, und das Mädchen mit den bloßen Füßen erschien ihm wieder. Als er im Einschlummern war, klang genau so deutlich, als spiele sie das Orchester, eine Musikstelle wieder vor seinem Ohr. Es durchzuckte seinen ganzen Körper; den Kopf trunken von Musik, hob er sich von seinem Kissen und dachte: »Eines Tages werde ich, ich selber auch so etwas schreiben. Oh! werde ich es jemals können?«

Von diesem Augenblick an hatte er nur einen Wunsch: wieder ins Theater zu kommen; er stürzte sich mit um so brennenderem Eifer in die Arbeit, als man ihm das Theater als Belohnung versprochen hatte. Er dachte an nichts anderes mehr: während der einen Wochenhälfte träumte er von dem verflossenen Schauspiel und während der andern Hälfte dachte er an das nächste. Er zitterte davor, er könnte vor der Vorstellung krank werden; und aus Furcht fühlte er oft die Symptome von drei oder vier Krankheiten gleichzeitig in sich. War der Tag gekommen, aß er nichts zu Mittag, war in beständigem Aufruhr, wie eine Seele im Fegefeuer, schaute fünfzigmal auf die Uhr und meinte, daß der Abend nie kommen würde; endlich hielt er's nicht mehr aus und ging aus Angst, keinen Platz zu bekommen, eine Stunde vor der Kassenöffnung fort. War er dann der erste in dem öden Theaterraum, so begann er sich von neuem zu beunruhigen. Sein Großvater hatte ihm erzählt, daß zwei- oder dreimal, als das Publikum nicht zahlreich genug war, die Schauspieler vorgezogen hätten, das Eintrittsgeld zurückzuzahlen und nicht zu spielen. Er spähte nach jedem Kommenden, er zählte sie und dachte: »Dreiundzwanzig, vierundzwanzig, – fünfundzwanzig … oh! das ist nicht genug … niemals wird es genug sein!« Doch sah er in den ersten Rang oder ins Parkett irgendeine bekannte Persönlichkeit eintreten, wurde ihm leichter ums Herz; er sagte sich: »Den werden sie nicht zurückzuschicken wagen. Für ihn werden sie sicher spielen.« Aber er war nicht ganz überzeugt davon und er fing erst an, sich sicher zu fühlen, wenn die Musiker ihre Plätze einnahmen. Dann fürchtete er noch bis zum letzten Augenblick, daß man beim Heben des Vorhangs, wie es eines Abends geschehen war, eine Änderung der Vorstellung verkünden würde. Er schaute mit seinen kleinen Luchsaugen auf das Pult des Kontrabassisten, um zu sehen, ob der auf dem Heft vermerkte Titel der des erwarteten Stückes sei. Und hatte er es auch genau gesehen, so blickte er zwei Minuten später doch von neuem hin, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht getäuscht habe. – Der Dirigent war noch nicht erschienen. Gewiß war er krank. – Man bewegte sich hinterm Vorhang, Stimmenlärm und eilige Schritte ließen sich hören. Das mußte ein Unfall sein, ein unvorhergesehenes Unglück! – Doch es trat wieder Stille ein. Der Dirigent stand an seinem Platze. Alles schien endlich bereit. – Man fing nicht an! Aber was ging denn nur vor? – Er kochte vor Ungeduld. – Endlich erklang das Zeichen. Sein Herz klopfte. Das Orchester setzte zum Vorspiel ein; und während einiger Stunden schwamm Christof in Glückseligkeit, die einzig durch den Gedanken, daß sie gleich wieder zu Ende sein werde, getrübt wurde.

 

Einige Zeit darauf wurden Christofs Gedanken durch ein musikalisches Ereignis noch mehr in Erregung versetzt. Franz Maria Haßler, der Komponist der ersten Oper, die ihn so tief erschüttert hatte, sollte kommen. Er hatte ein Konzert, in dem man seine Werke aufführte, zu dirigieren. Die Stadt war in Bewegung. Der junge Meister wurde in Deutschland heftig umstritten; und während vierzehn Tagen drehten sich alle Unterhaltungen um ihn. Ganz anders wurde es, als er endlich angekommen war. Melchiors und des alten Hans Michels Freunde kamen beständig, um etwas über ihn zu erfahren; sie trugen sich übertriebene Berichte über seine Musikergewohnheiten und seine Exzentrizitäten zu. Der Knabe folgte diesen Erzählungen mit leidenschaftlicher Anteilnahme. Der Gedanke, daß der große Mann sich da in seiner Vaterstadt befinde, daß er dieselbe Luft mit ihm atme, dasselbe Pflaster trete, versetzte ihn in einen Zustand stummer Erregung. Er lebte nur noch von der Hoffnung, ihn zu sehen.

Haßler war im Schloß abgestiegen, wo der Großherzog ihm Gastfreundschaft gewährte. Der Meister ging kaum zu anderem Zwecke aus, als um im Theater die Proben zu leiten, zu denen Christof nicht zugelassen war. Und da er sehr bequem war, fuhr er stets im Wagen des Fürsten. Christof hatte also wenige Gelegenheiten, ihn zu sehen. Es gelang ihm nur ein einziges Mal, bei der Vorbeifahrt in der Tiefe des Wagens seinen Pelz zu entdecken, obgleich er Stunden damit verloren hatte, ihn auf der Straße zu erwarten, und mit Füßen und Händen nach rechts und links, nach vorn und hinten tüchtige Püffe ausgeteilt hatte, um seinen Platz in der ersten Reihe der Gaffer zu erobern und zu behaupten. Er tröstete sich damit, halbe Tage lang die Schloßfenster zu belauern, die man ihm als die des Meisters bezeichnet hatte. Gewöhnlich sah er nur die Vorhänge; denn Haßler stand spät auf und die Fenster blieben fast den ganzen Morgen über geschlossen. So kam es auch, daß gut unterrichtete Leute behaupteten, Haßler könne das Tageslicht nicht vertragen und er lebe in beständiger Nacht.

Endlich war es Christof vergönnt, sich seinem Helden zu nähern. Es war am Tage des Konzertes. Die ganze Stadt war anwesend. Der Großherzog und der Hof saßen in der fürstlichen Loge, über der zwei pausbäckige, rundbeinige Putten eine Krone in die Lüfte schwangen. Das Theater stand unterm Zeichen der Galavorstellung. Die Bühne war mit Eichenzweigen und blühendem Lorbeer geschmückt. Alle Musiker von einiger Bedeutung hatten es sich zur Ehre gerechnet, ihre Stimme im Orchester zu halten. Melchior war an seinem Platz, und Hans Michel dirigierte die Chöre.

Bei Haßlers Erscheinen rauschte von allen Seiten der Beifall empor. Die Damen erhoben sich, um ihn besser sehen zu können. Christof verschlang ihn mit den Augen. Haßler hatte ein junges feines Gesicht, wenn es auch schon etwas aufgeschwemmt und verbraucht aussah. Die Schläfen waren kahl; und zwischen den blonden lockigen Haaren zeigte sich bereits eine frühzeitige Glatze. Seine blauen Augen hatten einen unbestimmten Blick. Er trug einen kleinen blonden Schnurrbart und sein ausdrucksvoller, von tausend unmerklichen Bewegungen umzuckter Mund blieb selten in Ruhe. Er war groß und hielt sich schlecht, nicht aus Befangenheit, sondern aus Müdigkeit oder Überdruß. Er dirigierte mit kapriziöser Geschmeidigkeit, mit seinem ganzen langen, schlottrigen Körper, der wie seine Musik in wechselweise schmeichelnden und harten Bewegungen auf und ab wellte. Man sah, daß er unglaublich nervös war, und seine Musik war sein getreues Spiegelbild. Dies bebende und gewaltsame Leben drang tief in die gewöhnliche Schläfrigkeit des Orchesters. Christof atmete schwer. Trotz seiner Furcht, die Blicke auf sich zu lenken, war es ihm nicht möglich, still auf seinem Platz sitzen zu bleiben. Er bewegte sich hin und her, stand auf, und die Musik verursachte ihm so heftige und unerwartete Erschütterungen, daß er sich gezwungen fühlte, mit Kopf, Armen und Beinen zu arbeiten, zum großen Schrecken seiner Nachbarn, die sich, so gut sie's konnten, vor seinen Ausfällen schützten. Übrigens war das ganze Publikum in Begeisterung, vielleicht mehr noch durch den Erfolg mitgerissen als durch die Werke selbst. Zuletzt brach ein Sturm von Applaus und Jubelgeschrei los, in den die Trompeten des Orchesters ihr Triumphgetöse mischten, um den Sieger zu grüßen. Christof bebte vor Stolz, als gälten alle diese Ehren ihm. Er freute sich mit, als er Haßlers Gesicht in kindlicher Zufriedenheit aufleuchten sah. Die Damen warfen Blumen, die Männer klatschten, ohne aufhören zu wollen, und das ganze Publikum stürzte gegen die Rampe vor. Jeder wollte dem Meister die Hand drücken. Christof sah, wie eine der Verehrerinnen diese Hand an ihre Lippen führte und eine andere Haßlers Taschentuch, das er auf der Pultecke hatte liegen lassen, raubte. Auch er wollte gern bis zur Rampe vordringen, wenn er auch nicht recht wußte, warum; denn hätte er sich in diesem Augenblick vor Haßler gefunden, wäre er gleich vor Furcht und Erregung davongelaufen. Aber wie ein Widder stieß er wild mit dem Kopf in alle Kleider und Beine, die ihn von Haßler trennten. Er war jedoch zu klein. Er kam nicht vorwärts.

Glücklicherweise holte ihn Großvater beim Ausgang ab, um ihn zu einem Ständchen mitzunehmen, das man Haßler brachte. Es war Nacht, und man hatte Pechfackeln angezündet. Alle Orchestermitglieder waren anwesend. Man unterhielt sich über nichts anderes als über die herrlichen Werke, die man soeben gehört hatte. Vor dem Schloß angekommen, stellte man sich geräuschlos unter den Fenstern des Künstlers auf. Man tat höchst geheimnisvoll, obgleich jedermann, Haßler so gut wie die andern, Bescheid wußte, was geschehen sollte. In der schönen Nachtstille begann man einige berühmte Weisen von Haßler zu spielen. Er erschien mit dem Fürsten am Fenster, und man brüllte zu ihrer Ehre ein Hoch. Beide grüßten. Ein Diener kam, im Auftrag des Großherzogs, um die Musiker ins Palais zu laden. Sie durchschritten Säle voller Wandgemälde, die nackte Männer mit Sturmhauben darstellten: sie waren von rotbrauner Farbe und vollführten herausfordernde Gebärden. Der Himmel war mit dicken Wolken, die wie Schwämme aussahen, bedeckt. Es standen auch marmorne Frauen und Männer umher, die mit blechernen Schürzen bekleidet waren. Man schritt über so weiche Teppiche, daß man seine Schritte nicht hörte, und schließlich kam man in einen Saal, der taghell erleuchtet war und wo Tische mit Getränken und herrlichen Speisen beladen standen.

Dort war der Großherzog. Aber Christof sah ihn nicht: er hatte nur für Haßler Augen. Haßler kam auf sie zu und dankte allen. Er suchte nach Worten, verwickelte sich in seinem Satz und zog sich schließlich mit einem witzigen Einfall, den er hervorsprudelte und der alle Welt zum Lachen brachte, aus der Situation. Man setzte sich zu Tisch. Haßler nahm vier oder fünf Musiker auf die Seite. Er zeichnete Großvater aus und sagte ihm ein paar sehr schmeichelhafte Worte. Er erinnerte sich, daß Hans Michel einer der ersten gewesen war, die seine Werke aufgeführt hatten. Und er sagte, er habe oft durch einen Freund, der ein Schüler des Großvaters gewesen sei, von seinen Verdiensten sprechen hören. Großvater erging sich in Dankesbezeugungen. Er gab die freundlichen Worte durch so übertriebene Lobeserhebungen zurück, daß sich Christof, trotz seiner Bewunderung für Haßler, schämte. Haßler selbst jedoch schien sie sehr angenehm und natürlich zu finden. Schließlich zog Großvater, der sich ganz in sein Geschwätz verloren hatte, Christof an der Hand herbei und stellte ihn Haßler vor. Haßler lächelte Christof zu und streichelte ihm nachlässig den Kopf. Als er erfuhr, daß er seine Musik liebe und in der Erwartung, ihn zu sehen, schon mehrere Nächte nicht geschlafen habe, nahm er ihn in die Arme und fragte ihn freundschaftlich aus. Rot vor Vergnügen und in seiner Erregtheit stumm, getraute Christof sich nicht, ihn anzuschauen. Haßler faßte ihn beim Kinn und zwang ihn, das Näschen zu erheben. Christof schöpfte Mut: Haßlers Augen waren gut und schalkhaft; da begann auch er zu lächeln. Dann kam ihm sein Glück zum Bewußtsein, das wunderbare Glück, in den Armen seines geliebten, großen Mannes zu sein, und er brach in Tränen aus. Haßler wurde durch diese kindliche Liebe gerührt; er wurde noch herzlicher, küßte den Kleinen und sprach in mütterlicher Zärtlichkeit zu ihm. Gleichzeitig brauchte er drollige Worte und kitzelte ihn, um ihn zum Lachen zu bringen, so daß Christof nicht umhin konnte, noch unter Tränen zu lachen. Bald wurde er ganz und gar vertraut und antwortete Haßler ohne jede Befangenheit. Er fing von selbst an, ihm alle seine kleinen Pläne ins Ohr zu flüstern, als wären Haßler und er alte Freunde. Er erzählte, daß er wie Haßler Musiker werden, wie Haßler schöne Sachen schaffen und ein großer Mann werden wolle. Er, der sich immer schämte, sprach voller Vertrauen in einer Art Ekstase und wußte nicht, was er sagte. Haßler lachte über seine Plauderei. Er sagte:

»Wenn du groß und ein tüchtiger Musiker geworden bist, wirst du mich in Berlin besuchen. Ich werde irgend etwas für dich tun.«

Christof konnte vor Entzücken nicht antworten. Haßler neckte ihn:

»Du magst nicht?«

Christof nickte zur Bestätigung des Gegenteils fünf- oder sechsmal sehr energisch mit dem Kopf.

»Also, es ist abgemacht?«

Christof begann von neuem zu nicken.

»Dann küsse mich doch wenigstens!«

Christof warf seine Arme um Haßlers Hals und preßte ihn mit allen Kräften an sich.

»Holla, du kleiner Teufel, du machst mich ja ganz naß! Laß mich! Wirst du dir wohl die Nase putzen!«

Haßler lachte, nahm selbst das Taschentuch und säuberte das beschämte und beglückte Kind. Er setzte es zur Erde, führte es an einen Tisch, stopfte die Taschen mit Süßigkeiten voll und entließ es, indem er nochmals sagte:

»Auf Wiedersehen! Denke daran, was du mir versprochen hast.«

Christof schwamm in Wonne. Die übrige Welt existierte für ihn nicht mehr. Er erinnerte sich später an nichts anderes, was an dem Abend vorgegangen war. Voller Liebe verfolgte er jedes Mienenspiel und jede Gebärde Haßlers. Ein Wort von ihm aber traf ihn tief. Haßler hatte ein Glas erhoben; sein Gesicht war plötzlich verzerrt und er sagte:

»Die Freude solcher Tage darf uns unsre Feinde nicht vergessen lassen. Niemals soll man seine Feinde vergessen. Ihnen haben wir's nicht zu verdanken, wenn wir nicht zerschmettert wurden. Uns werden sie's nicht zu verdanken haben, wenn sie nicht zerschmettert werden. Darum gelte mein Glas der Erinnerung an die Leute, auf deren Wohl … wir nicht trinken!«

Alle Welt hatte geklatscht und über den originellen Toast gelacht. Haßler lachte mit den andern und zeigte wieder sein gutgelauntes Gesicht. Doch Christof war peinlich berührt. Obgleich er sich nicht erlaubte, die Handlungen seines Helden zu begutachten, mißfiel ihm, daß er an diesem Abend, der nur leuchtende Gedanken und Gesichter zeigen sollte, an häßliche Dinge dachte. Aber er gab sich von dem, was er fühlte, nicht deutlich Rechenschaft; und dieser Eindruck wurde bald durch seinen Freudenrausch und den kleinen Schluck Champagner, den er aus Großvaters Glase trank, verjagt.

Auf dem Heimweg hörte Großvater nicht auf, ganz allein zu reden: Haßlers Schmeicheleien brachten ihn außer Rand und Band! Er schwor, daß Haßler ein Genie sei, wie man alle hundert Jahre nur eines sähe. Christof schwieg und verschloß seine trunkene Liebe in seinem Herzen. Er hatte ihn geküßt, Er hatte ihn in den Armen gehalten. Wie gut Er war! Wie groß!

Ach! dachte er in seinem kleinen Bett und umarmte leidenschaftlich sein Kopfkissen, ich möchte sterben, sterben für ihn!

 

Der strahlende Komet, der für einen Abend am Himmel der kleinen Stadt aufgetaucht und wieder verschwunden war, übte auf Christofs Geist einen entscheidenden Einfluß aus. Während seiner ganzen Kindheit war Haßler das lebendige Vorbild, auf das er die Augen gerichtet hielt. Auf sein Beispiel hin entschied der kleine sechsjährige Mann, daß auch er Musik schreiben wolle. In Wahrheit tat er es, ohne daß er's ahnte, schon seit langem; er hatte mit dem Komponieren nicht so lange gewartet, bis er wußte, daß er komponiere.

Für ein Musikerherz ist alles Musik. Alles was schwingt, was sich bewegt, was wogt, durchsonnte Sommertage, winddurchheulte Nächte, rinnendes Licht und Sterngeflimmer, geliebte oder verhaßte Stimmen, vertraute Geräusche des Heims, die quietschende Tür, das Blut, das während nächtlicher Stille die Adern anschwellt, – alles Sein ist Musik: man muß sie nur vernehmen können. Diese ganze Musik der Wesen fand in Christof ihren Widerhall. Alles, was er sah, alles, was er fühlte, verwandelte sich ihm, ohne daß er's wußte, in Musik. Es war wie ein summender Bienenschwarm. Niemand aber merkte es. Er weniger als irgend jemand.

Wie alle Kinder summte er beständig vor sich hin. Zu jeder Tageszeit, was er auch immer tat; – ob er auf der Straße umherspazierte und auf einem Bein hüpfte; – ob er auf Großvaters Dielen auf dem Bauch lag und, den Kopf in den Händen, in die Bilder eines Buches vertieft war; – oder ob er im dunkelsten Küchenwinkel auf seinem kleinen Stuhl saß und, ohne etwas zu denken, bei sinkender Nacht vor sich hinträumte, – immer hörte man das gleichförmige Gesumm seiner kleinen Stimme, die mit geschlossenem Munde und geblähten Backen oder mit prustenden Lippen arbeitete. Stundenlang dauerte das, ohne daß er dessen müde wurde. Seine Mutter achtete nicht darauf; dann plötzlich schrie sie ihn deswegen an. War er dieses Zustandes halber Schlafbefangenheit überdrüssig, so überkam ihn das Bedürfnis, sich zu bewegen und Lärm zu machen. Dann sang er seine Musik aus voller Kehle. Für sämtliche Gelegenheiten im Leben hatte er sich welche fabriziert. Er hatte eine für den Morgen, wenn er wie eine kleine Ente in seiner Waschschale planschte, und eine, um auf den Klaviersessel vor dem verhaßten Instrument zu klettern, – und vor allem eine zum Hinuntersteigen: diese war viel glanzvoller als die erstere. – Trug Mutter die Suppe auf den Tisch, so kündigte er sie mit Fanfarenklang an. Er spielte sich Triumphmärsche vor, um sich aus dem Eßzimmer feierlich ins Schlafzimmer zu begeben. Manchmal veranstaltete er bei dieser Gelegenheit mit seinen beiden Brüdern einen großartigen Zug: alle drei stolzierten ernsthaft einer hinter dem andern her; und jeder hatte seinen eigenen Marsch. Aber Christof behielt gerechterweise den schönsten für sich. Jede dieser Weisen war unabänderlich einer bestimmten Gelegenheit zugeeignet und Christof wäre nie auf den Gedanken gekommen, sie zu verwechseln. Jeder andere hätte sich getäuscht; er aber unterschied die Nuancen mit klarster Deutlichkeit.

Eines Tages, bei Großvater, rannte er, mit zurückgeworfenem Kopf und vorgestrecktem Bauch, unter lautem Trampeln rings um das Zimmer, immer und immer wieder in der Runde, daß einem schlecht werden konnte, und führte dabei eine seiner Kompositionen auf. Der Alte rasierte sich gerade; er hielt inne, und das Gesicht ganz eingeseift, wendete er sich zu ihm und sagte: »Was singst du denn da, Kerlchen?«

Christof antwortete, daß er es nicht wüßte.

»So fang noch mal an!« meinte Hans Michel.

Christof versuchte es; aber er konnte die Weise nicht wiederfinden. Stolz auf Großvaters Aufmerken, wollte er seine schöne Stimme bewundern lassen und sang eine große Opernarie auf seine Art; aber danach fragte der Alte nicht. Hans Michel schwieg darum und schien sich nicht mehr um ihn zu kümmern. Aber er ließ die Tür seines Zimmers halb offen, indessen der Kleine sich nebenan allein vergnügte.

Einige Tage später war Christof dabei, mit Stühlen, die er in der Runde um sich aufgestellt hatte, ein musikalisches Schauspiel aufzuführen, das er sich aus Bruchstücken von Theatererinnerungen zusammengestellt hatte. Mit tiefem Ernst vollführte er zu einer Menuettmelodie Schritte und Verbeugungen, die er an das über dem Tisch hängende Beethovenporträt richtete. Als er sich gerade in einer Pirouette drehte, sah er durch die Türspalte Großvaters Gesicht, das ihn anschaute. Er dachte, der Alte wolle ihn verspotten: er schämte sich sehr, hörte sofort auf, lief ans Fenster und preßte das Gesicht an die Scheiben, als sei er in eine höchst interessante Betrachtung vertieft. Aber der Alte sagte nichts: er kam auf ihn zu und küßte ihn. Christof sah wohl, daß er zufrieden war, und seine kleine Eigenliebe war eifrig dabei, diese Erfahrung zu bedenken: er war klug genug, um zu merken, daß sein Tun Anklang gefunden hatte: aber er wußte nicht genau, ob Großvater in ihm mehr das Talent zum Dramatiker, zum Musiker, Sänger oder Tänzer bewundert habe. Er neigte dazu, das letztere anzunehmen; denn er selbst hielt große Stücke darauf.

Eine Woche später, als er alles vergessen hatte, sagte Großvater mit geheimnisvoller Miene zu ihm, daß er ihm etwas zeigen wolle. Er öffnete sein Schreibpult, zog ein Notenheft heraus, stellte es auf das Klavier und forderte das Kind auf, daraus zu spielen.

Christof war sehr neugierig geworden und entzifferte, so gut er konnte. Das Heft war mit der Hand und in den dicken Schriftzügen des Alten geschrieben, der sich bei dieser Gelegenheit ganz besondere Mühe gegeben hatte. Die Kopfleisten waren mit Schnörkeln und Verzierungen geschmückt. Nach einigen Augenblicken fragte Großvater, der neben Christof saß und ihm die Seiten umwandte, von wem diese Musik wohl wäre. Christof, der zu sehr in sein Spiel vertieft war, um unterscheiden zu können, was er spielte, antwortete, daß er das nicht wisse.

»Gib acht! Du kennst das nicht?«

– Ja, er glaubte es wohl wieder zu erkennen; aber er wüßte nicht, wo er es gehört habe.

Großvater lachte:

»Denke nach.«

Christof schüttelte den Kopf.

In Wahrheit huschte ihm wohl ein Schimmer durch den Kopf; ihm schien, als ob diese Melodien … Doch nein! Dem traute er nicht … Er wollte es nicht wiedererkennen:

»Großvater, ich weiß es nicht.«

Er war rot geworden.

»Aber geh, kleiner Dummkopf, du merkst nicht, daß das deine Melodien sind?«

Er war davon schon überzeugt; aber es auszusprechen zu hören, machte ihn doch betroffen:

»Oh! Großvater! …«

Der Alte erklärte ihm strahlend das Heft.

»Sieh: Arie. Die hast du Dienstag gesungen, als du dich auf der Erde wälztest. – Marsch. Das ist der, den ich dich vorige Woche wieder anzufangen bat, und den du gar nicht mehr zusammenbringen konntest. – Menuett. Das hast du vor meinem Sessel getanzt … Schau her.«

Auf dem Deckel stand in wundervoller Rundschrift geschrieben:

»Die Freuden früher Jugend: Aria, Minuetto, Walzer e Marcia, op. 1 von Johann Christof Krafft.«

Christof war geblendet. Dort seinen Namen zu sehen, den schönen Titel, das große Heft, sein Werk! … Er stammelte in einem fort:

»Großvater! Großvater! …«

Der Alte zog ihn an sich. Christof warf sich ihm auf die Knie und barg den Kopf an Hans Michels Brust. Er war rot vor Glück. Der Alte, der fast noch glücklicher als er war, versuchte einen gleichgültigen Ton anzuschlagen – aus Angst, sonst gerührt zu werden – indem er sagte:

»Natürlich habe ich die Begleitung dazu gemacht und die Harmonien im Charakter der Melodie. Und dann … (er hustete) – und dann habe ich dem Menuett auch ein Trio hinzugefügt, weil … weil man das so macht …, und dann … schließlich, ich meine, es nimmt sich nicht übel aus.«

Er spielte es. – Christof war sehr stolz darauf, mit Großvater zusammen zu arbeiten.

»Aber Großvater, dann mußt du auch deinen Namen darübersetzen.«

»Das lohnt sich nicht. Es ist nicht nötig, daß andere als du es wissen. Nur … (hier zitterte seine Stimme) – nur später, wenn ich nicht mehr sein werde, dann wird dich das an deinen alten Großvater erinnern, nicht wahr? Du wirst es nicht vergessen?«

Der arme Alte sagte nicht, daß er dem unschuldigen Vergnügen nicht hatte widerstehen können, eine seiner unglücklichen Melodien in seines Enkels Werk einzufügen, von dem er ahnte, daß es ihn überleben müsse; aber sein Wunsch, an diesem erträumten Ruhm teilzuhaben, war recht bescheiden und recht rührend, genügte es ihm doch, einen Bruchteil seines Denkens anonym weiterzugeben, um nur nicht ganz zu sterben. – Christof war sehr bewegt und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Der Alte, der sich immer weicher stimmen ließ, küßte ihn aufs Haar.

»Nicht wahr, du wirst daran zurückdenken? Später, wenn du ein guter Musiker geworden bist, ein großer Künstler, der seiner Familie, seiner Kunst, seinem Vaterlande Ehre macht, wenn du berühmt bist, dann wirst du daran denken, daß es dein Großvater war, der das alles zuerst in dir geahnt hat, der dir prophezeite, daß du's werden würdest?«

Die Tränen traten ihm in die Augen, als er sich so sprechen hörte. Er wollte solche Zeichen von Schwäche nicht sehen lassen. Er bekam einen Hustenanfall, setzte eine mürrische Miene auf, schickte den Kleinen heim und schloß das Manuskript sorgfältig weg.

 

Christof ging ganz betäubt vor Freude nach Hause. Die Steine tanzten um ihn. Der Empfang, den ihm die Seinen bereiteten, ernüchterte ihn ein wenig. Als er ihnen natürlich sofort und ganz verklärt von seiner musikalischen Heldentat erzählte, erhoben sie ein Zetergeschrei. Seine Mutter machte sich über ihn lustig. Melchior erklärte, der Alte sei verrückt geworden und täte besser daran, für sich selbst zu sorgen, als dem Kleinen den Kopf zu verdrehen. Christof dagegen solle so freundlich sein, sich nicht um diese Albernheiten zu kümmern, sondern sich a tempo ans Klavier setzen und vier Stunden Fingerübungen machen. Er möge nur erst versuchen, sauber spielen zu lernen: zum Komponieren wäre es später immer noch Zeit genug, wenn er nichts Besseres zu tun hätte.

Melchior war jedoch in diesen vernünftigen Worten – wie man es vielleicht hätte glauben können – durchaus nicht besorgt, das Kind vor dem gefährlichen Überschwang einer verfrühten Eitelkeit zu bewahren. Er sollte sehr bald gerade das Gegenteil beweisen. Aber da er selbst nie den geringsten Gedanken in Musik auszudrücken gehabt, noch je das Bedürfnis danach verspürt hatte, war er in seiner törichten Virtuoseneingenommenheit so weit gekommen, das Komponieren überhaupt als eine Kunst zweiter Ordnung anzusehen, welcher der Ausführende eigentlich erst Wert verlieh. Er war allerdings gegen die starke Begeisterung, die große Komponisten wie Haßler hervorriefen, nicht unempfindlich; er hatte vor solchen Triumphen wie vor jedem Erfolg allen Respekt, der stets mit etwas heimlicher Eifersucht vermischt war, denn ihm schien, als würden solche Beifallsbezeugungen ihm persönlich geraubt. Doch er wußte aus Erfahrung, daß die Erfolge großer Virtuosen nicht weniger geräuschvoll und sogar in ihren angenehmen und schmeichelhaften Folgen noch persönlicher und einträglicher waren. Er tat, als hege er für die Meister alle Hochachtung; aber es machte ihm großes Vergnügen, lächerliche Anekdoten über sie zu erzählen, die von ihrem Geist und ihren Gewohnheiten ein trauriges Bild gaben. Den Virtuosen stellte er an die Spitze der künstlerischen Stufenleiter; denn, so sagte er, es ist allgemein bekannt, daß die Zunge der edelste Körperteil ist; und was wäre der Gedanke ohne das Wort? was wäre die Musik ohne den Vortragenden? Was auch immer der Grund für die Predigt, die er Christof hielt, sein mochte, diese Ermahnung trug doch dazu bei, dem Kleinen seine gesunde Selbsteinschätzung wiederzugeben, die des Großvaters Lobeserhebungen ihn sehr leicht hätten verlieren lassen können. Ja, jene Schelte genügte nicht einmal ganz. Christof konnte sehr gut beurteilen, daß sein Großvater bedeutend klüger als sein Vater war, und wenn er sich, ohne zu murren, ans Klavier setzte, war es viel weniger, um gehorsam zu sein, als um nach seinem Belieben träumen zu können, wie er es gewöhnlich tat, während seine Finger mechanisch über die Tasten liefen. Mitten durch seine endlosen Übungen hörte er immer wieder eine hochmütige Stimme in sich: »Ich bin ein Komponist, ein großer Komponist.«

Da er nun einmal ein Komponist war, fing er von diesem Tage an, zu komponieren. Ehe er noch Buchstaben ordentlich schreiben konnte, strengte er alle Kräfte an, um Viertel- und Achtelnoten auf Papierfetzen zu kritzeln, die er aus dem Wirtschaftsbuch herausriß. Aber bei der Mühe, die er sich gab, um zu wissen, was er dachte, und es schriftlich festzulegen, kam er bald dazu, gar nichts mehr zu denken, höchstens, daß er etwas denken wolle. Er versteifte sich ordentlich darauf, musikalische Phrasen zusammenzubasteln; und da er von Natur aus musikalisch war, gelang es ihm, so gut es eben ging, wenn sie auch nichts bedeuteten. Dann brachte er das Vollendete triumphierend dem Großvater, der darüber Freudentränen vergoß – er weinte jetzt, da er alterte, sehr leicht – und der ihm verkündete, daß es herrlich sei.

Das hätte ihn nun ganz und gar verderben können. Glücklicherweise rettete ihn sein natürlicher Menschenverstand, unterstützt von dem Einfluß eines Mannes, der dabei durchaus nicht beanspruchte, irgendeinen Einfluß, auf wen es auch sei, auszuüben, und der den Augen der Welt nichts weniger als das Beispiel gesunden Menschenverstandes gab. – Es war Luisens Bruder.

Er war wie sie klein, mager, dürftig und ein wenig gebeugt. Man wußte nicht genau, wie alt er war; er konnte die vierzig nicht überschritten haben; aber man hätte ihm gut fünfzig Jahre oder noch mehr geben können. Er hatte ein kleines runzliges, rosiges Gesicht, mit guten, sehr blaßblauen Augen, wie ein wenig verwelkte Vergißmeinnicht. Wenn er seine Mütze, die er aus Angst vor Zug überall aufbehielt, einmal abnahm, zeigte er einen kleinen ganz nackten rosigen Schädel in Kegelform, der das Vergnügen Christofs und seiner Brüder bildete. Sie wurden es nicht überdrüssig, ihn deswegen zu necken, ihn zu fragen, was er mit seinen Haaren gemacht habe, und ihm, ermutigt durch Melchiors plumpe Späße, mit der Rute zu drohen; er belachte das als erster und ließ alles geduldig über sich ergehen. Er war ein herumziehender kleiner Händler, der von Dorf zu Dorf ging und auf seinem Rücken einen großen Pack trug, in dem er von allem etwas hatte: Spezereien, Papierwaren, Süßigkeiten, Taschentücher, Halstücher, Schuhzeug, Konservenbüchsen, Kalender, Lieder und Arzeneien. Mehrmals hatte man versucht, ihn irgendwo seßhaft zu machen, ihm einen kleinen Vorrat, einen Kramladen, eine Kurzwarenhandlung zu kaufen. Aber er konnte sich nicht daran gewöhnen: eines Nachts stand er auf, legte den Schlüssel unter die Tür und zog mit seinem Pack wieder davon. Wochen und Monate bekam man ihn nicht zu sehen. Dann erschien er wieder: eines Abends hörte man am Eingang scharren; die Tür öffnete sich halb und der kleine kahle, höflich entblößte Kopf mit seinen guten Augen und seinem schüchternen Lächeln zeigte sich. Er sagte: »Guten Abend der ganzen Gesellschaft,« säuberte sorgfältig seine Schuhe, bevor er eintrat, begrüßte jeden, indem er beim Ältesten anfing, und ließ sich im bescheidensten Winkel des Zimmers nieder. Da zündete er seine Pfeife an, beugte den Rücken und wartete geduldig ab, bis der gewohnte Hagel von faulen Witzen vorüber war. Die beiden Kraffts, Großvater und Vater, hegten für ihn eine spöttische Verachtung. Dieser krumme Zwerg schien ihnen lächerlich; und ihr Stolz fühlte sich durch den niederen Stand eines herumziehenden Händlers verletzt. Sie ließen ihn das fühlen; aber er schien es nicht zu bemerken und bezeigte ihnen einen tiefen Respekt, der sie entwaffnete, besonders den Alten, welcher für jede Rücksicht, die man auf ihn nahm, sehr empfänglich war. So gaben sie sich damit zufrieden, ihn mit plumpen Späßen zu ducken, die oft die Röte in Luisens Gesicht jagten. Sie, die daran gewöhnt war, sich ohne Widerrede vor der geistigen Überlegenheit der beiden Kraffts zu beugen, zweifelte nicht daran, daß sie mit ihrem Urteil recht hätten; aber sie liebte ihren Bruder zärtlich, und dieser hegte für sie eine stumme Verehrung. Sie waren die einzigen ihrer Familie und alle beide demütig, vom Leben an die Wand gedrückt und vergessen; ein Band stummen Mitleids und gemeinsamer, im geheimen getragener Leiden einte sie in wehmütiger Innigkeit. Inmitten der robusten, lärmenden, brutalen Kraffts, die fürs Leben und für ein fröhliches Leben fest und derb geschaffen waren, verstanden und bemitleideten, ohne es sich doch jemals gegenseitig zu gestehen, diese beiden guten, schwachen Wesen einander, die sozusagen aus dem Rahmen geraten waren, und außerhalb oder neben dem Leben standen.

Christof hatte im grausamen Leichtsinn der Kindheit von vornherein die Geringschätzung seines Vaters und seines Großvaters für den kleinen Händler geteilt. Er ergötzte sich an ihm wie an einem komischen Gegenstand; er quälte ihn mit dummen Neckereien, die der andere mit seiner unzerstörbaren Ruhe ertrug. Dennoch liebte ihn Christof, ohne sich darüber genaue Rechenschaft zu geben. Zunächst liebte er ihn wie ein gefügiges Spielzeug, mit dem man macht, was man will. Auch liebte er ihn, weil er immer irgend etwas Gutes von ihm erwarten durfte: eine Leckerei, ein Bild, eine amüsante Erfindung. Des kleinen Mannes Rückkehr war für die Kinder jedesmal eine Freude; denn er bereitete ihnen stets eine Überraschung. So arm er auch war, fand er doch stets ein Mittel, jedem ein kleines Andenken mitzubringen; und keinen Geburtstag in der Familie vergaß er. Man sah ihn pünktlich zu den feierlichen Tagen erscheinen, und dann zog er irgendein hübsches, mit Liebe ausgewähltes Geschenk aus der Tasche. Man war daran so gewöhnt, daß man kaum mehr daran dachte, ihm zu danken: jedem war es so natürlich, und er schien durch die Freude, die er bereitete, genügend belohnt. Christof jedoch, der nicht besonders gut schlief und nachts die Tagesereignisse in seinem, Hirn wälzte, fand manchmal, daß sein Onkel doch sehr gut sei; und es überkam ihn eine aufströmende Dankbarkeit, von der er aber bei nächster Gelegenheit doch nichts merken ließ, weil er dann nur noch daran dachte, sich über ihn lustig zu machen. Übrigens war er noch zu klein, um den ganzen Wert der Güte einschätzen zu können: in der Kindersprache sind gut und dumm fast gleichbedeutend, und Onkel Gottfried schien dafür der lebende Beweis.

Eines Abends, als Melchior in der Stadt zu Abend aß und Luise die beiden Kleinen zu Bett brachte, ging Gottfried aus, um sich einige Schritte vom Haus entfernt an das Flußufer zu setzen. Christof folgte ihm aus Langeweile, und wie gewöhnlich setzte er ihm wie ein junger Hund mit seinen Albernheiten zu, bis er außer Atem kam und sich ins Gras zu seinen Füßen rollen ließ. Er legte sich auf den Bauch und steckte die Nase in den Rasen. Als er wieder Luft geschöpft hatte, suchte er nach einer neuen Dummheit. Nachdem er sie gefunden hatte, schrie er sie, sich vor Lachen krümmend, heraus, während er das Gesicht noch immer auf dem Boden vergraben hielt. Nichts antwortete ihm. Von dieser Stille erstaunt, hob er den Kopf und schickte sich an, seinen Witz zu wiederholen. Da traf sein Blick Gottfrieds Antlitz, das vom letzten Schimmer des in goldnen Nebeln versinkenden Tages verklärt war, und das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Gottfried lächelte mit halbgeschlossenen Augen und leicht geöffnetem Munde; und sein leidvolles Gesicht war unsagbar wehmütig und ernst. Christof stützte sich auf seine Ellbogen und fing an, ihn zu beobachten. Die Nacht kam. Gottfrieds Antlitz erlosch nach und nach. Ringsum herrschte Schweigen. Und nun wurde Christof seinerseits von den geheimnisvollen Eindrücken ergriffen, die sich auf Gottfrieds Gesicht gespiegelt hatten. Er versank in eine unklare Traumbefangenheit. Die Erde lag im Dunkel, und der Himmel war licht: die Sterne tauchten auf. Die kleinen Wellen des Stromes plätscherten ans Ufer. Der Knabe fühlte sich erschlaffen. Ohne es zu wissen, kaute er an kleinen Grashalmen. Ein Heimchen zirpte an seiner Seite; ihm war, als schliefe er ein. – Plötzlich begann Gottfried in der Dunkelheit zu singen. Er sang mit schwacher, verschleierter, gleichsam innerlicher Stimme; zwanzig Schritte entfernt hätte man sie nicht mehr hören können. Aber es lag eine rührende Wahrhaftigkeit in ihr; es war, als denke er laut und als könne man durch diese Musik hindurch wie durch klares Wasser auf dem Grund seines Herzens lesen. Niemals hatte Christof so singen gehört; und niemals hatte er ein ähnliches Lied vernommen. Langsam, schlicht, kindlich ging sein ernster Schritt – traurig und ein wenig eintönig, ohne sich jemals zu beeilen, – dann kamen lange Pausen, – und es machte sich von neuem, unbekümmert ob es ans Ziel gelangen würde, auf den Weg und verlor sich in der Nacht. Es schien von weit her zu kommen und wer weiß wohin zu gehen. Sein stiller Ernst war voll geheimer Unruhe; und unter seinem scheinbaren Frieden schlummerte eine uralte Bangigkeit. Christof atmete kaum, er wagte sich nicht zu regen, und ihm war ganz kalt vor Ergriffenheit. Als es zu Ende war, rutschte er zu Gottfried und fragte aus gepreßter Kehle:

»Onkel! …«

Gottfried antwortete nicht.

»Onkel!« wiederholte das Kind und legte Hände und Kinn auf Gottfrieds Knie.

Die herzliche Stimme Gottfrieds sagte:

»Mein Kleiner …«

»Was ist das, Onkel? Sag mir! Was hast du da gesungen?«

»Ich weiß nicht.«

»Sag doch, was es ist!«

»Ich weiß nicht. Es ist ein Lied.«

»Ist es ein Lied von dir?«

»Nein, nicht von mir! Bewahre! … Es ist ein altes Lied.«

»Wer hat es gemacht?«

»Das weiß man nicht …«

»Wann?«

»Das weiß man nicht …«

»Als du klein warst?«

»Bevor ich auf der Welt war, bevor mein Vater war und der Vater meines Vaters und der Vater des Vaters meines Vaters … Es war immer da.«

»Wie sonderbar das ist! Niemand hat mir jemals davon erzählt.«

Er überlegte einen Augenblick:

»Onkel, weißt du noch mehr solche Lieder?«

»Ja.«

»Singe ein anderes, willst du?«

»Warum ein anderes singen? Eins ist genug. Man singt, wenn man das Bedürfnis danach hat, wenn man singen muß. Man soll nicht zum Spaß singen.«

»Aber wenn man doch Musik macht?«

»Das ist keine Musik.«

Der Kleine blieb nachdenklich. Er verstand das nicht recht. Er fragte jedoch nach keiner Erklärung: es war ja wirklich keine Musik gewesen, keine Musik wie die andere. Er fing wieder an:

»Onkel, hast du mal welche gemacht?«

»Was denn?«

»Lieder!«

»Lieder? aber wie sollte ich denn welche machen? das macht man nicht.«

Das Kind mit seiner gewohnten Logik beharrte:

»Aber Onkel, einmal muß es doch gemacht worden sein …«

Gottfried schüttelte hartnäckig den Kopf:

»Das war immer da.«

Das Kind versuchte es noch einmal:

»Aber Onkel, kann man nicht andere machen, neue?«

»Wozu welche machen? Es gibt genug für jede Stunde. Es gibt welche für Stunden, in denen du traurig bist, und für Stunden, in denen du heiter bist. Wenn du müde bist und an das Zuhause denkst, das fern liegt, hast du eines; und auch, wenn du dich verachtest, weil du ein schlimmer Sünder bist, ein armer Tropf; wenn du Lust zu weinen hast, weil die Leute nicht gut zu dir waren; und wenn dein Herz fröhlich ist, weil die Sonne scheint und du den Himmel Gottes siehst, der immer gut ist und dir zuzulächeln scheint … Es gibt genug für jede, jede Stunde. Warum sollte ich da welche machen?«

»Um ein großer Mann zu sein,« sagte der Kleine, noch ganz von den Belehrungen seines Großvaters und seinen kindlichen Träumen erfüllt.

Gottfried ließ ein kleines sanftes Lachen hören. Ein wenig ärgerlich fragte Christof:

»Warum lachst du?«

Gottfried sagte:

»Oh! ich, ich bin doch gar nichts.«

Und er fragte, indem er des Kindes Kopf streichelte:

»Du willst also ein großer Mann sein?«

»Ja,« antwortete Christof stolz. Er glaubte, Gottfried würde ihn nun sehr bewundern. Aber Gottfried antwortete:

»Wozu denn?«

Christof kam in Verwirrung. Nachdem er gesucht hatte, sagte er:

»Um schöne Lieder zu machen!«

Gottfried lachte wieder und meinte:

»Du willst Lieder machen, um ein großer Mann zu sein; und du willst ein großer Mann sein, um Lieder zu machen. Du bist wie ein Hund, der sich um seinen eignen Schwanz dreht.«

Christof war sehr verletzt. In jedem andern Augenblick hätte er es nicht ertragen, daß sein Onkel, über den er sich für gewöhnlich lustig machte, nun seinerseits Spott mit ihm trieb. Und gleichzeitig hätte er niemals gedacht, daß Gottfried verständig genug wäre, um ihn durch eine Einrede in Verlegenheit zu bringen. Er suchte nach einem Gegengrund oder einer Unart, mit der er ihm antworten könnte, und fand nichts. Gottfried fuhr fort:

»Wenn du so groß wärst wie von hier nach Koblenz, so könntest du doch nie ein einziges Lied schaffen.«

Christof empörte sich:

»Und wenn ich welche machen will! …«

»Je mehr du willst, je weniger kannst du. Um welche zu machen, muß man wie sie sein. Horch …«

Der Mond hatte sich rund und leuchtend hinter den Feldern erhoben. Ein Silbernebel wallte über den Boden und über die spiegelnden Wasser hin. Die Frösche plapperten, und man hörte in den Wiesen das melodiöse Flöten der Kröten. Das helle Tremolo der Heimchen schien dem Sterngeflimmer zu antworten. Der Wind streifte sanft die Erlenzweige. Von den Hügeln hinter dem Strom ertönte der zarte Sang einer Nachtigall.

»Was brauchst du zu singen?« seufzte Gottfried nach langem Schweigen – (man wußte nicht, sprach er zu sich selbst oder zu Christof.) – »Singen sie nicht besser als alles was du machen könntest?«

Christof hatte die Geräusche der Nacht schon viele Male gehört und liebte sie. Niemals aber hatte er sie so vernommen. Wahrhaftig: wozu brauchte man zu singen? … Er fühlte seine Seele von Zärtlichkeit und Kummer geschwellt. Er hätte Felder, Fluß, Himmel und die lieben Sterne umarmen mögen. Und sein Herz war von Liebe zu Onkel Gottfried durchtränkt, der ihm jetzt der Beste, der Klügste, der Schönste von allen schien. Er dachte daran, wie falsch er ihn beurteilt habe; und er meinte, Onkel Gottfried sei traurig, weil er, Christof, ihn schlecht beurteilte. Er war voller Reue. Er fühlte das Bedürfnis ihm zuzurufen: Onkel, sei nicht mehr traurig! Ich will nicht mehr boshaft sein! Verzeih mir; ich habe dich lieb! Aber er wagte es nicht. – Plötzlich warf er sich aber in Gottfrieds Arme; doch die Worte wollten nicht über seine Lippen; er wiederholte nur immer: »Ich hab' dich lieb,« und küßte ihn leidenschaftlich. Überrascht und gerührt sagte Gottfried nur mehrmals: »Aber was denn, was denn?« und küßte ihn ebenfalls. – Dann stand er auf, nahm ihn bei der Hand und meinte: »Wir müssen heim.« Christof ging betrübt, weil er glaubte, der Onkel hätte ihn nicht verstanden. Als sie aber zu Hause anlangten, sagte Gottfried zu ihm: »Wenn du willst, gehen wir abends öfter zusammen, um des lieben Gottes Musik anzuhören, und ich singe dir andere Lieder vor.« Da merkte Christof wohl, daß der Onkel ihn verstanden hatte, und er küßte ihn voller Dankbarkeit, als er ihm Gutenacht sagte.

Seitdem gingen sie abends oft zusammen spazieren; sie wanderten ohne zu reden den Fluß entlang oder über die Felder. Gottfried rauchte gemächlich seine Pfeife und Christof gab ihm, vom Dunkel etwas eingeschüchtert, die Hand. Sie ließen sich im Gras nieder; und nach einigen Augenblicken der Stille sprach Gottfried von Sternen und Wolken zu ihm; er lehrte ihn den Hauch der Erde, der Luft und des Wassers unterscheiden, die Gesänge, die Schreie, die Geräusche der kleinen flatternden, kriechenden, huschenden oder schwimmenden Welt, die im Düster wimmelt, die Vorzeichen von Regen und schönem Wetter und die zahllosen Instrumente der nächtlichen Symphonie. Manchmal sang Gottfried auch traurige oder heitere Weisen, aber immer von der gleichen Art; und stets wurde Christof beim Anhören ebenso bewegt wie das erstemal. Niemals aber sang Gottfried mehr als ein Lied am Abend. Christof hatte auch gemerkt, daß er nicht gern sang, wenn man ihn darum bat; es mußte von selbst kommen, wenn er dazu Lust hatte. Oft mußte man lange, ohne zu sprechen warten; und gerade, wenn Christof schon dachte: »Da haben wir's! er singt heut abend nicht …« dann entschloß sich Gottfried dazu.

Eines Abends, als Gottfried wirklich nicht sang, kam Christof auf den Gedanken, ihm eine seiner kleinen Kompositionen zu zeigen, die ihm soviel Sorge und Freude zugleich verursachten. Er wollte ihm beweisen, was für ein Künstler er sei. Gottfried hörte ihm ruhig zu; dann sagte er:

»Wie häßlich ist das, mein armer Christof!«

Christof war darüber so bestürzt, daß er keine Antwort fand. Gottfried wiederholte voller Mitleid:

»Warum hast du das gemacht? Es ist so häßlich! Niemand hat dich gezwungen, es zu machen.«

Christof wurde rot vor Zorn und widersprach; er schrie:

»Großvater findet meine Musik sehr gut.«

»So!« meinte Gottfried, ohne sich aufzuregen. »Sicherlich hat er recht. Er ist ein sehr gelehrter Mann. Er versteht etwas von Musik. Ich dagegen verstehe gar nichts …«

Und nach einem Augenblick:

»Aber ich finde das sehr häßlich.«

Er schaute Christof friedfertig an, sah dessen verärgertes Gesicht, lächelte und sagte:

»Hast du noch andere Weisen gemacht? Vielleicht mag ich die andern lieber als diese.«

Christof meinte, daß seine andern Melodien den Eindruck der ersten in der Tat auslöschen würden; und er sang sie alle. Gottfried sprach nichts; er wartete bis alles zu Ende war. Dann schüttelte er den Kopf und sagte mit tiefer Überzeugtheit:

»Das ist noch häßlicher.«

Christof preßte die Lippen aufeinander und sein Kinn zitterte: er hätte weinen mögen. Gottfried wiederholte, als wäre er selbst bestürzt, hartnäckig:

»Wie häßlich das ist!«

Christof rief mit tränenerstickter Stimme:

»Ja aber, warum findest du es denn häßlich?«

Gottfried sah ihn mit seinen ehrlichen Augen an:

»Warum? … Ich weiß nicht … Warte … Es ist häßlich, … erstens, weil es dumm ist … Ja, das ist es … es ist dumm, es sagt gar nichts … da haben wir's. Als du das schriebst, hattest du nichts zu sagen. Warum hast du's denn geschrieben?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Christof in jämmerlichem Ton. »Ich wollte ein hübsches Stück schreiben.«

»Siehst du! Um etwas zu schreiben, hast du's geschrieben. Du schreibst, um ein großer Musiker zu sein, damit man dich bewundere. Du warst eitel und hast gelogen: du bist bestraft worden … Da siehst du's. Man wird immer bestraft, wenn man in der Musik eitel ist und lügt. Musik will schlicht und wahrhaftig sein. Was ist sie sonst? Eine Ruchlosigkeit, eine Verspottung des Herrn, der uns den schönen Gesang geschenkt hat, damit wir Wahres und Redliches sagen.«

Er merkte jetzt des Kleinen Kummer und wollte ihn küssen. Aber Christof wandte sich voller Zorn ab; und mehrere Tage schmollte er mit ihm. Er haßte Gottfried. – Aber so oft er sich auch wiederholte: »Er ist ein Esel! Er weiß nichts, gar nichts! Großvater ist viel klüger und er findet meine Musik sehr gut,« im Grunde seiner selbst fühlte er, daß es sein Onkel war, der Recht hatte; und Gottfrieds Worte prägten sich ihm tief ein: er schämte sich, gelogen zu haben.

Auch dachte er, trotz anhaltenden Grolls, jetzt stets an ihn, wenn er komponierte; und oft zerriß er, aus Scham vor dem, was Gottfried davon denken könnte, das, was er fertig hatte. Ging er darüber hinweg, und schrieb eine Weise, von der er wußte, daß sie nicht ganz ehrlich war, verbarg er sie sorgfältig vor dem Onkel; er zitterte vor seinem Urteil und war ganz glücklich, wenn Gottfried von einem seiner Stücke einfach sagte: »Das ist nicht allzu häßlich … Ich hab's gern …«

Manchmal spielte er ihm auch, um sich zu rächen, tückisch den Streich, ihm Melodien großer Musiker als seine eignen vorzuführen. Und er jubelte laut, wenn Gottfried sie zufällig abscheulich fand. Aber Gottfried ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Er lachte gutherzig, wenn er Christof in die Hände klatschen und um ihn herumspringen sah; und er kam immer wieder auf seine gewohnten Gründe zurück. »Vielleicht ist es gut geschrieben, aber es sagt nichts.« – Niemals wollte er einem der kleinen Konzerte, die man zu Hause veranstaltete, beiwohnen. Das Stück mochte noch so schön sein, er fing zu gähnen an, und sein Gesicht wurde vor Langeweile stumpfsinnig. Bald hielt er es nicht mehr aus und machte sich heimlich und geräuschlos davon. Er sagte:

»Schau, Kleiner: alles was du im Haus schreibst, ist keine Musik. Musik im Haus ist wie die Sonne in einer Kammer. Musik gehört ins Freie, wenn du Gottes liebes frisches Lüftchen atmest.«

Immer sprach er vom lieben Gott; denn er war sehr fromm, im Gegensatz zu den beiden Kraffts, Vater und Sohn, welche Freigeister sein wollten, trotzdem sie sich wohl hüteten, Freitags Fleisch zu essen.

 

Melchior änderte plötzlich, ohne daß jemand wußte warum, seine Ansicht. Er billigte nicht nur, daß Großvater Christofs musikalische Offenbarungen gesammelt hatte; zu Christofs großer Überraschung brachte er sogar mehrere Abende damit zu, von dessen Manuskript zwei oder drei Abschriften anzufertigen. Auf alle Fragen, die man deswegen an ihn richtete, erwiderte er mit bedeutsamer Miene, daß man es schon sehen würde; oder er rieb sich auch wohl lachend die Hände, fuhr dem Kleinen aus Spaß derb über den Kopf oder verabreichte ihm voller Vergnügen schallende Klapse auf den Hintern. Christof waren diese Vertraulichkeiten entsetzlich; doch sah er, daß sein Vater zufrieden war, wenn er auch nicht wußte warum.

Dann fanden zwischen Melchior und Großvater geheimnisvolle Verhandlungen statt. Und eines Abends erfuhr Christof zu seinem größten Erstaunen, daß er persönlich Seiner Königlichen Hoheit, dem Großherzog Leopold, » Die Freuden früher Jugend« gewidmet habe. Melchior hatte die Ansicht des Fürsten aushorchen lassen, der sich gnädig geneigt gezeigt hatte, die Huldigung anzunehmen. Darauf erklärte Melchior triumphierend, daß man, ohne einen Augenblick zu verlieren, folgendes tun müsse: primo, dem Fürsten die offizielle Anfrage schriftlich einreichen; – secundo, das Werk veröffentlichen; – tertio, ein Konzert organisieren, um es hören zu lassen.

Weitere lange Besprechungen zwischen Melchior und Hans Michel fanden statt. Zwei oder drei Abende lang stritten sie lebhaft hin und her; es war verboten, sie zu stören. Melchior schrieb, strich aus, strich nochmals aus und schrieb wieder. Der Alte sprach mit lauter Stimme, als sage er Verse her. Manchmal wurden sie wütend aufeinander oder schlugen auf den Tisch, weil sie ein Wort nicht fanden.

Dann rief man Christof, setzte ihn, eingeklemmt zwischen Großvater und Vater, vor den Tisch und drückte ihm eine Feder zwischen die Finger. Großvater begann ihn ein Diktat schreiben zu lassen, von dem er nicht das Geringste verstand, weil er riesige Mühe hatte, Wort für Wort zu schreiben, weil Melchior ihm in die Ohren schrie und der Alte in so theatralischem Ton deklamierte, daß Christof, vom Ton der Worte ganz betäubt, nicht einmal mehr daran dachte, auf ihren Sinn zu achten. Der Alte war nicht weniger erregt. Er hatte nicht stille sitzen können und spazierte nun durchs Zimmer, indem er unwillkürlich die Ausdrücke seines Textes mit Gebärden und Mienenspiel unterstützte; jeden Augenblick aber kam er, um das Blatt des Kleinen anzusehen. Christof war von den beiden großen Köpfen, die sich über seinen Rücken neigten, schon ganz verängstet; er streckte die Zunge heraus, konnte seine Feder kaum noch halten, sah unklar, machte zuviel Grundstriche oder verschmierte alles, was er geschrieben hatte. Melchior brüllte und Hans Michel tobte, – und der Junge mußte wieder von vorn anfangen und immer noch einmal anfangen; und glaubte man sich endlich am Ziel, so fiel auf die makellose Seite ein herrlicher Tintenklex: – dann zog man Christof an den Ohren, und er brach in Tränen aus; aber man verbot ihm zu weinen, weil es das Papier fleckig mache; – und man nahm das Diktat von der ersten Zeile an wieder vor. Er meinte, das würde nun bis an sein Lebensende so fortgehen.

Endlich wurde man fertig. Hans Michel lehnte sich an den Kamin und überlas das Werk mit vor Vergnügen bebender Stimme, indessen Melchior, der in seinem Stuhle zurückgeworfen lag, die Decke anschaute, das Kinn bewegte und so als Feinschmecker den Stil folgender Epistel durchkostete:

»Hochehrwürdige, höchst erhabene Hoheit!
Gnädigster Herr!

Seit meinem vierten Jahr wurde für mich die Musik die höchste meiner jugendlichen Beschäftigungen. Sobald ich mit der edlen Muse, die in meiner Seele reine Harmonien weckte, in Verkehr trat, liebte ich sie; und wie mir schien, erwiderte sie mein Gefühl. Jetzt habe ich mein sechstes Jahr erreicht; und meine Muse flüstert mir seit einiger Zeit in den Stunden göttlicher Offenbarung beständig ins Ohr: ›Wage! Wage es! Schreibe einmal deiner Seele Harmonien nieder!‹ – Sechs Jahre! dachte ich; wie darf ich es da wagen? Was werden die in der Kunst geübten Männer von mir sagen? Ich zögerte, – zitterte. Jedoch meine Muse befahl: – Ich gehorchte. Ich schrieb.

Und darf ich nun,
      o erhabenste Hoheit!

darf ich in vermessener Kühnheit die Erstlinge meiner jungen Werke zu Füßen Deines Thrones niederlegen? … Darf ich die verwegene Hoffnung hegen, daß Dein väterlicher Blick seine erlauchte Gnade auf sie niedersenken wird? …

O ja! Denn Wissenschaft und Kunst haben stets in Dir ihren weisen Gönner und mächtigen Vorkämpfer gefunden; und das Talent blüht unter dem Schutz Deiner heiligen Obhut.

So wage ich denn, erfüllt von diesem tiefen und sicheren Glauben, mich Dir mit meinen jugendlichen Versuchen zu nahen. Empfange sie als reine Gabe meiner kindlichen Verehrung und geruhe in Güte,

o erhabenste Hoheit!

die Blicke auf sie und ihren jungen Schöpfer zu lenken, der sich in tiefster Demut Dir zu Füßen wirst!

Seiner hochehrwürdigen, höchst erhabenen Hoheit
ganz ergebenster,
treuer und gehorsamster Diener
Johann Christof Krafft.«

Christof verstand nichts davon: er war zu glücklich, endlich fertig zu sein und loszukommen. In der Angst, daß man ihn noch einmal von vorn beginnen lassen könnte, flüchtete er in die Felder. Er hatte keine Ahnung, was er eigentlich geschrieben habe; und er kümmerte sich auch durchaus nicht darum. Der Alte hingegen wiederholte seine Lektüre, nachdem er sie beendet hatte, nochmals, um sie länger auszukosten. Nachdem er auch damit fertig war, erklärten Melchior und er, daß es ein Meisterstück sei. Das war auch des Großherzogs Ansicht, dem der Brief mit einer Abschrift der Musikstücke überreicht wurde. Er hatte die Güte, sagen zu lassen, daß eins wie das andere den reizendsten Stil habe. Er genehmigte das Konzert, befahl, den Saal seiner Musikakademie zu Melchiors Verfügung zu stellen und versprach gnädigst, sich den jungen Künstler am Tage seines Auftretens vorstellen zu lassen.

Melchior tat alles, um das Konzert so schnell wie möglich zu veranstalten. Er versicherte sich der Mitwirkung des Hofmusikvereins; und da der Erfolg seiner ersten Bemühungen seine ehrgeizigen Ideen sehr in die Höhe getrieben hatte, ließ er auch noch eine prächtige Ausgabe der » Freuden früher Jugend« erscheinen. Am liebsten hätte er auf den Umschlag das Porträt Christofs am Klavier stechen lassen und sich selbst mit der Geige in der Hand daneben. Aber er mußte darauf verzichten; nicht wegen des Preises – Melchior schreckte vor keiner Ausgäbe zurück –, jedoch aus Mangel an Zeit. Er beschränkte sich auf eine allegorische Darstellung, die eine von Sonnenstrahlen überspielte Lyra zeigte, um welche eine Wiege, eine Trompete, eine Trommel und ein Schaukelpferd arrangiert waren. Auf dem Titelblatt stand nach einer langen Widmung, aus der sich der Name des Fürsten in riesenhaften Lettern abhob, daß Hans Christof Krafft sechs Jahre alt sei. – Der Wahrheit gemäß war er sieben ein halb. – Der Druck des Werkes kostete sehr viel; um ihn zu bezahlen, mußte Großvater eine alte Truhe mit Holzschnitzereien aus dem achtzehnten Jahrhundert verkaufen, von der er sich bisher trotz wiederholter Angebote des Trödlers Wormser nicht hatte trennen wollen. Melchior zweifelte jedoch nicht, daß die Subskriptionen die Ausgaben für das Werk mehr als decken würden.

Eine andere Frage, die ihn beschäftigte, war, welches Kostüm Christof am Konzerttag tragen solle. Ein Familienrat fand deswegen statt. Melchior hätte am liebsten gesehen, wenn der Kleine in kurzem Kleidchen mit nackten Beinen wie ein vierjähriges Kind aufgetreten wäre. Christof jedoch war für sein Alter sehr stämmig und außerdem kannte ihn jeder: man konnte sich wirklich keine Hoffnung machen, irgend jemand etwas vorzutäuschen. Da hatte Melchior eine grandiose Idee. Er beschloß, das Kind in einen Frack mit weißer Binde zu stecken. Luise sträubte sich vergeblich dagegen, daß man ihren armen Jungen lächerlich machen wolle. Melchior rechnete gerade mit dem leisen Heiterkeitserfolg, den das Unerwartete solchen Aufzugs hervorrufen würde. So wurde es denn gemacht, und der Schneider kam und nahm für den Anzug des kleinen Mannes Maß. Feine Wäsche und Lackschuhe waren auch noch nötig, und all das zusammen kostete die Haare vom Kopf. Christof fühlte sich in seiner neuen Kleidung sehr unbehaglich. Man ließ ihn daher, um ihn daran zu gewöhnen, seine Stücke mehrmals im Kostüm wiederholen. Schon seit einem Monat kam er kaum vom Klaviersessel herunter. Man lehrte ihn auch sich verbeugen. So hatte er keinen freien Augenblick. Er tobte innerlich, wagte aber nicht, sich zu widersetzen; denn er dachte, er würde nun bald eine überwältigende Tat vollbringen, die ihm gleichzeitig Stolz und Furcht einflößte. Im übrigen behütete man ihn sorgfältigst; man hatte Angst, er könne sich erkälten, und knüpfte ihm mehrere Halstücher um; man wärmte sein Schuhzeug, aus Furcht, es könne feucht sein; und bei Tisch bekam er die besten Bissen.

Endlich kam der große Tag heran. Der Friseur überwachte die Toilette und kräuselte Christofs widerspenstige Haare; und ruhte nicht eher, als bis er ein schafpelzartiges Gelock daraus gemacht hatte. Alsdann spazierte die ganze Familie an Christof vorbei und erklärte, daß er wundervoll aussähe. Nachdem Melchior ihn eingehend betrachtet und nach allen Seiten gedreht hatte, schlug er sich plötzlich vor die Stirn und holte eine große Blume, die er dem Kleinen im Knopfloch befestigte. Luise aber warf bei diesem Anblick die Arme zum Himmel und schrie voller Entsetzen, er schaue wie ein Äffchen aus, was Christof bitter kränkte. Er selbst wußte nicht recht, ob er sich seines Aufputzes schämen oder freuen sollte. Instinktiv fühlte er sich erniedrigt. Noch viel mehr aber wurde ihm das beim Konzert bewußt. Und das sollte überhaupt die vorherrschende Empfindung an diesem denkwürdigen Tage werden.

 

Das Konzert sollte seinen Anfang nehmen. Der halbe Saal war leer. Der Großherzog war noch nicht gekommen. Ein liebenswürdiger und gut unterrichteter Freund, wie es deren immer gibt, hatte nicht versäumt die Nachricht zu überbringen, daß im Schloß eine Versammlung des Staatsrats zusammengetreten sei und der Großherzog nicht kommen würde: er wußte es aus sicherer Quelle. Melchior war niedergeschmettert; er rannte aufgeregt hin und her und beugte sich ein über das andre Mal aus dem Fenster. Der alte Hans Michel regte sich gleichfalls auf; aber mehr seines Enkels wegen: er überschüttete ihn mit guten Ratschlägen. Christof wurde schließlich von dem Fieber der Seinen angesteckt: wegen seiner Stücke beunruhigte er sich nicht im geringsten, aber der Gedanke an die Verbeugungen, die er vor dem Publikum machen sollte, verwirrte ihn sehr; und da man ihn immer wieder daran erinnerte, befiel ihn schließlich die Angst.

Man mußte indessen endlich anfangen, denn das Publikum wurde ungeduldig. Das Orchester des Hofmusikvereins setzte mit der Coriolanouvertüre ein. Der Knabe kannte weder Coriolan noch Beethoven; hatte er auch oft Stellen daraus gehört, so war es unbewußt geschehen. Niemals bekümmerte er sich um die Titel der Werke, die er kennen gelernt hatte; er nannte sie mit frei erfundenen Namen und baute kleine Geschichten oder kleine Landschaften um sie herum; gewöhnlich teilte er diese in drei Gruppen: das Feuer, die Erde, das Wasser; und diese wieder in tausend verschiedene Nuancen. Mozart wurde fast immer dem Wasser zugeteilt: bei ihm träumte er eine Heide am Ufer eines Flusses, einen durchsichtigen Nebel, der überm Strom webt, einen kleinen Frühlingsschauer oder auch einen Regenbogen. Beethoven war das Feuer: einmal ein riesenhaft flammendes Kohlenbecken mit ungeheuern Rauchwolken, ein andermal ein Waldbrand, eine schwarze furchtbare Wetterwolke, aus der der Blitz sprang, dann wieder ein von Sternen überflimmerter Himmel, aus dem man in schöner Septembernacht mit Herzklopfen einen Stern sich lösen, niedergleiten und sanft ersterben sieht. Und so durchglühte ihn auch diesmal der mächtige Brand dieser Heldenseele wie Feuer. Alles übrige verschwand. Was war ihm das übrige? Der bestürzte Melchior, der verängstete Hans Michel, diese ganze geschäftige Welt, das Publikum, der Großherzog! Was hatte der kleine Christof mit all den Leuten zu schaffen? Was gingen sie ihn an? War er das? Er? Sein Ich lebte in diesem rasenden Willen, der ihn mit fortriß. Mit Tränen in den Augen, erstarrten Gliedern und zusammengekrampftem Körper, folgte er ihm atemlos. Sein Blut tobte in den Adern, und er zitterte am ganzen Leib. – Wie er so mit allen Sinnen, hinter einer Kulisse verborgen, noch lauschte, schlug ihm plötzlich das Herz zum Zerspringen: das Orchester brach mitten in einem Takte ab, und nach einem Augenblick der Stille intonierte es unter lautem Einsatz der Bläser und Trommler mit dem üblichen Pomp eine Militärmusik. Der Übergang von einer Musik in die andere war so brutal und unerwartet, daß Christof mit den Zähnen knirschte, wütend mit dem Fuß aufstampfte und die Faust drohend gegen die Wand hob. Melchior aber frohlockte: der Fürst hatte eben den Saal betreten, und das Orchester begrüßte ihn mit der Nationalhymne. Hans Michel gab seinem Enkel die letzten guten Ratschläge.

Die Ouvertüre begann von vorn und wurde diesmal zu Ende geführt. Nun kam die Reihe an Christof. Melchior hatte das Programm geschickt so zusammengestellt, daß es gleichzeitig die Virtuosität des Sohnes, wie des Vaters ins Licht rücken mußte; sie sollten zusammen eine Mozartsche Sonate für Klavier und Violine spielen. Um die Wirkung allmählich zu steigern, hatte er bestimmt, daß Christof zuerst allein erscheinen solle. Man führte ihn zum Bühneneingang, zeigte ihm den Flügel vorn auf dem Podium, setzte ihm zum letztenmal alles auseinander, was er zu tun habe und schob ihn hinaus.

Da er seit langem an Theatersäle gewöhnt war, hatte er nicht allzu große Angst; doch als er sich allein auf dem Podium befand, den Hunderten von Augen gegenüber, wurde er plötzlich so verschüchtert, daß er unwillkürlich eine Bewegung nach rückwärts machte und sich sogar in die Kulisse zurückwandte; dort aber stand sein Vater und drohte ihm mit wütenden Augen und Gebärden. So mußte er sich denn weiter herauswagen. Auch hatte man ihn im Saal schon bemerkt. Je weiter er nach vorn kam, um so lauter erhob sich ein neugieriger Lärm, dem bald ein immer wachsendes Lachen folgte. Melchior hatte sich nicht getäuscht: die Ausstaffierung des Kleinen hatte allen erwarteten Erfolg. Das Publikum brach in helles Gelächter aus bei der Erscheinung des kraushaarigen Jungen mit dem Teint eines kleinen Zigeuners, der im Gesellschaftsanzug eines korrekten Weltmannes schüchtern einhertrippelte. Man erhob sich von den Sitzen, um ihn besser sehen zu können. Bald war alles von einer Heiterkeit ergriffen, die durchaus nichts Übelwollendes hatte, aber den herzhaftesten Virtuosen aus der Fassung hätte bringen können. Der von dem Lärm, den Blicken, den von allen Seiten auf ihn gerichteten Augengläsern ganz benommene Christof hatte nur einen Gedanken: so schnell wie möglich an den Flügel zu kommen, der ihm wie ein Zufluchtsort, eine Insel inmitten des Meeres erschien. Gesenkten Kopfes, ohne nach rechts oder links zu schauen, zog er im Eilschritt an der Rampe vorbei; und anstatt, wie verabredet, in der Mitte sich vor dem Publikum zu verbeugen, drehte er ihm den Rücken zu und stürzte sich geradeswegs auf den Flügel. Der Klavierstuhl war so hoch, daß er sich ohne Hilfe seines Vaters nicht daraufsetzen konnte: anstatt aber zu warten, erklomm er ihn in seiner Verwirrung auf den Knien, was die Heiterkeit des Publikums natürlich noch erhöhte. Jetzt aber war Christof gerettet. An seinem Instrument fürchtete er niemand mehr.

Melchior erschien endlich. Die gute Stimmung des Publikums kam ihm zugute. Er wurde mit ziemlich lebhaftem Applaus empfangen. Die Sonate begann. Der kleine Mann spielte sie mit unerschütterlicher Sicherheit, indem er den Mund in Spannung zusammenpreßte und die Augen auf die Tasten bannte, während seine kleinen Beine am Stuhl herunterbaumelten. Je mehr Noten dahinrollten, um so wohler fühlte er sich. Hier war er wie inmitten ihm bekannter Freunde. Ein Beifallsgemurmel drang bis zu ihm. Und als er daran dachte, daß alle diese Leute sich still verhielten, um ihm zuzuhören, und ihn bewunderten, überkamen ihn Anwandlungen stolzer Befriedigung, die ihm völlig zu Kopf stiegen. Kaum aber war er zu Ende, als die Angst ihn wieder überfiel. Und die Beifallsbezeigungen, die ihn begrüßten, verursachten ihm mehr Scham als Freude. Diese Scham verdoppelte sich, als Melchior ihn bei der Hand nahm, mit ihm vorn an die Rampe herantrat und ihn sich vor dem Publikum verbeugen ließ. Er gehorchte und knixte mit drolligem Ungeschick ganz tief; aber er fühlte sich erniedrigt und errötete über das, was er tat, wie über etwas Lächerliches und Häßliches.

Man setzte ihn wieder vor den Flügel; und er spielte allein » Die Freuden früher Jugend«. Eine wahre Raserei brach los. Nach jedem Stück überschrie man sich vor Begeisterung; man verlangte, daß er das Ganze noch einmal spiele; und obgleich er stolz auf seinen Erfolg war, verletzten ihn doch gleichzeitig diese Beifallsbezeigungen, die ihm wie Befehle erschienen. Schließlich erhob sich das ganze Publikum, um ihm zuzujubeln; der Großherzog hatte das Zeichen zum Beifall gegeben. Doch Christof, der diesmal allein auf dem Podium war, wagte nicht mehr, sich von seinem Stuhle zu rühren. Die Zurufe verdoppelten sich. Er senkte überrot und mit einer Armesündermiene den Kopf tiefer und tiefer und sah hartnäckig nach der dem Saale entgegengesetzten Seite. Schließlich holte ihn Melchior, nahm ihn auf den Arm und befahl ihm, Kußhände zu werfen, indem er ihm die großherzogliche Loge bezeichnete. Christof aber stellte sich taub. Da packte Melchior ihn beim Arm und drohte ihm mit leiser Stimme. Da führte der Kleine mechanisch die Bewegungen aus; aber er sah niemand an, hob nicht die Augen, wendete weiter den Kopf fort und fühlte sich totunglücklich: er litt, wenn auch ohne zu wissen weshalb; er fühlte sich in seinem Selbstbewußtsein gekränkt und haßte sämtliche Anwesende. Wenn sie auch noch so sehr klatschten, er verzieh ihnen nicht, daß sie seine Erniedrigung belachten und sich daran ergötzten; er verzieh ihnen nicht, daß sie ihn in seiner lächerlichen Lage sahen, wie er da in der Luft hing und Kußhände warf; fast grollte er ihnen wegen ihres Beifalls. Und als ihn Melchior endlich zur Erde setzte, lief er schleunigst davon, in die Kulissen. In diesem Moment warf ihm eine Dame ein kleines Veilchensträußchen zu, das sein Gesicht streifte, was ihn in eine wahre Panik versetzte; er rannte Hals über Kopf und warf dabei einen Stuhl, der ihm im Weg stand, um. Und je mehr er lief, um so mehr lachte man; und je mehr man lachte, um so mehr lief er.

Endlich gelangte er zum Bühnenausgang, der von Leuten, die ihn anschauen wollten, völlig versperrt war; da bahnte er sich mit Kopf und Armen einen Weg quer hindurch und versteckte sich ganz hinten im Künstlerzimmer. Großvater frohlockte und überhäufte ihn mit Segenswünschen. Die Orchestermitglieder brachen in Lachen aus und beglückwünschten den Kleinen, der sich weigerte sie anzuschauen und ihnen die Hand zu geben. Melchior stand noch auf der Lauer, schätzte das noch immer nicht endende Beifallsklatschen ab und wollte Christof auf die Bühne zurückführen. Aber der Knabe widersetzte sich zornig, klammerte sich an Großvaters Rock und stieß mit den Füßen nach allen, die ihm nahe kommen wollten. Schließlich bekam er einen Weinkrampf, und man mußte ihn zufrieden lassen.

Gerade in diesem Augenblick erschien ein Offizier und bat die Künstler im Namen des Großherzogs in dessen Loge. Wie sollte man das Kind in solchem Zustand zeigen? Melchior fluchte vor Zorn; aber seine Aufregung verdoppelte natürlich nur Christofs Weinen. Um der Sintflut ein Ende zu machen, versprach Großvater ein Pfund Schokolade, wenn Christof still wäre. Und der leckermäulige Christof hörte urplötzlich auf, schluckte seine Tränen herunter und ließ sich fortführen; aber zuerst mußte man ihm aufs feierlichste schwören, daß man ihn nicht etwa durch List doch wieder auf die Bühne bringe.

Im Salon der fürstlichen Loge wurde er einem Herrn mit einem Mopsgesicht gegenübergestellt, der klein, rot und ein wenig feist war und einen gesträubten Schnurrbart und kurzen spitzen Kinnbart trug; er polterte ihn mit ironisch spaßender Vertraulichkeit an, tätschelte ihm mit seinen dicken Händen die Backen und nannte ihn: » Mozart redivivus!« Es war der Großherzog. – Dann wurde er bei der Großherzogin, ihrer Tochter und ihrem Gefolge herumgereicht. Aber da er die Augen nicht zu erheben wagte, sah er von dieser glänzenden Gesellschaft nichts als eine Reihe von Kleidern und Uniformen, vom Gürtel bis zu den Füßen. Er saß auf dem Schoß der jungen Prinzessin und wagte weder sich zu bewegen noch zu atmen. Sie stellte Fragen, auf die Melchior mit unterwürfiger Stimme und banalen Respektphrasen antwortete; aber sie hörte ihm nicht zu und neckte den Kleinen. Der fühlte sich rot und röter werden; und da er meinte, jeder müsse es sehen, wollte er sein Erröten erklären und sagte mit einem schwerem Seufzer:

»Ich bin rot, mir ist heiß.«

Das junge Mädchen lachte darüber hell auf. Aber Christof grollte ihr deswegen nicht, wie er es dem Publikum gegenüber noch eben getan hatte; denn dies Lachen war lieblich; und sie küßte ihn und das mißfiel ihm ebensowenig.

In diesem Augenblick bemerkte er im Flur, am Logeneingang, Großvater, strahlend und befangen. Er hätte sich so gern gezeigt und auch seinen Spruch dazugegeben, aber er wagte es nicht, da man das Wort nicht an ihn gerichtet hatte; er freute sich von fern an seines Enkels Ruhm. Christof durchströmte eine Welle von Zärtlichkeit, ein unwiderstehlicher Drang, dem armen Alten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, damit man auch seinen Wert erkenne. Seine Zunge löste sich. Er reckte sich zum Ohr seiner neuen Freundin und flüsterte ihr zu:

»Ich will Ihnen ein Geheimnis sagen.«

Sie lachte und fragte: »Nun was denn?«

»Sie wissen doch,« fuhr er fort, »das hübsche Trio, das in meinem Minuetto ist, in dem Minuetto, das ich gespielt habe. Erinnern Sie sich? … – (Er summte es ganz leise.) – … Nun ja! Das hat Großvater gemacht und nicht ich. Alle andern Melodien sind von mir. Aber gerade die ist die hübscheste. Und sie ist von Großvater. Großvater will nicht, daß man es sagt. Sie werden es doch nicht weiter sagen? …« Und indem er auf den Alten deutete, fügte er hinzu: »Da ist Großvater. Ich habe ihn sehr lieb. Er ist sehr gut zu mir.«

Darüber lachte nun die junge Prinzessin noch herzlicher, rief, daß er ein süßer kleiner Kerl wäre, bedeckte ihn mit Küssen und erzählte, zu Christofs und Großvaters Bestürzung, allen die Geschichte. Alle stimmten in das Lachen ein; und der Großherzog beglückwünschte den Alten, der in seiner Verwirrung vergeblich versuchte, Aufklärung zu geben und wie ein armer Sünder stotterte. Christof aber sprach mit dem jungen Mädchen kein Wort mehr. Trotz ihrer Neckereien blieb er stumm und steif: er verachtete sie, weil sie ihr Wort nicht gehalten hatte. Die Vorstellung, die er sich von Fürsten gemacht hatte, erlitt auf Grund dieser Treulosigkeit eine tiefgehende Erschütterung. Er war so empört, daß er nichts mehr von dem, was man sagte, hörte, auch nicht, daß der Fürst ihn lachend zu seinem ständigen Pianisten, seinem Hofmusikus ernannte.

Dann ging er mit den Seinen und sah sich in den Theatergängen, bis auf die Straße von Leuten umgeben, die ihm Schmeicheleien sagten oder ihn zu seinem größten Unbehagen küßten; denn er mochte durchaus nicht geküßt werden, und er räumte niemand das Recht ein, ohne seine Erlaubnis über ihn zu verfügen.

Endlich kamen sie zu Hause an, wo Melchior, kaum eingetreten, damit anfing, ihn »kleiner Idiot« zu nennen, weil er erzählt habe, daß das Trio nicht von ihm sei. Da der Knabe sich sehr wohl bewußt war, damit eine gute Tat vollbracht zu haben, die Anerkennung und keine Vorwürfe verdiente, setzte er sich zur Wehr und antwortete ungezogen. Melchior wurde wütend und sagte, daß er ihn ohrfeigen würde, wenn er seine Stücke nicht ziemlich anständig gespielt hätte; aber durch seine Blödheit sei der ganze Effekt des Konzertes verdorben. Christof hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl: er ging in einen Winkel schmollen; er verachtete seinen Vater, die Prinzessin, die ganze Welt miteinander. Sehr verletzte es ihn auch, daß alle möglichen Nachbarn seine Eltern beglückwünschen kamen und mit ihnen lachten, als hätten seine Eltern seine Stücke gespielt, und als ob die ganze Sache sie alle mehr anginge als ihn.

Mittlerweile kam ein Hoflakai und überbrachte vom Großherzog eine schöne goldene Uhr und im Namen der Prinzessin eine Schachtel vortrefflicher Bonbons. Beide Geschenke machten Christof große Freude; er wußte nicht genau, welches am meisten; aber er war so schlechter Laune, daß er es sich selbst nicht eingestehen wollte; und er schmollte weiter, während er nach den Bonbons schielte und sich fragte, ob er ein Geschenk von jemand annehmen könne, der sein Vertrauen getäuscht hatte. Als er gerade so weit war, sich dazu zu entschließen, wollte sein Vater, daß er sich ohne Zögern an den Arbeitstisch setze und nach seinem Diktat einen Dankesbrief schreibe. Das war schließlich denn doch zu viel! Sei es aus nervöser Abspannung nach diesem Tage, sei es aus instinktiver Scham vor dem Briefanfang, den Melchior in den Worten »Euer Großherzoglicher Hoheit Knecht und Musikus …« abgefaßt haben wollte, – kurz, Christof brach in Tränen aus und man konnte nichts mit ihm anfangen. Der Lakai wartete mit spöttischer Miene. Melchior mußte den Brief schreiben. Das stimmte ihn Christof gegenüber nicht nachsichtiger. Und um das Unglück voll zu machen, ließ das Kind seine Uhr fallen und sie zerbrach. Ein Hagel von Schimpfworten rasselte auf ihn nieder. Melchior schrie, daß er keinen Nachtisch bekäme. Christof antwortete wütend, daß er gar keinen haben wolle. Zur Strafe drohte Luise, ihm seine Bonbons fortzunehmen. Christof geriet außer sich und sagte, daß sie kein Recht dazu habe, daß die Bonbonniere ihm gehöre, ihm allein und keinem andern: niemand dürfe sie ihm nehmen! Er erhielt eine Ohrfeige, bekam einen Wutanfall, riß die Bonbonniere seiner Mutter aus den Händen, warf sie zur Erde und trampelte darauf herum. Er wurde mit der Rute gehauen, in sein Zimmer getragen, ausgezogen und ins Bett gelegt.

Abends hörte er seine Eltern mit ihren Freunden das herrliche Diner verspeisen, das seit acht Tagen zu Ehren des Konzerts vorbereitet worden war. Er verging fast auf seinem Kopfkissen vor Wut über solche Ungerechtigkeit. Die andern lachten überlaut und stießen mit den Gläsern an. Den Gästen hatte man gesagt, der Kleine sei müde. Niemand kümmerte sich um ihn. Nur nach dem Essen, als man im Begriff war, sich zu trennen, glitt ein schleppender Schritt ins Zimmer und der alte Hans Michel neigte sich über sein Bett. Er küßte ihn gerührt, indem er sagte: »Mein guter kleiner Christof! …« Dann schlich er sich, ohne ein Wort zu sprechen, als schäme er sich, davon; vorher aber ließ er ihm einige Leckereien, die er in seiner Tasche versteckt gehalten hatte, aufs Bett gleiten.

Das tröstete Christof. Aber er war von allen Erregungen des Tages so matt, daß er nicht die Kraft fand, über Großvaters Tun nachzudenken; er hatte nicht einmal die Kraft, die guten Dinge, die er ihm gegeben, anzurühren. Er war vor Müdigkeit zerschlagen und schlief fast sofort ein. Aber sein Schlaf war unruhig. Er fuhr manchmal plötzlich nervös zusammen, als schüttelten seinen Körper elektrische Entladungen. Eine wilde Musik verfolgte ihn im Traum. Mitten in der Nacht wachte er auf. Die Beethovensche Ouvertüre, die er im Konzert gehört hatte, grollte in seinem Ohr. Sie füllte mit ihrem keuchenden Atem das Zimmer. Er setzte sich in seinem Bett auf, rieb sich Augen und Ohren und fragte sich, ob er schliefe. – Nein, er schlief nicht. Er erkannte sie gut wieder. Er erkannte dies Zorngebrüll, dies Wutgeschrei, er vernahm den Schlag dieses rasenden Herzens und rauschenden Blutes; er fühlte die tollen Windstöße über sein Gesicht peitschen und dann plötzlich, von einem Herkuleswillen gebrochen, aussetzen. Diese gigantische Seele drang in ihn ein, dehnte ihm Glieder und Herz und schien ihnen unermeßliche Formen zu verleihen. Er wandelte über die Welt. Er war wie ein Berg; Stürme brausten in ihm. Stürme der Leidenschaft! Stürme des Schmerzes! … Ah! Welch ein Schmerz! … Aber es machte nichts! Er fühlte sich so stark! … Leiden! noch mehr leiden! … Ach, wie gut tut es, sich stark zu fühlen! Wie gut zu leiden, wenn man stark ist! …

Er lachte. Sein Lachen klang hell durch die Stille der Nacht. Sein Vater wachte auf; er rief:

»Wer ist da?«

Die Mutter flüsterte:

»Pst! es ist das Kind; es träumt!«

Sie schwiegen alle drei. Alles rings um sie schwieg. Die Musik schwand hin. Und man hörte nichts mehr als den gleichmäßigen Atem der im Zimmer schlummernden Wesen, – der Leidensgefährten, vom Schicksal aneinander gekettet, verbunden im selben zerbrechlichen Kahn, den eine schwindelnde Kraft hinausträgt in die Nacht.


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