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Erstes Buch
Dämmerung

 

Dianzi, nell' alba che precede al giorno,
Quando l' anima dentro dormia …

Purg. IX

 

Come, quando i vapori umidi e spessi
A diradar cominciano, la spera
Del sol debilamente entra per essi …

Purg. XVII

 

I

Das Murmeln des Flusses raunte hinter dem Hause empor. Der Regen schlug seit Tagesanbruch an die Scheiben. Ein verdampfender Wasserstreifen rieselte an dem zersprungenen Fenster hinab. Der fahlgelbe Tag verlosch. In lauer Stimmungslosigkeit lag das Zimmer.

Das Neugeborene regte sich in seiner Wiege. Obgleich der Alte beim Eintritt seine Holzschuhe fürsorglich an der Tür gelassen hatte, krachte die Diele unter seinem Schritt, und das Kind begann zu wimmern. Die Mutter beugte sich aus ihrem Bett, um es zu beruhigen, während der Großvater nach der Lampe tastete und sie anzündete, damit der Kleine beim Erwachen sich vor der Nacht nicht fürchte. Die Flamme erhellte das rote Gesicht des alten Hans Michel, seinen weißen harten Bart, seine mürrische Miene und seine lebendigen Augen. Er trat jetzt an die Wiege heran. Sein Mantel roch nach Feuchtigkeit; er schlurfte in seinen dicken blauen Socken daher. Luise machte ihm ein Zeichen, damit er nicht gar zu nahe käme. Sie war blond, fast weiß; ihre Züge waren schlaff; Sommersprossen bedeckten ihr sanftes Lammgesicht und ihre breiten bleichen, schüchtern lächelnden Lippen wollten nicht recht zueinander.

Sie umfaßte das Kind mit den Augen – sehr blauen verschwommenen Augen, die trotz des ganz kleinen Pupillenpunktes doch unendlich zärtlich schauten.

Der Knabe erwachte und weinte. Sein trüber Blick flackerte unruhig. Ach, wie entsetzlich ist dies alles! Die Finsternis, das brutale Aufleuchten der Lampe, die Schreckbilder eines kaum dem Chaos enthobenen Gehirns, – die erstickende und bewegte Nacht ringsumher, das bodenlose Dunkel, aus dem gleich grell blendenden Lichtstrahlen stechende Eindrücke, Schmerzen, Erscheinungen über ihn hereinbrechen: riesenhafte Gesichter, die sich über ihn neigen, Augen, die ihn durchdringen, sich in ihn versenken und die er nicht versteht! … Zum Schreien findet er keine Kraft; das Grauen nagelt ihn unbeweglich fest; Mund und Augen weit offen, ringt er mühsam nach Atem. Sein dickes gedunsenes Gesicht zieht sich in einer jämmerlichen und komischen Grimasse zusammen. Die Haut seines Gesichtes, seiner Hände ist braun fast blau, mit gelblichen Flecken übersäet …

»Großer Gott! Wie häßlich er ist!« sagte der Alte in überzeugtem Ton.

Er stellte die Lampe auf den Tisch zurück. Luise verzog wie ein gescholtenes kleines Mädchen schmollend das Gesicht. Hans Michel sah sie von der Seite an und lachte.

»Du willst doch nicht, daß ich dir sage, er sei schön? Du würdest es nicht glauben. Na schon gut – du bist nicht schuld daran; sie sind allesamt so.«

Das Kind erholte sich von der dumpfen Starrheit, in die es das Lampenlicht und des Alten Blick gebannt hatten, und fing zu schreien an. Vielleicht empfand sein Instinkt in seiner Mutter Augen eine Liebkosung, die es zur Klage ermutigte. Sie streckte die Arme nach ihm aus und sagte:

»Gib ihn mir.«

Der Alte begann, seiner Gewohnheit nach, zunächst mit Theorien:

»Man muß den Kindern nicht nachgeben, wenn sie weinen. Man muß sie schreien lassen.«

Aber er kam doch, nahm den Kleinen und brummte:

»Nie habe ich so etwas Häßliches gesehen.«

Luise ergriff mit ihren fiebernden Händen den Knaben und barg ihn an ihrer Brust. Mit verwirrtem und entzücktem Lächeln betrachtete sie ihn.

»Mein armer Kleiner,« sagte sie ganz beschämt, »wie häßlich bist du, wie häßlich, und ich habe dich doch so lieb!«

Hans Michel kehrte zum Feuer zurück und fing mit knurriger Miene an, darin herum zu schüren; aber ein vorüberhuschendes Lächeln strafte seinen mürrischen Ernst Lügen.

»Mein gutes Kind,« sagte er, »gräme dich nur nicht, er hat Zeit, anders zu werden. Und dann, was tut's! Man wird nur eins von ihm verlangen: ein braver Mann zu werden.«

Das Kind hatte sich, an den lauen, mütterlichen Körper geborgen, beruhigt. Man hörte es in gierigen Zügen saugen. Hans Michel lehnte sich in seinem Sessel zurück und wiederholte mit Nachdruck:

»Nichts Schöneres als ein rechtschaffener Mensch!«

Er schwieg einen Augenblick und dachte darüber nach, ob es nicht ratsam wäre, diesen Gedanken weiter zu entwickeln; aber er wußte nichts Mehr darüber zu sagen, und so begann er nach einer schweigsamen Pause, wieder in gereiztem Ton:

»Wie kommt's, daß dein Mann nicht hier ist?«

»Ich glaube, er ist im Theater,« sagte Luise schüchtern, »er hat Probe.«

»Das Theater ist geschlossen; ich bin eben vorbeigegangen. Wieder eine seiner Lügen!«

»Nein, gib ihm nicht immer die Schuld. Ich werde es falsch verstanden haben. Er wird bei einer seiner Stunden aufgehalten worden sein …«

»Er müßte längst wieder daheim sein,« behauptete der Alte unzufrieden. Er zögerte ein wenig und fragte dann in leiserem Ton, fast befangen:

»Hat er vielleicht … wieder …?«

»Nein, Vater, nein«, versicherte Luise eilig.

Der Alte sah sie an, sie vermied seinen Blick.

»Es ist nicht wahr, du lügst.«

Sie weinte still vor sich hin.

»Beim Himmel!« schrie der Greis und gab dem Kamingitter einen Fußtritt. Der Schürhaken fiel lärmend herunter, so daß Mutter und Kind zusammenzuckten.

»Vater, ich bitte dich,« sagte Luise, »er wird weinen.« Das Kind schwankte einige Sekunden, ob es schreien oder in seiner Mahlzeit fortfahren sollte; aber da es beides nicht gleichzeitig tun konnte, entschloß es sich zum letzteren.

Hans Michel fuhr mit gedämpfter Stimme, aus der nur manchmal der Zorn hervorbrach, fort:

»Was habe ich dem lieben Gott nur getan, um solchen Trinker zum Sohn zu haben! Da lohnt es sich wahrhaftig, gelebt zu haben wie ich und sich alles und jedes versagt zu haben, – das ganze Leben lang! – Aber du, bringst du es denn nicht fertig, ihn zu zügeln? Schließlich, zum Donnerwetter, ist das doch deine Sache. Wenn du ihn im Hause hieltest! …«

Luise weinte heftiger.

»Schilt mich nicht noch, ich bin so schon unglücklich genug. Alles, was ich konnte, habe ich getan. Wenn du wüßtest, wie ich mich ängstige, wenn ich allein bin. Immer meine ich, seinen Tritt auf der Treppe zu hören. Dann warte ich darauf, daß die Tür aufgeht, und ich frage mich: Gott! wie wird er hereinkommen? … Mir das auszumalen, macht mich ganz krank.« Sie wurde von Schluchzen geschüttelt.

Der Alte beunruhigte sich. Er kam zu ihr heran, zog die verwühlten Decken über ihren zitternden Schultern zurecht und streichelte mit seiner großen Hand ihren Kopf:

»Na, na, – hab' keine Angst, ich bin ja da.«

Um des Kleinen willen zwang sie sich zur Ruhe und versuchte zu lächeln.

»Es war unrecht, dir davon zu erzählen …«

Der Alte sah sie an und schüttelte den Kopf:

»Mein armes Kind, ich habe dir da kein hübsches Geschenk gemacht.«

»Es ist mein eigner Fehler«, sagte sie. »Er hätte mich nicht heiraten dürfen. Heute bedauert er, was er getan hat.«

»Was soll er denn bedauern?«

»Du weißt es ja. Du selbst warst böse, daß ich seine Frau wurde.«

»Sprechen wir nicht mehr davon! Ja ja – ich war ein wenig verdrießlich. Ein Junge wie er, – ich kann es doch ruhig sagen, ohne dich zu verletzen – ein Junge, den ich mit aller Sorgfalt erzogen hatte, ein geachteter Musiker, ein ganzer Künstler, – der hätte andere Partien machen können, statt dich zu nehmen, die nichts hatte, die aus niedrigerer Gesellschaftsklasse stammte und nicht einmal vom Fach war. Ein Krafft ein Mädchen heiraten, das nicht Musikerin gewesen, so etwas hat man seit über hundert Jahren nicht gesehen! Aber du weißt trotzdem ganz gut, daß ich's dir nicht nachgetragen habe und daß ich dich lieb gewann, sobald ich dich näher kennen lernte. Überhaupt: ist die Wahl getroffen, soll man sich zufrieden geben; dann heißt es nur noch, anständig seine Pflicht erfüllen.«

Er kehrte wieder zu seinem Sessel zurück, ließ sich etwas Zeit und wiederholte dann mit der Feierlichkeit, die er auf alle seine Aphorismen verwandte:

»Die Hauptsache im Leben ist, seine Pflicht erfüllen!«

Er wartete eine Widerlegung ab und spuckte ins Feuer; dann, als weder Mutter noch Kind Einspruch erhoben, wollte er fortfahren – schwieg aber.

 

Keiner sprach mehr ein Wort. Hans Michel vor dem Feuer, Luise in ihrem Bett sitzend, träumten beide traurig vor sich hin. Der Alte dachte, trotz aller seiner eben gesprochenen Worte, mit Bitterkeit an die Heirat seines Sohnes. Auch Luise dachte darüber nach und suchte sich eine Schuld zuzuschieben, obgleich sie sich nichts vorzuwerfen hatte.

Sie war Dienstmädchen gewesen, als zu aller Überraschung, und nicht zum mindesten zu der ihren, Melchior Krafft, Hans Michels Sohn, sie geheiratet hatte.

Die Kraffts besaßen kein Vermögen, waren aber in der kleinen rheinischen Stadt, in der der Alte sich vor beinahe einem halben Jahrhundert niedergelassen hatte, sehr geachtet. Seit Generationen waren sie Musiker und bei den Musikern des ganzen Landes zwischen Köln und Mannheim wohl bekannt. Melchior war Violinist am Hoftheater, und Hans Michel hatte früher die großherzoglichen Konzerte dirigiert.

Der Greis fühlte sich durch Melchiors Heirat tief gedemütigt. Er hatte große Hoffnungen auf seinen Sohn gesetzt und aus ihm den hervorragenden Mann machen wollen, der er selbst nicht hatte werden können. Dieser kopflose Streich zerstörte alle seine ehrgeizigen Pläne. Zuerst hatte er denn auch gehörig gewettert und Melchior wie Luise mit Flüchen überschüttet. Vom Augenblick an, da er sie besser kennen lernte, grollte er jedoch als anständiger Mensch, der er war, seiner Schwiegertochter nicht länger, ja hatte sogar eine Art väterliche Zuneigung zu ihr gefaßt, die sich meistens durch Barschheit äußerte.

Niemand konnte verstehen, was Melchior zu dieser Heirat getrieben hatte, Melchior weniger als irgend jemand. Sicher war es nicht Luisens Schönheit. Nichts an ihr schien verführerisch: sie war klein, bläßlich und schmächtig und bildete so einen sonderbaren Gegensatz zu Melchior und Hans Michel, die beide groß und breit waren, lärmende Kolosse mit rotem Gesicht, fester Faust, gutem Appetit, gehörigem Durst und Lust zum Lachen. Sie schien von ihnen erdrückt zu werden; man bemerkte sie kaum, und sie suchte sich obendrein noch mehr vergessen zu machen. Wäre Melchior gutherzig gewesen, hätte man glauben können, er habe jedem andern äußern Vorteil die schlichte Güte Luises vorgezogen. Aber er war der denkbar eitelste Mann. Fast sah es nach einer törichten Wette aus, daß ein Bursche seines Schlages, recht hübsch und sich dessen wohl bewußt, sehr eingebildet und übrigens nicht ohne Talent, sich plötzlich ein Mädchen aus dem Volke wählte: arm, ohne jede Erziehung, ohne Reiz, das ihm nicht im geringsten entgegengekommen war, – während er ganz gut Anspruch auf eine reiche Heirat hätte machen können und vielleicht – wer weiß – sogar fähig gewesen wäre, wie er sich dessen rühmte, einer seiner Schülerinnen aus wohlhabendem Bürgerhause den Kopf zu verdrehen. Aber Melchior gehörte zu jenen Menschen, die immer das Gegenteil dessen tun, was man von ihnen erwartet und dessen sie selbst gewärtig sind. Nicht etwa, daß sie ungewarnt wären! – Man sagt zwar, ein gut Gewarnter ist doppelt vorsichtig … und solche Menschen machen sogar geradezu einen Beruf daraus, auf nichts hereinzufallen und ihren Kahn mit sicherm Schlag nach einem bestimmten Ziel zu steuern. Aber sie rechnen ohne sich selbst; denn sie kennen sich nicht. In einem der ihnen gewohnten Augenblicke innerer Leere lassen sie sich die Herrschaft entgleiten; und selbstverständlich haben die Dinge, wenn sie sich selbst überlassen sind, ein boshaftes Vergnügen daran, ihren Herren entgegenzuarbeiten. Das freigelassene Boot fährt geradeswegs auf die Sandbank auf, und der verschlagene Melchior heiratet eine Köchin. Dabei war er an dem Tage, an dem er sich fürs Leben an sie band, weder betrunken noch unzurechnungsfähig; auch stand er nicht etwa unter dem Zwang einer großen Leidenschaft; dazu fehlte gar viel.

Aber vielleicht wirken in uns andere Mächte als Kopf und Herz, andere selbst als die Sinne, – geheimnisvolle Mächte, die das Kommando in den Augenblicken der Leere übernehmen, in welchen die andern schlafen gehen. Und vielleicht waren sie es, denen Melchior auf dem Grund der bleichen, ihn an jenem Abend schüchtern anschauenden Augensterne begegnet war, als er das junge Mädchen an der Böschung des Flusses angesprochen und sich neben sie in das Schilf gesetzt hatte, – ohne zu wissen weshalb, – um ihr seine Hand zu reichen.

Gleich nach seiner Heirat verfiel er über das, was er getan hatte, in eine bittere Niedergeschlagenheit, die er nicht einmal vor der armen Luise verbarg, welche, demütig wie sie war, ihn obendrein um Verzeihung bat. Er war nicht bösartig und gewährte sie ihr gern; im nächsten Augenblick aber überfielen ihn im Kreis seiner Freunde Gewissensbisse oder auch bei seinen reichen, jetzt hochmütigen Schülerinnen, die nicht mehr erschauerten, wenn er ihre Fingerhaltung auf dem Klavier verbessern wollte und dabei ihre Hand mit der seinen berührte. Er kehrte dann mit finsterer Miene heim, wo Luise mit gepreßtem Herzen aus seinem ersten Blick die gewohnten Vorwürfe las; oder er machte wohl Stationen im Wirtshaus; dort holte er sich dann Zufriedenheit mit sich selbst und Nachsicht gegen andere. An solchen Abenden trat er laut lachend ins Zimmer, was Luise trauriger stimmte als die heimlichen Anspielungen und der dumpfe Groll anderer Tage. Sie fühlte sich für seine Abfälle von Liederlichkeit mit verantwortlich, durch die, samt dem Haushaltungsgeld, Melchiors schwache Reste gesunden Menschenverstandes mehr und mehr schwanden. So sank er von Tag zu Tag tiefer. In einem Alter, in dem er unermüdlich hätte arbeiten müssen, um sein mittelmäßiges Talent zu entwickeln, ließ er sich die schiefe Ebene hinabgleiten; und andere nahmen seinen Platz ein.

Was aber kümmerte das die unbekannte Macht, welche ihn der flachshaarigen Dienstmagd zugeführt hatte? Melchior hatte seine Schuldigkeit getan und der kleine Johann Christof faßte Fuß auf dieser Erde, auf die er vom Schicksal gestoßen war.

 

Es war vollständig Nacht geworden. Luises Stimme weckte den alten Hans Michel aus dem dumpfen Sinnen, dem er sich in Erinnerung gegenwärtiger und vergangener Trübsal vor dem Feuer überlassen hatte.

»Vater, es ist gewiß spät«, sagte die junge Frau zärtlich. »Du mußt heimgehen; dein Weg ist weit.«

»Ich erwarte Melchior«, erwiderte der Greis.

»Nein, ich bitte dich, ich möchte lieber, daß du nicht bleibst.«

»Warum?«

Der Alte hob den Kopf und sah sie aufmerksam an.

Sie antwortete nicht.

Er fuhr fort:

»Du hast Angst, du willst nicht, daß ich ihm begegne.«

»Gott, ja: das würde alles nur noch mehr verderben. Ihr würdet aneinander geraten; ich will das nicht. Ich bitte dich!«

Der Alte seufzte, erhob sich und sagte:

»Also gehen wir!«

Er trat zur ihr heran und streifte ihre Stirn mit seinem stoppeligen Bart, fragte, ob sie noch irgend etwas brauche, schraubte das Lampenlicht niedriger und verließ, in der Dunkelheit gegen die Stühle stolpernd, das Zimmer. Aber er war noch nicht auf der Treppe, als er wieder an seinen Sohn dachte, der betrunken heimkehren würde; und er zögerte bei jedem Schritt; er malte sich tausend Gefahren aus, wenn er ihn allein hineingehn lassen würde.

Der Knabe im Bett neben der Mutter wurde von neuem unruhig. Eine unbekannte Qual stieg aus der Tiefe seines Seins empor. Er bot ihr Trotz. Er wand seinen Körper, ballte seine Fäustchen, verzog seine Brauen. Ruhig schwoll der Schmerz an, sicher seiner Macht. Der Kleine wußte nicht, was das war, noch wohin es wollte. Es schien ihm ungeheuer, schien niemals ein Ende haben zu können. – Und er begann jämmerlich zu schreien. Seine Mutter koste ihn mit sanften Händen; schon wurde die Qual weniger stechend. – Aber er weinte weiter, denn er fühlte das Verhängnis immer neben sich, in sich. – Der leidende Mensch kann seinen Schmerz verringern, wenn er weiß, woher er kommt; er beschränkt ihn durch das Denken auf einen Teil seines Körpers, der geheilt und, wenn nötig, entfernt werden kann; er umgrenzt gleichsam seine Umrisse, er trennt sich von ihm. – Das Kind besitzt diese trügerische Hilfsquelle nicht. Seine erste Begegnung mit dem Schmerz ist tragischer und wahrer. Wie sein eignes Wesen scheint er ihm grenzenlos; er fühlt ihn in seiner Brust eingenistet, festgesetzt in seinem Herzen, Beherrscher seines Leibes. Und in der Tat: er wird ihn nicht mehr verlassen, bis er ihn einst ganz aufgerieben hat. Die Mutter drückte den Säugling mit kleinen Trostworten an sich:

»Es ist vorbei, es ist vorbei, weinen wir nicht mehr, mein Herzblatt, mein kleiner Goldfisch« … Aber er fuhr fort, ab und zu aufzuschluchzen. Es war, als hätte diese elende, unbewußte und unförmliche Masse das Vorgefühl des ganzen mühevollen Lebens, das ihr bestimmt war. Nichts konnte sie beruhigen …

Die Glocken von St. Martin sangen durch die Nacht. Ihre Stimmen waren ernst und schwer. In der regenfeuchten Luft wanderten sie wie Schritte auf Moosboden. Der Knabe schwieg inmitten eines Schluchzens. Die wundersame Musik rann sacht in ihn hinein, gleich einem Strom von Milch. Die Nacht erhellte sich, die Luft schien zart und lau. Sein Schmerz schwand hin, sein Herz begann zu lachen; und mit einem Seufzer der Ergebung glitt er in den Traum.

Die drei friedlichen Glocken fuhren fort, das Fest des nächsten Morgens einzuläuten. Auch Luise träumte, indem sie ihnen lauschte, von ihrer verflossenen Trübsal und von dem, was später das liebe Kindchen werden würde, das an ihrer Seite eingeschlafen war. Sie lag ausgestreckt, müde und schmerzgeplagt seit Stunden in ihrem Bett. Ihre Hände und ihr Körper brannten. Das schwere Federbett erdrückte sie. Ganz zerschlagen fühlte sie sich und beängstigt vom Dunkel, aber sie wagte sich nicht zu rühren. Sie betrachtete das Kind; und die Nacht hinderte sie nicht, in seinen ältlichen Zügen zu lesen. Der Schlaf übermannte sie, fieberhafte Bilder zogen durch ihr Gehirn. Sie glaubte zu hören, wie Melchior die Tür öffnete, und ihr Herz zuckte zusammen. In manchen Augenblicken schwoll das Murmeln des Flusses lauter, gleich dem Gebrüll eines Tieres, durch die Stille. Die Scheibe klang noch ein- oder zweimal unter dem Finger des Regens. Die Glocken wurden träger, sangen und verklangen; und Luise schlief neben ihrem Kinde ein.

Während dieser Zeit wartete der alte Hans Michel vor dem Haus, im Regen zähneklappernd und den Bart vom Nebel durchnäßt. Er wartete darauf, daß sein elender Sohn zurückkehre; denn sein immer arbeitender Kopf ließ nicht nach, ihm tragische Geschichten, die infolge der Trunksucht geschehen konnten, auszumalen, und wenn er auch nicht an sie glaubte, hätte er doch diese Nacht keine Minute schlafen können, wäre er fortgegangen, ohne Melchior heimkehren zu sehen. Der Glockengesang stimmte ihn tief traurig; denn er rief ihm seine getäuschten Hoffnungen wach. Er dachte daran, was er da zu dieser Stunde auf der Straße tat, und er weinte vor Scham.

 

Der breite Strom der Tage rollt träge dahin. Unveränderlich steigen und fallen Tag und Nacht wie Flut und Ebbe eines unendlichen Meeres. Wochen und Monate verrinnen und beginnen von neuem. Und die Folge der Tage ist wie ein einziger Tag.

Unermeßlicher, schweigsamer Tag, den der gleichmäßige Rhythmus von Dunkel und Licht gliedert und der Lebensrhythmus des traumbefangenen Wesens, das da tief in seiner Wiege schläft, – mit allen seinen gebieterischen, schmerzlichen oder freudigen Bedürfnissen, die so regelmäßig kommen und gehen, daß Tag und Nacht, die seine Wünsche mit sich bringen, durch sie emporgeführt zu werden scheinen.

Schwerfällig bewegt sich der Pendel des Lebens. Das kleine Wesen vertieft sich ganz und gar in seinen langsamen Pulsschlag. Der Rest sind Träume, – unklare, unförmliche Traumbrocken, eine Staubwolke von Atomen, die aufs Geratewohl durcheinandertanzen, ein schwindelnder, vorbeistreichender Wirbel, der Lachen oder Entsetzen bringt. Schreie, bewegte Schatten, verzerrte Formen, Schmerzen, Schrecken, Lachen, Träumen, – Träume … – Alles ist ein einziger Traum, so Tag wie Nacht … – und zwischen diesem Chaos das Licht aus Freundesaugen, die ihm lächeln, der Freudenstrom, der aus dem mütterlichen Körper, aus dem von Milch geschwellten Busen in seinen Körper sich ergießt, – die Kraft, die in ihm ist, die ungeheure unbewußte Kraft, die sich ansammelt, der brausende Ozean, der im engen Gefängnis dieses kleinen Kinderkörpers grollt. Wer in ihm lesen könnte, würde Welten sehen, im Dunkel halb vergraben, Nebelflecken, die sich zusammenschließen, ein Universum, das sich formt. Sein Wesen ist ohne Grenzen. Alles Sein ist Er.

 

Die Monate gehen … Gedächtnisinseln fangen an, aus dem Fluß des Lebens aufzutauchen. Zuerst sind es verlorene enge Inselchen, Felsspitzen, die an die Oberfläche der Wasser dringen. Rings um sie her, hinter ihnen breitet sich im anbrechenden Zwielicht nach wie vor die große stille Meeresfläche. Dann wieder neue Inselchen, welche die Sonne vergoldet.

So tauchen aus dem Abgrund der Seele gewisse Formen, gewisse Vorgänge mit seltsamer Klarheit empor. In dem schrankenlosen Tag, der mit seinem eintönigen und mächtigen Pendelschlag immer wieder als ewig derselbe anhebt, beginnt der Reigen der Tage Gestalt anzunehmen, beginnen sich ihre bald lächelnden, bald traurigen Profile zu zeichnen. Aber die Glieder der Kette zerreißen fortwährend, und die Erinnerungen greifen über dem Haupte der Wochen und Monate ineinander …

Der Fluß … die Glocken … So weit er zurückdenkt, in die Fernen der Zeit, in irgendeine seiner Lebensstunden, – immer singen ihre tiefen und vertrauten Stimmen …

Die Nacht, – im Halbschlaf: – ein fahler Schimmer erhellt das Fenster … Der Fluß murmelt. Allmählich steigt seine Stimme durch die Stille; sie regiert die Wesen. Bald kost sie ihren Schlaf und scheint nahe daran, selbst zu entschlummern. Bald wird sie gereizt und heult auf wie ein wütendes Tier, das beißen will. Das Gebrüll beruhigt sich: nun ist es ein Murmeln voll unendlicher Sanftmut, Silberklänge, wie klare Glöckchen, wie Kinderlachen, sanfte singende Stimmen, tanzende Musik. Große mütterliche Stimme, die niemals einschläft! Sie wiegt den Knaben, so wie sie seit Jahrhunderten von Geburt zum Grabe die Geschlechter wiegte, die vor ihm waren; sie durchdringt sein Denken, prägt seine Träume, sie umgibt ihn mit dem Mantel ihrer flüssigen Harmonien, die ihn noch umhüllen werden, wenn er in dem kleinen Kirchhof gebettet liegen wird, der am Uferrand schläft und den der Rhein umspült.

Die Glocken … Die Morgensonne ist da! Sie antworten sich wehmütig, fast traurig, freundschaftlich, still. Beim Klang ihrer schweren Stimmen heben sich Schwärme von Träumen, Träume der Vergangenheit, Wünsche, Hoffnungen, Leiden verschwundener Wesen, die das Kind nicht kannte, und die es dennoch selber gewesen ist, denn es war in ihnen und sie leben in ihm wieder auf. Jahrhunderte voll Erinnerungen schwingen in der Glockenmusik. Wieviel Trauer, wieviel Feste! – Und wenn man sie hört, ist es hinten im Zimmer, als sähe man die schönen tönenden Wellen vorbeiziehen, die durch die leichte Luft rinnen wie freie Vögel, wie der laue Hauch des Windes. Ein Eckchen blauen Himmels lächelt durchs Fenster. Ein Sonnenstrahl gleitet durch die Vorhänge aufs Bett. Die kleine, den Kinderaugen vertraute Welt, alles was er jeden Morgen beim Erwachen von seinem Bett aus sieht, alles was er kaum und mit tausend Anstrengungen anfängt zu erkennen und zu benennen, um schließlich seiner Herr zu werden, – sein ganzes Königreich leuchtet auf. Da sieht er den Tisch, an dem man ißt, den Wandschrank, in dem er sich beim Spielen versteckt, den Fußboden mit dem Rautenmuster, auf dem er herumkriecht, die Tapete, deren Fratzen ihm drollige oder grausige Geschichten erzählen, und die Wanduhr, die hölzerne Worte plappert, welche er allein verstehen kann. Wieviel Dinge in solch einem Zimmer sind! Er kennt sie noch nicht alle. Jeden Tag geht er auf neue Forschungsreisen in die Welt hinein, die sein Eigen ist: alles ist sein Eigen. – Nichts bleibt ihm gleichgültig, alles hat den gleichen Wert, sei es ein Mensch oder eine Fliege; alles ist vom selben Leben erfüllt: die Katze, das Feuer, der Tisch und die Staubkörner, die in einem Sonnenstrahl tanzen. Das Zimmer ist ein Land; ein Tag ist ein Leben. Wie soll man sich nur inmitten dieser unendlichen Räume zurechtfinden! Die Welt ist so groß! Man verliert sich darin. Und rings um ihn her dieser ewige Wirbel von Gesichtern, Gebärden, von Bewegung und Lärm! … Er wird müde davon, die Augen fallen zu, er entschlummert wieder. Solch süßer, tiefer Schlaf ist's, der ihn plötzlich überfällt, – ganz gleich zu welcher Stunde und wo es gerade ist, auf der Mutter Schoß oder unterm Tisch, wo er sich gern versteckt! … So ist ihm gut … so fühlt er sich wohl …

Erste bewußte Tage! Sie summen leise in seinem Kopf wie ein Kornfeld oder ein Wald, den der Wind bewegt und über den die großen Wolkenschatten ziehn …

 

Die Schatten fliehn, tief dringt die Sonne in den Wald. Christof fängt an durch das Labyrinth des Tages seinen Weg zu finden.

Der Morgen … Die Eltern schlafen. Er liegt in seinem kleinen Bett, auf dem Rücken. Er betrachtet die Lichtstreifen, die an der Zimmerdecke tanzen, und das macht ihm unermüdliches Vergnügen. Plötzlich lacht er ganz laut, mit jenem warmen Kinderlachen, das die Herzen derer, die es hören, weitet. Seine Mutter neigt sich ihm zu und fragt: »Was hast du denn, du kleiner Narr?« Dann lacht er, was er nur kann, und zwingt sich vielleicht sogar ein wenig dazu, weil er ein Publikum hat. Mama setzt ein ernstes Gesicht auf und hebt den Finger zum Mund, damit Christof den Vater nicht aufwecke; aber ihre müden Augen lachen, ohne daß sie's will. Sie tuscheln miteinander … Plötzlich ertönt ein wütendes Brummen vom Vater. Sie zucken alle beide zusammen. Mama dreht eilig den Rücken und stellt sich wie ein kleines unartiges Mädchen schlafend. Christof vergräbt sich in sein Bett und hält den Atem an … Todesstille. Nach einiger Zeit kommt das kleine, unter die Decken gedrückte Gesicht wieder an die Oberfläche. Auf dem Dach kreischt die Wetterfahne. Die Regenrinne tropft. Die Morgenglocke klingt; kommt der Wind von Osten, so antworten ihr von weither die Glocken der auf dem andern Flußufer gelegenen Dörfer. Die Sperlingsschar in der efeuumsponnenen Mauer vollführt einen ohrenbetäubenden Lärm, aus dem sich drei oder vier Stimmen hervortun, die, immer dieselben, lauter kreischen als die übrigen. Eine Taube girrt auf der Spitze eines Schornsteins. Das Kind läßt sich von allen diesen Geräuschen wiegen. Es summt ganz leise vor sich hin, dann weniger leis, dann laut, nun ganz laut, bis der Vater von neuem außer sich schreit: »Wird der Esel denn niemals den Mund halten! Warte nur, ich werde dich bei den Ohren packen!« Dann verkriecht sich der Kleine in seine Decken und weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll. Er ist erschreckt und gedemütigt, und gleichzeitig möchte er bei der Idee des Esels, mit dem man ihn vergleicht, herausplatzen. Tief in seinem Bett ahmt er das Eselsgeschrei nach. Diesmal wird er mit der Rute geschlagen. Er weint alle Tränen, die sein kleiner Körper hergibt. Was hat er getan? Er möchte so gern lachen und sich bewegen! Und es wird ihm verboten, sich zu rühren. Wie machen sie's, um immer schlafen zu können? Wann wird man denn aufstehen dürfen? … Eines Tages hält er's nicht mehr aus. Er hat auf der Straße eine Katze oder einen Hund gehört, kurz irgend etwas Seltsames. Er läßt sich aus dem Bett gleiten, seine nackten Füßchen tappen ungeschickt über die Fliesen, er will die Treppe hinunter, um nachzuschauen; aber die Tür ist verschlossen. Er steigt auf einen Stuhl, um sie zu öffnen: alles bricht zusammen, er tut sich sehr weh und heult; und obendrein wird er noch gehauen. Er wird immer gehauen! …

 

Er ist mit Großvater in der Kirche und langweilt sich. Er fühlt sich nicht recht behaglich. Man verbietet ihm, sich zu rühren, und die Leute sprechen gemeinsam Worte, die er nicht versteht, und gleich darauf schweigen sie gemeinsam. Alle tragen sie eine feierliche und grämliche Miene zur Schau, die nicht ihr alltägliches Gesicht ist. Er sieht sie eingeschüchtert an. Die alte Lina, die Nachbarin, die neben ihm sitzt, hat ein ganz böses Gesicht aufgesetzt; in manchen Augenblicken erkennt er nicht einmal Großvater wieder. Er ängstigt sich ein wenig. Schließlich gewöhnt er sich daran und versucht durch alle Mittel, über die er verfügt, sich die Zeit zu vertreiben. Er schaukelt sich, verdreht den Hals, um die Decke über sich anzuschauen, schneidet Gesichter, zieht Großvater am Rock, studiert das Strohgeflecht seines Stuhles und versucht mit seinen Fingern ein Loch hinein zu bohren, er lauscht dem Vogelgeschrei, – er gähnt, als wolle er sich den Kiefer ausrenken.

Da plötzlich ein Sturzbach von Klängen. Die Orgel spielt. Ein Schauer läuft ihm am Rückgrat hinunter. Er dreht sich herum, stützt das Kinn auf die Stuhllehne und bleibt nun sehr artig sitzen. Zwar begreift er nichts an diesem Lärm, weiß nicht, was er bedeutet: es funkelt und wirbelt durcheinander, so daß man nichts unterscheiden kann. Aber es tut wohl. Es ist, als säße man gar nicht seit einer Stunde in einem langweiligen alten Haus auf einem Stuhl, der weh tut. Man schwebt frei wie ein Vogel in der Luft; und wenn der Strom der Töne von vorn nach hinten durch die Kirche rauscht, die Gewölbe füllt, gegen die Wände anspritzt, wird man mit ihm emporgehoben, fliegt mit Flügelschnelle hierhin und dorthin und braucht sich nur tragen zu lassen. Man ist frei, ist glücklich, die Sonne scheint … Er entschlummert sanft.

Großvater ist mit ihm unzufrieden. Er benimmt sich schlecht in der Messe.

 

Er ist zu Haus, sitzt auf der Erde und hält die Füßchen in seinen Händchen. Er hat soeben bestimmt, daß die Strohmatte ein Boot ist und der Fußboden ein Fluß. Er meint zu ertrinken, wenn er den Teppich verläßt. Ein wenig erstaunt und ärgerlich ist er, daß die Andern, die durchs Zimmer gehen, nicht wie er darauf achtgeben. Er hält seine Mutter beim Rockschoß fest: »Du siehst doch, daß da Wasser ist. Du mußt über die Brücke gehen.« – Die Brücke ist eine Reihe von Fugen zwischen den roten Fliesen. – Seine Mutter geht vorüber und hört ihm nicht einmal zu. Er fühlt sich bedrückt, ungefähr so wie ein dramatischer Dichter, der das Publikum während seines Stückes schwatzen sieht.

Im nächsten Augenblick denkt er nicht mehr daran. Der Fußboden ist kein Wasser mehr. Er liegt der Länge lang darauf, das Kinn auf den Steinen, und summt eine von ihm komponierte Musik, indem er dabei ernsthaft am Daumen lutscht. Er ist ganz in die Betrachtung einer Spalte zwischen den Steinen vertieft. Die Linien der Fliesen grinsen wie Gesichter. Das winzige Loch weitet sich, und es wird zum Tal. Berge stehen ringsum. Ein Tausendfüßler bewegt sich: er ist dick wie ein Elefant. Der Donner könnte niederbrechen, der Knabe würde ihn nicht hören.

Niemand bekümmert sich um ihn, und er hat niemand nötig. Er könnte selbst die Strohmattenboote und die Höhlen des Fußbodens mit ihrer phantastischen Fauna entbehren. Sein eigner Körper genügt ihm.

Welch eine Quelle der Unterhaltung! Ganze Stunden verbringt er damit, seine Nägel zu betrachten und laut darüber zu lachen. Sie haben alle verschiedene Physiognomien und ähneln ihm bekannten Leuten. Er läßt sie miteinander plaudern und tanzen oder sich schlagen. – Und sein übriger Körper! … Er dehnt die Untersuchungen über alles aus, was ihm gehört. Wie viele erstaunliche Dinge! Es sind äußerst seltsame darunter. Er vertieft sich neugierig in ihren Anblick.

Er wird manchmal hart geschlagen, wenn man ihn so überrascht.

 

An manchen Tagen wartet er nur darauf, daß seine Mutter den Rücken dreht, um aus dem Haus zu gehen. Zuerst läuft man hinter ihm drein und erwischt ihn. Dann gewöhnt man sich daran, ihn allein zu lassen, vorausgesetzt, daß er sich nicht zu weit entfernt. Das Haus steht am Ende der Stadt, und das freie Feld fängt beinahe gleich dahinter an. Solange er in Sehweite der Fenster ist, wandert er mit bedächtigem Schritt ohne innezuhalten, nur daß er hin und wieder auf einem Fuße hüpft. Aber sobald er um die Ecke des Weges ist und das Gebüsch ihn den Blicken verbirgt, ändert er mit einem Schlag sein Benehmen. Er beginnt damit, stille zu stehen, den Finger in den Mund zu stecken und sich zu überlegen, welche Geschichte er sich heute erzählen wird: denn sein Kopf ist ganz voll davon, – wenn es auch wahr ist, daß sie sich alle ein wenig ähneln und jede nur drei oder vier Zeilen umfaßt.

Er wählt sich eine aus. Gewöhnlich nimmt er ein und dieselbe wieder auf; einmal an dem Punkt, wo er sie am Abend vorher unterbrochen hat, ein anderes Mal beginnt er, aber mit Variationen, wieder von vorne. Jedoch ein Nichts, ein zufällig aufgefangenes Wort genügt, um seine Gedanken auf neuer Fährte laufen zu lassen.

Der Zufall ist fruchtbar und hilfsbereit. Man kann sich gar nicht alle Möglichkeiten vorstellen, die einem Stück Holz zu entlocken sind, oder einem abgebrochenen Zweig, wie man sie längs der Hecken findet (findet man keinen, bricht man einen herunter); das ist dann der Zauberstab. Lang und gerade wird er zu einer Lanze oder vielleicht auch einem Degen. Es genügt ihn zu schwingen, um Armeen ins Leben zu rufen. Christof ist dann ihr General, er marschiert an ihrer Spitze, er gibt das Beispiel und nimmt Böschungen im Sturm. Wenn der Zweig aber biegsam ist, verwandelt er sich zur Reitgerte. Christof steigt zu Pferd und setzt über Abgründe. Manchmal kommt es vor, daß der Sattel rutscht und der Reiter befindet sich plötzlich in der Tiefe des Weggrabens, wo er mit verdutzter Miene seine schmutzigen Hände und zerschundenen Kniee betrachtet. Wenn das Stöckchen klein ist, macht sich Christof zum Dirigenten; und zwar ist er Dirigent und Orchester zugleich, er dirigiert und singt; und dann verbeugt er sich vor den Büschen, deren grüne Köpfchen vom Wind bewegt werden.

Er ist auch ein Zauberer. Er wandert mit großen Schritten durch die Felder, schaut den Himmel an und bewegt lebhaft die Arme. Er befiehlt den Wolken. Er will, daß sie mehr nach rechts gehen. Aber sie gehen nach links. Da schilt er sie und wiederholt seinen Befehl heftiger. Klopfenden Herzens belauert er sie mit einem Seitenblick und paßt auf, ob nicht wenigstens eine kleine ihm gehorche. Aber sie laufen alle ruhig weiter nach links. Nun stampft er mit dem Fuß auf, droht ihnen mit seinem Stock und heißt sie nach links gehn. Und wirklich, diesmal gehorchen sie aufs Wort. Er ist glücklich und stolz auf seine Macht. Er berührt die Blumen und befiehlt ihnen, sich in goldene Wagen zu verwandeln, wie sie's in Märchen tun. Und obgleich es bei ihm niemals dazu kommt, ist er doch überzeugt, daß es mit ein wenig Geduld schon geschehen wird.

Er sucht ein Heimchen, um ein Pferd daraus zu machen. Er legt ihm ganz zart seinen Zauberstab auf den Rücken und murmelt dabei einen Spruch. Das Insekt flüchtet: aber er versperrt ihm den Weg. Noch ein paar Augenblicke, und er liegt platt auf dem Bauch bei dem Tierchen und betrachtet es. Seine Zaubererrolle hat er vergessen und vergnügt sich daran, das arme Tier auf den Rücken zu drehen und über seine Zuckungen hell aufzulachen.

Es kommt ihm auch in den Sinn, an seinen Zauberstab einen alten Bindfaden zu knüpfen, den er dann ernsthaft in den Fluß wirft und darauf wartet, daß ein Fisch danach schnappe. Zwar weiß er ganz gut, daß Fische nicht gewohnt sind, Bindfäden ohne Lockspeise und Angelhaken zu fressen; aber er denkt, einmal und für ihn könnten sie doch eine Ausnahme von der Regel machen. Und in seinem unerschöpflichen Vertrauen bringt er es sogar fertig, eines Tages mit einer Gerte in der Straße durch die Ritze einer Kloakenplatte hindurchzuangeln. Von Zeit zu Zeit zieht er die Gerte sehr erregt empor und bildet sich dabei ein, daß diesmal die Schnur schwerer sei, daß er einen Schatz emporheben würde, ganz so wie in der Geschichte, die Großvater ihm erzählt hat …

Inmitten aller Spiele aber geschah es immer wieder, daß ihn Minuten seltsamer Träumerei und vollkommenen Vergessens überfielen. Alles, was ihn umgab, war dann ausgelöscht, er wußte nicht mehr, was er tat, er entsann sich seiner selbst kaum. Ganz unvorhergesehen kam das. Beim Gehen, beim Treppensteigen – plötzlich öffnete sich eine Leere in ihm. Es war, als dächte er an gar nichts mehr. Doch kam er wieder zu sich, dann überfiel es ihn wie ein Schwindel, weil er sich noch am selben Platz auf der dunklen Treppe befand. Ihm war, als habe er im Zeitraum weniger Schritte ein ganzes Leben gelebt.

 

Großvater nahm ihn oft auf seinen Abendspaziergängen mit. Der Kleine trippelte, seine Hand in der des Alten, an dessen Seite. Sie gingen quer über Wege, mitten durch beackerte Felder, die starken, guten Geruch ausströmten. Die Heimchen zirpten. Riesige Krähen, die im Profil am Weg saßen, schauten ihnen von weitem entgegen und flatterten bei ihrem Nahen schwerfällig davon.

Großvater hüstelte. Christof wußte sehr wohl, was das bedeuten sollte. Der Alte brannte darauf, ihm eine Geschichte zu erzählen; aber er wollte, daß das Kind ihn darum bäte. Christof versäumte das niemals. Die beiden verstanden sich sehr gut. Der Alte liebte seinen Enkel unsagbar; nebenbei war es ihm eine große Freude, in ihm ein aufmerksames Publikum zu finden. Er erzählte gern Episoden aus seinem Leben oder die Geschichte großer Männer des Altertums und der Neuzeit; dabei wurde seine Stimme bewegt und pathetisch und zitterte in kindlicher Freude, die er einzudämmen versuchte. Man fühlte, er hörte sich selbst mit Begeisterung zu. Sein Unglück war nur, daß ihm im Augenblick des Sprechens die Worte fehlten: ein Strich durch die Rechnung, der ihm öfters gemacht wurde und sich, so oft er ins Feuer der Beredsamkeit geriet, wiederholte. Da er das aber nach jedem Versuch vergaß, kam er nie dazu, es das nächste Mal besser zu machen.

Er sprach von Regulus, von Arminius, von den Lützowschen Jägern, von Körner und von Friedrich Stabs, dem, der den Kaiser Napoleon töten wollte. Sein Gesicht strahlte, wenn er von so unerhörten Heldentaten berichtete. Er sprach die historischen Namen in so tief feierlichem Ton aus, daß es äußerst schwierig wurde, sie zu verstehen; und er glaubte sich auf der Höhe seiner Vortragskunst, wenn er den Zuhörer in aufregenden Augenblicken zappeln ließ: er hielt dann inne, tat, als ob er an etwas würge, schnäuzte sich geräuschvoll und jubelte innerlich, wenn der Kleine mit einer vor Ungeduld erstickten Stimme fragte: »Und dann, Großvater?«

Als Christof größer wurde, kam der Tag, wo er Großvaters Spiel durchschaute; und er bemühte sich dann boshafterweise, die Fortsetzung der Geschichte mit gleichgültiger Miene abzuwarten, was den armen Alten bitter schmerzte. – Aber vorläufig war er ganz der Kunst des Erzählers ausgeliefert, und sein Puls ging bei den dramatischen Stellen schneller. Er wußte nicht recht, von wem die Geschichten handelten noch wo und wie diese heldenhaften Begebenheiten geschehen waren, ob Großvater etwa Arminius kenne, ob Regulus – Gott weiß warum? – nicht irgend einer sei, den er am vorigen Sonntag in der Kirche gesehen hatte. Aber sein und des Alten Herz weiteten sich vor Stolz und Freude beim Bericht historischer Taten, als ob sie selber daran teilgenommen hätten: denn der Alte und der Junge waren einer wie der andere Kinder. Weniger beglückt war Christof, wenn Großvater im spannendsten Augenblick eine seiner Reden, die ihm so sehr am Herzen lagen, einschaltete. Es waren das meist moralische Betrachtungen, die von einem guten, jedoch ziemlich gewöhnlichen Gedanken ausgingen, wie: »Sanftmut ist besser als Zorn« oder »Die Ehre gilt mehr als das Leben« oder »Gut sein ist besser als schlecht sein« – nur klangen diese Sprüche bei ihm bedeutend verworrener. Großvater fürchtete die Kritik seines jugendlichen Publikums durchaus nicht und ließ sich von seiner gewohnten Emphase fortreißen; es machte ihm nichts aus, dieselben Wendungen zu gebrauchen, seine Sätze nicht zu beenden oder selbst, falls er mitten in einer Rede den Faden verloren hatte, alles herauszusagen, was ihm durch den Kopf ging, um damit die Gedankenlöcher zuzustopfen. Er betonte einzelne Worte, um ihnen noch mehr Nachdruck zu verleihen, mit widersinnigen Gebärden. Der Kleine lauschte ihm in tiefem Respekt und fand, daß Großvater sehr beredt, aber ein wenig langweilig sei.

Sehr gern kamen Beide auf die Fabelmär jenes korsischen Eroberers zurück, der Europa unterworfen hatte. Großvater hatte ihn gekannt. Beinahe hätte er gegen ihn gekämpft. Aber er wußte die Größe seiner Gegner anzuerkennen. Zwanzigmal hatte er's wohl gesagt: einen seiner Arme hätte er hingegeben, wenn solch ein Mann diesseits des Rheins geboren wäre. Das Schicksal hatte es anders bestimmt: er bewunderte den Korsen und mußte gegen ihn kämpfen, – das heißt, es fehlte nur ein kleines, und er hätte gegen ihn gekämpft. Jedoch als sie ihm entgegenzogen und nur noch zehn Meilen von ihm entfernt waren, hatte die kleine Truppe inmitten eines Waldes plötzliche Panik überfallen und nach allen Seiten zerstreut. Mit dem Geschrei: ›wir sind verraten!‹ war jeder entflohen. Vergeblich, so erzählte Großvater, hatte er versucht, die Flüchtlinge wieder zusammenzuziehen. Er hatte sich drohend und weinend ihnen entgegengeworfen: aber er war von ihrem Strom mit fortgerissen worden – um erst am nächsten Morgen in einer erstaunlichen Entfernung vom Schlachtfeld – so nannte er den Ort der Auflösung – wieder zu sich zu kommen. Christof jedoch erinnerte ihn ungeduldig an die Taten des Helden; und er geriet in Entzückung über seine wunderbaren Ritte quer durch die Welt. Er sah ihn vor sich, gefolgt von unzähligen Völkerscharen, deren Liebe ihm zuschrie und die ein Wink von ihm im Wirbel gegen immer fliehende Feinde warf. Es war ein Märchen. Großvater fügte aus eigener Phantasie noch ein wenig hinzu, um die Weltgeschichte auszuschmücken; er ließ Napoleon Spanien erobern und beinahe England, das er nicht leiden konnte.

Zuweilen aber unterbrach der alte Krafft seine begeisterten Erzählungen auch durch entrüstete Vorwürfe gegen seinen Helden. Der Patriot wachte in ihm auf – und vielleicht mehr bei den Niederlagen des Kaisers, als wenn von der Schlacht bei Jena die Rede war. Er drohte dann mit der Faust gegen den Fluß, er spuckte verachtungsvoll und stieß edle Flüche aus, – zu andern als solchen erniedrigte er sich nicht. Er nannte ihn einen Bösewicht, ein Raubtier, einen tugendlosen Menschen. Sollten jedoch solche Reden im Geist des Kindes den Gerechtigkeitssinn befestigen, so muß man gestehen, daß sie ihren Zweck verfehlten. Denn die kindliche Logik war sehr versucht, den Schluß zu ziehen: »Wenn ein so großer Mann nicht tugendhaft gewesen ist, so kann es mit der Tugend nicht viel auf sich haben, und die Hauptsache ist, ein großer Mann zu sein.«

Der Alte war weit davon entfernt zu ahnen, daß solche Gedanken an seiner Seite trippelten.

Beide bedachten darauf schweigend und jeder nach seiner Art die wunderbaren Geschichten; es sei denn, daß Großvater auf dem Wege einen seiner vornehmen Kunden traf; dann blieb er endlos stehen, grüßte unsagbar tief und konnte sich an unterwürfiger Höflichkeit nicht genug tun. Das Kind errötete, ohne zu wissen warum. Großvater respektierte aber nun einmal aus Herzensgrund Standespersonen, gemachte Leute, und es ist sehr möglich, daß er die Helden seiner Geschichten nur darum so liebte, weil er in ihnen erfolgreichere und höherstehende Menschen sah.

War es sehr heiß, so ließ sich der alte Krafft unter einem Baum nieder und machte ein kleines Schläfchen. Dann setzte sich Christof neben ihn, entweder auf einen Haufen wackeliger Steine oder auf ein Kilometerzeichen oder irgendeinen hohen, sonderbaren und unbequemen Sitz. Er baumelte mit den Beinchen, summte und träumte vor sich hin. Oder er legte sich wohl auch auf den Rücken und sah die Wolken ziehen: sie sahen wie Ochsen aus, wie Riesen, wie Hüte, wie alte Damen, oder auch wie ungeheure Landschaften. Ganz leise plauderte er mit ihnen. Er interessierte sich für die kleine Wolke, die eine große eben fressen wollte; vor denen, die sehr schwarz, fast blauschwarz waren, und denen, die allzuschnell liefen, hatte er Angst. Es schien ihm, daß sie einen ungeheuren Platz im Leben einnähmen, und er wunderte sich, daß weder sein Großvater noch seine Mutter ihnen Aufmerksamkeit schenkten. Es waren schreckliche Wesen, die Böses anrichten konnten. Glücklicherweise blieben sie niemals stehen, sondern zogen gutmütig und ein wenig seltsam immer weiter. Schließlich wurde dem Kinde durch das lange Emporsehen schwindelig, und es zappelte mit Händen und Füßen, als müsse es sonst in den Himmel fallen. Die Lider fingen zu blinzeln an, es wurde müde. – Stille … Sanft schauern die Blätter und zittern im Sonnenlicht, ein leichter Dunst zieht durch die Luft; unentschieden schaukeln sich die Mücken und summen wie eine Orgel. Die Heuschrecken, vom Sommer berauscht, zirpen in begehrlicher Freude: alles schweigt … Unter dem Waldgewölbe hallen die Schreie des Grünspechts in geisterhaften Tönen. Auf fernen Feldern ruft ein Bauer seine Ochsen an. Der Huf eines Pferdes klingt auf weißem Wege. Christofs Augen fallen zu. Neben ihm überklettert eine Ameise an einem dürren Zweig eine Wegfurche. Er verliert das Bewußtsein … Jahrhunderte vergehen. Er wacht auf. Die Ameise hat noch immer das Zweiglein nicht überschritten.

Großvater schlief manchmal allzulange; sein Gesicht wurde dann starr, seine Nase zog sich in die Länge, sein Mund öffnete sich weit. Christof sah ihn dann etwas beunruhigt an, denn er fürchtete, den Kopf nach und nach sich in eine phantastische Fratze verwandeln zu sehn. Er sang lauter, um ihn aufzuwecken, oder er ließ sich mit großem Krach von seinem Steinhaufen herunterpurzeln. Eines Tages fiel es ihm ein, ihm einige Tannennadeln ins Gesicht zu werfen und zu sagen, daß sie vom Baum gefallen wären. Der Alte glaubte es, worüber Christof sehr lachen mußte. Aber er hatte den schlimmen Einfall, es noch einmal zu versuchen, und grade im Augenblick, in dem er die Hand hob, sah er Großvaters Augen auf sich gerichtet. Das wurde eine böse Geschichte; der feierliche Ernst des Alten verstand hinsichtlich des Respektes, den man ihm schuldete, keinen Spaß: während mehr als einer Woche standen sie etwas kühl miteinander.

Je schlechter der Weg war, um so schöner fand ihn Christof. Jeder Stein hatte Sinn für ihn; und er kannte sie alle. Das Relief einer Wagenspur schien ihm eine geographische Bildung, ungefähr von der gleichen Bedeutung wie das Taunusgebirge. Er hatte überhaupt die Landkarte sämtlicher Buckel und Höhlungen, die sich innerhalb zweier Kilometer von seinem Hause befanden, im Kopf. Auch glaubte er sich, wenn er in der festgesetzten Ordnung der Furchen irgend etwas änderte, von nicht viel geringerer Bedeutung als ein Ingenieur mit einer Mannschaft Arbeiter; und wenn er mit seinem Absatz die trockne Kante eines Erdklumpens eingedrückt und das Tal, das sich unter seinem Fuße höhlte, ausgefüllt hatte, sah er seinen Tag durchaus nicht als verloren an.

Manchmal traf man auf dem Wege einen Bauern in seinem Wägelchen. Er kannte Großvater und man stieg zu ihm ein. Das war das Paradies auf Erden. Das Pferd trabte geschwind, und Christof lachte vor Wonne, – es sei denn, daß man an andern Spaziergängern vorbeikam; dann setzte er eine ernste und gleichmütige Miene auf, wie jemand, der das Wagenfahren gewohnt ist; aber sein Herz war von Stolz überflutet. Großvater und der andere Mann unterhielten sich, ohne auf ihn zu achten. Er konnte, zwischen ihre Knie eingekeilt, von ihren Schenkeln gedrückt, kaum sitzen, oft überhaupt nicht, und war doch vollkommen glücklich. Er plauderte, ohne sich um Antworten zu kümmern, ganz laut vor sich hin. Er sah die Pferdeohren sich bewegen. Was für sonderbare Tiere diese Ohren waren! Sie gingen nach rechts, nach links, nach allen Seiten; sie spitzten sich nach vorn, fielen zur Seite, drehten sich nach hinten, und das alles in so drolliger Weise, daß er laut herauslachte. Er kniff seinen Großvater, um ihn darauf aufmerksam zu machen; aber Großvater interessierte sich nicht dafür. Er stieß Christof zurück und sagte ihm, er möchte ihn in Ruhe lassen. Christof überlegte: er merkte, daß man über nichts mehr erstaunte, wenn man groß war, daß man dann stark war und alles kannte. Und er versuchte selber auch groß zu sein, seine Neugierde zu verbergen und gleichgültig zu scheinen.

Er schwieg. Das Rollen des Wagens schläferte ihn ein. Die Schellen des Pferdes tanzten. Ding, ding, dong, ding. Musik erwachte in der Luft. Sie schwebte rings um die silbernen Glöckchen wie ein Bienenschwarm; sie schaukelte sich fröhlich im Auf und Ab des Wagens und wurde eine unerschöpfliche Quelle von Liedern. Eins folgte dem andern. Christof fand sie alle prächtig. Eins jedoch schien ihm so besonders schön, daß er Großvaters Aufmerksamkeit darauf lenken wollte. Lauter, als er selbst es vernahm, sang er es heraus. Man achtete nicht darauf. Er fing einen Ton höher von vorne an, – darauf noch einmal aus vollem Halse, – so kräftig, daß der alte Hans Michel sich ärgerlich zu ihm wandte: »Aber nun schweig doch endlich! Du bist ja unerträglich mit deinem Trompetenlärm!« – Das nahm ihm den Atem; er wurde rot bis zur Nasenspitze und schwieg tötlich verletzt. Er strafte die beiden plumpen Einfaltspinsel mit Verachtung, die nicht begriffen, welche Erhabenheit in seinem Gesang lag, – ein Sang, der den Himmel erschloß! Er fand sie sehr garstig mit ihrem achttägigen Stoppelbart; und sie rochen schlecht.

Er tröstete sich, indem er den Schatten des Pferdes beobachtete. Das war auch solch ein erstaunliches Schauspiel: dies schwarze Tier, das die Straße entlang lief und dabei auf der Seite lag. Abends, wenn man heim kam, bedeckte es einen Teil der Heide; begegnete man einem Heuhaufen, so kletterte der Kopf hinauf und fand sich, war man vorüber, wieder an seinem alten Platz ein; das Maul war in die Länge gezogen wie ein zerplatzter Ballon; die Ohren waren groß und spitz wie Kirchenkerzen. War das wirklich ein Schatten oder war es vielleicht doch ein lebendiges Wesen? Christof wäre ihm nicht gern allein begegnet. Er wäre ihm nicht nachgelaufen, wie er's bei Großvaters Schatten machte, dem er auf dem Kopf herumtrat. – Der Schatten der Bäume, wenn die Sonne sank, war auch etwas zum Nachsinnen. Er bildete quer über den Weg Barrieren. Er glich traurigen und komischen Gespenstern, die sagten: »Bis hierher und nicht weiter.« Und die quietschenden Wagenachsen und die Pferdehufe wiederholten: »Nicht weiter!«

Großvater und der Fuhrmann wurden ihrer unerschöpflichen Schwätzerei nicht müde. Manchmal sprachen sie mit erhobener Stimme, besonders wenn es sich um Stadtangelegenheiten und geschädigte Interessen handelte. Das Kind hörte dann auf zu träumen und schaute sie beunruhigt an. Ihm schien, sie seien böse aufeinander, und es fürchtete, es würde noch zur Schlägerei kommen. Aber das waren ganz im Gegenteil die Augenblicke, in denen sie sich am besten in einem gemeinsamen Haß verstanden. Meistens jedoch erfüllte sie durchaus kein Haß, ebensowenig die geringste andere Leidenschaft: sie sprachen von gleichgültigen Dingen und schrien dabei, so laut sie konnten, nur aus Vergnügen am Schreien, wie es dem Volk eine Freude ist. Aber Christof, der ihre Unterhaltung nicht verstand, hörte nur die Stimmausbrüche, sah ihre verzerrten Züge und dachte voller Angst: »Wie er böse dreinschaut! Sicher hassen sie sich. Wie er die Augen rollt! Wie er den Mund aufsperrt! Er hat mir in der Wut auf die Nase gespuckt. Mein Gott! Er wird Großvater noch töten …«

Der Wagen hielt. Der Bauer sagte: »Da wären Sie angekommen.« Die beiden Todfeinde drückten sich die Hand. Großvater stieg zuerst aus, der Bauer reichte ihm den kleinen Buben zu. Ein Peitschenhieb dem Pferde; der Wagen entfernte sich: und man befand sich wieder am Anfang des kleinen Hohlweges, neben dem Rhein. Die Sonne sank in die Felder. Der Fußpfad schlängelte sich beinahe auf gleicher Höhe der Wasserfläche entlang. Das üppige weiche Gras bog sich knisternd unter den Schritten. Die Erlen neigten sich über den Strom und badeten sich in den Wellen. Ein Mückenschwarm tanzte. Ein Boot, vom sanften, großwogigen Strom gezogen, fuhr lautlos vorüber. Die Wellen sogen mit leisem Laut ihrer Lippen an den Weidenzweigen. Das Licht war nebelig zart, die Luft frisch, der Fluß silbergrau. Man kehrte zum heimischen Herde zurück, und die Grillen sangen. Und schon von der Schwelle her lächelte das liebe Gesicht der Mutter …

O köstliche Erinnerungen, wohltätige Bilder, die in einträchtigem Flug das ganze Leben übersummen werden! … Die Reisen, welche man später macht, die großen Städte, die wildbewegten Meere, die Landschaften der Träume, die geliebten Gestalten graben sich nicht mit der unauslöschlichen Deutlichkeit in die Seele wie solche Kindheitsausflüge oder der schlichte Gartenwinkel, den man jeden Tag durchs Fenster sah, durch das beschlagene Fleckchen hindurch, das der kleine ans Glas gepreßte Mund des müßigen Kindes schuf …

 

Jetzt ist es Abend im verschlossenen Haus. Das Haus … die Zuflucht gegen alles, was da schreckt: das Dunkel, die Nacht, die Furcht, die unbekannten Dinge. Nichts Feindliches kann über die Schwelle … Das Feuer flammt. Eine goldbraune Gans röstet appetitlich am Bratspieß. Ein lieblicher Duft von Fett und knusprigem Fleisch durchströmt das Zimmer. Freude am Essen, unvergleichliches Glück, fromme Begeisterung, überschäumende Fröhlichkeit! Der Körper löst sich nach Tagesmühen in süßer Wärme, im Klang von vertrauten Stimmen. Das Gefühl satter Behaglichkeit gibt allem einen heiteren, zauberhaften Schimmer: den Gestalten und Schatten, dem Lampenschirm und den züngelnden Flammen, die wie ein Sternenregen in den schwarzen Kamin tanzen. Christof lehnt die Wange gegen seinen Teller, um all dies Glück noch besser zu genießen …

Nun liegt er in seinem warmen Bett. Wie ist er hineingekommen? Eine wohlige Müdigkeit drückt ihn nieder. Das Stimmengesumm im Zimmer und die Erinnerungen des Tages mischen sich in seinem Hirn. Der Vater nimmt seine Geige. Scharfe und weiche Töne klagen durch die Nacht. Aber das höchste Glück ist dann, wenn Mama kommt, des müden Christofs Hand nimmt und auf seine Bitte, über ihn gebeugt, mit halber Stimme ein altes Lied singt, dessen Worte nichts bedeuten wollen. Der Vater findet diese Musik dumm; aber Christof wird ihrer nicht überdrüssig; er hält den Atem an, er möchte weinen und lachen; sein Herz ist trunken. Er weiß nicht mehr, wo er ist, und strömt von Zärtlichkeit über. Er schlingt seine kleinen Arme um seiner Mutter Hals und küßt sie aus allen Kräften. Lachend sagt sie zu ihm:

»Willst du mich denn erwürgen?«

Er umhalst sie noch stärker. Wie er sie liebt! Wie er alles liebt! Alle Menschen, alle Dinge! Alles ist gut, alles ist schön … So schläft er ein. Das Heimchen zirpt im Feuerherd. – Großvaters Geschichten, heroische Gestalten schweben durch eine glückliche Nacht … Ein Held sein wie sie! … ja, er wird einer werden! … er ist es! … Ach! wie gut ist es doch, zu leben! …

 

Welchen Überschwang von Kraft, Freude und Stolz umfaßt solch kleines Wesen! Welche Überfülle von Energie! Sein Körper und Geist sind ewig in Bewegung, in einer atemraubenden wirbelnden Runde mitgerissen. Gleich einem kleinen Salamander tanzt es Tag und Nacht in einer Flamme. Eine Begeisterung, die nie müde wird und die von überall Nahrung erhält. Ein trunkener Traum, eine sprudelnde Quelle, ein Schatz unerschöpflicher Hoffnung, ein Lachen, ein Sang, ein nie endender Rausch. Das Leben hält es noch nicht; es entschlüpft ihm in jedem Augenblick; es schwimmt im Unendlichen. Wie glücklich es ist! Wie zum Glücklichsein geschaffen! Nichts in ihm, das nicht ans Glück glaubt, das sich nicht mit allen seinen schwachen leidenschaftlichen Kräften daran klammert! …

Das Leben wird sich bald damit befassen, es zur Vernunft zu bringen.


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