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Viertes Buch
Empörung

I

Frei! Er fühlte sich frei! … Frei von den anderen und von sich selbst! Das Netz der Leidenschaften, das ihn seit einem Jahre umfing, war plötzlich zerrissen. Wie? Davon wußte er nichts. Die Maschen hatten dem Wachstum seines Wesens nicht standgehalten. Er hatte eine jener Entwicklungskrisen durchgemacht, in denen kräftige Naturen die tote Hülle des vergangenen Jahres heftig durchbrechen und mit ihr die alte Seele, in der sie ersticken.

Christof atmete in vollen Zügen, ohne selbst recht zu verstehen, was mit ihm vorgegangen war. Ein eisiger Wirbelwind verfing sich unter dem großen Stadttor, als er nach der Wanderung mit Gottfried heimkehrte. Die Leute duckten vor dem Sturm den Kopf. Die Mädchen, die zur Arbeit gingen, kämpften verzweifelt gegen den Wind, der sich in ihre Röcke warf; sie blieben mit roter Nase, roten Wangen und wütender Miene für Augenblicke stehen, um Luft zu schöpfen; sie waren dem Weinen nahe. Christof lachte vor Lust. Er dachte nicht an den Orkan. Er dachte an den andern Orkan, aus dem er eben kam. Er schaute den Winterhimmel an, die schneeumhüllte Stadt, die mühsam vorübergehenden Leute; er schaute rings um sich, in sich hinein: nichts band ihn mehr an irgend etwas. Er war allein … Allein! Welch ein Glück, sich allein zu fühlen, sich selbst anzugehören! Welch ein Glück, seinen Ketten entsprungen zu sein, der Qual seiner Erinnerungen, den Visionen geliebter und verhaßter Gesichter! Welch ein Glück, endlich zu leben, nicht mehr eine Beute des Lebens, vielmehr dessen Herr geworden! …

Er kehrte in sein schneeglitzerndes Heim zurück. Wie ein Hund schüttelte er sich vergnügt. Als er bei seiner Mutter vorbeikam, die den Korridor fegte, hob er sie unter unartikulierten und zärtlichen Zurufen, wie man sie für kleine Kinder hat, von der Erde auf. Die alte Luise sträubte sich in den Armen ihres schneenassen Sohnes und nannte ihn mit einem guten Kinderlachen: »Dummer Junge!«

In großen Sätzen sprang er in sein Zimmer hinauf. Der Tag war so dunkel, daß er sich kaum in seinem kleinen Spiegel sehen konnte; aber sein Herz jubilierte. Sein enges niederes Zimmer, in dem er sich kaum rühren konnte, kam ihm wie ein Königreich vor. Er riegelte die Tür ab und lachte vor Zufriedenheit. Endlich sollte er sich wiederfinden! Wie lange hatte er sich selbst verloren! Schnell mußte er sich ins eigene Denken stürzen wie ein Badender ins Wasser. Wie ein großer See, der fern im blaugoldenen Nebel verschwamm, kam es ihm vor. Nach einer Fiebernacht von erstickender Glut sah er sich plötzlich am Uferrand, die Füße von der Wasserfrische umspült, den Leib von einem Sommermorgenwind gekost. Er stieß zum Schwimmen ab; wohin es ging, wußte er nicht, und es war ihm gleich: seine Freude war, aufs Geratewohl drauflos zu schwimmen. Lachend schwieg er und lauschte auf die tausend Geräusche seiner Seele: es wimmelte dort von Wesen. Er unterschied nichts, es drehte sich ihm alles im Kopf: er fühlte einzig ein blendendes Glück. Er genoß es, unbekannte Kräfte in sich zu fühlen. Träge verschob er auf später eine Probe seines Könnens und gab sich nur der stolzen Trunkenheit dieses inneren Blütenflors hin, der, seit Monaten zurückgedrängt, jetzt wie ein plötzlicher Frühling aufsproß.

Seine Mutter rief ihn zum Frühstück. Er ging mit benommenem Kopfe hinunter, als habe er einen Tag im Freien hinter sich; aber es strahlte so viel Freude aus ihm, daß Luise ihn fragte, was er denn habe. Er antwortete nicht; er faßte sie um die Taille und zwang sie zu einer Tanzrunde um den Tisch herum, auf dem die Suppenschüssel dampfte. Luise schrie atemlos, daß er wohl ganz und gar verrückt sei; dann schlug sie die Hände zusammen.

»Mein Gott!« meinte sie besorgt. »Ich wette, er ist wieder verliebt!«

Christof stimmte helles Gelächter an. Er warf seine Serviette in die Luft:

»Verliebt!« rief er. »Bei Gott! … Nein, nein! Davon hab' ich genug! Du kannst beruhigt sein. Das ist zu Ende, vorbei, fürs ganze Leben vorbei! … Uff!«

Er trank ein großes Glas Wasser.

Luise sah ihn beruhigt an, schüttelte aber lächelnd den Kopf: »Ein schöner Trinkerschwur!« sagte sie. »Bis zum Abend wird er wohl wahr bleiben.«

»Das ist schon immer etwas,« antwortete er gutlaunig.

»Gewiß!« meinte sie. »Aber nun sag, warum bist du so vergnügt?«

»Ich bin vergnügt. Weiter nichts!«

Mit aufgestützten Ellbogen saß er ihr gegenüber und wollte ihr erzählen, was er später alles machen wollte. Sie hörte ihm zärtlich zweiflerisch zu und machte ihn sanft darauf aufmerksam, daß die Suppe kalt würde. Er wußte, daß sie auf das, was er sagte, nicht achtgab; aber es kümmerte ihn nicht: er sprach für sich selber.

Lächelnd sahen sie einander an: er sprach, sie lauschte kaum. Wenn sie auch stolz auf ihren Sohn war, seinen Künstlerplänen schenkte sie nicht viel Bedeutung; sie dachte: »Er ist glücklich, das ist die Hauptsache.« – Und während er sich an den eigenen Reden berauschte, schaute er in das liebe Gesicht seiner Mutter, mit ihrem streng den Kopf verhüllenden schwarzen Häubchen, ihren weißen Haaren, ihren jungen Augen, die voller Liebe waren, ihrer schönen nachsichtigen Ruhe. Alle ihre Gedanken las er aus ihnen ab. Scherzend sagte er:

»Das ist dir höchst einerlei, gelt? Alles, was ich dir da erzähle?«

Sie widersprach schwach:

»Aber gar nicht, gar nicht!«

Er küßte sie:

»Aber doch, doch! Du brauchst dich deswegen nicht etwa zu verteidigen. Du hast recht. Liebe mich nur. Ich brauche nicht verstanden zu werden – weder von dir, noch von irgend jemand sonst. Ich brauche jetzt niemanden und nichts mehr: alles habe ich in mir …«

»Da haben wir ihn also glücklich bei einer neuen Verrücktheit!« meinte Luise. – »Na, wenn es durchaus sein muß, so ist mir diese schon lieber.«

 

Wundersame Wonne, auf dem See seines Denkens zu treiben … Auf dem Boden einer Barke liegt er, in Sonne gebadet – sein Antlitz von dem frischen Lufthauch geküßt, der über die Fläche des Wassers huscht –, so schwebt er im Raume – – und schlummert ein. Unterm lässigen Leib, unterm schaukelnden Boot, fühlt er die tiefe Flut; matt senkt seine Hand sich hinein. Er richtet sich auf; und das Kinn auf den Rand des Bootes gestützt, so wie als Kind, blickt er dem Wasser nach. Er schaut wie im Spiegel seltsame Wesen; wie Blitze schießen sie weiter … Andere dann – und andere … Niemals sind es die gleichen. Er lacht dem phantastischen Schauspiel zu, das sich in ihm entrollt; er lacht seinem Denken zu. Noch tut ihm nicht not, es irgend zu bannen. Noch will er aus tausend Träumen nicht wählen. Warum soll er wählen? Er hat ja noch Zeit! … Nachher! … Wenn er es will, wird er die Netze werfen und die Fabelwesen sich fangen, die da im Wasser wimmeln. Er läßt sie vorüber … Später …

Vom Windhauch bewegt, im unfühlbaren Strom wiegt leise das Boot. Die Luft ist voll Süße, Sonne und Stille.

 

Lässig läßt er nun die Netze fallen. Übers glucksende Wasser gebeugt, folgt er ihnen mit Blicken, bis sie verschwunden sind. Nach einigen betäubten Minuten zieht er sie still wieder auf; sie werden schwerer, je mehr er sie hebt; im Augenblick, da er sie hochzieht, hält er zum Atmen inne. Er weiß, er hebt seinen Fang, doch weiß er nicht, welchen Fang, und er dehnt die Lust der Erwartung.

Endlich entschließt er sich: der Fische vielfarbiges Funkeln taucht aus dem Wasser auf; sie krümmen sich schlangengleich. Neugierig schaut er sie an, berührt sie mit seinem Finger, nimmt einen Augenblick nur die schönsten in seine Hand; kaum aber zieht er sie hoch aus dem Naß, als ihre Farben verblassen und sie in den Fingern zergehen. Er wirft sie ins Wasser zurück und beginnt nach neuen zu fischen. Gieriger ist er, alle Träume, die sich in ihm regen, einen nach dem andern zu betrachten, als einen davon festzuhalten: sie scheinen ihm schöner, wenn sie frei im durchsichtigen See schwimmen …

Er fischt sich welche von jeder Art, die einen immer absonderlicher als die andern. Seit Monaten häufen sich Bilder in ihm, ohne daß er den Reichtum angriff, der jetzt sein Inneres sprengt. Doch alles liegt drunter und drüber: sein Denken ist eine Rumpelkammer, ein Judentrödel, wo seltene Dinge und kostbare Stoffe mit altem Eisen und Lumpen sich mengen. Er weiß noch nicht, die Werte zu messen: alle bereiten ihm gleiche Lust. Da sind Akkorde, die rieselnd rauschen, Farben, die gleich Glocken erklingen, bienengleich summende Saitentöne, lächelnde Weisen gleich liebenden Lippen. Landschaftsbilder, Visionen von Menschen, von Leidenschaften, von Charakteren, Dichtergedanken und Gottesideen. Ungeheure und unmögliche Pläne türmen sich auf, Tetralogien, Dekalogien, die sich erkühnen das All zu umfangen und in Musik zu malen. Meistens aber sind es dunkle oder auch blendendhelle Ideen, die unversehens durch ein Nichts heraufbeschworen werden: den Klang einer Stimme, eines Menschen Vorübergehen, Regengeplätscher, einen inneren Rhythmus. – Viele jener großen Ideen leben nur im tönenden Titel. Viele zerschmelzen zu einem oder zwei Gedanken: doch das ist genug. Wie alle Jugend glaubt er, geschaffen zu haben, was er zu schaffen träumt.

 

Er war jedoch zu lebendig, um lange an diesen Luftgebilden Genüge zu finden. Er wurde des eingebildeten Besitztums müde; er wollte die Träume greifen. – Bei welchem aber anfangen? Einer erschien ihm so wichtig wie der andere. Er drehte und wendete sie; er verwarf sie und nahm sie wieder auf … Nein, er nahm sie nicht wieder auf: es waren nicht mehr dieselben; sie ließen sich nicht zweimal greifen; ewig veränderten sie sich. Während er sie anschaute, in seinen Händen, unter seinen Blicken wurden sie andere. Er mußte sich beeilen, und das konnte er nicht. Er selbst war über die Langsamkeit seiner Arbeit bestürzt. Alles hätte er in einem Tage machen mögen, und dabei verursachte es ihm die furchtbarsten Schwierigkeiten, auch nur das Geringste fertigzubringen. Das Schlimmste war, daß ihn schon im Anfang der Ausführung alles anwiderte. Die Träume zogen weiter, und er selbst war auch schon wieder weiter; während er etwas tat, bedauerte er, nicht etwas anderes zu schaffen. Fast war es, als brauchte er nur ein besonders schönes Thema zur Ausführung zu wählen, damit ihm das Thema verleidet würde. So lagen alle seine Reichtümer brach. Seine Gedanken lebten nur, solange er nicht daran rührte: alles, was ihm zu greifen gelang, war schon tot. Er litt Tantalusqualen: Früchte, die vor seinen Händen hingen, wurden zu Steinen, sobald er sie pflückte; ein frischer Quell vor seinen Lippen – und er floh zurück, wenn er sich zu ihm niederneigte.

Um seinen Durst zu stillen, wollte er sich wenigstens an schon eroberten Quellen laben, an seinen alten Werken … Welch widerlicher Trank! Beim ersten Schluck spie er ihn fluchend wieder aus. Wie! Dies laue Wasser, diese abgeschmackte Musik, das war sein Werk? – Er überlas alle seine Kompositionen; und dieses Lesen schmetterte ihn nieder: er verstand nichts mehr davon, verstand nicht einmal mehr, wie er das hatte schreiben können. Er errötete. Einmal, nach einer besonders nichtssagenden Seite sah er sich unwillkürlich um, ob auch niemand im Zimmer sei, und er steckte sein Gesicht ins Kopfkissen wie ein Kind, das sich schämt. Ein andermal wieder mutete ihn das Lächerliche dieser Werke so tölpelhaft an, daß er seine eigene Urheberschaft völlig vergaß …

»Nein, so ein Idiot!« schrie er und bog sich vor Lachen.

Nichts aber brachte ihn so außer sich als solche Kompositionen, die leidenschaftliche Gefühle ausdrücken sollten: Liebeskummer oder Freude. Dabei sprang er vom Stuhl auf, als habe ihn eine Mücke gestochen; er hämmerte mit den Fäusten auf dem Tisch herum, schlug sich vor den Kopf und heulte vor Zorn; er beschimpfte sich grob, nannte sich Schwein, dreifachen Lumpen, Erzdummkopf und Hanswurst. Schließlich stellte er sich breit und rot vom Schreien vor seinem Spiegel auf, packte sich am Kinn und sagte:

»Schau nur hin, schau nur hin, Kretin, was du für ein Eselsgesicht hast! Ich werde dich lügen lehren, Nichtsnutz! Ins Wasser, Herr Krafft, ins Wasser!«

Er tauchte sein Gesicht in die Waschschale und hielt es unter Wasser, bis er fast erstickte. Als er krebsrot, mit dicken Augen und wie eine Robbe schnaufend wieder auftauchte, rannte er, ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, das Wasser, das an ihm herunterrieselte, abzutrocknen, an seinen Tisch; er ergriff die verfluchten Kompositionen, zerriß sie voller Wut und knirschte:

»Da, du Kanaille, so – so, so! …«

Danach fühlte er sich erleichtert.

Was ihn in diesen Werken vor allem empörte, war ihre Verlogenheit. Nichts wahrhaft Gefühltes. Ein auswendig gelernter Stil, eine Schülerrhetorik: er sprach darin von Liebe wie ein Blinder von Farben; er sprach vom Hörensagen davon, indem er alberne Allgemeinheiten nachbetete. Und so war es nicht allein mit der Liebe, sondern mit allen Gefühlen, die ihm zum Thema seiner Schwülstigkeiten gedient hatten. – Und doch hatte er sich stets angestrengt, wahrhaftig zu sein. – Aber dazu genügt nicht das Wollen; man muß wahrhaftig sein können; und wie soll man es sein, wenn man noch nichts vom Leben kennt? Was ihm so plötzlich die Unaufrichtigkeit seiner Werke enthüllt hatte, mit einem Schlage Abgründe zwischen ihm und seiner Vergangenheit eröffnete, das war das Leben selber gewesen, das ihn sechs Monate lang auf die Probe gestellt hatte. Den Phantomen war er entronnen; jetzt trug er einen Wirklichkeitsmaßstab in sich, an dem er alle seine Gedanken messen und Lüge oder Wahrheit daran beurteilen konnte.

Der Abscheu, den ihm seine alten, ohne wahres Gefühl geschaffenen Kompositionen einflößten, trieb ihn in seinem gewohnten Überschwang zu dem Entschluß, nie mehr etwas zu schreiben, es sei denn im Zwang leidenschaftlicher Notwendigkeit; auf ewig wollte er der Musik entsagen, wenn sich die schöpferische Tat ihm nicht mit Donner und Blitz aufdrängte.

 

So sprach er, weil er wohl wußte, daß das Gewitter herannahte.

Der Blitz schlägt ein, wo er will und wann er will; aber es gibt Gipfel, die ihn anziehen. Gewisse Stätten – gewisse Seelen sind Gewitternester: sie schaffen sie oder ziehen sie von allen Seiten des Horizontes an sich; und ebenso sind gewisse Monate im Jahr, gewisse Lebensalter so mit Elektrizität geladen, daß sie den Blitz erzeugen – wenn nicht nach Willen, so doch zur erwarteten Stunde.

Das ganze Wesen ist dann Spannung. Oft bereitet sich das Gewitter Tage und Tage lang vor. Glühende Flocken bedecken den weißen Himmel. Nicht ein Hauch. Die reglose Luft gärt, scheint zu kochen. Die Erde schweigt, von Betäubung niedergezwungen. Das Hirn summt im Fieber. Die ganze Natur harrt des Ausbruches versammelter Kräfte, harrt auf den Schlag des Hammers, der gewichtig sich hebt, um auf den Amboß der Wetterwolken urplötzlich niederzusausen. Dunkle, glutschwangere Wolken rollen vorüber; ein Feuerwind hebt sich; die Nerven schauern im ganzen Körper gleich Blättern … Dann sinkt von neuem die Stille herab. Der Himmel brütet weiter den Blitz.

In diesem Harren ist eine wollüstige Angst. Trotz der niederdrückenden Unlust fühlt man durch die Adern das Feuer rinnen, in dem das Weltall erglüht. Die Seele siedet im Hochofen, wie in Bütten der Wein. Tausend Keime aus Leben und Tod ringen in ihr. Was wird aus ihr werden? Sie ahnt es nicht. Gleich der schwangeren Frau schweigt sie und senkt den Blick in sich selbst, lauscht voller Bangen dem bebenden Leben in ihrem Leibe und denkt: »Was wird aus mir geboren werden? …«

Manchmal ist das Warten vergeblich. Das Gewitter zerrinnt ohne Entladung, man erwacht mit schwerem Schädel, enttäuscht, entnervt, angeekelt. Doch es ist nur aufgeschoben; das Wetter wird sich dennoch entladen; und ist es nicht heute, so morgen; je mehr es sich hinzieht, je wilder wird es …

Da ist es! … Aus allen Winkeln des Wesens sind Wolken emporgequollen. Mächtige blauschwarze Massen vom rasenden Zucken der Blitze zerrissen, kommen in schwerem, schwindelndem Flug, umzingeln den Horizont der Seele, schlagen überm erstickten Himmel plötzlich die beiden Flügel zusammen und verlöschen das Licht. Stunde des Wahnsinns! … Die aufgepeitschten, entfesselten Kräfte brechen den Käfig, in dem sie die Gesetze verschlossen hielten, die das Gleichgewicht des Geistes und das Dasein der Dinge sichern, und herrschen unförmlich und riesenhaft, in der Nacht des Bewußtseins. Man fühlt, daß man stirbt. Man will nicht mehr leben. Man ersehnt nur das Ende, nur den Tod, der befreit …

Und plötzlich fährt der Blitz nieder!

Christof schrie auf vor Lust.

 

Lust, Raserei der Lust, Sonne, die alles, was ist, alles was wird, erhellt, göttliche Lust am Schaffen! Es gibt nur eine Lust – schaffen! Die nur leben, die schaffen. Alle anderen sind Lebensfremde, Schatten, die über die Erde fortschweben. Alle Freuden im Leben sind auch Freuden des Schaffens: Liebe, Genie, Tat – Fackeln der Macht aus einem einzigen Feuer entflammt. Die selbst, welche nicht Raum mehr am großen Herd finden: Streber, Egoisten und fruchtlose Prasser möchten sich an seinem verblaßten Widerschein wärmen.

Schaffen im Leiblichen oder Schaffen im Geistigen heißt dem Gefängnis des Körpers entfliehen, heißt sich in den Sturm des Lebens stürzen, heißt Der sein, welcher ist. Schaffen, heißt den Tod besiegen.

Wehe dem Unfruchtbaren, der auf Erden allein und verloren bleibt, den eigenen verdorrten Leib betrachtet und die Nacht in ihm, aus der niemals Flammen des Lebens schlagen werden! Wehe der Seele, die sich nicht fruchtbar fühlt, die nicht schwer ist von Leben und Liebe wie ein Blütenbaum im Frühling! Die Welt mag sie mit Ehren und Glück beschütten: sie krönt einen Leichnam.

 

Wenn Christof von der Lichtgarbe getroffen wurde, fuhr es wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper: er bebte in Erschütterung. Es war, als schaute er auf offenem Meer, in tiefster Nacht, plötzlich Land. Oder als würde er inmitten einer Menge von zwei tiefen Augen gepackt. Oft ging es ihm so nach Stunden gänzlicher Erschlaffung, in denen sein Geist verzweifelt ins Leere gekämpft hatte. Öfter aber noch, wenn er an ganz anderes dachte, mit seiner Mutter plauderte oder sich in der Straße erging. Befand er sich gerade auf der Straße, so hinderte ihn ein gewisses menschliches Anstandsgefühl, seiner Freude allzu geräuschvollen Ausdruck zu verleihen. Aber daheim konnte ihn nichts halten. Er stampfte vor Glück mit den Füßen; er blies eine Triumphfanfare; seine Mutter kannte sie bereits und wußte, was sie bedeutete. Sie sagte zu Christof, er sei wie eine Henne, die eben ein Ei gelegt habe.

Der musikalische Gedanke durchdrang ihn ganz und gar. Manchmal in der Gestalt einer vollständigen, abgeschlossenen Melodie; öfter war er ein großes Nebelchaos, das ein ganzes Werk verhüllte: der Bau des Stückes, seine Hauptlinien ließen sich wie durch einen Schleier ahnen, der stellenweise durch blendende Satzteile zerrissen wurde, die sich mit bildnerischer Deutlichkeit aus dem Dunkel lösten. Nur wie ein Blitz war es; manchmal folgten ihm andere, Schlag auf Schlag. Jeder erhellte andere Tiefen der Nacht. Gewöhnlich aber verschwand die launische Kraft, nachdem sie sich unvorhergesehen einmal offenbart hatte, wieder für mehrere Tage in ihre geheimnisvollen Schlupfwinkel und ließ nur eine leuchtende Lichtspur hinter sich zurück.

Die Wonne solcher Offenbarung war so groß, daß Christof alles übrige zum Abscheu wurde. Der erfahrene Künstler weiß sehr gut, daß die Offenbarungen selten sind und daß es dem Verstande überlassen bleibt, das intuitiv empfangene Werk zu vollenden; er keltert seine Gedanken, und entpreßt ihnen bis zum letzten Tropfen den göttlichen Saft, der sie schwellt (manchmal scheut er sich nicht einmal, sie mit klarem Wasser zu verdünnen). Christof war zu jung und seiner selbst zu sicher, um diese elenden Mittel nicht zu verachten. Er träumte das Unmögliche: nichts als das ganz Ursprüngliche zu schaffen. Hätte er sich nicht mit Willen blind gemacht, wäre ihm die Unsinnigkeit seines Vorsatzes leicht klar geworden. Zwar machte er wirklich eine Periode inneren Überflusses durch, in der weder Zeit noch Raum schien, um Überdruß oder das Nichts hineingleiten zu lassen. Alles wurde ihm Anlaß unerschöpflicher Fruchtbarkeit: alles, was seine Augen sahen, alles, was seine Ohren vernahmen, alles, was im täglichen Leben sein Wesen berührte, jeder Blick, jedes Wort ließ in der Seele Traumernten reifen. Am grenzenlosen Himmel seines Denkens sah er Millionen milchiger Sterne ziehen, Ströme lebendiger Lichtscheine. – Und dennoch kamen selbst in jener Zeit Augenblicke, wo alles urplötzlich verlöschte. Und obgleich die Nacht nicht lange währte, obgleich er kaum Zeit hatte, unter längerem Schweigen der Seele zu leiden, stand er doch in geheimem Entsetzen vor dieser unbekannte« Macht, die ihn aufsuchte, ihn verließ, wiederkehrte, verschwand … diesmal auf wie lange? Würde sie je zurückkommen? – Sein Stolz widersetzte sich wohl solchem Gedanken und sprach: Diese Kraft bin ich selbst. An dem Tage, da sie nicht mehr sein wird, werde auch ich nicht mehr sein: ich werde mich töten. – Er hörte nicht auf zu zittern; doch auch das war eine Freude mehr. War so immerhin für den Augenblick keine Gefahr vorhanden, daß die Quelle versiegte, so konnte sich Christof doch schon Rechenschaft geben, daß sie niemals genügen würde, um allein ein ganzes Werk zu nähren. Die Gedanken boten sich fast stets im Rohzustand dar: sie mußten sorgfältig von der Schlacke gereinigt werden. Und immer kamen sie abgerissen, sprung- und stoßweise; um sie untereinander zu verbinden, mußte überlegter Verstand und fester Wille an ihnen arbeiten und sie zu einem neuen Wesen zusammenschmelzen. Christof war viel zu sehr Künstler, um das zu unterlassen; aber er wollte es nicht zugeben. Er versuchte sich fälschlicherweise zu überzeugen, daß er sich ganz darauf beschränkte, seine innere Vorstellung auszudrücken, während er doch immer gezwungen war, sie mehr oder weniger umzugestalten, damit sie verständlich würde – ja, es geschah sogar, daß er ihren Sinn vollständig fälschen mußte. Denn überfiel ihn der musikalische Gedanke auch mit noch so großer Wucht, so war es ihm oft doch unmöglich zu sagen, was er bedeuten sollte. Er brach in die unterirdischen Schächte des Seins ein, tief unterhalb der Grenzen, an denen das Bewußtsein anfängt; und in dieser reinen Urkraft, die sich jedem gewöhnlichen Maßstab entzog, war es dem Verstande unmöglich, irgendeine der menschlichen von Menschen benannten und eingeteilten Tätigkeiten oder Empfindungen wieder zu erkennen: Freuden, Schmerzen, alle waren sie einer einzigen Leidenschaft verschmolzen, die dunkel blieb, weil sie über aller Vernunft stand. Ob er sie aber begriff oder nicht – der Verstand mußte ihr immerhin einen Namen geben, mußte sie an eines der logischen Gebilde binden, die der Mensch im Bienenstock seines Gehirns unermüdlich aufrichtet.

So überredete sich Christof also – wollte sich überreden –, daß die Kräfte, die sich in ihm regten, einen deutbaren Sinn hätten, und daß dieser Sinn mit seinem Willen übereinstimmte. Der freie Instinkt, der aus dieser Unbewußtheit aufgesprudelt war, wurde wohl oder übel gezwungen, sich unterm Joch der Vernunft mit klaren Gedanken zusammenzuspannen, die eigentlich keinerlei Beziehung zu ihm hatten. Aber ein solches Werk wurde nur ein trügerisches Nebeneinander eines der großen Pläne, die Christofs Geist gefaßt hatte, und der ungebändigten Kräfte, die einen ganz anderen, ihm selbst unbekannten Sinn bargen.

 

Tappend, mit gesenktem Haupt schritt er vorwärts; die widersprechenden Mächte, die in ihm aufeinanderplatzten, führten ihn und erfüllten aufs Geratewohl seine unzusammenhängenden Werke mit brausendem, mächtigem Leben, das er sich nicht erklären konnte, das er aber mit stolzer Freude empfand. Das Bewußtsein dieser frischen Kraft ermutigte ihn zum erstenmal, allem, was ihn umgab, allem, was man ihn zu verehren gelehrt hatte, allem, was er ohne Widerspruch hoch gestellt hatte, ins Gesicht zu schauen – und alsbald begann er, mit kecker Freimütigkeit darüber zu urteilen. Der Schleier zerriß: er schaute die deutsche Lüge.

Jede Rasse, jede Kunst hat ihre Heuchelei. Die Welt nährt sich von ein wenig Wahrheit und vieler Lüge. Der Menschengeist ist schwach; er gewöhnt sich schwer an die reine Wahrheit; seine Religion, seine Ethik, seine Staaten, seine Dichter, seine Künstler müssen sie ihm in Lügen verhüllt darbieten. Diese Lügen passen sich dem Geist jeder Rasse an; sie sind bei jeder verschieden: sie sind es, die es den Völkern so schwer machen, einander zu verstehen, und die es ihnen so leicht machen, einander zu verachten. Die Wahrheit ist bei allen dieselbe; jedes Volk aber hat seine Lüge, die es seinen Idealismus nennt. Jedes Wesen atmet ihn von der Geburt bis zum Tode ein: er ist für jedes zur Lebensbedingung geworden; nur einige Genies können sich nach heroischen Kämpfen von ihm loslösen, in denen sie im freien Weltall ihres Denkens einsam werden.

Ein unbedeutender Anlaß war es, der Christof plötzlich die Lüge der deutschen Kunst enthüllte. Er hatte sie immer vor Augen gehabt und sie bis dahin doch nie gesehen; aber er war ihr zu nahe gewesen, hatte zu wenig Abstand von ihr gehabt. Jetzt tauchte das Gebirge vor ihm auf, denn er hatte sich davon entfernt.

 

Er besuchte ein Konzert der Städtischen Tonhalle. Es fand in einer weiten Halle statt, in der zehn oder zwölf Reihen Kaffeetische standen, im ganzen ungefähr zwei- bis dreihundert. Hinten das Podium mit dem Orchester. Christofs Umgebung bestand aus Offizieren, die in lange dunkle Überröcke geschnürt waren – breite rasierte Gesichter, rot, ernsthaft und spießig –; aus Damen, die sich lärmend unterhielten und lachten und übertriebene Natürlichkeit zur Schau trugen; aus artigen kleinen Mädchen, die beim Lächeln alle ihre Zähne zeigten; und aus dicken Männern, die hinter ihren Bärten und Brillen verschanzt standen und guten Spinnen mit runden Augen ähnelten. Bei jedem Glas standen sie auf, um eine Gesundheit zu trinken; diese Tat vollführten sie mit religiösem Ernst; ihre Gesichter und ihr Ton verwandelten sich für einen Augenblick: sie schienen die Messe zu lesen, schienen sich Trankopfer darzubringen, tranken mit einem Gemisch von Feierlichkeit und Komik den heiligen Kelch. Die Musik ging im Lärm der Gespräche und im Geschirrgeklapper unter. Dabei gab sich alle Welt Mühe, leise zu sprechen und zu essen. Der Herr Konzertmeister, ein großer gebeugter Mann mit einem weißen Bart, der ihm wie ein Schwanz ums Kinn hing, und einer langen, gebogenen, bebrillten Nase, sah wie ein Philologe aus. – Alle diese Gestalten waren Christof seit langem vertraut. Aber an jenem Tage – er wußte selbst nicht warum – war er in der Stimmung, sie als Karikaturen zu sehen. Es gibt solche Tage, in denen uns ohne ersichtlichen Grund das Groteske in Wesen und Dingen, was im gewöhnlichen Leben unbemerkt mit vorbeigleitet, urplötzlich in die Augen springt.

Das Orchesterprogramm umfaßte die Egmontouverture, einen Walzer von Waldteufel, den Pilgerzug aus dem Tannhäuser, das Vorspiel zu den »Lustigen Weibern« von Nikolai, die Marche religieuse aus Athalie und eine Phantasie über den »Nordstern«. Das Orchester spielte die Beethovensche Ouverture gewissenhaft und den Walzer mit wildem Schwung. Während des Pilgerzuges aus dem Tannhäuser hörte man Flaschen entkorken. Ein dicker Herr, der an einem Tisch neben Christof saß, nickte zu den »Lustigen Weibern« den Takt und mimte dazu Falstaff. Eine ältere, starke Dame, in himmelblauem Kleid und weißem Gürtel, einen goldenen Kneifer auf der eingedrückten Nase, roten Armen und ungeheurem Brustumfang sang mit mächtiger Stimme Lieder von Schumann und Brahms. Sie wölbte die Brauen, warf verführerisch süße Blicke, senkte die Lider, neigte das Haupt nach rechts und nach links, ließ ein gewinnendes Lächeln über ihr Mondgesicht gleiten, und verausgabte eine so überausdrucksvolle Mimik, daß man für Augenblicke ans Tingeltangel hätte erinnert werden können, hätte sie nicht anderseits so majestätische Ehrbarkeit ausgestrahlt; aber diese würdige Familienmutter wollte die kleine Torheit spielen, die Jugend, die Leidenschaft; und die Schumannsche Poesie nahm den leisen, faden Geruch einer Babystube an. Das Publikum war in Begeisterung. – Feiertäglich aber wurde die Aufmerksamkeit erst, als die »Süddeutsche Männer-Liedertafel« erschien, die Gesangvereinsstücke voller Gefühl abwechselnd säuselte und brüllte. Es waren ihrer vierzig, die wie vier sangen; man hätte meinen können, daß sie sich alle Mühe gaben, in ihren Vorführungen jede Spur von eigentlich choralem Stil auszulöschen: dafür war da eine Sucht nach kleinen melodischen Effekten, kleinen, schüchternen und weinerlichen Nuancen, verhauchenden Pianissimi, mit jähen donnernden Ausbrüchen, wie Paukenschlägen, dazwischen; ein Fehlen jeglicher Fülle, jeglichen Gleichgewichtes – nichts als Süßlichkeit –: man dachte an Zettel den Weber: »Laßt mich den Löwen spielen. Ich werde süß wie eine schnäbelnde Taube brüllen. Ich werde brüllen, daß man meint, es sei eine Nachtigall.«

Christof lauschte von Beginn an mit wachsender Verblüfftheit. Nichts von alledem war ihm neu. Er kannte diese Konzerte, dies Orchester, dies Publikum. Aber mit einemmal erschien ihm alles gefälscht. Alles: bis zu dem, was er am meisten liebte: der Egmontouverture, deren pomphaftes Durcheinander und wohlanständige Erregtheit ihn in diesem Augenblick wie ein Mangel an Freimut verletzten. Allerdings waren es weder Beethoven noch Schumann, die er hörte, sondern es war die undurchdringliche Dummheit ihrer lächerlichen Interpreten und des wiederkäuenden Publikums, die sich wie eine dichte Dunstwolke rings um die Werke verbreitete. Aber auch davon abgesehen, lag in den Werken, selbst in den schönsten, etwas für Christof Beunruhigendes, das er vordem nie gefühlt hatte. Was war es nur? Er wagte es nicht zu zergliedern, waren ihm doch diese sehr geliebten Meister zu heilig, um sie anzutasten. Aber schloß er jetzt auch noch so sehr die Augen: er hatte gesehen. Und wider Willen sah er weiter hin; wie die Vergognosa von Pisa schaute er zwischen den Fingern hindurch.

Er sah die deutsche Kunst in ihrer ganzen Nacktheit. Alle – die Großen wie die Dummköpfe – breiteten ihre Seelen mit gerührter Wohlgefälligkeit aus. Die Bewegtheit strömte über, der charaktervolle Edelsinn rieselte aus allen Poren, das Herz zerschmolz zu maßlosen Ergüssen; die Schleusen der gefürchteten deutschen Empfindsamkeit waren aufgezogen; sie verdünnte die Kraft der Stärksten, sie ertränkte die Schwachen unter graulichen Gewässern: eine wahre Überschwemmung; das deutsche Denken schlief auf dem Grunde. Und was für ein Denken manchmal – bei einem Mendelssohn, einem Brahms, einem Schumann und in ihrer Gefolgschaft bei der ganzen Legion kleiner Komponisten von pathetischen oder weinerlichen Liedern! Alles Sand. Nicht ein einziger Fels. Feuchter unförmlicher Thon. –

Oft schien es Christof unglaublich, daß das Publikum von all der Albernheit und Kinderei nicht betroffen wurde. Er schaute ringsumher; aber er sah nichts als anbetende Mienen, Gesichter, die im voraus von den Schönheiten, die sie vernehmen, und dem Vergnügen, das sie an ihnen finden würden, überzeugt waren. Wie hätten sie sich unterstehen sollen, selbständig zu urteilen? Sie waren von Ehrfurcht für diese geheiligten Namen erfüllt. Was erfüllte sie nicht mit Ehrfurcht? Sie standen ihrem Programm ehrfürchtig gegenüber, ihrem Glas Bier, sich selber. Man fühlte, innerlich gaben sie allem, was sich näher oder ferner auf sie bezog, den Exzellenztitel. Christof betrachtete abwechselnd Publikum und Werke: die Werke spiegelten das Publikum, das Publikum spiegelte wie eine Gartenkugel die Werke wieder. Christof merkte, wie ihn die Lachlust ankam, und er schnitt Grimassen. Er nahm sich jedoch zusammen. Als aber der süddeutsche Männergesangverein mit Feierlichkeit anfing, das errötende »Geständnis« eines jungen verliebten Mädchens zu singen, hielt Christof nicht mehr an sich. Er brach in Lachen aus. Empörte »St!« klangen auf. Seine Nachbarn sahen ihn sehr verblüfft an; diese guten, gekränkten Gesichter machten ihm noch mehr Spaß: er lachte immer heller, lachte, lachte, bis er vor Lachen weinte. Jetzt aber wurde man böse. Man schrie: »Hinaus!« Er stand auf und ging achselzuckend, während sein Rücken in einem Anfall von tollem Lachen geschüttelt wurde, aus dem Saal. Dies Hinausgehen rief allgemeine Entrüstung hervor. Es wurde der Anfang der Feindseligkeiten zwischen Christof und seiner Vaterstadt.

 

Infolge dieser Prüfung kam Christof zu Hause auf den Gedanken, die Werke der »geheiligten« Musiker von neuem wieder durchzulesen. Und er war niedergeschmettert, als er merkte, daß einige der Meister, die er am innigsten liebte, gelogen hatten. Zuerst zwang er sich, daran zu zweifeln, zu glauben, daß er selbst sich täusche. – Aber nein, da war nichts zu machen. Er stand erschüttert vor der Unsumme von Minderwertigkeit und Lüge, die den künstlerischen Schatz eines großen Volkes bildet. Wie wenige Seiten hielten der Prüfung stand.

Von da ab wagte er sich nur noch mit Herzklopfen an das Lesen anderer Werke, anderer Meister, die ihm teuer waren … Ach – er war wie behext, überall hatte er dasselbe Mißgeschick. Bei einigen bereitete ihm die Entdeckung herzzerreißenden Schmerz; es war, als verliere er einen sehr geliebten Freund, als merke er plötzlich, daß dieser Freund, in den er alles Vertrauen gesetzt hatte, ihn seit Jahren hintergehe. Er weinte darüber. Nachts schlief er nicht mehr; er quälte sich weiter. Er gab sich selber die Schuld: konnte er denn nicht mehr urteilen? War er ganz und gar idiotisch geworden? – Nein, nein, mehr als je sah er die strahlende Schönheit des Tages, fühlte mit größerer Frische und Liebe als je den verschwenderischen Überfluß des Lebens: sein Herz konnte ihn nicht täuschen …

Noch lange aber wagte er nicht an die zu rühren, die ihm die Besten waren, die Reinsten, Allerheiligsten. Er zitterte davor, den Glauben, den er an sie hatte, zu erschüttern. Wie aber dem unerbittlichen Instinkt einer tapferen und wahrhaftigen Seele widerstehen, die bis zu Ende gehen und die Dinge sehen will, wie sie sind, was immer sie dadurch leiden mag? – Er schlug also die heiligen Werke auf, er gab die letzte Reserve, die kaiserliche Garde hin … Vom ersten Blick an sah er, daß sie nicht unfehlbarer als die anderen waren. Er fand nicht den Mut weiter vorzudringen. In manchen Augenblicken hielt er inne und schloß das Buch; wie der Sohn Noahs, warf er den Mantel über die Blöße seines Vaters …

Dann saß er niedergeschlagen inmitten seiner Trümmer. Lieber hätte er einen Arm verloren, als seine heiligen Illusionen antasten zu müssen. Sein Herz trug Trauer. Aber sein Lebensfrühling war von solchem Saft geschwellt, daß sein Vertrauen in die Kunst nicht erschüttert wurde. Mit der kindhaften Anmaßung des jungen Menschen begann er das Leben von vorn, als ob niemand vor ihm es gelebt habe. In dem Rausch seiner neuen Kraft fühlte er – vielleicht nicht mit Unrecht –, daß, wenige Ausnahmen abgerechnet, fast keinerlei Beziehung zwischen den lebendigen Leidenschaften und dem Ausdruck besteht, welchen die Kunst ihnen zu verleihen sich abgemüht hat. Aber er täuschte sich, wenn er meinte, er selber sei glücklicher oder wahrer, wenn er sie ausdrückte. Da er von seinen heißen Gefühlen ganz erfüllt war, wurde es ihm wohl ein leichtes, sie aus allem, was er schrieb, wieder hervorleuchten zu sehen; außer ihm aber hätte sie niemand in dem unvollkommenen Wortschatz, mit dem er sie bezeichnete, erkannt. Vielen Künstlern, die er verdammte, war es ebenso ergangen. Sie hatten Tiefes empfunden und ausgedrückt. Aber das Geheimnis ihrer Sprache war mit ihnen gestorben.

Christof war nichts weniger als ein Psychologe, er kümmerte sich um alle diese Gründe nicht: war etwas für ihn tot, so mußte es immer so gewesen sein. Er prüfte alle seine Urteile über die Vergangenheit mit der selbstsicheren und ungestümen Ungerechtigkeit der Jugend. Er entblößte die edelsten Seelen ohne Mitleid für ihre Lächerlichkeiten. Da war die eitle Schwermut, die gewählte Phantasie, das wohlgesinnte Nichts von Mendelssohn. Da war das Glasgeklingel und der Flitterkram von Weber, seine Herzensdürre, seine verstandesmäßige Rührung. Da war Liszt, der Heldenvater und Zirkusreiter, der Neuklassiker und Jahrmarktsgaukler, ein Gemisch aus gleichen Dosen wahren und falschen Adels, aus hohem Idealismus und widerlichem Virtuosentum. Da war der unter seiner Empfindsamkeit wie unter kilometertiefem, durchsichtigem, fadem Wasser ersäufte Schubert. Selbst die Alten der heroischen Zeitalter, die Halbgötter, die Propheten, die Kirchenväter wurden nicht verschont. Sogar der große Sebastian, der zwei oder drei Jahrhunderte alte, der Vergangenheit und Zukunft in sich trug – Bach –, er war nicht frei von aller Lüge, aller Modetorheit, allem Schulgeschwätz. Dieser Mann, der Gott geschaut hatte, dieser Mann, der in Gott lebte, schien Christof manchmal von süßlicher, nichtssagender Frömmigkeit, von altväterischem Jesuitenstil. In seinen Kantaten waren Melodien voll verliebten und frömmelnden Schmachtens – (Zwiegespräche der Seele, die mit Jesus schön tut) –, die Christof anwiderten: er meinte pausbäckige Engeljungen mit runden Waden und davonflatternden Draperien zu sehen. Dann hatte er auch das Empfinden, daß der geniale Kantor immer im festgeschlossenen Zimmer schrieb: es roch nach Muff; in seiner Musik war nicht die kräftige freie Luft, die bei anderen wehte, die vielleicht weniger große Musiker aber größere Menschen – männlicher waren, so wie Beethoven, wie Händel. Was ihn ferner bei allen, besonders bei den Klassikern verletzte, war ihr Mangel an Freiheit: fast alles in ihren Werken war konstruiert. Das eine Mal war ein Gefühl mit allen Gemeinplätzen der musikalischen Rhetorik aufgebauscht, ein andermal war ein einfacher Rhythmus, ein ornamentales Gebilde wiederholt, umgekehrt und in jeder Weise mechanisch umgestellt. Diese symmetrischen und immer gleichen Konstruktionen – klassische und neuklassische Symphonien – brachten Christof, der in diesem Augenblick für die Schönheit der Regelmäßigkeit, der groß angelegten und durchdachten Grundrisse wenig empfänglich war, außer sich. Sie schienen ihm mehr Maurer- als Musikerarbeit.

Man braucht nicht zu denken, er sei den Romantikem gegenüber weniger streng gewesen. Es war ganz sonderbar, und er selbst war zu allererst davon überrascht – daß keine Komponisten ihn mehr ärgerten, als jene, die am freiesten, ursprünglichsten, am wenigsten konstruktiv hatten sein wollen und es auch wirklich gewesen waren – solche, die wie Schumann Tropfen für Tropfen und Minute für Minute in ihre unzähligen kleinen Werke ihr ganzes Leben gegossen hatten. Er war gegen sie mit um so heftigerem Zorn geladen, als er in ihnen seine Jünglingsseele wiedererkannte und mit ihr alle Torheiten, die er geschworen hatte, ihr auszutreiben. Gewiß, man konnte den sanften Schumann unmöglich der Falschheit zeihen: er sprach fast niemals etwas aus, was er nicht wahrhaft gefühlt hatte. Aber gerade sein Beispiel führte Christof zu der Erkenntnis, daß die schlimmste Falschheit der deutschen Kunst nicht dort lag, wo die Künstler Empfindungen ausdrücken wollten, die sie nicht fühlten, sondern vielmehr dort, wo sie zwar Gefühle ausdrückten, die sie empfanden – die aber in sich gefälscht waren. Die Musik ist ein unerbittlicher Spiegel der Seele. Je naiver und vertrauensvoller ein deutscher Musiker ist, um so mehr zeigt er die Schwächen der deutschen Seele, ihren unsicheren Grund, ihre weiche Empfindsamkeit, ihren Mangel an Freimut, ihren ein wenig hinterhältigen Idealismus, ihre Unfähigkeit sich selbst zu sehen, zu wagen sich ins Gesicht zu schauen. Dieser falsche Idealismus war der Riß selbst bei den Größten – wie Wagner. Als Christof seine Werke überlas, knirschte er mit den Zähnen. Lohengrin schien ihm von einer Lügenhaftigkeit, daß man aufheulen konnte. Er haßte dieses Ritterpack, dieses heuchlerische Liebegottspielen, diesen Helden ohne Tadel und ohne Adel, dies Muster egoistischer, kalter Tugendhaftigkeit, die sich selbst anbetet und nur sich selbst liebt. Er kannte diesen Typus des deutschen Pharisäers nur allzugut, er hatte ihn in der Wirklichkeit kennen gelernt: schön zurechtgemacht, unbewegt und hart, in Anbetung vor dem eigenen Bild, dessen Göttlichkeit er kampflos die anderen opfert. Der »Fliegende Holländer« erschlug ihn mit seiner massigen Sentimentalität und seiner trübseligen Langeweile. Die dekadenten Barbaren des »Ringes« waren, wenn sie liebten, von widerlicher Fadheit. Wenn Siegmund seine Schwester entführte, schmetterte sein Tenor eine Salonromanze. Siegfried und Brünhilde breiteten in der »Götterdämmerung« als brave deutsche Eheleute einer vor des anderen Augen und vor allem vor dem Publikum ihre geschwätzig-pomphafte eheliche Leidenschaft aus. Sämtliche Arten der Lüge hatten sich in diesem Werk ein Stelldichein gegeben: falscher Idealismus, falsches Christentum, falsche Gotik, falsches Legendentum, falsche Göttlichkeit und falsche Menschlichkeit. Niemals hatte sich das Althergebrachte in einem Theater breiter gemacht als in diesem, das alles Althergebrachte umzustoßen vorgab. Weder Augen, Geist noch Herz konnten sich einen Augenblick davon blenden lassen; um es möglich zu machen, mußten sie es selber wollen. – Und sie wollten es. Deutschland ergötzte sich an dieser ältlich-kindlichen Kunst, dieser Kunst losgelassener Bestien und mystisch quakelnder Mädelchen.

Jedoch, was Christof auch immer tat: sowie er diese Musik wieder vernahm, wurde er wie die anderen davon gefangengenommen, mehr als die anderen – von der Sturzflut, dem diabolischen Willen des Mannes, der das alles entfesselt hatte. Er lachte und bebte, seine Wangen flammten, er fühlte Reiterarmeen durch sich hindurchrasen! und er dachte, daß denen, die solche Sturmgewalt in sich tragen, alles erlaubt sei. Welche Freudenschreie stieß er aus, wenn er in den geheiligten Werken, die er nur noch zitternd durchblätterte, seine frühere Mitgerissenheit wiederfand, immer gleich glühend wiederfand, ohne daß ihm irgend etwas die Reinheit dessen, das er liebte, trüben konnte! Das waren glorreiche Trümmer, die er so aus dem Schiffbruch rettete. Wieviel Glück verdankte er ihnen! Ihm war, als retteten sie einen Teil seiner selbst. Und war dies alles nicht er selbst? Diese großen Deutschen, gegen die er zu Felde zog, waren sie nicht sein Blut, sein Fleisch, sein kostbarstes Sein? Er war gegen sie nur so streng, weil er es gegen sich war. Wer liebte sie mehr als er? Wer fühlte tiefer als er Schuberts Güte, Haydns Unschuld, Mozarts Zärtlichkeit, Beethovens großes heroisches Herz? Wer hatte sich öfter als er in das Rauschen Weberscher Wälder geflüchtet, in das tiefe Dunkel von Johann Sebastians Kathedralen, die ihre Steingebirge, ihre gigantischen Türme mit den durchbrochenen Spitzen über die deutsche Ebene in den grauen Nordhimmel erhoben? – Aber er litt an ihren Lügen und konnte sie nicht vergessen. Er schob sie der Rasse zu, ihre Größe aber ihnen selber. Er tat Unrecht daran. Größe und Schwäche sind gleichermaßen der Rasse eigen, jener Rasse, deren mächtiges und traumtrübes Denken als der breiteste Strom von Musik und Dichtung dahinrollt, aus dem Europa trinkt. – Und in welchem anderen Volk hätte er die naive Reinheit gefunden, die ihn in diesem Augenblicke dazu brachte, es so hart zu verdammen?

Davon ahnte er nichts. Mit der Undankbarkeit des verzogenen Kindes wandte er gegen seine Mutter die Waffen, die er von ihr empfangen hatte. Später, viel später sollte er es ganz fühlen, was er ihr schuldete, und wie teuer sie ihm war … Jetzt aber befand er sich in einer Zeit blinder Auflehnung gegen alle Götter seiner Kindheit. Er zürnte sich und ihnen, mit so leidenschaftlicher Hingabe an sie geglaubt zu haben. – Und es war gut, daß es so kam. Es gibt ein Lebensalter, in dem man den Mut zur Ungerechtigkeit finden muß, in dem man wagen muß, mit jeder Bewunderung und jeder angelernten Hochachtung aufzuräumen, und alles zu verneinen – Lügen und Wahrheiten –, alles was man nicht selbst als wahr erkannt hat. Das Kind saugt durch die ganze Erziehung, durch alles, was es rings um sich sieht und hört, eine solche Menge von Lügen und Torheiten ein, die den wesentlichsten Wahrheiten des Lebens vermengt sind, daß die erste Pflicht des Jünglings, der ein Mann sein will, ist, alles auszuspeien.

 

Christof machte solch eine Krisis kräftigen Ekels durch. Sein Instinkt trieb ihn dazu, alle unverdaulichen Bestandteile seines Wesens, die ihn belästigten, fortzuschaffen.

Vor allem diese widerwärtige Empfindsamkeit, die von der deutschen Seele wie von einem feuchten, schimmelriechenden Keller niedertropfte. Licht! Licht! Rauhe, trockne Luft, welche alle Sumpfmikroben fortfegen sollte, samt dem faden Muffgeruch all dieser Lieder, Liedchen und Liedlein, in deren Regentropfen-Zahllosigkeit sich das deutsche Gemüt unversiegbar ergoß: dieser tausendfältigen »Sehnsucht«, »Heimweh«, »Aufschwung«, »Frage«, »Warum«, »An den Mond«, »An die Sterne«, »An die Nachtigall«, »An den Frühling«, »An den Sonnenschein«; all dieser Frühlingslieder, Frühlingsgrüße, Frühlingsfahrten, Frühlingsnächte, Frühlingsbotschaften; dieser Blumenlieder, Blumengrüße; der immer wiederkehrenden: »Stimme der Liebe«, »Sprache der Liebe«, »Trauer der Liebe«, »Geist der Liebe«, »Fülle der Liebe«; dieses unaufhörlichen »Herzeleid« – »Mein Herz ist schwer« – »Mein Aug' ist trüb«; dieser sanften albernen Zwiegespräche mit dem »Röslein«, der »Quelle«, der »Turteltaube«, der »Schwalbe«; dieser abgeschmackten Fragen: »ob die Rose ohne Dornen sein solle« – »ob die Schwalbe mit einem alten Mann ihr Nest gebaut habe«, oder ob »sie erst seit kurzem verlobt sei« – dieser ganzen Sintflut von fader Weichherzigkeit, fader Rührung, fader Melancholie, fader Poesie … Wieviel Schönes, Seltenes wurde so entweiht, bei jedem Anlaß und ohne Anlaß verbraucht! Denn das Schlimmste ist, daß all dies ja überflüssig war; nichts als schlechte Angewohnheit, sein Herz öffentlich zu enthüllen, ein zärtlicher alberner Hang der braven Deutschen, sich geräuschvoll einander anzuvertrauen. Nichts zu sagen haben und ewig reden! Wollte dies Geschwätz denn niemals enden? – Holla! Silentium, Ihr Sumpffrösche!

Besonders grausam empfand Christof die Lüge, wenn Liebe ausgedrückt wurde; denn hier lag es ihm am nächsten, sie mit der Wahrheit zu vergleichen. Die Voraussetzung aller dieser tränenreichen und wohlerzogenen Liebesgesänge entsprach in nichts weder dem männlichen Begehren noch dem weiblichen Herzen. Und doch mußten die Leute, die das geschrieben hatten, wenigstens einmal in ihrem Leben geliebt haben! War denkbar, daß sie in dieser Weise geliebt hatten? Nein, nein! sie hatten gelogen, gelogen wie immer, hatten sich selbst belogen; sie hatten sich idealisieren wollen … Idealisieren! Das wollte heißen: Furcht haben, dem Leben ins Antlitz zu schauen, unfähig sein, die Dinge als Mann, so wie sie sind, zu sehen. – Überall die nämliche Schüchternheit, der nämliche Mangel an männlichem Freimut. Überall dieselbe kaltgestellte Begeisterung, dieselbe pomphafte lügnerische Feierlichkeit, im Patriotismus, im Trinken, in der Religion. Die Trinklieder waren großartige Ansprachen an den Wein oder das Glas: »Du herrlich Glas …«. Der Glaube – das Gefühl, das das ursprünglichste sein und aus der Seele wie ein unerwarteter plötzlicher Springquell sprudeln sollte – war ein Fabrikartikel, eine gangbare Ware. Die Vaterlandslieder waren für eine Herde gefügiger, im Takt blökender Hammel gemacht … – Heult doch auf! – – Was! Wollt ihr denn bis in eure Saufgelage hinein weiterlügen – »idealisieren« – bis in eure Metzeleien, bis in den Wahnsinn! …

Christof war dahin gelangt, jeden Idealismus zu hassen. Er zog der Lüge die offene Brutalität vor. – Im Grunde war er idealistischer als die anderen und hatte – durfte keine ärgeren Feinde haben als die brutalen Realisten, denen er den Vorzug zu geben glaubte.

Vorläufig war er in seiner Leidenschaft blind. Er fühlte sich durch den Nebel, die bleichsüchtige Lüge, »die sonnenlosen Gespenster« erstarrt. Mit allen Kräften seines Wesens ersehnte er die Sonne. In seiner jugendstürmenden Verachtung für die ihn umgebende Heuchelei oder das, was er so nannte, sah er darin nicht die tiefe und nützliche Weisheit der Rasse, die sich nach und nach ihren grandiosen Idealismus aufgebaut hatte, um ihre ungebändigten Triebe und wilden Instinkte niederzuzwingen, oder sie zu verwerten. Nicht willkürliche Vernunftgründe, nicht moralische und religiöse Gebote, ebensowenig Gesetzgeber und Staatsmänner, Priester und Philosophen formen die Seele der Rassen um und zwingen ihr oft eine neue Natur auf: Jahrhunderte des Unglücks und der Prüfungen schmieden die Völker, die leben wollen, fürs Leben.

 

Unterdessen komponierte Christof; und seine Kompositionen waren keine Gegenbeispiele für die Fehler, die er den anderen vorwarf. Das kam, weil das Schaffen ihm unwiderstehliches Bedürfnis war, und sich nicht den Gesetzen, die sein Verstand diktierte, unterwarf. Man schafft nicht aus Gründen. Man schafft aus Notwendigkeit. – Dann genügt es auch nicht, die den meisten Gefühlen anhaftende Lüge und Theatralik erkannt zu haben, um nicht in sie zurückzufallen: dazu sind lange und schwierige Anstrengungen nötig; nichts ist schwerer, als in der modernen Gesellschaft mit der von Generationen übernommenen, erdrückenden Erbschaft träger Gewohnheiten ganz und gar aufrichtig zu sein. Vor allem für solche Menschen oder Völker schwierig, welche den aufdringlichen Hang haben, ihr Herz auf der Zunge zu tragen – es ohne Aufhören sprechen zu lassen –, während es meist doch nichts Besseres zu tun gibt als zu schweigen.

Darin war auch Christofs Herz echt deutsch: er hatte noch nicht die Tugend des Schweigens erworben; übrigens hätte sie seinem Alter nicht entsprochen. Er hatte von seinem Vater das Bedürfnis zu reden geerbt – geräuschvoll zu reden. Er war sich dessen bewußt und er kämpfte dagegen an; aber dieser Kampf legte einen Teil seiner Kräfte lahm. – Er focht einen andern gegen das nicht weniger unangenehme Erbteil, das ihm sein Großvater mitgegeben hatte: eine ungemeine Schwierigkeit sich genau auszudrücken. – Er war der Sohn des Virtuosen. Er fühlte in sich die gefahrvolle Anziehungskraft der Virtuosität: – der physischen Lust, der Lust an Geschicklichkeit, Fertigkeit, befriedigter Muskeltätigkeit, der Lust am Besiegen, Blenden, am Unterjochen des tausendköpfigen Publikums, mittels der Persönlichkeit; eine bei einem jungen Menschen übrigens sehr entschuldbare, fast harmlose Lust, – aber nicht desto weniger tödlich für Kunst und Seele: – Christof kannte sie: er hatte sie im Blut; er verachtete sie, gab ihr aber dennoch nach.

So zwischen den Instinkten seiner Rasse und denen seiner Persönlichkeit hin- und hergezerrt, mit der Last einer umklammernden Vergangenheit beladen, die sich in ihm einnistete und von der er sich nicht befreien konnte, kam er nur tappend vorwärts und war allem, was er ächtete, viel näher, als er dachte. Alle seine Werke aus jener Zeit waren ein Gemisch aus Wahrheit und Schwulst, aus hellseherischer Kraft und stammelnder Torheit. Nur für Augenblicke gelang es seinem Ich die Hülle aller jener toten Wesen zu durchbrechen, die seine Bewegungen einschnürten.

Er war einsam. Er hatte keinen Führer, der ihm aus dem Morast half. Wenn er sich schon draußen glaubte, dann grade sank er um so tiefer ein. Er tappte im Dunkeln und verschwendete Zeit und Kräfte an unglückliche Versuche. Keine Erfahrung wurde ihm erspart; und im Wirrwarr dieser schöpferischen Regsamkeit gab er sich keine Rechenschaft darüber, was unter allem, das er schuf, am meisten Wert hatte. Er verstrickte sich in unsinnige Pläne, in symphonische Dichtungen, die sich philosophisch gebärdeten und ungeheure Dimensionen hatten. Er war zu wahrhaftig, um sich lange an sie zu binden; und er ließ sie, bevor er einen einzigen Teil skizziert hatte, voller Abscheu liegen. Oder er Mutete sich wohl auch zu, die unzugänglichsten Dichtwerke als Ouvertüren in Musik zu übertragen. Damit patschte er in Gebieten herum, die ihn nichts angingen. Wenn er sich selbst seine Textbücher schrieb, – (denn er fürchtete sich vor nichts) –, so kamen bloße Eseleien heraus; und wenn er sich an die großen Werke von Goethe, von Kleist, von Hebbel oder Shakespeare machte, verstand er alles verkehrt. Das war nicht Mangel an Intelligenz, aber Mangel an Kritik; er war zu sehr mit sich beschäftigt und konnte daher die andern noch nicht verstehen: überall fand er sich selbst mit seiner naiven und schwülstigen Seele wieder.

Neben diesen Ungeheuern, die nichts weniger als lebensfähig waren, schrieb er eine Anzahl kleiner Werke, – die unvergänglichsten von allen –, die der unmittelbare Ausdruck vorübergehender Empfindungen waren: musikalische Gedanken, Lieder. Hier wie überall schuf er in leidenschaftlicher Reaktion gegen das Althergebrachte. Er nahm die berühmtesten, schon in Musik gesetzten Gedichte wieder vor und hatte die Dreistigkeit, es anders und wahrer als Schumann und Schubert machen zu wollen. Einmal wollte er den poetischen Gestalten Goethes: seiner Mignon, seinem Harfner ihren individuellen, ausgeprägten und beunruhigenden Charakter wiedergeben. Ein anderes Mal machte er sich an gewisse Liebeslieder, welche die Künstler in ihrer Schwäche und das Publikum in seiner Geschmacklosigkeit in schweigender Übereinkunft mit immer neuer süßlicher Sentimentalität umhüllt halten; und er entkleidete sie: er gab ihnen ihre wilde und herbe Sinnlichkeit zurück. Mit einem Wort, er mutete sich zu, Leidenschaften und Geschöpfe um ihrer selbst willen zu verlebendigen, und nicht als Spielzeug für deutsche Familien, die Sonntags in irgend einem Tiergarten bequeme Rührseligkeiten suchen.

Gewöhnlich aber fand er die Dichter, selbst die Größten, zu literarisch; und er suchte mit Vorliebe die allereinfachsten Texte: Texte alter Lieder, alter geistlicher Gesänge, die er in einem Erbauungsbuch gefunden hatte: er hütete sich sehr davor, ihren Choralcharakter zu bewahren: er behandelte sie in kühn weltlicher Weise, frei und lebendig. Oder er nahm wohl auch Evangelienstellen oder Sprichworte, manchmal sogar Worte, die er im Vorübergehen aufgefangen hatte, Bruchstücke volkstümlicher Gespräche, Betrachtungen von Kindern: – ungelenke und oft prosaische Texte, in denen nichts als das ganz reine Gefühl war. Da war er in seinem Fahrwasser, und erreichte eine Tiefe, von der er selbst nichts ahnte, und die in seinen andern Kompositionen durchaus nicht war.

Gut oder schlecht, und öfter schlecht als gut, strömte die Gesamtheit seines Schaffens doch von Leben über. Alles darin war nicht neuartig: weit entfernt davon. Unzählige Male war Christof gerade aus seiner Aufrichtigkeit heraus banal; es widerfuhr ihm, schon gebrauchte Formen zu benutzen, weil sie seinen Gedanken genau Wiedergaben, weil auch er genau in dieser Art und nicht anders fühlte. Um nichts in der Welt hätte er danach getrachtet, originell zu sein: ihm schien, man müsse sehr minderwertig sein, um sich mit dergleichen zu plagen. Er versuchte er selbst zu sein, zu sagen, was er fühlte, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was er aussprach, vor ihm schon gesagt worden sei oder nicht. Er war stolz genug zu glauben, daß dies immer noch die bessere Art von Originalität sei, und daß Johann Christof doch nur einmal dagewesen sei und sein würde. In seiner prachtvollen Jugendfrechheit schien ihm noch nichts getan; und alles schien ihm zu tun oder doch neu zu tun. Und das Gefühl dieser inneren Fülle und des unbegrenzten Lebens vor sich versetzte ihn in einen Zustand überschäumenden und ein wenig indiskreten Glückes. Jeder Augenblick war von Jubelstimmung erfüllt. Sie bedurfte der Freude nicht, sie konnte auch aus der Trauer wachsen: ihre Quelle war sein übervolles Leben, seine Kraft, die Mutter jedes Glückes und jeder Tugend. Leben, immer noch mehr leben! … Wer in sich diese Krafttrunkenheit, diesen Lebensjubel – wäre es auch in Tiefen des Unglücks – nicht fühlt, ist kein Künstler. Das ist der Prüfstein. Wahre Größe erkennt sich an der Jubelkraft in Freude oder Leid. Ein Mendelssohn oder ein Brahms, die Götter des Oktobernebels und des feinen Regens haben nie diese göttliche Macht gekannt.

Christof fühlte sie in sich; und er stellte seine Freude mit unvorsichtiger Naivität zur Schau. Er sah darin nichts Böses, wollte er sie doch nur mit andern teilen. Er merkte nicht, wie verletzend diese Freude für die meisten Menschen ist, die sie nie besitzen und ewig beneiden werden. Im übrigen kümmerte er sich wenig darum, ob er gefiel oder mißfiel; er war seiner selbst sicher und nichts schien ihm einfacher, als seine Überzeugung den andern mitzuteilen – und mit ihr zu siegen. Instinktiv verglich er seine Reichtümer mit der allgemeinen Armut der Notenfabrikanten; und er dachte, daß es doch ganz leicht sein müsse, seiner Überlegenheit Anerkennung zu verschaffen. Allzuleicht sogar. Er brauchte sich ja nur zu zeigen.

So zeigte er sich denn.

 

Man erwartete ihn.

Christof hatte aus seinen Gefühlen kein Geheimnis gemacht. Seit er sich des deutschen Pharisäertums bewußt geworden war, das die Dinge nicht sehen will, wie sie sind, hatte er es sich zum Gesetz gemacht, allem gegenüber, und ohne Rücksicht auf irgend ein Werk, einen Menschen oder sich selbst, unbedingt, fortgesetzt und starrsinnig aufrichtig zu sein. Und da er nichts ohne Übertreibung tun konnte, ging er auch hier ins Ungeheuerliche; er redete unerhörte Dinge und entrüstete Leute, die nicht das Tausendstel seine Naivität besaßen. Er benahm sich gradezu märchenhaft naiv. Dem ersten besten vertraute er, mit der Genugtuung eines Menschen, der seine unschätzbaren Entdeckungen nicht für sich behalten will, an, was er von der deutschen Kunst dachte. Es kam ihm nicht einmal der Gedanke, daß man das schlecht aufnehmen könnte. Wenn er soeben die Eselei eines geheiligten Werkes erkannt hatte, war er derartig erfüllt von seiner Entdeckung, daß er möglichst schnell jeden, den er grade traf, daran teilnehmen ließ: Orchestermusiker, oder musikalische Bekannte. Die geschmacklosesten Urteile ließ er mit strahlendem Gesicht los. Zuerst nahm man ihn nicht ernst; man lachte über seine Einfälle. Aber man fand bald, daß er allzu häufig und mit einer unangebrachten Hartnäckigkeit auf sie zurückkam. Es wurde klar: Christof glaubte an seine Paradoxe; und das war weniger drollig. Er machte sich damit unmöglich. Mitten im Konzert trug er lärmende Ironie zur Schau, oder er gab seiner Verachtung für die ruhmvollen Meister in unverhülltester Weise Ausdruck, wo immer er sich auch befand.

In der kleinen Stadt trug man sich alles zu: keins seiner Worte ging verloren. Man zürnte ihm schon wegen seines Benehmens im vergangenen Jahr. Man hatte die skandalöse Art, in der er sich mit Ada öffentlich gezeigt hatte, und die unruhigen Stunden, die darauf gefolgt waren, nicht vergessen. Er selbst dachte an das alles nicht mehr; die Tage löschten die Tage und was er vor zwei Monaten gewesen war, lag weit hinter ihm. Andere aber erinnerten sich wohl daran: die, deren soziale Obliegenheit es in allen kleinen Städten ist, jede Sünde, jede Schande, alle traurigen, häßlichen, mißlichen Ereignisse, die ihre Nachbarn angehn, mit peinlicher Genauigkeit aufzunehmen, damit in alle Ewigkeit nicht das Geringste davon verloren gehe. Die neuen Absonderlichkeiten Christofs fanden in dem auf seinen Namen lautenden Register einen passenden Platz an der Seite der alten. Die einen warfen ihr Licht auf die andern. Zu der beleidigten Moral fügte sich jetzt der entrüstete gute Geschmack. Die Nachsichtigsten sagten von ihm:

Er will was Besonderes sein.

Aber die Mehrzahl war sich einig:

Total verrückt!

Eine nicht weniger harte und noch gefährlichere Ansicht begann sich zu verbreiten – eine Ansicht, deren hoher Ursprung ihren Erfolg sicherte –: man erzählte sich, daß Christof im Schloß, wohin er weiter regelmäßig zur Erfüllung seiner offiziellen Pflichten ging, so geschmacklos gewesen sei, sich dem Großherzog in persona gegenüber mit aufrührerischer Schamlosigkeit über die hochverehrten Meister zu äußern; er hatte, sagte man, den Elias von Mendelssohn »das Geplapper eines heuchlerischen Clergyman« genannt und gewisse Lieder von Schumann als Backfischmusik bezeichnet: und das, nachdem die hohen Fürstlichkeiten noch eben ihre Vorliebe für diese Werke geäußert hatten! Der Großherzog hatte diesen Impertinenzen ein Ende gemacht, indem er trocken sagte:

»Wenn man Sie hört, Herr Krafft, könnte man manchmal daran zweifeln, daß Sie ein Deutscher sind.«

Dieses Rächerwort, das von so hoch oben fiel, verfehlte nicht, sehr tief herunterzurollen; und alle die, welche Veranlassung zu haben meinten, gegen Christof eingenommen zu sein, sei es seiner Erfolge wegen, sei es aus noch persönlicheren oder nagenderen Gründen, ließen es sich nicht entgehen, daran zu erinnern, daß er in der Tat nicht reiner Deutscher wäre. Seine väterliche Familie war – man wird sich dessen entsinnen – belgischen Ursprungs. Also war es ja gar nicht überraschend, wenn dieser Emigrant die nationalen Ruhmestaten anschwärzte. Die Feststellung dieser Tatsache erklärte alles, und das germanische Selbstgefühl fand dadurch einen Grund mehr, sich noch höher zu achten und seinen Widersacher gleichzeitig über die Achsel anzusehen.

Dieser vorläufig ganz platonischen Rache führte Christof selber noch festere Nahrung zu. Es ist sehr unklug, andere zu kritisieren, wenn man selbst eben im Begriff ist, sich der Kritik auszusetzen. Ein geschickterer und weniger offener Künstler hätte mehr Bescheidenheit und seinen Vorgängern gegenüber mehr Respekt gezeigt. Christof aber sah nicht ein, warum er seine Verachtung für das Minderwertige und das Glück über seine eigene Kraft verstecken sollte. Dies Glück gebärdete sich ganz maßlos. Obgleich Christof von Kindheit an daran gewöhnt war, sich in sich selbst zu verschließen, und auch nie einen Vertrauten gehabt hatte, war ihm in letzter Zeit ein Bedürfnis nach einem sich Ausgeben gekommen. Für ihn allein war die Freude allzu groß; seine Brust war zu eng, um sie zu umfassen; er wäre zersprungen, hätte er seine Fröhlichkeit nicht mitgeteilt. Aus Mangel an Freunden hatte er seinen Orchesterkollegen, den zweiten Kapellmeister Siegmund Bock, zum Vertrauten gemacht, einen jungen Württemberger, der ein guter Kerl, aber heimtückisch war und ihm eine überströmende Ehrerbietung bezeugte. Er mißtraute ihm in nichts. Und hätte er ihm mißtraut, wäre er doch niemals auf den Gedanken gekommen, daß es irgendwelche schlimmen Folgen haben könne, seine Freude einem Gleichgültigen, ja selbst einem Feinde mitzuteilen? Hätten sie ihm nicht eher dankbar sein müssen? Arbeitete er nicht für sie mit? Allen wollte er Glück schenken, Freunden wie Feinden. – Er ahnte nicht, daß es nichts Schwierigeres gibt, als die Menschen zur Annahme eines neuen Glückes zu bewegen. Fast ist ihnen ein altes Übel lieber: was sie brauchen, ist eine seit Jahrhunderten wiedergekäute Nahrung. Was ihnen aber vor allem unerträglich vorkommt, ist der Gedanke, dieses Glück einem andern zu schulden. Solche Beleidigung verzeihen sie nur, wenn ihnen kein weiteres Mittel mehr bleibt, ihr zu entgehen; und in jedem Fall tun sie alles, um es sich teuer bezahlen zu lassen.

So gab es denn tausend Gründe dafür, daß Christofs Bekenntnisse nicht besonders freundlich ausgenommen wurden, wem gegenüber er sie auch immer machte. Tausend und einen aber gab es, daß Siegmund Bock sie nicht gut aufnahm. Der erste Kapellmeister, Tobias Pfeiffer, war nahe daran, in den Ruhestand zu treten; und Christof hatte trotz seiner Jugend alle Aussicht, sein Nachfolger zu werden. Bock war ein zu guter Deutscher, um nicht anzuerkennen, daß Christof diesen Platz verdiene, zumal da der Hof auf seiner Seite stand. Von sich selbst aber hatte er eine zu gute Meinung, um nicht überzeugt zu sein, er verdiene ihn weit mehr, wenn ihn nur der Hof besser kennen würde. So nahm er denn Christofs Herzensergüsse mit eigentümlichem Lächeln entgegen, wenn dieser am Morgen mit einem Gesicht, das sich zum Ernst zwang, aber wider Willen strahlte, im Theater erschien.

»Nun also,« sagte er im Vorübergehen spöttisch zu ihm, »wieder ein neues Meisterwerk?« Christof nahm ihn beim Arm.

»Ich sage dir, mein Lieber! Das letzte übersteigt alles … Wenn du es nur hörtest! … Der Teufel hole mich: es ist zu schön! Etwas ähnliches hat nie existiert. Gott stehe den armen Leuten bei, die es hören werden! Man kann danach nur einen Wunsch in der Seele haben: sterben.«

Solche Worte fielen durchaus nicht in eines Tauben Ohren. Anstatt darüber zu lächeln, oder über diesen kindlichen Enthusiasmus mit Christof selber freundschaftlich zu scherzen, der der erste gewesen wäre, darüber zu lachen und sich deswegen zu entschuldigen, wenn man ihm das Lächerliche darin zu fühlen gegeben hätte, zeigte Bock ironische Begeisterung; er reizte Christof, andere Ungeheuerlichkeiten loszulassen; und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als sie so bald als möglich überall herum zu erzählen und sie dabei noch grotesker wiederzugeben. Man machte sich in dem kleinen Musikerkreis nach Kräften darüber lustig; und jeder wartete ungeduldig auf die Gelegenheit, die unglücklichen Werke zu begutachten. – Sie waren sämtlich im voraus abgeurteilt.

Endlich kamen sie ans Licht. – Christof hatte aus dem Schwall seiner Arbeiten eine Auswahl getroffen; zunächst eine Ouvertüre zur Judith von Hebbel, deren wilde Energie ihn im Gegensatz zu dem deutschen Mangel an Spannkraft angezogen hatte, obgleich er bereits anfing, ein wenig davon angewidert zu werden, da ihm ein dunkles Gefühl das Geschraubte dieser Art, immer und um jeden Preis Genie zu entfalten, zeigte. Er hatte eine Symphonie hinzugefügt, die den pathetischen, Böcklin entlehnten Titel »Der Traum des Lebens« und das Motto: » Vita somnium breve« trug. Eine Folge seiner Lieder vervollständigte das Programm nebst einigen klassischen Werken und einem Festmarsch von Bock, den Christof aus Kameradschaftlichkeit für das Ende des Konzerts vorgeschlagen hatte, obgleich er seine Minderwertigkeit fühlte.

Über die Proben war wenig durchgesickert. Obgleich das Orchester absolut nichts von den auszuführenden Werken verstand und jeder für sein Teil durch die Eigentümlichkeiten dieser neuen Musik in Verwirrung versetzt wurde, fand doch niemand Zeit, sich eine Meinung zu bilden; vor allem war man dazu nicht fähig, bevor das Publikum geurteilt hatte. Im übrigen übertrug sich Christofs Sicherheit auf die Künstler, die, wie jedes gute, deutsche Orchester, gefügig und diszipliniert waren. Die einzigen Schwierigkeiten kamen von der Sängerin. Es war die Dame in Blau aus dem Konzert der Tonhalle. Sie war in Deutschland eine Sangesberühmtheit: eine Familienmutter, die in Dresden und Bayreuth Brünhilde und Kundry mit unwiderlegbarer Lungenfülle darstellte. Wenn sie aber in der Wagnerschule die Kunst, gut auszusprechen, die Konsonanten durch den Raum zu werfen und die Vokale wie Keulenschläge auf das anbetende Publikum niedersausen zu lassen, gelernt hatte, – eine Kunst, auf welche diese Schule mit Recht stolz ist –, so hatte sie, aus guten Gründen, die Kunst nicht erlernt, natürlich zu sein. Sie machte aus jedem Wort ein Schicksal: alles wurde betont; die Silben wandelten auf Bleisohlen einher und in jedem Satz lag eine Tragödie. Christof bat sie, ihre dramatische Kraft ein wenig zu mäßigen. Sie gab sich zuerst mit ziemlich gutem Willen Mühe; aber ihre angeborne Plumpheit und das Bedürfnis, Stimme zu geben, rissen sie fort. Christof wurde nervös. Er machte die achtbare Dame darauf aufmerksam, daß er lebendige Wesen sprechen lassen wolle und nicht den Drachen Fafner mit seinem Schalltrichter. Sie nahm – wie sich denken läßt – diese Unverschämtheit sehr schlecht auf. Sie sagte, daß sie, Gott sei Dank, wisse, was singen heiße, daß sie die Ehre gehabt habe, die Lieder von Meister Brahms in Gegenwart dieses großen Mannes vorzutragen, und daß er nicht müde geworden wäre, sie von ihr zu hören.

»Um so schlimmer! Um so schlimmer!« schrie Christof.

Sie bat ihn mit hoheitsvollem Lächeln, den Sinn dieses rätselhaften Ausrufes doch freundlichst erklären zu wollen. Er antwortete, daß Brahms in seinem ganzen Leben nie gewußt habe, was natürlich sein hieße, daß sein Lob schlimmer als jeder Tadel sei, und daß, obgleich er – Christof – manchmal recht wenig höflich wäre, wie er es eben gezeigt habe, er sich doch niemals erlauben würde, ihr etwas derartig Unfreundliches zu sagen.

Das Zwiegespräch ging in dieser Tonart weiter; und die Dame blieb dabei, in ihrer Art mit niederschmetternder Pathetik und melodramatischen Effekten zu singen, – bis Christof eines Tages kalt erklärte, er sähe es ein: ihre Natur wäre nun einmal so, daran ließe sich nichts ändern; aber da die Lieder nicht so gesungen werden konnten, wie sie es verlangten, würden sie überhaupt nicht gesungen werden: er zöge sie vom Programm zurück. – Man war am Vorabend des Konzertes, man zählte auf die Lieder: sie selbst hatte davon gesprochen; sie war musikalisch genug, um gewissen Vorzügen in ihnen gerecht werden zu können; Christof tat ihr einen Schimpf an; und da sie außerdem nicht sicher war, ob das morgige Konzert nicht den Ruf des jungen Mannes begründen würde, wollte sie sich mit einem vielleicht aufgehenden Stern nicht entzweien. So gab sie denn urplötzlich nach, und unterwarf sich während der letzten Probe gefügig allem, was Christof von ihr verlangte. Aber sie war fest entschlossen, im Konzert es nur nach ihrem Kopf zu machen.

 

Der Tag kam. Christof fühlte keinerlei Besorgnis. Er war von seiner Musik zu sehr erfüllt, um ein Urteil über sie zu haben. Er gab sich wohl Rechenschaft darüber, daß seine Werke stellenweise lächerlich wirken konnten. Aber was kümmerte ihn das? Man kann nichts Großes schreiben, ohne Gefahr zu laufen, sich lächerlich zu machen. Um den Dingen auf den Grund zu kommen, muß man Menschenfurcht, Höflichkeit, Schamgefühl und den sozialen Lügen Trotz bieten, unter denen das Herz erstickt liegt. Wenn man niemand zum Zorn reizen und dem Erfolg nachjagen will, muß man sich sein Leben lang damit begnügen, im althergebrachten Durchschnitt zu bleiben und den Mittelmäßigen eine mittelmäßige, gemilderte, verdünnte Wahrheit zu verabreichen, die sie fähig sind zu verdauen; man muß diesseits des Lebens bleiben. Groß ist man erst, wenn man diese Besorgnisse unter die Füße getreten hat. Christof schritt darüber hinweg. Man konnte ihn wohl auspfeifen: aber er war sicher, nicht gleichgültig zu lassen. Er stellte sich belustigt die Gesichter dieser oder jener ihm bekannter Leute vor, während sie diese oder jene etwas gewagte Seite hörten. Er machte sich auf herbe Kritiken gefaßt: und lächelte darüber im voraus. In jedem Fall mußte man doch blind oder taub sein, um abzustreiten, daß da eine Kraft läge – ob liebenswürdig oder nicht, war ja gleich! – Liebenswürdig! liebenswürdig! … Kraft! das genügt. Ihren Weg mußte sie gehn und alles mit sich reißen, wie der Rhein …

Ein erstes Mißgeschick war, daß der Großherzog nicht kam. Die fürstliche Lage wurde nur von Statisten besetzt: einigen Hofdamen. Christof empfand das mit dumpfer Gereiztheit. Er dachte: Dieser Esel schmollt mit mir. Er weiß nicht, was er von meinen Werken denken soll: er hat Angst sich zu blamieren. Er zuckte die Achseln und tat, als kümmere ihn solche Albernheit nicht. Andere achteten mehr darauf: es war eine erste ausgeteilte Lektion und eine Drohung für die Zukunft. Das Publikum hatte sich nicht viel eifriger als der Herr gezeigt: ein gutes Drittel des Saals war leer. Christof dachte unwillkürlich mit Bitterkeit an die übervollen Säle seiner Kindheitskonzerte. Bei etwas reiferer Erfahrung hätte ihn dieser Wechsel nicht erstaunt; er hätte es natürlich gefunden, daß jetzt, da er gute Musik machte, weniger Menschen ihn zu hören kamen als zur Zeit, da er schlechte machte: denn nicht die Musik, sondern der Musiker interessiert den größeren Teil des Publikums; und es ist ganz selbstverständlich, daß ein Musiker, der ein Mann ist und aller Welt gleicht, viel weniger Interesse erweckt als ein Musiker in kurzen Hosen oder im Kinderröckchen, der die Empfindsamkeit rührt und die Gaffer entzückt.

Nachdem Christof vergeblich gewartet hatte, daß sich der Saal mehr fülle, entschloß er sich anzufangen. Er suchte sich zu überreden, daß es so besser sei: »Wenige, aber gute Freunde«. Sein Optimismus hielt nicht lange vor.

Die Stücke wurden unter eisigem Schweigen abgespielt. – Es gibt ein Schweigen des Publikums, das man von Liebe schwer fühlt und bereit, überzuströmen. In diesem aber lag nichts. Nichts. Tiefer Schlaf. Leere. Man fühlte, daß jeder Satz in Abgründen von Gleichgültigkeit versank. Christof, der den Rücken zum Publikum gewandt mit seinem Orchester beschäftigt war, merkte nichtsdestoweniger alles, was im Saal vorging; denn er war, wie jeder echte Musiker, mit einer Art inneren Fühlhörnern begabt, mittels derer man deutlich fühlt, ob das, was man spielt, in den umgebenden Herzen ein Echo findet. Trotzdem er in dem Nebel von Langeweile, der aus dem Parkett und den Logen hinter ihm aufstieg, gleichsam erstarrte, fuhr er fort, den Takt zu schlagen und sich selbst anzufeuern.

Endlich war die Ouvertüre beendet, und die Zuhörerschaft applaudierte. Sie applaudierte höflich kalt und schwieg. Christof wäre es lieber gewesen, wenn sie ihn verhöhnt hätte … Einen Pfiff! Einen einzigen Pfiff! Irgend etwas, das ein Lebenszeichen war, wenigstens ein Rückschlag gegen sein Werk! … Nichts. Er schaute das Publikum an. Die Leute schauten einander an. Einer suchte in des andern Augen eine Meinung. Und da man keine fand, sank man in seine Gleichgültigkeit zurück.

Die Musik setzte wieder ein. Die Symphonie kam an die Reihe. – Christof führte sie mit größter Mühe bis zu Ende. Mehreremale war er nahe daran, seinen Stock hinzuwerfen und davonzulaufen. Die allgemeine Apathie übermannte ihn; er verstand schließlich selbst nicht mehr, was er dirigierte, er konnte nicht mehr atmen, er hatte das Empfinden eines Hinuntersinkens in die unergründlich leere Langeweile. Nicht einmal das ironische Flüstern, das er bei gewissen Stellen erwartete, tauchte auf: das Publikum war ins Lesen des Programms vertieft. Christof hörte, wie sich die Seiten alle auf einmal mit dürrem Rascheln umwendeten; darauf war wieder Stille bis zum letzten Akkord, dann sagte dasselbe höfliche Händeklatschen, daß das Publikum begriffen habe, das Werk sei zu Ende. Drei oder vier vereinzelte Beifallsbezeigungen, setzten noch einmal ein, nachdem die andern schon geendet hatten; aber sie erweckten keinerlei Echo und schwiegen beschämt: die Leere schien noch leerer, und der kleine Zwischenfall diente dazu, das Publikum über die Langeweile, die es empfunden hatte, ein wenig aufzuklären.

Christof saß mitten in seinem Orchester, er wagte weder rechts noch links zu schauen. Er hätte weinen mögen; und gleichzeitig bebte er vor Zorn. Er wäre gern aufgestanden und hätte ihnen allen zugeschrieen: »Ihr ödet mich an! Ach! wie ihr mich anödet! Ich kann nicht mehr! … Macht, daß ihr fortkommt! Macht, daß ihr fortkommt, alle! …«

Das Publikum wachte ein wenig auf: es erwartete die Sängerin, – es war gewohnt, sie mit Beifall zu empfangen. In diesem Ozean neuer Werke, in dem es ohne Kompaß schwamm, war sie ihm wenigstens etwas Sicheres, ein bekanntes festes Land, auf dem man keine Gefahr lief, sich zu verlieren. Christof las jeden ihrer Gedanken; und ein schlimmes Lachen überkam ihn. Die Sängerin war sich der Erwartung des Publikums nicht weniger bewußt: Christof sah es an ihrer Königinnenmiene, als er kam, um sie zu benachrichtigen, daß die Reihe an ihr sei. Sie sahen einander mit Feindseligkeit ins Gesicht. Anstatt ihr den Arm zu reichen, versenkte er seine Hände in seine Taschen und ließ sie allein eintreten. Wütend und aus der Fassung gebracht ging sie an ihm vorüber. Mit verdrießlicher Miene folgte er ihr. Sobald sie erschien, bereitete ihr die Zuhörerschaft eine Huldigung: es war für alle eine Erleichterung. Die Gesichter hellten sich auf, das Publikum belebte sich, alle Operngläser waren an den Wangen. Sicher ihrer Macht griff sie die Lieder – selbstverständlich auf ihre Weise – an, und ohne im geringsten den Vorstellungen, die ihr Christof am Abend vorher gemacht hatte, Rechnung zu tragen. Christof, der sie begleitete, knirschte. Er hatte diesen Widerstand vorausgesehen. Bei der ersten Veränderung, die sie vornahm, schlug er auf den Flügel und sagte voller Zorn:

»Nein!«

Sie fuhr fort. Er aber zischte ihr mit dumpfer wütender Stimme in den Rücken:

»Nein, Nein! Das ist nicht richtig! … Nicht so! …«

Durch dieses wilde Gemurmel, welches das Publikum zwar nicht hören konnte, von dem das Orchester aber kein Wort verlor, nervös gemacht, wurde sie widerspenstig, verlangsamte das Tempo bis zum äußersten, machte Pausen, endlose Fermaten. Er gab nicht nach, sondern ging vorwärts: schließlich waren sie einen ganzen Takt auseinander. Das Publikum merkte es nicht: seit langem hatte es sich damit abgefunden, daß Christofs Musik dem Ohr weder angenehm noch richtig klang. Christof aber, der nicht dieser Ansicht war, schnitt wahnsinnige Grimassen; und schließlich brach er los. Er hielt mit einem Ruck mitten im Satz inne:

»Genug!« schrie er mit voller Stimme.

Von ihrem Schwung getragen sang sie noch einen halben Takt weiter und hörte nun ihrerseits auf.

»Genug!« wiederholte er trocken.

Das Publikum saß verblüfft. Nach einigen Sekunden sagte er in eisigem Ton:

»Von vorn anfangen!«

Sie sah ihn fassungslos an; ihre Hände zitterten; einen Augenblick dachte sie daran, ihm ihr Notenheft an den Kopf zu werfen; sie begriff später nie, wie sie es nicht hatte tun können. Aber sie stand unter Christofs Autorität und seinem Ton, der keinen Widerspruch duldete, gebannt: – sie fing von vorne an. Sie sang den ganzen Liederzyklus, ohne eine Nuance noch einen Rhythmus zu ändern; denn sie fühlte, er würde ihr nichts schenken; und sie zitterte bei dem Gedanken an eine neue Bloßstellung.

Als sie geendet hatte, rief sie das Publikum wie rasend vor. Den Liedern galt dieser Beifall nicht; – (hätte sie andere gesungen, würde man ebenso geklatscht haben). Er galt der berühmten, im Dienst ergrauten Sängerin: man wußte, sie konnte man in aller Sicherheit bewundern. Auch lag dem Publikum daran, den Eindruck des eben erhaltenen, ungerechten Verweises wieder gut zu machen. Ohne dessen ganz sicher zu sein, hatte es doch von ungefähr begriffen, daß die Sängerin einen Fehler gemacht hatte; aber man fand es unfein, daß Christof ihr das zu verstehen gegeben hatte. Man verlangte die Lieder noch einmal. Aber Christof klappte den Flügel entschlossen zu.

Diese neue Frechheit merkte sie gar nicht; sie war viel zu erregt, um auf den Gedanken einer Wiederholung zu kommen. Eilig schritt sie hinaus und schloß sich ins Künstlerzimmer ein; und dort entlud sich eine Viertelstunde lang ihr Herz von der Flut an Groll und Wut, die sich in ihr angesammelt hatten: Nervenkrisis, Tränensintflut, entrüstete Schimpfreden, Flüche gegen Christof, – nichts fehlte. Man hörte ihre Wutschreie durch die geschlossene Tür. Diejenigen ihrer Freunde, denen es gelang, hereinzukommen, erzählten beim Herauskommen. überall, Christof habe sich wie ein Gassenlümmel aufgeführt. Eine Stimmung verbreitet sich schnell in einem Konzertsaal. So war denn das Publikum, als Christof zum letzten Stück aufs Dirigentenpult stieg, unruhig. Aber dies Stück war nicht von ihm: es war der Festmarsch von Bock, den Christof seinem Programm freundschaftlich angefügt hatte. Das Publikum, das sich bei dieser platten Musik äußerst wohl fühlte – fand ein einfaches Mittel, um Christof seine Mißbilligung zu bezeugen, ohne sich bis zur Kühnheit aufzuschwingen, ihn auszupfeifen: es rief mit betonter Begeisterung nach Bock, ließ ihn zwei- oder dreimal vorkommen, was dieser mit Bereitwilligkeit tat. Und das war das Ende des Konzertes.

Es versteht sich von selbst, daß der Großherzog und der ganze Hof – samt der kleinen klatschhaften und gelangweilten Provinzstadt – sich keine Einzelheit von dem Vorgefallenen entgehen ließen. Die der Sängerin befreundeten Zeitungen taten des Zwischenfalls keinerlei Erwähnung; aber sie waren einer Stimme, um die Kunst der Sängerin begeistert zu loben, und begnügten sich daneben, die Titel der Lieder, die sie gesungen hatte, aufzuzählen. Über die andern Werke Christofs kaum ein paar Zeilen, ungefähr dieselben, wie sie alle Zeitungen brachten: »… Kontrapunktliche Gelehrsamkeit. Schwierige Handschrift. Mangel an Phantasie. Keine Melodie. Mit dem Gehirn und nicht mit dem Herzen geschrieben. Mangel an Wahrhaftigkeit. Will originell sein …« Dann folgte noch ein Absatz über die wahre Originalität, die der toten und begrabenen Meister, der Mozart, Beethoven, Loewe, Schubert, Brahms, »derer, die originell sind, ohne es gewollt zu haben« – und auf diese Weise kam man durch eine natürliche Überleitung auf die Neueinstudierung des Großherzoglichen Theaters, das »Nachtlager von Granada« von Konradin Kreutzer. Man berichtete lang und breit über »diese köstliche Musik, die frisch und lieblich wie am ersten Tage anmutet«.

Alles in allem begegnete Christofs Werken bei den Kritikern, die am gutwilligsten waren, vollkommenes und erstauntes Unverständnis; – bei denen, die ihm übel wollten, heimtückische Feindseligkeit, die sich für später waffnete; – beim großen Publikum endlich, das von keinerlei freundschaftlichen oder feindlichen Kritik geleitet wurde, eisige Stille. Den eigenen Gedanken überlassen, denkt das große Publikum gar nichts: – das versteht sich von selbst.

 

Christof war niedergeschmettert.

Seine Schlappe hatte dabei durchaus nichts Überraschendes. Es gab drei Gründe für einen, daß seine Werke mißfallen mußten. Sie waren nicht genug gereift. Andrerseits waren sie zu neuartig, um auf den ersten Schlag verstanden zu werden. Und schließlich war man nur allzu glücklich, dem unverschämten jungen Mann eine Lektion erteilen zu können. – Christofs Sinn aber war nicht gelassen genug, um die Berechtigung seiner Niederlage anzuerkennen. Vor allem fehlte ihm die heitere Ruhe, die der wahre Künstler durch die schmerzvolle Erfahrung einer lang andauernden Verständnislosigkeit der Menschen und ihrer unheilbaren Dummheit erwirbt. Sein kindliches Vertrauen in das Publikum und in den Erfolg, den er, weil er ihn verdiente, erwartete, stürzte zusammen. Feinden zu begegnen, hätte er natürlich gefunden. Aber was ihn verblüffte, war, daß er nicht einen Freund hatte. Die, auf welche er zählte, die, welche sich bisher für sein Schaffen zu interessieren schienen, hatten seit dem Konzert nicht ein einziges Wort der Ermutigung für ihn gefunden. Er versuchte ihre Meinung auszuforschen: sie verschanzten sich hinter unbestimmten Worten. Er drang in sie, wollte ihre wahre Gesinnung wissen: die Aufrichtigsten hielten ihm seine früheren Werke, seine Anfängerdummheiten als Beispiel vor. – Mehr als einmal mußte er im Verlauf seines Lebens seine neuen Werke im Namen der alten verdammen hören, – und das durch dieselben Leute, die ein paar Jahre vorher diese alten Werke verurteilten, als sie noch neu waren. Das ist eine ganz gewöhnliche Erscheinung. Christof aber konnte sich darein nicht fügen; er erhob ein großes Geschrei. Man mochte ihn nicht lieben, sehr gut! das ließ er gern zu; es machte ihm sogar Vergnügen, er gab nichts darauf, jedermanns Freund zu sein. Aber daß man behauptete ihn zu lieben und ihm nicht erlauben wollte zu wachsen, daß man ihn zwingen wollte, sein ganzes Leben ein Kind zu bleiben, das überschritt alle Grenzen! Was mit zwölf Jahren gut war, konnte es mit zwanzig nicht mehr sein; und er hoffte sehr, auch da nicht stehen zu bleiben, sich noch weiter zu wandeln, beständig zu wandeln … Solche Dummköpfe, die das Leben aufhalten wollten! … Was seine Kinderkompositionen Interessantes an sich hatten, waren nicht ihre kindlichen Nichtigkeiten, es war die Kraft, die darin über der Zukunft brütete. Und diese Zukunft wollten sie töten! Nein, sie hatten niemals verstanden, was er war, niemals hatten sie ihn geliebt, gestern nicht mehr als heut; sie liebten nur was an Schwachem, Gewöhnlichem in ihm war, was er mit andern gemein hatte, nicht aber was er wirklich war: ihre Freundschaft war ein bloßes Mißverständnis …

Er übertrieb vielleicht. Es kommt häufig vor, daß brave Leute, die unfähig sind ein neues Werk zu lieben, es aufrichtig bewundern, wenn es zwanzig Jahre alt geworden ist. Neues Leben hat für ihre schwachen Köpfe zu starken Geruch: dieser Geruch muß sich im Windhauch der Zeit erst verflüchtigen. Das Kunstwerk fängt erst an, ihnen verständlich zu werden, wenn es mit der Rinde vieler Jahre bedeckt ist.

Christof aber konnte sich nicht damit abfinden, daß man ihn mißverstand, wenn er Gegenwart war, und ihn verstand, wenn er Vergangenheit geworden war. Lieber wollte er glauben, daß man ihn gar nicht, in keinem Fall verstand, niemals. Und er wütete. Er hatte die lächerliche Idee, sich verständlich machen zu wollen, Erklärungen über sich abzugeben, über sich zu streiten, obgleich das natürlich zu gar nichts führte: er hätte den Zeitgeschmack reformieren müssen. Aber er fürchtete sich vor nichts. Er war entschlossen, mit Güte oder Gewalt eine vollständige Säuberung im deutschen Geschmack vorzunehmen. Die Möglichkeit dazu war ihm versagt: denn in einigen Gesprächen, in denen er seine Worte mühsam zusammensuchte, sich mit maßloser Heftigkeit auf Kosten der großen Meister oder sogar der sich mit ihm Unterredenden ausdrückte, konnte er niemand überzeugen; es gelang ihm nur, sich ein paar Feinde mehr zu machen. Er hätte seine Gedanken mit Muße vorbereiten und hierauf das Publikum zwingen müssen, ihn anzuhören …

Und gerade im gegebenen Augenblick kam ihm sein Stern, – sein böser Stern – zu Hilfe und bot ihm die Mittel dazu.

 

Er saß an einem Tisch des Theaterrestaurants im Kreise von Orchestermitgliedern, die er durch seine künstlerischen Urteile entsetzte. Nicht alle waren einer Meinung; alle aber fühlten sich durch solche freiheitliche Sprache verletzt. Der alte Krause, die Bratsche, ein braver Mensch und guter Musiker, der Christof aufrichtig liebte, wollte die Unterhaltung ablenken; er hustete oder spähte nach einer Gelegenheit, um einen Kalauer loszulassen. Christof aber hörte nicht; er redete immer dreister drauf los; und Krause jammerte innerlich:

»Was braucht er denn das alles zu sagen? Der liebe Herrgott steh ihm bei! Man kann ja so etwas denken; aber man sagt's doch nicht, zum Teufel!«

Das Sonderbarste war, daß auch er »so etwas« dachte; zum mindesten hatte er einen Anflug davon und Christofs Worte hatten in ihm manche Zweifel geweckt; aber er fand nicht den Mut, sie sich einzugestehen, vor allem sie nicht öffentlich zuzugeben, – halb aus Furcht, sich bloßzustellen, halb aus Bescheidenheit und Mangel an Selbstvertrauen.

Weigl, der Hornist, wollte nichts hören; er wollte bewundern, was oder wer es auch sei, schlecht oder gut, Stern oder Gasflamme: alles war für ihn auf einer Linie; ein Mehr oder Weniger gab es für seine Bewunderung nicht: er bewunderte, bewunderte, bewunderte. Das war für ihn ein Lebensbedürfnis, wollte man ihm Grenzen ziehen, so litt er tief.

Der Violoncellist Kuh litt noch viel mehr. Er liebte von ganzem Herzen schlechte Musik. Alles, was Christof mit seinen Sarkasmen und Schmähreden brandmarkte, war ihm unendlich lieb: sein Instinkt leitete ihn zu den abgedroschensten Sachen; seine Seele war ein Behälter tränenreicher pomphafter Gefühle. Er log dabei durchaus nicht in seinem gerührten Kultus für alle falschen Größen. Nur wenn er sich überredete, die wahren zu bewundern, dann log er – in vollkommener Unschuld. Es gibt »Brahminen«, die in ihrem Gott den Hauch vergangener Genies wiederzufinden glauben: sie lieben Beethoven in Brahms. Kuh machte es noch besser: er liebte Brahms in Beethoven.

Der über Christofs Paradoxe Empörteste aber war der Bassist Spitz. Nicht so sehr sein musikalisches Empfinden als seine angeborene Domestikengesinnung fühlte sich verletzt. Einer der römischen Kaiser wollte aufrecht sterben. Spitz wollte platt auf dem Bauch sterben, wie er gelebt hatte: das war seine angeborene Stellung; er schwelgte in Wonne, wenn er sich zu Füßen alles dessen, was offiziell, anerkannt, »gemacht« war, wälzen konnte; und er war außer sich, wenn man ihn hindern wollte, ganz nach Belieben den Lakai zu spielen.

Kuh seufzte also, Weigl tat verzweifelte Gebärden, Krause schwatzte ungereimtes Zeug und Spitz schrie mit scharfer Stimme. Der unerschütterliche Christof aber schrie lauter als die andern; und er sagte ungeheuerliche Dinge über Deutschland und die Deutschen.

An einem benachbarten Tisch hörte ihm ein junger Manu zu und bog sich dabei vor Lachen. Er hatte schwarze lockige Haare, schöne kluge Augen, eine umfangreiche Nase, die an ihrem Ende sich nicht recht entschließen konnte, ob sie rechts oder links gehen sollte, und nun, anstatt geradeaus zu gehen, nach beiden Seiten zugleich ging, starke Lippen und ein geistreiches, bewegliches Mienenspiel, das allem, was Christof, sagte, folgte; er hing an seinen Lippen und spiegelte mit anteilnehmender und spottlustiger Aufmerksamkeit jedes seiner Worte in einem kleinen Runzeln der Stirn, den Fältchen um Schläfen, Augenwinkel, Nase und Wangen wieder, wobei er vor Lachen Grimassen schnitt und sich sein Körper für Augenblicke in krampfhaftem Anfall schüttelte. Er mischte sich nicht in die Unterhaltung, verlor aber kein Wort von ihr. Er bezeigte eine ganz besondere Freude, wenn er Christof sich in eine Beweisführung verwickeln sah und er, von Spitz gereizt, nun darin herumzappelte, vor Zorn stotterte und stammelte, bis er endlich das gesuchte Wort gefunden hatte, – einen Felsblock, der seinen Gegner zerschmettern mußte. Und sein Vergnügen war grenzenlos, wenn Christof sich in seiner Leidenschaft weit über seine Überzeugungen fortreißen ließ und ungeheuerliche Paradoxe zum Besten gab, die seine Zuhörerschaft Zeter und Mordio schreien ließen.

Endlich, nachdem jeder müde geworden war, seine Überlegenheit zu fühlen und fühlen zu lassen, trennten sie sich. Im Augenblick als Christof, der als letzter im Saal geblieben war, die Schwelle überschreiten wollte, wurde er von dem jungen Mann angesprochen, der soviel Vergnügen daran gefunden hatte, ihm zuzuhören. Er hatte ihn noch nicht bemerkt. Der andere lächelte und bat mit gezogenem Hut höflich um die Erlaubnis, sich vorstellen zu dürfen:

»Franz Mannheim.«

Er entschuldigte sich, so neugierig gewesen zu sein, der Unterhaltung zu folgen und er beglückwünschte ihn zu der maestria, mit der er seinen Gegner zermalmt habe. Er lachte noch immer, wenn er daran dachte. Christof schaute ihn beglückt, ein wenig mißtrauisch an:

»Ernsthaft?« fragte er. »Sie machen sich nicht über mich lustig?«

Der andere schwur bei allen Göttern. Christofs Gesicht leuchtete auf:

»Dann finden Sie also, daß ich recht habe? Sie sind meiner Meinung?«

»Hören Sie,« meinte Mannheim, »aufrichtig gesprochen: ich bin nicht musikalisch und verstehe nichts von Musik. Die einzige Musik, die mir gefällt – es ist nicht sehr schmeichelhaft, was ich Ihnen sagen werde – ist die Ihre … Immerhin, ich beweise Ihnen damit, daß mein Geschmack nicht allzu schlecht ist …«

»He, he!« machte Christof zweiflerisch, aber trotzdem geschmeichelt, »das ist noch kein Beweis.«

»Sie sind schwierig … Gut! … Ich denke wie Sie: ein Beweis ist das noch nicht. Ebenso getraue ich mir kein Urteil über das zu, was Sie von den deutschen Musikern sagten. Aber in jedem Fall paßt es so ganz auf die Deutschen im allgemeinen, die alten Deutschen, diese alten romantischen Idioten mit ihrem ranzigen Denken, ihren Rührungstränen, und dem ganzen greisenhaften Quatsch, den wir durchaus bewundern sollen! …« Und er rezitierte einige Zeilen aus der berühmten Schillerschen Stelle:

»… Das ewig Gestrige
Das immer war und immer wiederkehrt! …«

»Und er zuallererst!« unterbrach er sich mitten in seinem Zitat.

»Wer?« fragte Christof.

»Der alte Trompeter, der das geschrieben hat!«

Christof verstand nicht. Mannheim aber fuhr fort:

»Ich meinerseits wünschte, daß man alle fünfzig Jahre eine Generalreinigung der Kunst und des Denkens vornähme, – daß man nichts von allem, was vorher wäre, bestehen ließe.«

»Das ist ein bißchen radikal,« meinte Christof lächelnd.

»Durchaus nicht, ich bitte Sie! Fünfzig Jahre sind noch zu viel; man müßte sagen: dreißig; – und dann noch! … Es handelt sich um eine hygienische Maßnahme. Man bewahrt in seinem Haus nicht eine Sammlung seiner Großväter auf. Wenn die tot sind, schickt man sie höflichst anderswo zum Verfaulen hin und legt hübsch Steine drüber, damit sie sicher nicht wieder zum Vorschein kommen. Zarte Seelen setzen auch Blumen darauf. Das will ich gern tun, das ist mir gleich. Alles, was ich verlange, ist, daß sie mich in Frieden lassen. Ich lasse sie ja auch in Frieden! Jeder für sich: auf dieser Seite die Lebendigen; auf der andern die Toten.«

»Es gibt Tote, die lebendiger als die Lebenden sind.«

»Aber nein, gar nicht! Richtiger wäre es, wenn Sie sagten, daß es Lebende gibt, die toter sind als Tote.«

»Vielleicht auch. In jedem Fall gibt es unter dem Alten noch viel Junges.«

»Meinetwegen; ist es jung, so werden wir es selbst entdecken … Aber ich glaube es nicht recht. Was einmal gut war, ist es nie ein zweites Mal. Nur der Wechsel ist gut. Vom Alten muß man sich vor allem befreien. In Deutschland gibt es zu viel Altes. Tod dem Alten!«

Christof lauschte diesen launigen Redereien mit tiefer Aufmerksamkeit und gab sich große Mühe, sie zu widerlegen; er stimmte teilweise mit ihnen überein, und erkannte in ihnen gewisse eigene Gedanken wieder; gleichzeitig aber empfand er ein Mißbehagen, sie zur Karikatur übertrieben aussprechen zu hören. Da er aber bei allen andern seinen eignen Ernst voraussetzte, sagte er sich, daß sein Gegenüber, das beschlagener als er schien und gewandter sprach, recht habe und nur die logischen Konsequenzen seiner eignen Prinzipien ziehe. Der hochmütige Christof, dem so viele Leute es nicht verziehen, daß er an sich selbst glaubte, war in Wahrheit ganz im Gegenteil voll naiver Bescheidenheit, die ihn denen gegenüber, welche eine bessere Erziehung als er genossen hatten, oft ins Unrecht setzte. Mannheim, dem seine eigenen Paradoxe Spaß machten, und der von Erwiderung zu Erwiderung in immer überspannteren Unsinn getrieben wurde, über den er innerlich selbst lachte, war nicht gewohnt, sich so ernst genommen zu sehen; die Mühe, die sich Christof gab, seine Aufschneidereien zu widerlegen oder sie auch nur zu verstehen, stimmte ihn höchst fröhlich; und wenn er sich innerlich auch mokierte, war er Christof auch wiederum für die Bedeutung, die er ihm beilegte, dankbar: er fand ihn lächerlich und riesig nett.

Sie trennten sich als die besten Freunde; nicht wenig überrascht aber war Christof, drei Stunden später in der Theaterprobe Mannheims strahlendes und Grimassen schneidendes Gesicht an der kleinen Tür, die zum Orchester führte, auftauchen und ihm geheimnisvolle Zeichen machen zu sehen. Als die Probe beendet war, ging Christof zu ihm. Mannheim nahm ihn vertraulich beim Arm:

»Haben Sie einen Augenblick übrig? … Hören Sie zu. Es ist mir ein Gedanke gekommen. Vielleicht werden Sie ihn verrückt finden … Würden Sie nicht gern einmal, was Sie über Musik und die Musikanten denken, schreiben? Anstatt Ihre Zunge damit zu ermüden, vier Kretins Ihrer Umgebung herunterzukanzeln, die doch nichts besseres können als auf Holz pusten und kratzen, täten Sie da nicht besser, sich ans große Publikum zu wenden?«

»Ob ich nicht besser täte? Ob ich möchte? Beim Himmel! Und wo denken Sie denn, daß ich schreiben sollte? Sie sind gelungen, Sie! …«

»Bitte sehr, ich habe Ihnen etwas vorzuschlagen … Ein paar Freunde und ich: – Adalbert von Waldhaus, Raphael Goldenring, Adolf Mai und Ludwig Ehrenfeld – wir haben eine Zeitschrift gegründet, die einzige vernünftige Zeitschrift der Stadt: den »Dionysos«. – (Sie kennen sie doch? …) – Wir alle bewundern Sie und wir würden uns sehr freuen, wenn Sie zu uns gehörten. Würden Sie die Musikkritik übernehmen?«

Christof wurde über solche Ehrung ganz verwirrt: er hätte für sein Leben gern angenommen; er fürchtete nur, sich dessen nicht wert zu erweisen: er konnte ja nicht schreiben.

»Ach, lassen Sie doch,« sagte Mannheim, »ich bin sicher, Sie können es sehr gut. Und außerdem ist im Augenblick, wo Sie Kritiker sind, alles Recht auf Ihrer Seite. Mit dem Publikum muß man nicht viel Umstände machen. Es ist so dumm, wie so bald nicht wieder etwas. Ein Künstler ist gar nichts; ein Künstler ist eine Art Komödiant, jemand, den man auspfeifen kann; ein Kritiker aber, das ist der, welcher das Recht zu sagen hat: »Pfeifen Sie mir diesen Menschen da aus!« Das ganze Auditorium schiebt ihm die Mühe zu, für alle zu denken. Sie können denken, was Sie wollen. Tun Sie wenigstens, als dächten Sie etwas. Wenn Sie diesen Gänsen nur ihr Futter geben, – was für eins, ist ganz gleich: sie schlingen alles herunter.«

Christof sagte schließlich zu und dankte voller Überschwang. Er stellte nur die Bedingung, alles sagen zu dürfen.

»Natürlich, natürlich,« meinte Mannheim. »Absolute Freiheit! Jeder von uns ist frei.«

 

Ein drittes Mal am selben Abend suchte Mannheim ihn nach der Vorstellung auf, um ihn Adalbert von Waldhaus und seinen Freunden vorzustellen. Sie empfingen ihn voller Herzlichkeit.

Außer Waldhaus, der einer der altadeligen Familien des Landes angehörte, waren alle Juden und alle sehr reich. Mannheims Vater war Bankier, Goldenrings ein bekannter Weinbergbesitzer, Mais Hüttendirektor und Ehrenfelds ein großer Juwelier. Ihre Väter gehörten zur alten Generation arbeitsamer, zäher Juden, die dem Geist ihrer Rasse treu waren, mit zäher Energie ihr Vermögen geschaffen hatten und ihr Machtbewußtsein mehr als ihr Geld genossen. Die Söhne schienen dazu da, um zu zerstören, was die Väter aufgebaut hatten: sie verspotteten die Familienvorurteile und den Hang zu sparsamer, wühlender Ameisenarbeit; sie spielten die Künstler, taten, als ob sie das Vermögen verachteten und es aus dem Fenster würfen. In Wirklichkeit aber verlor sich kaum etwas davon zwischen ihren Fingern; sie konnten noch so viele Tollheiten begehen: sie trieben es nicht so weit, um sich den klaren Blick trüben zu lassen und ihren praktischen Sinn zu verleugnen. Im übrigen wachten ihre Väter darüber und zogen ihnen die Zügel an. Der freigiebigste, Mannheim, hätte mit aufrichtigem Herzen alles, was er besaß, ausgestreut: aber er besaß nie etwas; und obgleich er lärmend gegen den Geiz seines Vaters fluchte, lachte er innerlich darüber und fand, daß der Vater ganz recht tue. Überlegte man ruhig, so blieb eigentlich nur Waldhaus, der als Herr seines Vermögens freigebig handelte und mit seinen Mitteln die Zeitschrift hielt. Er war Dichter. Er schrieb »Polymeter« im Stil von Arno Holz und Walt Whitman, abwechselnd sehr lange und sehr kurze Verse, in denen Punkte, Doppel- und Tripelpunkte, Gedankenstriche, Pausen, Kursivwörter und unterstrichene Wörter eine große Rolle spielten, nicht weniger als die Alliterationen und Wiederholungen – eines Wortes – einer Zeile – eines ganzen Satzes. Er schaltete Wörter aus allen Sprachen in sie ein. Er behauptete (man konnte nicht herausbekommen, wieso), Verse im Stile Cézannes zu machen. Er hatte wirklich eine ziemlich poetische Seele, die langweilige Dinge in vornehmer Weise fühlte. Er war sentimental und trocken, naiv und eitel; seine fleißigen Verse gebärdeten sich mit kavaliersmäßiger Nachlässigkeit. Er wäre ein guter Dichter für die elegante Welt gewesen. Aber von dieser Art gab es zu viele in den Zeitschriften und Salons; und er wollte allein sein. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, den großen Herrn, der über die Vorurteile seiner Kaste erhaben ist, zu spielen. Dabei war er mehr als irgend einer von ihnen besessen. Er gestand es sich nicht ein. Er fand Vergnügen daran, sich in der Zeitschrift, die er leitete, ausschließlich mit Juden zu umgeben, um die sehr antisemitischen Seinigen zu entsetzen und sich selbst seine geistige Freiheit zu beweisen. Er beobachtete seinen Gefährten gegenüber einen Ton höflichen Gleichgestelltseins. Im Grunde aber empfand er für sie eine ruhige und grenzenlose Verachtung. Er wußte ganz genau, wie gut es ihnen paßte, seinen Namen und sein Geld auszunützen; und er ließ sie gewähren, – des süßen Gefühls wegen, sie verachten zu können. Und auch sie verachteten ihn, weil er sie machen ließ, was sie wollten; denn sie wußten sehr wohl, daß er seinen Vorteil dabei fand. Waldhaus stellte ihnen, indem er gab und gab, wohl seinen Namen und sein Vermögen zur Verfügung; sie trugen ihm dafür ihr Talent, ihren Geschäftsgeist und eine Leserschaft zu. Sie wären bedeutend intelligenter als er. Nicht etwa, daß sie stärkere Persönlichkeiten gewesen wären. Das waren sie vielleicht noch weniger als er. Aber sie waren in der kleinen Stadt, wie immer und überall, – allein durch die Tatsache ihrer Rassenverschiedenheit, die sie seit Jahrhunderten isoliert und ihren spöttischen Beobachtergeist geschärft hatte, – die vorgeschrittensten Geister, wurmstichigen Einrichtungen und abgelebten Gedanken gegenüber die Empfindlichsten. Da jedoch ihr Charakter weit weniger ausgeprägt als ihr Verstand war, suchten sie bei allem Spott dennoch aus diesen Institutionen und Gedanken viel eher Vorteil zu schlagen, als sie zu reformieren. Trotzdem sie aus ihrem Unabhängigkeitsglauben einen Beruf machten, waren sie, genau wie der Edelmann Adalbert, kleine Provinzsnobs, reiche Söhne und Nichtstuer, die aus Sport und zum Flirt Literatur trieben. Sie gaben sich sehr gern den Anschein von fürchterlichen Säbelspaltern; und waren doch gute Jungens, die höchstens ein paar harmlose Leute spalteten oder solche, die sie außerstande glaubten, ihnen jemals schaden zu können. Sie hüteten sich sehr, mit einer Gesellschaft zu brechen, in die sie eines Tages, wie sie ganz genau wußten, zurückkehren würden, um in ihr ungestört das Leben aller Welt zu leben und sich innig mit allen, jetzt von ihnen bekämpften Vorurteilen zu vermählen. Und wenn sie es einmal wagten, einen Ausfall zu machen, Reklamelärm zu schlagen, geräuschvoll gegen einen Tagesgötzen zu Felde zu ziehen – der bereits zu wanken anfing –, trugen sie Sorge, ihre Schiffe nicht hinter sich zu verbrennen: war Gefahr in Sicht, schifften sie sich wieder ein. Welches auch immer der Ausgang des Feldzugs war, – einmal beendet, dauerte es gute Weile, bis sie wieder anfingen; die Philister konnten ruhig schlafen. Alles, was die neuen Davidsbündler suchten, war der Anschein, als ob sie schrecklich hätten sein können, wenn sie gewollt hätten: – aber sie wollten nicht. Sie zogen es vor, die Künstler zu duzen und mit den Schauspielerinnen zu soupieren.

Christof fühlte sich in dieser Umgebung unbehaglich. Man sprach hauptsächlich von Frauen und Pferden; und von alledem ohne Anmut. Alles war gezwungen. Adalbert redete mit ausdrucksloser, langsamer Stimme, mit überfeiner Höflichkeit, langweilig und gelangweilt. Adolf Mai, der Redaktionssekretär, ein stämmiger, schwerfälliger Mensch mit in die Schultern gezogenem Kopf und brutalem Gesicht, wollte immer recht haben; er entschied alles, hörte nie, was man antwortete, schien die Meinung seines Gegenüber stets zu verachten und mehr noch diesen selbst. Goldenring, der Kunstkritiker, der an nervösem Zucken litt und dessen Augen hinter riesigen Gläsern beständig zwinkerten, trug – wahrscheinlich um den Malern, mit denen er verkehrte, nachzueifern – lange Haare, rauchte schweigsam, kaute Brocken von Sätzen, die niemals zu Ende kamen, und vollführte mit dem Daumen in der Luft unbestimmte Gesten. Ehrenfeld war klein, kahl, freundlich, trug einen blonden Bart, hatte ein feines, müdes Gesicht mit krummer Nase und schrieb die Modenberichte und die Gesellschaftschronik für die Zeitschrift. Er sagte mit einschmeichelnder Stimme sehr rohe Dinge; er war geistreich, aber in bösartiger, oft gemeiner Art. – Wie es sich von selbst versteht, waren alle diese jungen Millionäre Anarchisten: für den, der alles besitz, ist der äußerste Luxus, die Gesellschaft zu verneinen; denn so drückt man sich um das herum, was man ihr schuldet. Genau wie ein Dieb, der, nachdem er einen Vorübergehenden ausgeplündert hat, zu ihm sagt: »Was willst du noch? Mach, daß du fortkommst! Ich brauche dich nicht mehr.«

Christof fühlte von der ganzen Gesellschaft nur für Mannheim Sympathie: er war zweifellos der Lebendigste der fünf; er machte sich über alles, was er oder was man sagte, lustig. Er schwatzte, verhaspelte sich, verschluckte Wörter, hohnlächelte, redete Unsinn und war nicht fähig, einer Beweisführung zu folgen, noch ganz genau zu ergründen, was er selber dachte; aber er war ein guter Kerl ohne Feindseligkeit gegen wen immer es sei und ohne einen Schatten von Ehrgeiz. Eigentlich war er nicht sehr aufrichtig: immer spielte er eine Rolle; aber es geschah ganz unschuldig und schadete niemand. Er ging für alle sonderbaren, meist großherzigen Utopien durchs Feuer. Dabei war er zu mokant und zu schlau, um wirklich an sie zu glauben; selbst wenn er sich irgendwo festgebissen hatte, wußte er sehr gut seine Kaltblütigkeit zu wahren und gab sich nie durch Anwendung seiner Theorien Blößen. Aber er brauchte irgend eine Verrücktheit: eine Art Spielzeug, das er beständig wechselte. Im Augenblick war er von der Idee der Güte besessen. Es genügte ihm nicht, auf ganz natürliche Art gut zu sein; er wollte gut scheinen; er war berufsmäßig gut, schauspielerte Güte. Aus Widerspruchsgeist gegen die dürre und harte Tatkraft der Seinen, gegen Sittenstrenge, Militarismus und deutsches Philistertum, war er Tolstoianer, Nirvanianer, Evangelianer, Buddhist, – er wußte selbst nicht ganz genau was, – Apostel einer weichen, marklosen, nachsichtigen, allzeit hilfsbereiten, leicht zu lebenden Moral, die alle Sünden mit Wonne vergab, vor allem die Sünden der Sinne, die auch gar nicht ihre Vorliebe für diese verbarg, Tugenden aber weit weniger verzieh, kurz einer Moral, die nichts als ein Traktat vom Genuß war, eine liederliche Verbindung zu gegenseitiger Nachsicht, die es belustigte, sich selbst den Heiligenschein aufzusetzen. Es lag in all dem eine kleine Heuchelei verborgen, die für überfeine Geruchsnerven nicht besonders gut roch, und die einfach widerlich hätte wirken können, wenn man sie ernst genommen hätte. Aber das verlangte sie gar nicht; sie machte sich über sich selbst lustig. Dieses Gassenbubenchristentum wartete übrigens nur darauf, den Platz für eine andere Narrheit freizumachen, – ganz gleich welche: vielleicht die brutale Kraft, das Imperatorentum, den »lachenden Löwen«. – Mannheim gab sich selbst ein Schauspiel; er gab es sich von ganzem Herzen; er kostümierte sich der Reihe nach mit sämtlichen Gefühlen, die er nicht besaß, bevor er wieder ein guter alter Jude wie alle andern und mit dem ganzen Geist seiner Rasse wurde. Er war sehr sympathisch und überaus aufreizend.

 

Eine Zeitlang wurde Christof eine seiner Verrücktheiten. Mannheim schwor nur noch bei ihm. Er posaunte seinen Namen überall aus. Er füllte die Ohren der Seinen zum Überdruß mit Lobeshymnen über ihn. Nach seinen Reden zu urteilen, war Christof ein Genie, ein fabelhafter Mensch, der verrückte Musik machte, vor allem in ganz erstaunlicher Weise über sie zu reden wußte, voller Geist war, – und außerdem schön: ein hübscher Mund, herrliche Zähne. Er fügte hinzu, daß Christof ihn bewundere. – Schließlich brachte er ihn eines Abends zum Essen nach Hause mit. Christof sah sich dem Vater seines neuen Freundes, dem Bankier Lothar Mannheim, und der Schwester von Franz, Judith, gegenüber.

Es war das erstemal, daß er in ein israelitisches Haus kam. Zwar gab es in der kleinen Stadt ziemlich zahlreiche jüdische Kreise, die durch ihren Reichtum, ihren Zusammenschluß und ihre Intelligenz eine recht bedeutende Rolle spielten, aber doch ein wenig abseits von den andern lebten. Im übrigen bestanden im Volk ihnen gegenüber immer noch hartnäckige Vorurteile und eine geheime Feindseligkeit, die, wenn auch gewissermaßen gutartig, doch beleidigend war. Ähnliche Gefühle bestanden auch in Christofs Familie. Sein Großvater liebte die Juden nicht; aber die Ironie das Schicksals hatte es gewollt, daß seine beiden besten Musikschüler (einer war Komponist, der andere ein berühmter Virtuose geworden) Israeliten waren; und der gute Mann war darüber recht unglücklich; denn in manchen Augenblicken hätte er die beiden ausgezeichneten Musiker umarmen mögen; und dann erinnerte er sich voller Trauer, daß sie Gott ans Kreuz geschlagen hatten; er wußte gar nicht, wie er diese unvereinbaren Empfindungen vereinen sollte. Zu guter Letzt umarmte er sie. Er neigte zu dem Glauben, daß Gott ihnen schon verzeihen würde, weil sie die Musik so sehr geliebt hätten. – Christofs Vater, Melchior, der den Freigeist spielte, zeigte weniger Skrupel, Geld von Juden anzunehmen; er fand das sogar ganz in der Ordnung: aber er machte sich dafür über sie lustig und verachtete sie. – Was nun seine Mutter betraf, so war sie etwas unsicher, ob sie keine Sünde beging, wenn sie als Kochfrau bei ihnen diente. Die, zu denen sie ging, waren übrigens ziemlich schroff mit ihr: jedoch sie zürnte ihnen deswegen nicht, sie zürnte niemandem, und war nur von Mitleid für die Unglücklichen erfüllt, die Gott verdammt hatte; sie wurde manchmal ganz traurig, wenn sie die Tochter des Hauses vorbeigehen sah oder fröhliches Kinderlachen hörte.

»So eine schöne Person! … So eine niedliche Kleine! … Was für ein Unglück! …« dachte sie.

Sie wagte zu Christof nichts zu sagen, als er ihr mitteilte, er würde abends bei den Mannheims essen; aber sie fühlte sich bedrückt. Sie dachte, man müsse ja nicht alles glauben, was man von den Juden Böses redete – man sagte von aller Welt Böses – und es gäbe ja überall gute Menschen, aber es wäre trotzdem besser und richtiger, wenn jeder für sich bliebe, die Juden auf ihrer, die Christen auf der andern Seite.

Christof kannte keines dieser Vorurteile. Mit seiner Gesinnung, die in beständigem Widerspruch zu seiner Umgebung stand, wurde er von dieser anderen Rasse eher angezogen. Aber er kannte sie kaum. Er hatte nur wenige Beziehungen zu den gewöhnlichsten Elementen der jüdischen Bevölkerung gehabt: kleinen Kaufleuten, dem Pöbel, der in gewissen Straßen zwischen Rhein und Dom wimmelte und mit dem allgemein menschlichen Herdeninstinkt immer weiter eine Art von kleinem Ghetto bildete. Es kam ziemlich oft vor, daß er in diesem Stadtteil herumschlenderte und mit neugierigem Blick gewisse Frauentypen beim Vorübergehen erspähte; sie gefielen ihm ganz gut mit ihren mageren Wangen, ihren vorspringenden Lippen und Backenknochen, dem lionardoschen, ein wenig niedrigen Lächeln; wenn nur ihre gewöhnliche Sprache und ihr springendes Lachen die Harmonie des unbewegten Gesichtes nicht immer gleich zerstört hätte. Doch selbst in der Hefe des Volkes, unter diesen dickschädeligen, untersetzten und plattfüßigen Geschöpfen mit glasigen Augen und oft bestialischen Gesichtern, diesen ganz degenerierten Nachkömmlingen der edelsten aller Rassen, selbst in diesem zähen und stinkenden Schlamm fand man noch seltsame Phosphoreszenzen, die sich entzündeten und wie Irrlichter über einen schmutzigen Sumpf tanzten: wunderbare Blicke, leuchtende Intelligenzen, eine Elektrizität, die sich im Moder erzeugte und die Christof fesselte und beunruhigte. Er dachte, daß in ihnen schöne ringende Seelen leben müßten, große Herzen, die aus dem Pfuhl emporstrebten; und er hätte ihnen begegnen, ihnen zu Hilfe kommen mögen; er liebte sie, ohne sie zu kennen, und fürchtete sie gleichzeitig ein wenig. Niemals aber war er irgendeinem unter ihnen näher gekommen. Vor allem hatte er niemals Gelegenheit gehabt, in die gute jüdische Gesellschaft zu gelangen.

Das Diner bei den Mannheims hatte also für ihn den Reiz der Neuheit und ein wenig auch den der verbotenen Frucht. Die Eva, welche ihm den Apfel reichte, machte diesen nur lockender. Vom Augenblick an, da er eintrat, hatte Christof nur noch Augen für Judith Mannheim. Sie gehörte zu einer Art Frauen, die von allen, die er bisher gekannt hatte, vollständig verschieden war. Sie war groß, schlank, ein wenig mager, wenn auch fest gebaut; ihr Gesicht war von wenig ausgiebigen aber dicken schwarzen Haaren eingerahmt, welche die Schläfen nebst der knochigen, goldtonigen Stirn bedeckten; sie war ein wenig kurzsichtig, hatte starke Lider, leicht gewölbte Augen, eine ziemlich große Nase mit erweiterten Flügeln, Wangen von intelligenter Magerkeit, ein schweres Kinn, ziemlich lebhaften Teint und ein energisches, klares und schönes Profil; von vorn war der Ausdruck beunruhigender, ungewisser, zusammengesetzter. Augen und Wangen stimmten nicht zueinander. Man empfand eine starke Rassigkeit in ihr, und in der Form dieser Rasse die vielgestaltigsten, unzusammenhängendsten Elemente bunt durcheinandergeworfen, vielfältige, nicht zusammenpassende, von zweifelhafter und ungleicher Art, sehr schöne und sehr gewöhnliche. Ihre Schönheit herrschte vor allem von ihrem schweigenden Mund und ihren Augen aus, die durch ihre Kurzsichtigkeit tiefer und durch ihre bläulichen Schatten dunkler erschienen.

Christof hätte an solche Augen, die mehr einer Rasse als einem Individuum angehören, gewöhnter sein müssen, um unter ihrem feuchten und feurigen Schleier die wahre Seele der Frau, die er vor sich hatte, entziffern zu können. Es war die Seele des Volkes Israel, die sie, ohne es zu wissen, in sich trugen, und die Christof nun in ihrer brennenden düsteren Tiefe entdeckte. Erst viel später und mit der Zeit, nachdem er sich schon recht oft in solche Augensterne verirrt hatte, lernte er seinen Weg durch dieses orientalische Meer finden.

Sie schaute ihn an; und nichts störte die Klarheit ihres Blickes. Nichts in dieser Christenseele schien ihr zu entgehen. Er selbst fühlte es. Er fühlte unter diesem verführerischen Frauenblick einen männlich klaren und kalten Willen, der in ihm mit einer Art zudringlicher Brutalität wühlte. Diese Brutalität hatte nichts Böswilliges. Sie nahm von ihm Besitz. Dabei durchaus nicht in der Art einer Kokette, die verführen möchte, ohne sich recht darum zu kümmern, ob sie weiß, wen sie verführt. Zwar, sie war koketter als irgend jemand; aber sie kannte ihre Macht und verließ sich auf ihren natürlichen Instinkt, den sie nach seinem Belieben spielen ließ, – besonders wenn sie es mit einer so leichten Beute wie Christof zu tun hatte. Was sie vor allem interessierte, war, ihren Gegner kennen zu lernen: jeder ganz unbekannte Mann war ein Gegner für sie – ein Gegner, mit dem man vielleicht später, wenn es ihr paßte, ein Bündnis schließen konnte. Sie wollte wissen, was in ihm sei. Da das Leben ein Spiel war, in dem der Klügere gewann, handelte es sich darum, in den Karten seines Gegners zu lesen und die seinen nicht zu zeigen. Wenn ihr das gelang, genoß sie die Wonne eines Sieges. Es lag ihr wenig daran, ob sie ihn dann noch weiter ausnützen konnte oder nicht. Es war ja nur zum Vergnügen. Der Verstand war ihre Passion. Nicht der abstrakte Verstand, obgleich sie ein genügend wohlbeschaffenes Gehirn hatte, um, wenn sie gewollt hätte, es in gleichviel welcher Wissenschaft zu etwas zu bringen, und sie weit besser als ihr Bruder den wahren Nachfolger des Bankiers Lothar Mannheim hätte abgeben können. Aber sie zog den lebendigen Verstand vor, den, der sich mit Menschen abgibt. Es war ihr ein Genuß, eine Seele zu durchdringen, ihren Wert zu wägen – (sie verwandte darauf mindestens so viel gewissenhafte Aufmerksamkeit als die Jüdin von Matsys auf das Zählen ihrer Gulden); – sie verstand es mit bewundernswertem Ahnungsvermögen, durch ein Nichts die verletzliche Panzerstelle auszuspähen, die Fehler und Schwächen, die die Schlüssel der Seele sind, – und sich der Geheimnisse zu bemächtigen: das war ihre Art, sich als Herrscherin über sie zu fühlen. Aber sie verweilte nicht lange bei ihrem Siege und fing mit ihrer Eroberung nichts an. War ihre Neugier und ihr Stolz einmal befriedigt, so war sie nicht mehr gefesselt und ging zu einem andern Gegenstand über. Diese ganze Kraftverschwendung blieb unfruchtbar. In dieser so lebendigen Seele war irgendetwas Totes. Sie trug den Dämon der Neugier und des Überdrusses in sich.

 

So schaute sie Christof an, der sie ebenfalls betrachtete. Sie sprach kaum und begnügte sich mit einem undurchdringlichen Lächeln um die Mundwinkel. Christof wurde von ihm hypnotisiert. Für Augenblicke erlosch dieses Lächeln, und dann wurde das Gesicht kalt, die Augen gleichgültig; sie kümmerte sich um die Bedienung und sprach in eisigem Ton zu den Leuten; es schien, als höre sie auf nichts anderes mehr. Dann erhellten sich ihre Augen von neuem; und drei oder vier wohl überlegte Worte zeigten, daß sie alles vernommen und alles verstanden hatte.

Kühl berichtigte sie ihres Bruders Urteil über Christof: sie kannte Franzens Aufschneidereien; ihre Ironie hatte freien Spielraum, als sie jetzt Christof erscheinen sah, dessen Schönheit und Vornehmheit ihr Bruder gerühmt hatte (es war, als sei es eine besondere Gabe von Franz, genau das Gegenteil des Tatsächlichen zu sehen; oder vielleicht fand er ein paradoxes Vergnügen daran, es sich einzureden). Als sie aber Christof eingehender studierte, erkannte sie, daß immerhin nicht alles, was Franz von ihm gesagt hatte, falsch sei; und je weiter sie in ihrer Entdeckung vordrang, je mehr fühlte sie in Christof eine noch unbestimmte und unausgeglichene, aber starke und kühne Kraft: daran fand sie Vergnügen, denn sie war sich mehr als irgend jemand der Seltenheit von Kraft bewußt. Sie verstand es, Christof über alles, was sie wünschte, zum Sprechen zu bringen, so sein Denken zu enthüllen, ihm selbst die Grenzen und Mängel seines Geistes zu zeigen; sie veranlaßt ihn Klavier zu spielen: sie liebte Musik nicht, verstand aber etwas davon; und sie durchschaute Christofs musikalische Originalität vollständig, obgleich ihr diese keinerlei Eindruck hinterließ. Ohne daß sie irgend etwas an der höflichen Kühle ihres Benehmens änderte, bewiesen einige kurze, richtige, durchaus nicht schmeichlerische Bemerkungen ihr immer wachsendes Interesse an Christof.

Christof merkte es und war stolz darauf: denn er fühlte den Wert solchen Urteils und das Seltene in dessen Beifall. Nicht im geringsten verbarg er den Wunsch, ihn sich immer mehr zu erobern, und benahm sich darin mit einer kindlichen Offenheit, die seinen drei Wirten Lächeln entlockte: er sprach nur noch zu Judith und für Judith und kümmerte sich um die andern beiden so wenig, als wenn sie garnicht vorhanden wären.

Franz schaute seinem Sprechen zu. Mit einem Gemisch von Bewunderung und Spott folgte er mit Lippen und Augen allen Worten Christofs; er warf Vater und Schwester mokante Blicke zu, lachte beinahe laut heraus; Judith blieb unbeweglich und tat, als ob sie nichts merkte.

Lothar Mannheim, ein festgefügter, großer alter Herr, der ein wenig gebeugt ging, einen roten Teint und graue borstenartig verschnittene Haare hatte, sehr schwarze Brauen und Schnurrbart, ein volles, aber energisches und spottlustiges Gesicht, das den Eindruck machtvoller Lebenskraft hervorrief – auch Lothar Mannheim hatte während der ersten Hälfte des Diners Christof mit ironischem Wohlwollen studiert; und auch er hatte sofort herausgefühlt, daß »irgend etwas« an dem Burschen sei. Aber er interessierte sich weder für Musik noch für Musiker: das war nicht seine Sache, er verstand nichts davon und verhehlte das nicht; er tat sich sogar damit groß: wenn ein Mann seines Schlages eine Unkenntnis zugibt, geschieht es immer aus Eitelkeit. Da Christof seinerseits mit rührender Unhöflichkeit, die zwar nicht bösartig, aber äußerst deutlich war, bezeugte, daß er ohne Bedauern die Gesellschaft des Herrn Bankiers entbehren könne und die Unterhaltung mit Fräulein Judith Mannheim ihm für den Abend vollständig genüge, so hatte der alte Lothar belustigt es sich an seinem Kaminsessel bequem gemacht; dort las er seine Zeitung, hörte von ungefähr mit ironischem Ohr, was Christof an Hirngespinsten und sonderbarer Musik zum besten gab, und lachte manchmal ein stilles Lachen bei dem Gedanken, daß es Leute geben konnte, die das verstanden und daran Vergnügen hatten. Schließlich gab er sich nicht einmal mehr Mühe, der Unterhaltung zu folgen; er überließ es dem Verstand seiner Tochter, ihm den genauen Wert des Neuankömmlings zu bestimmen. Sie pflegte diese Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen.

Als Christof fortgegangen war, wandte sich Lothar an Judith: »Nun also, du hast ihn ja gehörig ins Gebet genommen: was sagst du von dem Herrn Künstler?«

Sie lachte, überlegte einen Augenblick, zog die Summe ihrer Rechnung und sagte:

»Er ist ein wenig verdreht; aber er ist nicht dumm.«

»Schön,« meinte Lothar, »das ist mir auch so vorgekommen. Also kann er Erfolg haben?«

»Ja, das glaube ich. Er ist tüchtig.«

»Sehr schön,« sagte Lothar, und mit der prächtigen Logik der Starken, die sich nur für Starke erwärmen, fügte er hinzu: »also muß man ihm helfen.«

 

Christof trug die Bewunderung für Judith Mannheim mit sich fort. Trotzdem war er nicht verliebt, wie Judith meinte. Beide – sie mit ihrer Geistesschärfe, er mit seinem Instinkt, der den Geist bei ihm ersetzte – waren gleichermaßen einer über den andern im Irrtum befangen. Christof wurde vom Rätsel dieses Gesichtes und der Kraft ihres intellektuellen Lebens gebannt; aber er liebte sie nicht. Seine Augen und sein Verstand waren gefangen: sein Herz war es nicht. – Warum? – Es zu erklären, wäre ziemlich schwierig gewesen. Weil er in ihr irgend etwas Gefahrvolles und Beunruhigendes ahnte? – Unter andern Umständen wäre gerade das für ihn ein Grund mehr zum Lieben gewesen: nie ist Liebe stärker, als wenn sie fühlt, sie ist auf etwas gerichtet, das ihr Leiden bereiten wird. – Wenn Christof Judith nicht liebte, war es weder des einen noch des andern Schuld. Der wahre, für beide ziemlich beschämende Grund war, daß er seiner letzten Liebe noch zu nahe stand. Die Erfahrung hatte ihn nicht weiser gemacht. Aber er hatte Ada so heiß geliebt, er hatte in diese Leidenschaft so viel Glauben, Kraft und Illusionen verschwendet, daß ihm für den Augenblick nicht mehr genug für eine neue Liebe blieb. Bevor sich eine andere Flamme entzündete, mußte sich in seinem Herzen ein neuer Holzstoß ansammeln: bis dahin konnten nur durch Zufall übriggebliebene Scheite der großen Feuersbrunst ein paar Strohfeuer entstehen lassen, die nichts Besseres wünschten als abzubrennen, die blendenden und kurzen Schein gaben und dann aus Mangel an Nahrung erloschen. Sechs Monate später hätte er Judith vielleicht blind geliebt. Heut sah er nichts anderes als einen Freund in ihr, – wenn auch gewiß einen etwas erregenden –; aber er zwang sich, diese Erregtheit zu verjagen: sie rief ihm Ada zurück und das war keine anziehende Erinnerung; er dachte lieber nicht daran. Was ihn in Judith anzog, war, was sie von andern Frauen unterschied, und nicht, was sie Gemeinsames mit ihnen hatte. Sie war die erste geistvolle Frau, die er sah. Geistvoll war sie vom Kopf bis zu den Füßen. Selbst ihre Schönheit – ihre Bewegungen, ihre Gebärden, ihre Züge, ihr Lippenkräuseln, ihre Augen, ihre Hände, ihre elegante Magerkeit – war der Widerschein ihres Verstandes; ihr Körper war durch ihren Verstand geformt; ohne ihren Verstand hätte man sie übersehen können; und sie wäre den meisten sogar häßlich erschienen. Dieser Verstand entzückte Christof. Er glaubte sie großzügiger und freier als sie war; was sie Trügerisches an sich hatte, konnte er noch nicht wissen. Er fühlte den brennenden Wunsch, sich ihr anzuvertrauen, sein Denken mit ihr zu teilen. Niemals hatte er jemand gefunden, der sich für seine Träume interessierte, immer war er in sich verschlossen gewesen: wieviel Glück hätte er in einer Freundin finden können! Während seiner ganzen Kindheit hatte er eine Schwester vermißt: er meinte, eine Schwester hätte ihn besser, als es je ein Bruder konnte, verstanden. Und nun, da er Judith sah, wachte ihm diese kindliche Traumhoffnung nach einer geschwisterlichen Freundschaft wieder auf. An Liebe dachte er nicht. Da er nicht verliebt war, schien ihm Liebe gering gegenüber der Freundschaft.

Judith merkte diese Gefühlsschattierung sehr bald und fühlte sich verletzt. Sie liebte Christof nicht, und sie entzündete unter den jungen Leuten der Stadt, die reich und in besserer gesellschaftlicher Stellung als Christof waren, zu viele Leidenschaften, als daß es ihr eine große Genugtuung gewesen wäre, Christof verliebt zu sehen. Aber zu merken, daß er es nicht war, bereitete ihr Enttäuschung. Gewiß erkannte sie es an, daß er ihr seine Pläne offenbarte; so etwas überraschte sie nicht; aber es war doch ein wenig kränkend, daß sie nur einen Vernunfts-Einfluß auf ihn ausüben konnte (ein Unvernunfts-Einfluß hat für die weibliche Seele viel mehr Wert). Aber sie übte selbst den nicht aus: Christof handelte nur nach seinem Kopf. Judith war herrschsüchtig. Sie war gewohnt, die recht bestimmbaren Gedanken der jungen Leute, die sie kannte, nach ihrem Belieben zu kneten. Da sie sie aber als minderwertig einschätzte, fand sie wenig Vergnügen daran, sie zu beherrschen. Bei Christof war das interessanter, weil mehr Schwierigkeit dabei war. Seine Pläne waren ihr gleichgültig; aber es hätte ihr gefallen, dies unverbrauchte Denken zu leiten, diese grob behauene Kraft zu formen und sie ins rechte Licht zu setzen – natürlich nach ihrem Geschmack und nicht nach dem Christofs, den zu verstehen sie sich nicht sehr abmühte. Sie hatte sofort heraus, daß es nicht ohne Kampf gehen würde; sie hatte in Christof alle möglichen Vorurteile entdeckt, alle möglichen Ideen, die ihr kindlich und übertrieben vorkamen: das alles war Unkraut für sie, und sie wandte alle Kraft auf, um es auszureißen; nicht eines riß sie aus. Nicht die kleinste Befriedigung ihrer Eitelkeit wurde ihr zuteil. Mit Christof war nichts anzufangen. Da er nicht verliebt war, bestand keinerlei Grund für ihn, ihr in irgendeinem Punkte seines Innenlebens nachzugeben.

Sie erhitzte sich am Spiel und versuchte aus Instinkt einige Zeitlang, ihn zu erobern. Es hätte wenig gefehlt, und Christof wäre trotz aller Geistesklarheit, die er damals besaß, von neuem gefangen worden. Männer lassen sich leicht von dem betören, was ihrem Stolz und ihren Wünschen schmeichelt; und ein Künstler doppelt leicht, weil er mehr Phantasie als andere besitzt. So hätte es Judith wohl fertiggebracht, ihn in einen gefährlichen Flirt zu verstricken, der ihn noch einmal moralisch niedergerissen hätte und vielleicht vollständiger als je. Aber, wie gewöhnlich, wurde sie des Ganzen bald überdrüssig; sie fand, daß sich diese Eroberung nicht der Mühe lohne: Christof langweilte sie bereits; sie verstand ihn nicht mehr.

Sie verstand ihn nicht mehr, wenn sie eine gewisse Grenze überschritten hatte. Bis dahin verstand sie alles. Um weiter vorzudringen, genügte ihr wunderbarer Verstand nicht. Dazu hätte sie des Herzens bedurft oder wenigstens dessen, was einige Zeitlang ein Herz vortäuschen kann: der Liebe. Christofs Kritiken an Menschen und Dingen fühlte sie sehr gut nach: sie machten ihr Spaß, und sie fand sie ziemlich richtig; sie hatte sogar selber dergleichen manchmal gedacht. Was sie aber nicht verstand, war, daß diese Gedanken einen Einfluß auf sein praktisches Leben haben sollten, da ihre Anwendung gefährlich und unangenehm war. Die rebellische Haltung, die Christof gegen alles und gegen alle einnahm, führte zu nichts: er konnte sich nicht einbilden, daß er die Welt umwandeln würde … Also? … Man verlor nur seine Zeit damit, wenn man mit dem Kopf gegen die Wand rannte. Ein kluger Mensch bildet sich über die Menschen sein Urteil, verspottet sie heimlich, verachtet sie ein wenig; aber er macht es wie sie – nur ein wenig besser –: das ist der einzige Weg, ihrer Herr zu werden. Das Denken ist eine Welt, das Handeln eine andere. Wo ist die Notwendigkeit, sich zum Opfer dessen, was man denkt, zu machen? Richtig denken? Gewiß! Wozu aber das Richtige aussprechen? Da die Menschen nun einmal so dumm sind, die Wahrheit nicht vertragen zu können, braucht man sie doch nicht dazu zu zwingen. Ist es nicht ein heimlicher Genuß, ihre Schwäche hinzunehmen, sich ihr scheinbar zu fügen, während man sich im verachtenden Herzen doch frei fühlt? Genuß eines klugen Sklaven? Meinetwegen. Aber Sklaven gegen Sklaven; da man sich schließlich doch dazu bequemen muß, und es zu gar nichts führt, wenn man sich dagegen auflehnt, so ist es besser, es mit freiem Willen zu sein und lächerliche, unnütze Kämpfe zu vermeiden. Im übrigen gibt es nichts Schlimmeres als Sklave seines eigenen Denkens zu sein und ihm alles zu opfern. Man muß nicht auf sich selbst hereinfallen. – Sie sah klar voraus, daß, wenn Christof in seinem Trotz verharrte, wie er zu tun entschlossen schien, und weiter gegen alle Vorurteile deutscher Kunst und deutschen Geistes so heftig zu Felde zog, er alle Welt, selbst seine Gönner gegen sich aufhetzen würde: unabwendlich würde er seiner Niederlage entgegengehen. Sie begriff nicht, warum er gegen sich selbst zu wüten schien und sich mutwilligerweise zugrunde richtete.

Um ihn zu verstehen, hätte sie fähig sein müssen, auch zu verstehen, daß nicht der Erfolg sein Ziel war, sondern sein Glaube. Er glaubte an die Kunst, glaubte an seine Kunst, glaubte an sich selbst wie an Wirklichkeiten, die nicht nur höher als alle Vernunftinteressen, sondern auch höher als das eigne Leben standen. Wenn er, durch ihre Betrachtungen ein wenig ungeduldig geworden, ihr dergleichen in kindlichem Überschwung sagte, zuckte sie mit den Achseln: das nahm sie nicht ernst. Sie sah darin große Worte, wie sie sie von ihrem Bruder zu hören gewohnt war, der periodisch unsinnige und erhabene Entschlüsse kundtat, die auszuführen er sich sehr wohl hütete. Als sie dann sah, daß Christof wirklich an diese Worte glaubte, kam sie zur Überzeugung, daß er verrückt sei, und interessierte sich nicht mehr für ihn.

Von da an gab sie sich keinerlei Mühe mehr, vorteilhaft vor ihm zu erscheinen und gab sich als das, was sie war: weit mehr Deutsche und Durchschnittsdeutsche, als sie es zuerst schien und als sie selbst es vielleicht dachte. – Man wirft den Israeliten sehr mit Unrecht vor, keiner Nation anzugehören, und von einem zum andern Ende Europas nur ein einziges gleichartiges Volk zu bilden, das den Einflüssen der verschiedenen Völker, unter denen sie hausen, unzugänglich ist. In Wahrheit gibt es keine Rasse, die leichter den Stempel der Länder, durch die sie hindurchschreitet, annimmt; und gibt es manche gleiche Charakterzüge zwischen einem deutschen und einem französischen Juden, so sind ihre Verschiedenheiten, welche von dem neuen Vaterland herrühren, dessen geistige Gewohnheiten sie mit unglaublicher Schnelligkeit annehmen, doch noch größere: allerdings mehr in den Gewohnheiten als dem Geist nach. Da die Gewohnheit jedoch allen Menschen eine zweite Natur wird, für die meisten aber die einzige und alleinige Natur ist, so folgt daraus, daß die große Mehrzahl der eingeborenen Bürger eines Landes sehr Unrecht tun, den Israeliten das Fehlen eines tiefen und begründeten nationalen Geistes vorzuwerfen, den sie selbst nicht im geringsten Grade besitzen.

Da Frauen allen äußeren Einflüssen noch zugänglicher sind, noch schneller sich allen Lebensbedingungen anpassen und sich mit ihnen verändern, so nehmen auch die Jüdinnen in ganz Europa, oft sogar mit Übertreibung die physischen und sittlichen Moden des Landes, in dem sie leben, an, – ohne dadurch jedoch die Silhouette und den wirren, schweren, benehmenden Duft ihrer Rasse einzubüßen. Christof fiel das auf. Er traf bei den Mannheims Tanten, Kusinen, Freundinnen von Judith. So wenig deutsch viele dieser Gesichter waren, mit den brennenden dicht an der Nase liegenden Augen, der dicht am Mund stehenden Nase, den starken Zügen, dem roten Blut unter brauner dicker Haut, so wenig sie dazu geschaffen schienen, Deutsche zu sein – so waren sie doch in ihrer Art zu sprechen, sich anzuziehen durchaus Deutsche, und mehr als gut ist. Judith war ihnen allen weit überlegen; und der Vergleich brachte alles, was Außergewöhnliches in ihrem Geist, alles, was in ihrer Persönlichkeit ihr Werk war, zum Vorschein. Dabei hatte sie nicht weniger Fehler als die andern. Zwar war sie in bezug auf Moral freier als jene, – fast vollständig frei; jedoch sie war es nicht in sozialen Dingen; zum mindesten verdrängte hier das praktische Interesse die freie Vernunft. Sie beugte sich vor der Welt, den Kasten, den Vorurteilen, weil sie – alles in allem – dabei ihren Vorteil fand. Sie konnte noch so sehr deutschen Geist verspotten: sie war deutscher Art verbunden. Sie fühlte verstandesmäßig die Minderwertigkeit dieses oder jenes anerkannten Künstlers; aber sie versagte ihm dennoch nicht die äußere Achtung, weil er eben anerkannt war; und war sie persönlich mit ihm in Beziehung, bewunderte sie ihn: denn das schmeichelte ihrer Eitelkeit. Sie liebte die Brahmsschen Werke wenig und hielt ihn heimlich für einen Künstler zweiten Ranges; aber sein Ruhm imponierte ihr; und da sie fünf oder sechs Briefe von ihm empfangen hatte, folgte daraus mit Notwendigkeit, daß er der größte Musiker seiner Zeit war. Sie zweifelte nicht im geringsten am wahren Wert Christofs und an der Dummheit des Oberleutnants Detlev von Fleischer; aber sie fühlte sich mehr geschmeichelt, wenn dieser ihren Millionen gnädigst den Hof machte, als wenn Christof ihr seine Freundschaft entgegenbrachte: denn ein einfältiger Offizier ist darum nicht weniger ein Mensch einer andern Kaste; und es ist der deutschen Jüdin schwieriger als einer andern Frau, in diese Kaste zu dringen. Obgleich sich Judith von solchen feudalen Albernheiten nicht hinters Licht führen ließ und sehr genau wußte, daß, wenn sie es erreichen würde, den Oberleutnant Detlev von Fleischer zu heiraten, sie es wäre, die ihm damit eine große Ehre erwiese, so gab sie sich dennoch Mühe, ihn zu erobern; sie erniedrigte sich dazu, diesem Idioten schöne Augen zu machen und seiner Eitelkeit zu schmeicheln. Die stolze Jüdin, die tausend Gründe hatte, stolz zu sein, die kluge und hochgemute Tochter des Bankiers Mannheim sehnte sich danach, herabzusteigen, es dem ersten besten der kleinen deutschen Bürgermädchen gleichzutun, die sie so verachtete.

 

Die Erfahrung war schnell gemacht. Christof verlor seine Illusionen in bezug auf Judith fast ebenso rasch, wie er sie sich gebildet hatte. Man muß Judith die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie nichts tat, damit er sie sich bewahrte. Sobald eine Frau dieses Schlages dich abgeurteilt hat, sich von dir lossagt, bist du nicht mehr für sie da: sie sieht dich nicht mehr und sie empfindet ebensowenig Scheu, vor dir mit ruhiger Schamlosigkeit ihre Seele zu entkleiden, als sich vor ihrem Hund, ihrer Katze oder irgendeinem andern Haustier vollständig nackt zu zeigen. Christof sah Judiths Egoismus, ihre Kälte, die Minderwertigkeit ihres Charakters. Er hatte nicht die Zeit gehabt, ganz von ihr gefangen zu werden. Immerhin schon genug, um zu leiden, um in eine Art Fieber versetzt zu werden. Er liebte Judith nicht, aber er liebte, was sie hätte sein können, was sie hätte sein sollen. Ihre schönen Augen hielten ihn in schmerzhaftem Bann: er konnte sie nicht vergessen; obgleich er jetzt die dumpfe Seele, die in ihrem Grunde schlummerte, kannte, sah er sie doch weiter, wie er sie so gern sehen wollte, wie er sie zuerst gesehen hatte. Er erlebte eine jener Liebeshalluzinationen ohne Liebe, die in Künstlerherzen so viel Raum einnehmen, wenn sie nicht vollständig von ihrem Werk beschlagnahmt sind. Ein vorübergehendes Gesicht ist genug, um sie ihnen zu geben; dann sehen sie in ihm alle Schönheit, die es birgt, die ihm selbst unbewußt ist, um die es sich nicht kümmert. Und sie lieben es um so mehr, als sie wissen, daß es sich nicht darum kümmert. Sie lieben es, wie ein schönes Ding, das sterben wird, ohne daß jemand von seinem Werte, noch von seinem Dasein wußte.

Vielleicht mißbrauchte er seine eigne Einbildungskraft, und Judith Mannheim hätte ihm nicht mehr sein können, als sie war. Aber Christof hatte einen Augenblick lang an sie geglaubt; und der Zauber dauerte fort: er konnte sie nicht unparteiisch beurteilen. Alles, was Schönes in ihr war, schien ihm nur ihr allein eigen, Ausdruck ihres persönlichsten Ich zu sein. Alles Gewöhnliche an ihr aber schob er ihrer doppelten Rasse zu: der jüdischen und der deutschen; und vielleicht zürnte er der letzteren deswegen noch mehr, denn er hatte mehr von ihr zu leiden gehabt. Da er noch keine andere Nation kannte, war der deutsche Geist für ihn eine Art Sündenbock: er lud alle Sünden der Welt auf ihn. Die Enttäuschung, die ihm Judith bereitet hatte, war für ihn ein Grund mehr, um ihn zu bekämpfen: er konnte ihm nicht verzeihen, den Schwung einer solchen Seele gebrochen zu haben.

Das war seine erste Begegnung mit Israel. Er hatte viel von ihr erhofft. Er hatte in dieser starken, von den andern abseitsstehenden Rasse einen Verbündeten für seinen Kampf erhofft. Dieser Traum zerstob. Mit der Beweglichkeit leidenschaftlichen Einfühlens, die ihn von einer Übertreibung zur andern springen ließ, überredete er sich alsobald, daß diese Rasse weit schwächer sei, als man ihr nachsagte, und weit offener – viel zu offen – für alle Einflüsse von außen. Sie litt an ihrer eigenen Schwäche und an allen denen, die sie auf ihrem Wege aufsammelte. Das also war noch nicht der Stützpunkt, an dem er den Hebel seiner Kunst ansetzen konnte. Viel eher lief er Gefahr, mit ihr im Wüstensande zu versinken.

Nachdem er diese Gefahr erkannt hatte und sich seiner selbst nicht sicher genug fühlte, um die Gefahr zu bekämpfen, hörte er mit einem Schlage auf, die Mannheims zu besuchen. Mehrmals wurde er eingeladen und entschuldigte sich, ohne Gründe anzugeben. Da er bisher stets außerordentliche Bereitwilligkeit zum Kommen gezeigt hatte, fiel solch plötzlicher Wechsel auf: man schob es seiner »Originalität« zu; aber keiner der drei Mannheims, zweifelte, daß Judiths schöne Augen auch dabei mitsprächen; Lothar und Franz neckten sie bei Tisch damit. Judith zuckte die Achseln und sagte, das wäre eine schöne Eroberung; und sie bat ihren Bruder in kühlen Worten, Christof »nichts in den Kopf zu setzen«. Aber dabei tat sie alles, um ihn wieder ins Haus zu ziehn. Sie schrieb ihm unter dem Vorwand einer musikalischen Auskunft, die ihr niemand anders geben könne; und am Schluß des Briefes spielte sie freundschaftlich auf die Seltenheit seiner Besuche an und sprach von der Freude, die alle haben würden, wenn man ihn wieder sähe. Christof antwortete, erteilte den gewünschten Bescheid, schob seine Arbeit vor und erschien nicht. Manchmal trafen sie sich im Theater. Christof wandte dann die Augen hartnäckig von der Loge der Mannheims fort; und er tat, als sähe er Judith nicht, die ihr lockendstes Lächeln für ihn bereit hielt. Sie bestand nicht auf ihrem Willen. Da ihr nicht viel an ihm lag, fand sie es unpassend, daß dieser kleine Künstler ihr für nichts und wieder nichts so viel Anstrengungen zumutete. Wenn er wieder kommen wollte, so würde er wohl kommen. Wenn nicht, – nun denn! man würde sich trösten …

Man tröstete sich; und seine Abwesenheit riß wirklich keine große Lücke in die Gesellschaften der Mannheims. Judith jedoch bewahrte fast wider Willen gegen Christof einen leisen Groll. Sie fand es natürlich, daß sie sich nicht um ihn kümmerte, wenn er da war; und sie gestattete ihm, sein Mißvergnügen darüber merken zu lassen; daß aber dieses Mißvergnügen so weit ging, jede Beziehung abzubrechen, nannte sie einen dummen Hochmut und es schien ihr ein mehr egoistisches als verliebtes Herz zu beweisen. – Judith war gegen ihre eignen Fehler bei andern nicht nachsichtig.

Sie verfolgte jedoch mit um so größerer Aufmerksamkeit alles, was Christof tat und schrieb. Ohne sich den Anschein zu geben, brachte sie ihren Bruder gern auf ein Gespräch darüber; sie ließ sich seine Tagesunterhaltungen mit Christof erzählen; und sie durchstichelte seinen Bericht mit ironischen und geistvollen Bemerkungen, die sich keinen lächerlichen Zug entgehen ließen und nach und nach Franzens Enthusiasmus zerstörten, ohne daß dieser es merkte.

 

Zuerst ging mit der Zeitschrift alles aufs beste. Christof hatte die Minderwertigkeit seiner Mitarbeiter noch nicht durchschaut; und sie erkannten in ihm, – da er einer der Ihren geworden war, – das Genie an. Mannheim, der ihn entdeckt hatte, wiederholte, ohne je etwas von ihm gelesen zu haben, nach allen Seiten, daß Christof ein glänzender Kritiker sei, der sich bis dahin über seinen eigentlichen Beruf getäuscht habe und durch ihn, Mannheim, ihm jetzt zugeführt werde. In geheimnisvollen, die Neugier reizenden Wendungen, kündigten sie seine Artikel im voraus an; und sein erster Bericht wurde für die Schläfrigkeit der kleinen Stadt in der Tat etwas wie ein Stein, der in einen Entensumpf fällt. Er war betitelt: »Zu viel Musik!«

»Zu viel Musik, zu viel Trinken, zu viel Essen« schrieb Christof. »Man ißt, man trinkt, man hört ohne Hunger, ohne Durst, ohne Bedürfnis, nur aus der Gewohnheit der Vielfresserei. Eine allgemeine Straßburger Gänsediät herrscht bei uns. Das ganze Volk leidet an Heißhunger. Was man ihm gibt, ist ganz gleichgültig: Tristan oder den Trompeter von Säckingen, Beethoven oder Mascagni, eine Fuge oder einen Geschwindmarsch, Adam, Bach, Puccini, Mozart oder Marschner: es weiß nicht, was es ißt. Die Hauptsache bleibt ihm, daß es ißt. Nicht einmal mehr Vergnügen findet es daran. Seht es doch im Konzert. Man spricht von dem deutschen Humor! Diese Leute wissen ja nicht einmal, was Humor ist: sie sind immer vergnügt! Ihr Frohsinn wie ihre Traurigkeit gehen wie Regen nieder: zerstäubte Freude; sie ist schlaff und kraftlos. Stundenlang können sie dasitzen und mit unbestimmtem Lächeln Töne aufnehmen, Töne – Töne. Sie denken an nichts, fühlen nichts: Schwämme sind sie. Die wahre Lust oder der wahre Schmerz, – die Kraft – kann nicht stundenlang wie ein Faß Bier ausgeteilt werden. Das packt dich an der Kehle und wirft dich nieder; und nachher hat man kein Verlangen mehr, noch etwas anderes aufzunehmen: man hat sein Teil! …

»Zu viel Musik! Ihr tötet euch und tötet sie. Mögt ihr selber euch töten, das geht nur euch etwas an; und ich kann nichts dazu tun. Aber vor der Musik – halt! Ich erlaube nicht, daß ihr alles, was auf der Welt schön ist, herabwürdigt, indem ihr Heiliges und Niedriges in denselben Korb werft, indem ihr, wie ihr es beständig macht, das Vorspiel zum Parsifal zwischen eine Fantasie über die Regimentstochter und ein Saxophonquartett schiebt oder einem Beethovenschen Adagio einen Cakewalk und eine Schweinerei von Leoncavallo als Begleitung gebt. Ihr rühmt euch, das große musikalische Volk zu sein. Ihr behauptet, Musik zu lieben. Welche Musik liebt ihr denn? Die gute oder die schlechte? Ihr beklatscht sie beide gleichermaßen. Trefft schließlich eine Wahl! Was wollt ihr, wenn ihr's euch genau überlegt? Ihr wißt es selber nicht. Ihr wollt es nicht wissen. Denn ihr habt Angst davor, Partei zu ergreifen und euch dabei zu blamieren … Zum Teufel mit eurer Vorsicht! – Ihr steht über den Parteien, sagt ihr? Darüber: das will heißen, darunter …«

Und er zitierte ihnen die Verse des alten Gottfried Keller, des rauhen Zürichers, der ihm unter den deutschen Schriftstellern durch seine kräftige Redlichkeit und seinen herben Erdgeruch der liebste war:

Wer über den Parteien sich wähnt mit stolzen Mienen,
Der steht zumeist vielmehr beträchtlich unter ihnen.

»Habt doch den Mut zur Wahrheit,« fuhr er fort. »Habt den Mut, häßlich zu sein. Wenn ihr schlechte Musik liebt, sagt es frei heraus. Zeigt euch, seht euch, wie ihr seid. Wascht eure Seele von der widerlichen Schminke aller eurer Kompromisse und aller eurer Zweideutigkeiten. Macht große Wäsche! Seit wielange habt ihr euch nicht im Spiegel besehen. Ich will euch eure Züge zeigen. Komponisten, Virtuosen, Orchesterdirigenten, Sänger und du, liebes Publikum, ein einziges Mal sollt ihr wissen, wer ihr seid … – Seid, was ihr mögt; aber bei allen Teufeln! seid wahr! Seid wahr, sollten auch Künstler und Kunst, – sollte ich selbst als erster darunter leiden! Wenn Kunst und Wahrheit nicht miteinander leben können, mag die Kunst verschwinden! Die Wahrheit ist das Leben. Der Tod ist die Lüge.«

Diese jugendlich übertriebene Rede rief in ihrer durchgeführten Geschmacklosigkeit natürlich großes Geschrei hervor. Da jedoch auf alle gezielt war, nicht aber auf einen Einzelnen, brauchte sich niemand getroffen zu fühlen. Jeder übrigens ist, glaubt sich oder nennt sich den aufrichtigsten Wahrheitsfreund: es lag also keine Gefahr vor, daß man die Schlußfolgerungen des Artikels bekämpfte. Man war nur durch den allgemeinen Ton verletzt; man war sich darin einig, ihn sehr wenig angemessen zu finden, vor allem von seiten eines Künstlers, der eine halb offizielle Stellung einnahm. Einige Musiker begannen sich zu beunruhigen und mit großem Eifer zu widersprechen: sie sahen voraus, daß Christof hier nicht stehen bleiben würde. Andere glaubten klüger zu sein, wenn sie Christof zu seiner Heldentat beglückwünschten: sie waren darum wegen etwaiger folgender Artikel nicht weniger besorgt.

Die eine und die andere Taktik hatten denselben Erfolg. Christof war losgelassen: nichts konnte ihn aufhalten; und wie er versprochen hatte, wurden alle vorgenommen: die Schaffenden und die Ausführenden.

Die ersten Niedergesäbelten wären die Kapellmeister. Christof beschränkte sich nicht etwa auf allgemeine Betrachtungen über die Kunst des Dirigierens. Er nannte seine Kollegen in der Stadt oder den benachbarten Städten mit Namen; oder wenn er sie nicht nannte, waren seine Andeutungen doch so klar, daß sich keiner irren konnte. Jeder erkannte den apathischen Chef des Hoforchesters, Alois von Werner, den vorsichtigen, mit Ehren bedeckten Greis, der alles fürchtete, alles zum Besten wandte, der Angst davor hatte, seine Musiker zu kritisieren und gefügig dem Tempo folgte, das sie anschlugen, – der in seine Programme nichts aufzunehmen wagte, was nicht durch zwanzigjährige Erfolge geheiligt oder doch zum mindesten durch den Stempel irgendeines akademischen Würdenträgers geadelt war. Christof spendete seinen Gewagtheiten ironischen Beifall; er beglückwünschte ihn, Gade, Dvorak oder Tschaikowski entdeckt zu haben. Er geriet über die unveränderliche Korrektheit, die metronomische Gleichförmigkeit und das ewig »fein nuancierte« Spiel seines Orchesters in Verzückung; er schlug ihm vor, ihm für sein nächstes Konzert die Schule der Geläufigkeit von Czerny zu orchestrieren; und er beschwor ihn, sich nicht zu sehr zu überanstrengen, nicht in so heiße Leidenschaft zu geraten und seine kostbare Gesundheit zu schonen. – Oder er brach in laute Empörung über die Art aus, in der Werner die Eroica von Beethoven dirigiert hatte:

»Eine Kanone! Eine Kanone! Zerschmeißt mir diese Leute da! … Aber habt ihr denn keine Ahnung, was eine Schlacht ist, der Kampf gegen Dummheit und menschliche Bestialität, – und die Kraft, die sie mit einem Freudenlachen unter die Füße tritt? – Doch wie solltet ihr es wissen? Euch gilt ja ihr Kampf! Allen Heroismus, der in euch steckt, gebt ihr darin aus, ohne Gähnen die Eroica anzuhören oder zu spielen – (denn im Grunde langweilt sie euch … Gesteht es doch ein, daß sie euch langweilt, daß ihr dabei vor Langeweile sterbt!) – oder ihr verbraucht euren Heldenmut, um beim Vorbeizug irgendeines Serenissimus mit entblößtem Kopf und gebogenem Rücken einem Luftzug standzuhalten.«

Er konnte nicht genug sarkastische Bemerkungen gegen die Hohepriester des Konservatoriums finden, welche die großen Männer der Vergangenheit als »Klassiker« spielen ließen.

»Klassisch! Das Wort sagt alles. Freie Leidenschaft zum Schulgebrauch ausgespült und zurechtgemacht! Das Leben, die unendliche, von Winden überfegte Ebene, – zwischen die vier Mauern eines Turnhofes eingesperrt. Der wilde stolze Rhythmus eines schauernden Herzens aufs Tik-tak einer Pendeluhr zurückgeschraubt, die seelenruhig ihren kleinen Weg macht, mit dem Fuß ihren Viertakt schlägt und sich unerschütterlich auf die Krücken der starken Zeit stützt! … Um den Ozean zu genießen, müßt ihr ihn in ein Goldfischglas tun. Das Leben begreift ihr nur, nachdem ihr es getötet habt.«

Wenn er so nicht grade zart mit den »Ausstopfern« umging, wie er sie nannte, so tat er es noch weniger mit den »Zirkusreitern« des Orchesters, den berühmten Kapellmeistern, die auf ihren Tourneen in die Stadt kamen, um den Schwung ihrer Arme und ihre geschminkten Hände bewundern zu lassen, die ihre Kunststücke auf den Rücken der großen Meister vollführten, und sich alle Mühe gaben, die bekanntesten Werke unkenntlich zu machen und Luftsprünge durch die Reisen der Symphonie in cis-moll zu vollführen. Er behandelte sie als alte Koketten, als Orchesterprimadonnen, als Zigeuner und Kunstreiter.

Die Virtuosen gaben ihm natürlich reichen Stoff. Wenn er ihre Taschenspielervorstellungen zu kritisieren hatte, erklärte er sich zum Urteil für unbefugt und sagte, daß diese mechanischen Übungen in das Feld einer Hochschule für Kunst und Handwerk gehörten und daß keine Musikkritik, sondern höchstens eine Registriermaschine, welche die Dauer und Zahl der Noten und die verausgabte Energie anmerkte, den Wert solcher Arbeiten abschätzen könne. Manchmal wettete er, daß ein berühmter Klaviervirtuose, der eben in einem zweistündigen Konzert die fabelhaftesten Schwierigkeiten mit lächelnden Lippen und der Locke über den Augen überwunden hatte, ein kindliches Andante von Mozart nicht spielen könne. – Gewiß verkannte auch er nicht die Lust an der überwundenen Schwierigkeit. Auch er hatte sie gekostet: und sie war ihm eine der Freuden des Lebens geworden. Aber es schien ihm grotesk und erniedrigend, wenn man darin nur die materiellste Seite sah und schließlich den ganzen Heroismus der Kunst darauf beschränkte. Den »Klavierlöwen« und »Panthern« verzieh er nicht. – Aber ebenso unnachsichtig ging er gegen die braven in Deutschland berühmten Pedanten vor, die gerade in der Sorge, den Meistertext nur nicht zu verändern, jeden Gedankenschwung sorgfältig unterdrückten und wie Eugen d'Albert oder Hans von Bülow in einer leidenschaftlichen Sonate stets eine Vortragsstunde zu geben schienen.

Die Sänger wurden vorgenommen. Christofs Herz war schwer beladen mit allem, was er ihnen über ihre barbarische Plumpheit und ihre provinziale Theatralik zu sagen hatte. Nicht nur seine Erinnerung an die kürzlichen Mißgeschicke mit der Dame in Blau trieb ihn dazu. Der angesammelte Groll aus vielen Vorstellungen, die ihm eine Marter gewesen waren, sprach aus ihm. Man wußte nicht, was während solcher Aufführungen mehr zu leiden hatte: Ohren oder Augen. Dabei hatte Christof noch nicht genug Vergleichsmöglichkeiten, um die ganze Häßlichkeit der Aufmachung, der plumpen Kostüme, der schreienden Farben zu ahnen. Er war nur über die Gewöhnlichkeit der Gestalten, Gebärden und Haltungen entsetzt, über das unnatürliche Spiel, über die Unfähigkeit der Schauspieler, fremde Seelen zu verlebendigen, über ihre verblüffende Gleichgültigkeit, mit der sie an die verschiedensten Rollen hintereinander herangingen, vorausgesetzt, daß sie ungefähr in derselben Stimmlage geschrieben waren. Üppige Matronen, vergnügt und wohlgerundet, zeigten sich der Reihe nach als Isolde und als Carmen. Amfortas spielte Figaro. – Aber was Christof natürlich am fühlbarsten blieb, war der häßliche Gesang an sich, besonders in den klassischen Werken, in denen die melodische Schönheit ein wesentliches Element ist. Man konnte in Deutschland die vollkommene Musik aus dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr singen; man gab sich dazu nicht mehr Mühe genug. Der klare, reine Stil von Gluck und Mozart, der wie derjenige Goethes ganz in italienisches Licht gebadet zu sein scheint, – dieser Stil, der schon bei Weber sich zu erregen beginnt, vibrierend und flatternd wird, – der in den plumpen Karikaturen des Schöpfers eines Crociato lächerlich wird, – er wurde von Wagners Triumph vollständig vernichtet. Über den Griechenhimmel war der wilde Flug der Walküren mit ihren durchdringenden Schreien hinweggezogen. Die schweren Wolken Odins erstickten das Licht. Niemandem fiel es mehr ein, die Musik zu singen: man sang die Dichtungen. Man nahm Häßliches und Nachlässigkeiten im einzelnen, ja selbst falsche Noten leicht, da man behauptete, nur das Ganze, nur der Gedanke sei von Bedeutung …

»Der Gedanke! Sprechen wir einmal davon. Als ob ihr ihn herausfühltet! … Ob ihr ihn aber versteht oder nicht, achtet bitte die Form, die er sich wählte. Musik sei und bleibe doch vor allem Musik!«

Übrigens meinte Christof, daß dieser übergroße Wert, den deutsche Künstler dem Ausdruck und dem tiefen Gedanken beizulegen behaupteten, nichts als ein guter Witz sei. Ausdruck? Gedanken? Ja, sie legten ihn überall hinein, – überall in gleichem Grade. Sie entdeckten in einer wollenen Socke genau so viel Gedankeninhalt – nicht mehr und nicht weniger, – als in einer Statue von Michelangelo. Mit gleicher Energie spielten sie, wen und was man wollte. Den meisten wäre im Grunde bei der Musik die Tonfülle, das musikalische Geräusch die Hauptsache. Die so große Sangesfreudigkeit in Deutschland wäre in gewisser Hinsicht nur Lust an Stimmgymnastik. Es handelte sich darum, sich mit Luft recht vollzupumpen und sie dann kräftig, anhaltend und im Takt wieder herauszublasen. – Und er verabfolgte irgendeiner großen Sängerin, anstatt eines Lobes, ein Gesundheits-Diplom.

Er begnügte sich aber nicht damit, die Künstler herunterzumachen. Er setzte über die Rampe und verprügelte das Publikum, das mit offenem Maul diesen Exekutionen zuschaute. Man war so entsetzt, daß man nicht wußte, ob man lachen oder wütend werden sollte. Das Publikum hatte alles Recht, wegen der Ungerechtigkeit ein Zetergeschrei zu erheben: es hatte sich so schön davor gehütet, in irgendeiner künstlerischen Schlacht Partei zu ergreifen; vorsichtig hielt es sich von jeder brennenden Frage fern. Aus Angst sich zu irren, klatschte es allem Beifall. Und jetzt warf ihm Christof gerade als Verbrechen vor, daß es Beifall spendete! … Und etwa schlechten Werken? – Schon das wäre stark gewesen! Aber Christof ging weiter: was er ihnen am meisten vorwarf, war, daß sie die großen Werke beklatschten.

»Heuchler,« sagte er zu ihnen, »ihr wollt den Glauben erwecken, als hättet ihr so viel Begeisterung in euch? Aber geht mir doch! Macht euch nicht so viel Mühe! Ihr beweist gerade das Gegenteil dessen, was ihr beweisen wollt. Beklatscht, wenn ihr's durchaus wollt, die Werke oder die Seiten, die in irgendeiner Hinsicht den Beifall herausfordern. Beklatscht die geräuschvollen Abschlüsse, die, wie Mozart sagte, für langsame Ohren gemacht sind. Da laßt euch frohen Herzens gehen: das Eselsgeschrei ist vorgesehen; es gehört zum Konzert. – Aber nach der Missa Solemnis von Beethoven! … Unglückliche! Das ist das letzte Gericht; das wahnsinnsschwangere Gloria ist soeben vor euch gleich einem Gewittersturm über dem Ozean niedergedonnert; den Windwirbel eines athletischen und zwingenden Willens habt ihr vorbeisausen sehen, der aufgehalten sich bricht, sich an den Wolken festhält, mit beiden Fäusten festgeklammert über dem Abgrund hängt und sich zu vollem Fluge von neuem in den unendlichen Raum schwingt. Der Sturmwind heult und windet sich. Und dann, mitten im stärksten Aufruhr, ein plötzlicher Übergang, ein blendender Glanz von Tönen, der die Finsternisse des Himmels durchbricht und gleich einem Lichtschild auf das durchsichtige Meer herniedersinkt. Das ist das Ende. Der wütende Fluch des Würgengels hält urplötzlich inne; drei Blitzschläge, und seine Schwingen stehen unbeweglich. Rings um euch braust und zittert noch alles. Der trunkene Blick starrt vor sich hin. Das Herz flattert, der Atem stockt, die Glieder sind gelähmt … Und kaum ist die letzte Note verklungen, – da seid ihr wieder vergnügt und lustig, schreit, lacht, kritisiert, klatscht! … Aber ihr habt ja nichts gesehen, nichts gehört, nichts gefühlt, nichts verstanden, nichts, nichts, absolut nichts! Die Qualen eines Künstlers sind eine Schaustellung für euch. Ihr findet, daß die Agonietränen eines Beethoven fein gemalt find. Ihr schreit nach der Kreuzigung: Dacapo! Eine große Seele kämpft ein ganzes Leben lang in Schmerzen, um eurer Maulafferei eine Stunde Unterhaltung zu geben! …«

So vervollständigte er, ohne es zu ahnen, das große Goethewort, dessen hoheitsvolle heitere Ruhe er allerdings noch nicht erreicht hatte: »Dem Volk ist das Erhabene ein Spiel. Sähe es dasselbe, so wie es ist, so fände es nicht die Kraft, seinen Anblick zu ertragen.«

Wenn er sich damit begnügt hätte! – Aber einmal im Schwunge, ließ er das Publikum hinter sich und fiel wie eine Kanonenkugel in das Allerheiligste, das Tabernakel, den unverletzlichen Hort der Minderwertigkeit: – in die Kritik. Er bombardierte seine Kollegen. Einer unter ihnen hatte sich erlaubt, den begabtesten unter den lebenden Komponisten, den vorgeschrittensten Vertreter der neuen Richtung anzugreifen: Häßler, den Schöpfer von allerdings ziemlich überspannten, aber durchaus genialen Programmsymphonien. Wie man sich vielleicht erinnert, war ihm Christof als Kind einmal vorgestellt worden, und er bewahrte ihm seither, in dankbarer Erinnerung an die Begeisterung, die er einst für ihn empfunden hatte, stets eine geheime Zärtlichkeit. Es mit ansehen zu müssen, wie ein blöder Kritiker, dessen Unwissenheit er kannte, einem Mann von solcher Bedeutung eine Lektion erteilte, ihn zur Ordnung rief und ihm Verhaltungsmaßregeln erteilte, brachte ihn außer sich:

»Ordnung! Ordnung!« rief er. »Ihr kennt nur Polizeivorschriften. Das Genie läßt sich nicht auf eingefahrenen Wegen führen. Es schafft neue Regeln und erhebt seinen Willen zum Gesetz.«

Nach dieser stolzen Erklärung nahm er den unglücklichen Kritiker vor, verzeichnete alle Eseleien, die er seit einer gewissen Zeit geschrieben hatte, und verabfolgte ihm einen schulmeisterlichen Verweis.

Die ganze Kritik empfand die Beleidigung. Bis dahin hatten alle sich abseits vom Kampf gehalten. Es fiel ihnen nicht bei, Christofs Abfertigungen herausfordern zu wollen: sie kannten ihn, kannten seine Urteilsfähigkeit und wußten auch, daß er nicht allzuviel Geduld besaß. Einige unter ihnen hatten höchstens ihr leises Bedauern ausgedrückt, daß ein so begabter Komponist sich in einen Beruf verirrte, der ihn nichts anginge. Wie aber auch immer ihre Meinung war (falls sie eine hatten), und so verletzt sie von Christofs Ansichten auch sein mochten, sie achteten in ihm doch ihr eigenes Vorrecht, alles kritisieren zu dürfen, ohne sich selbst der Kritik auszusetzen. Als sie aber sahen, wie Christof die schweigende Übereinkunft, die sie untereinander verband, brutal zerbrach, sahen sie sofort einen Feind der öffentlichen Ordnung in ihm. In völliger Übereinstimmung entrüsteten sie sich, daß ein so junger Mann es an Respekt gegenüber den nationalen Ruhmestaten fehlen ließ; und sie begannen einen erbitterten Feldzug gegen ihn. Nicht in langen Aufsätzen, in fortgesetzten Erörterungen; auf dies Terrain begaben sie sich nicht gern mit einem besser bewaffneten Gegner: wenn ein Journalist auch die ganz besondere Fähigkeit besitzt, zu streiten, ohne auf die Einwände seines Gegners zu achten oder sie auch nur gelesen zu haben; aber eine lange Erfahrung hatte ihnen gezeigt, daß, da der Leser einer Zeitung stets der Ansicht seines Blattes ist, es den eignen Kredit ihm gegenüber schwächen hieß, wenn man auch nur den Schein einer Diskussion weckte. Man mußte zugeben, oder besser noch verneinen. (Die Verneinung hat die doppelte Kraft der Zustimmung; das ist die einfache Folge des Gesetzes der Schwere: es ist leichter einen Stein herunterfallen zu lassen, als ihn in die Lust zu schleudern.) So hielten sie sich denn mit Vorliebe an das System, jeden Tag an guter Stelle und mit unermüdlicher Beharrlichkeit kleine, niederträchtige, ironische und beleidigende Notizen zu wiederholen. Sie machten den unverschämten Christof lächerlich, wenn sie ihn auch nicht immer nannten, sondern nur in durchsichtiger Art auf ihn wiesen. Sie entstellten seine Worte so, daß sie sinnlos schienen; sie erzählten Anekdoten von ihm, deren Ausgangspunkt manchmal wahr war, während das Übrige aus einem geschickt zusammengestellten Lügengewebe bestand, das ihn mit der ganzen Stadt, mehr aber noch mit dem Hof verfeinden mußte; sie wendeten sich sogar gegen seine äußere Person, seine Züge, seinen Anzug und malten eine Karikatur von ihm, die, immer wieder vorgezeigt, schließlich fast ähnlich wirkte.

 

Alles das wäre Christofs Freunden ziemlich gleichgültig gewesen, wenn ihre Zeitschrift in der Schlacht nicht auch Hiebe mit abbekommen hätte. Eigentlich waren es mehr Warnungssignale. Man versuchte nicht, sie mit in den tieferen Streit zu verwickeln; man zielte eher daraufhin, sie und Christof auseinanderzubringen: man drückte sein Erstaunen aus, daß sie ihren guten Ruf so aufs Spiel setze, und man ließ durchblicken, daß man, falls sie nicht mehr auf ihren Namen bedacht sei, trotz alles Bedauerns gezwungen sein würde, sich an die übrige Redaktion zu halten.

Ein erstes, ziemlich harmloses Angriffsfeuer gegen Adolf Mai und Mannheim brachte Bewegung ins Wespennest. Mannheim lachte nur darüber: er dachte, das würde seinen Vater, seine Onkel, seine Vettern, seine ganze zahlreiche Familie, die sich ein Recht anmaßten, ihn zu beaufsichtigen und sich über alles, was er tat, aufregten, wütend machen. Adolf Mai aber nahm die Sache äußerst ernst und warf Christof vor, daß er die Zeitschrift kompromittiere. Christof schickte ihn zum Henker. Die andern fanden, da sie nicht angegriffen waren, es höchst vergnüglich, daß Mai, der ihnen einen feierlichen Vortrag hielt, die Zeche an ihrer Statt bezahlen mußte. Waldhaus freute sich heimlich darüber: er sagte, es gebe keinen Kampf ohne ein paar blutige Köpfe. Wohlverstanden, seiner konnte nicht darunter sein; er meinte, er sei durch seine Familie und seine Beziehungen gegen alle Schläge gesichert; und er fand nichts Böses darin, wenn die Juden, seine Verbündeten, ein wenig gezaust würden. Ehrenfeld und Goldenring, die bisher schadlos davon gekommen waren, fürchteten sich vor ein paar Angriffen nicht; sie konnten antworten. Viel unangenehmer war ihnen die Hartnäckigkeit, mit der Christof es sich angelegen sein ließ, sie mit allen ihren Freunden und besonders ihren Freundinnen zu entzweien. Zu den ersten Aufsätzen hatten sie sehr gelacht und den Spaß gut gefunden. Sie bewunderten, mit welcher Kraft Christof die Fenster einschlug; sie meinten, ein Wort würde genügen, um seinen Kampfeszorn zu mäßigen, um wenigstens seine Faustschläge von denen abzuwenden, die sie ihm bezeichneten. – Nicht im mindesten. Christof hörte auf nichts: keinerlei Empfehlung kam für ihn in Betracht, und wie ein Besessener raste er weiter. Wenn man ihn gewähren ließ, war keine Möglichkeit mehr, in der Stadt zu bleiben. Schon waren ihre kleinen Freundinnen in Tränen gebadet und wütend auf die Redaktion gekommen und hatten ihnen Szenen gemacht. So wandten sie alle Diplomatie auf, um Christof dahinzubringen, wenigstens einige Urteile zu mildern: Christof änderte nichts. Sie wurden böse: Christof wurde böse; aber er änderte nichts. Waldhaus nahm, da er ja in nichts betroffen war und ihm die Aufregung seiner Freunde Spaß machte, um sie noch mehr zu ärgern, für Christof Partei. Vielleicht war er übrigens auch eher als sie fähig, Christofs großherzige Überspanntheit zu schätzen, der sich mit gesenktem Schädel allem entgegenwarf, ohne sich irgendeinen Rückzug, irgendeine Zuflucht für die Zukunft offen zu lassen. Was Mannheim betrifft, so amüsierte er sich königlich über die Katzenmusik: er hielt es für einen köstlichen Spaß, diesen verrückten Kerl zwischen seine artigen Leute gebracht zu haben, und er bog sich wegen der Hiebe, die Christof austeilte, ebenso vor Lachen, als wegen der, die er empfing. Wenn er auch unterm Einfluß seiner Schwester zu glauben begann, daß Christof unstreitig ein wenig übergeschnappt sei, so mochte er ihn darum nur um so lieber. (Es war ihm fast Notwendigkeit, die, welche ihm sympathisch waren, ein wenig lächerlich zu finden.) So unterstützte er, gemeinsam mit Waldhaus, auch ferner Christof gegen die andern.

Da es ihm, trotz aller Anstrengungen, sich vom Gegenteil zu überzeugen, durchaus nicht an praktischem Sinn mangelte, hatte er die sehr richtige Vorstellung, daß es für seinen Freund vorteilhaft sein müsse, seine Sache mit der fortschrittlichsten musikalischen Partei in der Stadt zu verbinden.

Es gab, wie in den meisten deutschen Städten, auch hier einen Wagnerverein, der das Neue gegen die konservative Clique vertrat. – Und man setzte sich wirklich keinen großen Gefahren mehr durch die Verteidigung Wagners aus, nachdem sein Ruhm überall anerkannt war und seine Werke auf dem Repertoire sämtlicher Opern Deutschlands standen. Dennoch war sein Sieg eher durch die Übermacht erzwungen als frei gewährt, und die große Mehrzahl blieb im Grunde des Herzens hartnäckig konservativ; besonders in den kleinen Städten, wie in dieser, die ein wenig abseits der großen modernen Strömungen lag und überdies stolz auf ihre alte Vergangenheit war. Mehr als irgendwo anders herrschte hier das dem deutschen Volke angeborene Mißtrauen gegen jede Neuerung, eine Art von Trägheit, irgend etwas Wahres und Starkes zu fühlen, das nicht schon von mehreren Generationen wiedergekäut war. Man konnte das an den sauren Mienen beobachten, mit denen – wenn auch nicht gerade Wagners Werke, gegen die man nicht mehr zu kämpfen wagte, – so doch alle neuen, vom Wagnerschen Geist beeinflußten Schöpfungen ausgenommen wurden. Die Wagnervereine hätten daher eine recht nützliche Aufgabe zu erfüllen gehabt, wenn es ihnen am Herzen gelegen hätte, allerorten die jungen und originellen Kräfte in der Kunst zu verteidigen. Manchmal taten sie es wohl, und Bruckner und Hugo Wolf fanden in einigen von ihnen ihre besten Verbündeten. Allzuoft aber lastete der Egoismus des Meisters auf seinen Jüngern und ebenso wie Bayreuth nur der ungeheuren Verherrlichung eines einzelnen diente, so waren die Bayreuther Filialen kleine Kirchen, in denen man die Messe ewig zur Ehre eines einzigen Gottes las. Höchstens in Seitenkapellen ließ man treue Jünger zu, welche die heiligen Dogmen buchstabengenau anwendeten und, das Antlitz in den Staub gedrückt, die alleinige Gottheit mit dem vielfältigen Antlitz – Musik, Dichtung, Drama und Metaphysik – anbeteten.

So war es gerade mit dem Wagnerverein auch dieser Stadt der Fall. Jedoch hielt er auf gute äußere Formen; er warb gern talentvolle junge Leute an, die ihm nützlich sein konnten; und seit langem hatte man Christof im Auge. Man war ihm zart entgegengekommen, was Christof nicht beachtet hatte, da er keinerlei Bedürfnis verspürte, sich mit wem es auch sei zu verbünden; er begriff nicht, welche Notwendigkeit seine Landsleute dazu trieb, sich stets in Horden zusammenzuschließen, als ob sie nichts allein tun konnten: weder singen noch spazieren gehen noch trinken. Er hatte einen Widerwillen gegen jedes Vereinswesen. Wenn es aber sein mußte, so war er einem Wagnerverein noch eher geneigt als jedem andern: war der doch wenigstens ein Vorwand für schöne Konzerte; und obgleich er nicht alle Kunstanschauungen der Wagnerianer teilte, stand er ihnen näher als andern musikalischen Gruppen. Bei einer Partei, die sich Brahms und den »Brahminen« gegenüber ebenso ungerecht verhielt wie er selbst, schien es ihm möglich, den Boden einer Verständigung zu finden. So ließ er sich denn vorstellen. Mannheim war der Vermittler: er kannte alle Welt; er gehörte auch, ohne Musiker zu sein, zum Wagnerverein. – Das Direktionskomitee hatte nicht versäumt, den Feldzug, den Christof in der Zeitschrift führte, zu verfolgen. Ein paar Hinrichtungen, die er im feindlichen Feld vorgenommen hatte, schienen ihnen eine kräftige Faust zu beweisen, die sie selbst gut hätten brauchen können. Christof hatte zwar auch einige respektlose Spitzen gegen das heilige Götterbild losgelassen; aber man zog vor, dem gegenüber die Augen zuzudrücken; – und vielleicht standen diese ersten, noch ziemlich harmlosen Angriffe, ohne daß man es zugab, nicht außer Beziehung zu der Eile, mit der man sich Christofs zu bemächtigen suchte, bevor er noch die Zeit hätte, sich ausführlicher auszusprechen. Man bat ihn zunächst sehr liebenswürdig um die Erlaubnis, ein paar seiner Lieder bei einem der nächsten Konzerte des Vereins zur Aufführung zu bringen. Christof war geschmeichelt und nahm an: er kam in den Wagnerverein; und von Mannheim gestoßen, ließ er sich schließlich sogar einschreiben.

An der Spitze des Wagnervereins standen damals zwei Männer, von denen der eine einen gewissen Ruf als Schriftsteller, der andere als Dirigent genoß. Beide glaubten mit mohammedanischer Überzeugungstreue an Wagner. Der erste, Josias Kling, hatte ein Wagnerlexikon geschrieben, in dem man in einer Minute jeden Gedanken des Meisters nachschlagen konnte. Das war das große Werk seines Lebens gewesen. Er wäre imstande gewesen, ganze Kapitel daraus bei Tisch zu rezitieren, so wie französische Provinzler Gesänge aus der Pucelle hersagen können. Auch veröffentlichte er in den Bayreuther Blättern Aufsätze über Wagner und den arischen Geist. Es versteht sich von selbst, daß Wagner für ihn der Typus des reinen Ariers war, dessen deutsche Rasse der uneinnehmbare Zufluchtsort gegen alle verderblichen Einflüsse des lateinischen, vor allem des französischen Semitismus geblieben war. Er proklamierte die endgültige Niederlage des unreinen, französischen Geistes. Nichtsdestoweniger führte er seinen täglich erbitterten Kampf gegen ihn weiter, als ob der Erbfeind immer noch drohe. Nur einen großen Mann erkannte er in Frankreich an: den Grafen Gobineau. Kling war ein ganz kleines, sehr höfliches Greislein, das wie ein junges Mädchen errötete. – Die andere Säule des Wagnervereins, Erich Lauber, war bis zu seinem vierzigsten Jahre Direktor einer chemischen Fabrik gewesen; dann hatte er alles stehn und liegen lassen, um Orchesterdirigent zu werden. Durch seine Willenskraft und seinen Reichtum war es ihm gelungen. Er war ein Bayreuthfanatiker: man erzählte sich, daß er in Pilgersandalen von München dorthin zu Fuß gewandert sei. Es war sonderbar, daß dieser Mann, der viel gelesen hatte, viel gereist war, verschiedene Berufe ausgefüllt und überall eine energische Persönlichkeit gezeigt hatte, in der Musik ein Hammel des Panurge geworden war. Seine ganze Originalität hatte er darauf verwendet, sich hierbei noch ein wenig dümmer als die andern anzustellen. Da er in musikalischer Hinsicht zu wenig selbstsicher war, um sich auf sein persönliches Empfinden zu verlassen, so folgte er knechtisch den Wagnerauslegungen, welche die in Bayreuth patentierten Kapellmeister und Künstler gaben. Er hätte am liebsten bis in die kleinsten Einzelheiten der Szenerie und der buntscheckigen Kostüme alles nachgeahmt, was den kindischen und barbarischen Geschmack des kleinen Hofes von Wahnfried entzückte. Er war vom Schlage jenes Michelangelo-Fanatikers, der in seinen Kopien sogar die Mauersprünge und Schimmelflecke, welche sich in das heilige Werk geschlichen hatten, wiedergab, weil auch diese dadurch heilig geworden waren.

Christof konnte diesen beiden Persönlichkeiten keinen besonderen Geschmack abgewinnen. Aber sie waren Weltmänner, umgänglich und beide ziemlich gebildet. Laubers Unterhaltung blieb stets anregend, wenn man ihn auf ein anderes Thema als die Musik brachte. Übrigens war er ein Windhund; und die Windhunde mißfielen Christof nicht allzusehr: sie waren eine kleine Abwechselung gegenüber der niederschmetternden Banalität der vernünftigen Leute. Er wußte noch nicht, daß es nichts Niederschmetternderes gibt als einen Menschen, der unvernünftig tut, und daß Originalität noch viel seltener bei denen ist, die man sehr mit Unrecht »Originale« nennt, als bei der übrigen Herde. Denn diese sogenannten »Originale« sind einfach Verrückte, deren Denken nur noch wie ein Uhrwerk läuft.

Josias Kling und Lauber wünschten Christof zu gewinnen und waren daher zunächst voller Zuvorkommenheit gegen ihn. Kling widmete ihm einen schmeichelhaften Artikel und Lauber bemühte sich, allen seinen Anweisungen in betreff seiner Werke, die er in einem der Vereinskonzerte dirigierte, zu folgen. Christof war davon gerührt. Leider wurde ihm der Eindruck dieser Zuvorkommenheiten durch den Unverstand derer, die sie anstrebten, verdorben. Er besaß nicht die Fähigkeit, sich über Leute Illusionen zu machen, weil sie ihn bewunderten. Er war anspruchsvoll. Er stellte die Forderung, nicht bewundert zu werden als das Gegenteil dessen, was er war; beinahe sah er die, welche aus Irrtum seine Freunde waren, für Feinde an. So wußte er auch Kling durchaus keinen Dank dafür, daß dieser in ihm einen Jünger Wagners sah und Beziehungen zwischen seinen Liedern und Stellen aus der Tetralogie suchte, während sie nichts als einige Noten der Tonleiter gemeinsam hatten. Und es machte ihm nicht das geringste Vergnügen, eins seiner Werke – Seite an Seite mit dem wertlosen Machwerk eines Wagnerschülers – zwischen zwei Kolossalblöcken Wagnerscher Dramen eingeklemmt, mit anzuhören.

Es dauerte nicht lange, bis es ihm in dieser kleinen Gemeinde zum Ersticken wurde. Auch sie war ein Konservatorium, das sich ebenso beschränkt wie die alten gebärdete und noch unduldsamer, weil es ein Neuankömmling in der Kunst war. Christof begann dadurch seine Illusionen in bezug auf den Wert irgendeiner Kunstform oder irgendeines Gedankensystems zu verlieren. Bis dahin hatte er gemeint, die großen Ideen trügen ihr Licht überallhin mit sich. Jetzt merkte er, wenn die Ideen sich auch noch so sehr wandelten, die Menschen blieben doch immer dieselben; und schließlich kam es nur auf die Menschen an: die Ideen paßten sich ihnen an; waren sie minderwertig und knechtisch geboren, so wurde selbst die Genietat klein, wenn sie durch ihre Seelen hindurchging, und der Befreiungsschrei des Helden, der seine Ketten zerbrach, wurde zur Sklavenarbeit, kommender Generationen. – Christof konnte sich nicht enthalten, diese Empfindungen auszudrücken. Er ließ keine Gelegenheit vorüber, über den Kunstfetischismus herzuziehen. Er erklärte, es dürfe keinerlei Götzen, keinerlei Klassiker geben, und nur der habe ein Recht, sich Erbe des Wagnerschen Geistes zu nennen, der fähig wäre, ihn unter die Füße zu treten, um seinen graden Weg zu gehen, immer vorwärts und nie zurückzuschauen, – der, welcher den Mut hätte, sterben zu lassen, was sterben müsse, und sich in glühender Gemeinschaft mit dem Leben zu erhalten. Klings Dummheit stimmte Christof streitbar; er betonte die Fehler oder Lächerlichkeiten, die er bei Wagner fand. Darauf schrieben ihm die Wagnerianer eine wahnwitzige Eifersucht auf ihren Gott zu. Christof war seinerseits sicher, daß dieselben Leute, welche sich für Wagner begeisterten, seit er tot war, ihn als erste während seines Lebens erdrosselt hätten. Darin tat er ihnen Unrecht. Auch ein Kling und ein Lauber hatten ihre erleuchtete Stunde gehabt; vor einigen zwanzig Jahren waren sie im Vortrab gewesen; dann hatten sie, wie die meisten Leute, sich hingelagert. Der Mensch hat so wenig Kraft, daß er nach dem ersten Aufstieg, außer Atem, anhält; sehr wenige haben genug Lungenstärke, um ihren Weg fortzusetzen.

Christofs Haltung verscherzte ihm schleunigst seine neuen Freunde. Ihre Sympathie war ein Handel: er mußte zu ihnen stehen, damit sie seine Partei ergriffen; und es war nur allzu selbstverständlich, daß Christof nichts von sich selbst aufgab. Er ließ sich nicht fangen. So stellte man ihn kalt. Die Lobeserhebungen, die er den von der Clique abgestempelten Göttern und Götterchen verweigerte, wurden ihm verweigert. Man zeigte weniger Eifer, seine Werke aufzuführen: und manche fingen sogar an, dagegen aufzutreten, daß man seinen Namen allzuoft auf den Programmen sehe. Man machte sich hinter seinem Rücken über ihn lustig, und die Kritik tat das Übrige. Indem Kling und Lauber sie gewähren ließen, schienen sie mit ihr verbündet. Immerhin hütete man sich wohl, mit Christof zu brechen: erstens weil den rheinischen Gemütern die halben Entschlüsse die natürlichen sind, die Entschlüsse, die überhaupt keine sind und den Vorzug haben, eine ungewisse Situation ins Unendliche zu verlängern, schließlich auch, weil man trotz allem wohl hoffte, ihn zu guter Letzt zu dem zu bringen, was man wollte, wenn nicht aus Überzeugung, dann aus Müdigkeit.

Christof ließ ihnen dazu nicht die Zeit. Wenn er zu fühlen meinte, daß ein Mensch ihm im Grunde ungünstig gesinnt war, es aber nicht zugeben wollte und, um im guten Einvernehmen mit ihm zu bleiben, sich etwas vorspiegelte, ruhte er nicht eher, als bis er ihm bewiesen hatte, daß sie Feinde seien. Nach einem Abend im Wagnerverein, an dem er auf eine Mauer versteckter Feindseligkeiten gestoßen war, hielt er nicht länger an sich und sandte Lauber seine nackte Austrittserklärung. Lauber begriff nicht; und Mannheim lief zu Christof und versuchte alles in Ordnung zu bringen. Aber schon bei den ersten Worten fuhr Christof heraus:

»Nein, nein, nein und nochmals nein! Sprich mir nicht mehr von diesen Geschöpfen. Ich will sie nicht mehr sehen … Ich kann nicht mehr, kann einfach nicht mehr … Ich habe einen entsetzlichen Widerwillen gegen diese Menschen; es ist mir fast unmöglich, auch nur einem von ihm gegenüberzutreten.«

Mannheim lachte aus vollem Herzen. Es lag ihm weit weniger daran, Christofs Aufregung zu besänftigen, als ihren Anblick zu genießen.

»Ich weiß wohl, daß sie nicht gerade schön sind,« sagte er; »aber das ist doch nicht seit heute: was ist denn neuerdings vorgefallen?«

»Gar nichts. Nur habe ich persönlich genug davon … Ja, lache nur, mache dich nur über mich lustig: ich weiß schon, ich bin verrückt. Kluge Leute handeln nach logischen Gesetzen und gesunder Vernunft. Ich bin nicht so; ich bin ein Mensch, der nur seinen Impulsen folgt. Wenn sich in mir ein gewisses Quantum von Elektrizität angesammelt hat, muß es sich entladen, koste es, was es wolle; wenn es den andern leid tut, um so schlimmer für sie! Um so schlimmer für mich! Ich bin nicht dafür geschaffen, in Gesellschaft zu leben. Von nun an will ich nur noch mir gehören.«

»Immerhin wirst du nicht behaupten, keinen Menschen nötig zu haben,« meinte Mannheim. »Deine Musik kannst du dir nicht ganz allein vorspielen lassen. Du brauchst Sänger, Sängerinnen, ein Orchester, einen Dirigenten, ein Publikum, eine Claque …«

Christof schrie:

»Nein! Nein! Nein!«

Das letzte Wort aber ließ ihn in die Höhe fahren:

»Eine Claque! Schämst du dich nicht?«

»Nun, reden wir von keiner bezahlten Claque (obgleich die doch das einzig bisher auffindbare Mittel ist, um dem Publikum den Wert eines Werkes klar zu machen). Aber eine Claque ist doch immer nötig: die Claque ist die kleine gehörig abgerichtete Koterie des Künstlers. Jeder Autor hat eine: dazu sind ja die Freunde da.«

»Ich will keine Freunde.«

»Dann wirst du ausgepfiffen werden.«

»Ich will ausgepfiffen werden!«

Mannheim war im siebenten Himmel.

»Selbst dies Vergnügen wirst du nicht lange haben. Man wird dich nicht spielen.«

»Nun, dann meinetwegen! Meinst du, mir liegt daran, ein berühmter Mann zu werden? … Ja, ich war im besten Zuge, dem zuzustreben … Unsinn! Tollheit! Verblödung! … Als ob die Befriedigung gemeinster Eitelkeit ein Entgelt für all die Opfer wäre: Ärger, Leiden, Gemeinheiten, Plackereien, Erniedrigungen, entehrende Zugeständnisse – und womit man sonst noch den Ruhm bezahlen muß! Da sollen mich doch zehntausend Teufel holen, wenn solche Sorgen mir noch einmal das Gehirn zermürben! Nichts mehr von all dem! Ich will nichts mit dem Publikum und der Öffentlichkeit zu tun haben. Die Öffentlichkeit ist eine infame Kanaille. Ich will ein Privatmann sein, für mich leben und für die, welche ich liebe …«

»So ist's recht,« sagte Mannheim ironisch. »Man soll einen Beruf ergreifen. Warum willst du nicht Schuster werden?«

»Ach! wäre ich nur ein Flickschuster wie der unvergleichliche Sachs!« schrie Christof. »Wie froh würde sich mein Leben gestalten! In der Woche Schuster, Sonntags Musiker, und nur im kleinen Kreis zu meiner und einiger Freunde Vergnügen! Das wäre ein Dasein! … Bin ich ein Narr, um Zeit und Mühe für das großartige Vergnügen zu opfern, dem Urteil der Dummköpfe zur Beute zu fallen? Ist es denn nicht viel besser und schöner, von ein paar braven Leuten geliebt und verstanden zu werden, als von tausend Idioten angehört, bekrittelt oder umschmeichelt sein? … Der Hochmutsteufel, der Ruhmsuchtsdämon soll mich nicht wieder an den Haaren kriegen: da kannst du dich auf mich verlassen!«

»Ganz gewiß,« sagte Mannheim.

Er dachte:

»In einer Stunde wird er das Gegenteil sagen.« Und seelenruhig schloß er:

»Also nicht wahr, das mit dem Wagnerverein bringe ich in Ordnung?«

Christof rang die Hände:

»Dazu muß ich mir seit einer Stunde die Lungen ausschreien, um dir das Gegenteil klarzumachen? Ich sage dir, daß ich nicht mehr den Fuß dahin setze. Ich habe ein Grauen vor all diesen Wagnervereinen, vor all diesen Vereinen, all diesen Hammelherden, in denen sich eins an das andere drängt, um gemeinsam zu blöken. Geh und sag den Hammeln von mir: ich bin ein Wolf, ich habe Zähne, ich bin nicht zum Weiden gemacht!«

»Gut, gut, sie sollen's hören,« meinte Mannheim, indem er höchst befriedigt von seinem Vormittag davonging. Er dachte:

»Er ist verrückt, verrückt, verrückt …«

Seine Schwester, der er seine Unterhaltung schleunigst wiedererzählte, zuckte die Achseln und sagte:

»Verrückt? Er möchte sich gern den Anschein geben! … Er ist dumm und lächerlich eingebildet …«

 

Unterdessen führte Christof seinen wütenden Feldzug in der Zeitschrift von Waldhaus fort. Nicht etwa, weil es ihm Vergnügen machte: die Kritik war ihm sterbensüberdrüssig; und er war nahe daran, alles zum Teufel zu schicken. Aber da man sich mühte, ihm den Mund zu verbieten, wurde er widerspenstig; er wollte nicht den Anschein erwecken, als ob er nachgäbe.

Waldhaus fing an, besorgt zu werden. Solange er inmitten der Schlägerei unverletzt geblieben war, hatte er dem Schlachtgetümmel mit der Ruhe eines olympischen Gottes zugeschaut. Seit einigen Wochen aber schienen die andern Zeitungen das Bewußtsein von der Unverletzlichkeit seiner Person zu verlieren. Sie hatten sich daran gemacht, ihn in seiner Schriftstellereitelkeit anzugreifen, und zwar mit solcher Bosheit, daß Waldhaus, wäre er scharfsinniger gewesen, darin wohl die Kralle eines Freundes hätte wiedererkennen können. Und wirklich geschahen diese Angriffe auf heimtückische Antriebe Ehrenfelds und Goldenrings hin: sie sahen nur noch dies Mittel, um ihn dazu zu bewegen, Christofs Polemik ein Ende zu machen. Sie rechneten richtig. Waldhaus erklärte auf der Stelle, daß Christof anfinge, ihn zu ärgern; und er hörte auf, ihn zu unterstützen. Die ganze Redaktion zerbrach sich nun den Kopf darüber, wie man ihn zum Schweigen bringen könne. Aber legt doch einem Hund einen Maulkorb um, während er dabei ist, seine Beute zu verschlingen! Alles, was man Christof darlegte, reizte ihn nur noch mehr. Er nannte sie Memmen und erklärte, er werde alles sagen, – alles was er die Pflicht zu sagen habe. Es stände ihnen ja frei, ihn vor die Tür zu setzen! Dann würde die ganze Stadt wissen, daß sie genau so feige wie die andern seien; aber er würde nicht von selber gehen.

Sie schauten einander verblüfft an und warfen Mannheim das Geschenk, das er ihnen gemacht hatte, als er ihnen diesen Tollhäusler zuführte, bitter vor. Mannheim, der immer noch lachte, machte sich anheischig, Christof ganz allein zu bändigen; und er wettete, daß Christof vom nächsten Aufsatz an seinen Wein mit Wasser mischen werde. Sie blieben ungläubig. Aber die Tatsache bewies, daß Mannheim sich nicht zu sehr gerühmt hatte. Christofs nächster Artikel enthielt, wenn er auch nicht gerade ein Muster an Höflichkeit war, nicht eine unfreundliche Bemerkung, gegen wen es auch immer sei. Mannheims Mittel war höchst einfach; alle wunderten sich hinterher, warum sie nicht früher darauf gekommen waren. Christof überlas niemals, was er für die Zeitschrift schrieb; kaum sah er die Probeabzüge seiner Aufsätze durch, und dann nur höchst flüchtig und schlecht. Adolf Mai hatte ihm deswegen verschiedentlich süßsaure Vorstellungen gemacht: er sagte, daß ein Druckfehler eine Zeitschrift schände; und Christof, der die Kritik nicht ganz als Kunst betrachtete, antwortete darauf, daß der, von dem er schlecht spreche, es immer noch genügend verstehen werde. Mannheim benutzte die Gelegenheit: er sagte, Christof habe Recht; das Lesen von Korrekturen sei Arbeit für einen Druckereifaktor; und er bot ihm an, sie ihm abzunehmen. Christof zerfloß fast vor Dankbarkeit; aber alle versicherten ihm einstimmig, daß mit diesem Abkommen ihnen allen gedient sei, da es der Redaktion einen Zeitverlust erspare: Christof überließ seine Abzüge also Mannheim und bat ihn, sie recht gut zu verbessern. Daran ließ es Mannheim nicht fehlen: er machte sich den schönsten Zeitvertreib daraus. Zunächst wagte er nur, einige Ausdrücke vorsichtig zu mildern, hier und dort einige unfreundliche Beiworte fallen zu lassen. Nachdem ihn aber der Erfolg kühn gemacht hatte, trieb er die Versuche weiter: er fing an, die Sätze und den Sinn zu überarbeiten; er brachte das mit wahrer Kunstfertigkeit zustande; alles kam darauf an, den Grundstamm des Satzes und seine charakteristische Art beizubehalten, und doch gerade das Gegenteil von dem, was Christof hatte sagen wollen, zu sagen. Mannheim gab sich mehr Mühe, Christofs Artikel zu entstellen, als er darauf verwandt hätte, eigene zu schreiben; nie im Leben hatte er so viel gearbeitet. Aber er genoß das Resultat: einige Musiker, die Christof bis dahin mit seinen Sarkasmen verfolgt hatte, waren ganz verblüfft, ihn sich nach und nach besänftigen zu sehen und ihn schließlich ihr Loblied singen zu hören. Die Zeitschrift schwamm in Wonne. Mannheim las ihnen die Erzeugnisse seiner nächtlichen Arbeiten vor; schallendes Gelächter ertönte. Ehrenfeld und Goldenring sagten manchmal zu Mannheim:

»Nimm dich in acht! Du gehst zu weit!«

»Keine Gefahr!« antwortete Mannheim.

Und er trieb es immer schöner.

Christof merkte nichts. Er kam auf die Zeitschrift, brachte sein Manuskript und kümmerte sich um nichts weiter. Manchmal geschah es, daß er Mannheim bei Seite zog:

»Diesmal hab ichs den Kanaillen ordentlich gegeben. Lies einmal: …«

Mannheim las.

»Nun, was sagst du dazu?«

»Entsetzlich! mein Lieber, du läßt nichts mehr übrig!«

»Was meinst du, was sie sagen werden?«

»O, es wird einen Heidenlärm geben!«

Aber es gab durchaus keinen Heidenlärm. Im Gegenteil, die Gesichter um Christof klärten sich auf; Leute, die er verabscheute, grüßten ihn auf der Straße.

Einmal erschien er unruhig und mit krauser Stirn in der Redaktion; er warf eine Visitenkarte auf den Tisch und fragte:

»Was soll das heißen?«

Es war die Karte eines Musikers, dem er gerade das Genick gebrochen hatte, und auf der Karte stand:

»Mit vielem Dank.«

Mannheim antwortete lachend:

»Er ist ironisch.«

Christof war erleichtert:

»Uff!« meinte er, »ich hatte schon Angst, mein Aufsatz mache ihm Vergnügen.«

»Er ist wütend,« sagte Ehrenfeld; »aber er will sich nichts merken lassen: er spielt den Überlegenen, er spöttelt.«

»Er spöttelt? … Der Schweinehund!« meinte Christof, von neuem empört. »Ich werde ihm einen andern Artikel schreiben. Wer zuletzt lacht, lacht am besten!«

»Nein, nein,« sagte Waldhaus besorgt. »Ich glaube gar nicht, daß er sich lustig macht. Das ist Demut, er ist ein guter Christ: man schlägt ihn auf eine Backe, er hält die andere hin.«

»Noch besser!« rief Christof. »So ein Feigling! Nun, er soll seine Tracht Prügel bekommen!«

Waldhaus wollte sich ins Mittel legen. Aber die andern lachten.

»Laß doch …« sagte Mannheim.

»Na schließlich …« meinte Waldhaus plötzlich wieder besänftigt: »Ein bißchen mehr oder weniger! …«

Christof ging fort. Die Verschworenen ergingen sich in Luftsprüngen und tollem Gelächter. Als sie sich ein wenig beruhigt hatten, sagte Waldhaus zu Mannheim:

»Immerhin, du, es hätte wenig gefehlt … Gib bitte acht! Er wird uns noch ertappen.«

»Ph!« meinte Mannheim. »Wir haben noch schöne Zeiten vor uns … Und dann werbe ich ihm ja Freunde!«

 

Während die Waldhaussche Zeitschrift Christof den schlechtsten Dienst erwies, ihn die Mängel deutscher Musik übertrieben stark fühlen zu lassen und was ihn von seinen Landsleuten trennte, vor sich selbst aufzubauschen, – lernte er durch seine Eintagsfreunde auch ein wenig von der zeitgenössischen Literatur in Deutschland kennen; und er beurteilte sie mit demselben Übereifer.

Bis dahin hatte er ganz außerhalb der literarischen Strömungen gelebt. Seine Erziehung war sehr unvollständig geblieben: Zu Haus hatte er gar keine Bücher außer ein paar vereinzelten Bänden, den Trümmern aus Großvaters Bibliothek und einem Stoß Bändchen aus einer populären Zwanzig-Pfennig-Sammlung, die Christof aufs Geratewohl zusammenkaufte, auf seine Spaziergänge mitschleppte und hier- und dorthin verstreute. Seit den fernen Tagen bei Frau von Kerich, die ihm Schiller, Goethe und Shakespeare offenbart hatte, war er in seiner Lektüre nicht geleitet worden; er ging aufs Geratewohl vor. Pfennig auf Pfennig hatte er zusammengespart, um sich eine schöne Ausgabe Shakespeares zu kaufen, – den er von allen Menschen auf der Welt am meisten liebte. Einige Stücke von Kleist und Hebbel, die er gelegentlich hatte spielen sehen, hatten einen Zauber auf ihn ausgeübt, gegen den er sich wehrte. Im ganzen war es also bei den großen deutschen Klassikern geblieben, – außer ein paar Ausnahmen wie Keller, von dem er zufällig einige Seiten kennen gelernt hatte und der ihm bald ein alter Freund geworden war. Übrigens hatte er wenig Zeit zum Lesen. Er kam kaum je aus seiner Musik heraus, und die Musik ist gegen die andern Künste fast immer im Rückstand: denn ihr Gebiet liegt in den Tiefen der Seele, wo wie auf Meeresgrund die Sturmbewegungen der Oberfläche sich nur langsam weiterpflanzen.

So war er sehr überrascht, als er merkte, daß seine Ideen, die ihm im Vergleich mit denen der Musiker, unter welchen er lebte, recht vorgeschritten vorkamen, in der Literatur seit langem gangbare Münze waren, ja sogar ein wenig abgenutzt klangen, – besonders aber war es so im Theater, das auf ihn wie auf die meisten seiner Landsleute eine ganz eigentümliche Anziehungskraft ausübte. Der Naturalismus war nicht nur angegriffen, er war überwunden. – Man befand sich zur Zeit in jener Periode geistiger Mattheit, die dem kurzen und glühenden Aufschwung der Freien Bühne in Berlin folgte. Alle Sympathien Christofs gehörten, sobald er sie kennen lernte, dieser Bewegung, die mit seinem Glauben an die Natur und seinem Wahrheitsdurst übereinklang, wie auch mit seinen augenblicklichen aufrührerischen Gefühlen gegen verlogenen Idealismus, gegen den Erfolg eines Wildenbruch, des zum Haustier gewordenen Schiller, des am Narrenseil geführten Idealisten, des patentierten Shakespeare der Siegesallee. Er stürzte sich gierig über die Bücher, die Mannheim ihm lieh; und er wurde zunächst von dem für ihn so neuen Klang der Wahrheit, der aus den Stücken Halbes, Schlafs, Hirschfelds und vor allem Hauptmanns widerhallte, ergriffen. Gewisse Szenen dieses letzteren, gewisse Dialoge, gewisse Pausen und die Abenddämmerstimmung, in der bei ihm Seelen und Dinge baden, bewegten ihn unsagbar.

Je mehr er aber in seinen Lesestreifzügen vordrang, um so mehr fühlte er Unbehagen, Gepeinigtsein und wachsenden Ärger. Still und trübe wie ein undurchsichtiger Nebel ballte sich rings um ihn farblose Atmosphäre. Schweigsam, dünn und beständig drang sie in ihn ein. Durch alle seine Poren saugte sie sich fest; gleich einem bleiernen Ornat hüllte erdrückende Stimmung die Seele ein, machte sie blind, erstickte sie. Ein beständiger Spuk lastete auf allen diesen Geschöpfen, – eine Art Behextheit. Alle erlagen der erblichen Belastung von Unglück oder Sünde: Alkoholismus, Nervenkrankheiten, Schwermut, Sadismus; alle litten unter ihrem Erbteil und keiner wagte dagegen anzukämpfen. Wie eine der großen Seuchen des Mittelalters, die Nationen verschlangen, so waren sie von allen Krankheiten des Willens befallen …

Willenslosigkeit: die Erbkrankheit in Deutschland! Die Größten waren ihr nicht entronnen, – selbst der Größte von allen, der göttliche Goethe nicht, des verschwommenen Lichtes Genie, der seine allumfassende Unschlüssigkeit ins Wundervolle umgestaltete: der majestätische Strom, der alle Wasser der Erde wälzte, in dem die ganze Welt sich spiegelte, – auch er war schließlich im Sande verlaufen – wie der Rhein.

Und diese Willenskrankheit, die Preußen im Lauf des Jahrhunderts siegreich mit dem Eisen bekämpft hatte, kam jetzt heftiger als je wieder zum Vorschein. Man hätte meinen können, daß die ganze Kraft der Nation sich in zwei oder drei gewaltigen Erscheinungen – einem Bismarck, einem Wagner – verausgabt habe und daß nach diesem mächtigen Ausbruch von Felssteinen und kochender Lava nicht mehr genug Feuer unter der entspannten und erkalteten Schlackenkruste Deutschlands blieb. Wie oft verbirgt die gigantische Energiespannung in diesem Hamlet-Deutschland nicht schwankende Seelen, wurzellose Willen, Intelligenzen, die dem Handeln nicht gewachsen sind und beständig nahe daran sind, im Wahn zu kentern! … Die neue Literatur entschleierte schamlos dies tiefe Seelenübel. Alle Helden dieser Dichter waren wie der von Jean Paul, der Mensch mit den drei Seelen und ohne einen einzigen Willen.

»Wille! Wille! …« seufzte einer unter ihnen. Man kann wollen und noch einmal wollen und hundertmal wollen, das ändert doch nichts. Die Dinge gehen, wie sie gehn … Gott! Wille! Wille!

Atomartige Wesen waren sie alle, Moleküle von Geschöpfen, verzettelte, ungewisse, widerspruchsvolle Seelen, gestaltlos und zerfließend wie Quallen. Sie reagierten auf nichts. Höchstens wehrten sie sich mit kleinen Schreien wie unterm nächtlichen Alpdruck gegen die lähmende Ohnmacht … Wieviel Entgleiste, Verlorene, wieviel Zusammenbrüche, wieviel Hinsiechen und Selbstmorde! … Gott! waren sie denn alle im voraus Besiegte? Nicht einer, der den Kampf gegen diese »Natur« aufzunehmen wagte, von der sie alle mit kindlichem Entsetzen sprachen? – Als ob ein machtvoller Wille nicht auch »Natur« wäre, als ob es nicht möglich wäre, ihn mitzureißen, zu bewaffnen, ihn zu Kampf und Sieg zu führen! …

Vererbung! Vererbung! Sie führten nur dies eine Wort im Munde. Pedantisch wiederholten sie die Kurpfuscher-Wissenschaft, die sie von Zola und Ibsen aus wer weiß was für einem Handbuch gelernt hatten und die sie, voller Begeisterung über das neu erworbene Wissen, wie der Bourgeois gentilhomme eiligst den andern auseinandersetzten, bevor sie selber sie noch recht verstanden hatten. Gleich den Toren, die alle Krankheiten in sich entdecken, sowie sie ein medizinisches Diktionär durchblättern, waren sie Vererbungs-Besessene geworden. Sie vergeudeten ihre Zeit damit, sich gegenseitig abzutasten, in sich und an anderen erbliche Mängel zu entdecken. Sie wurden von ihrem Wahnsinn verzehrt: überall sahen sie Gespenster; sie wurden zu Gespenstern; vor dem Leben und dem Verheiraten hatten sie Furcht. Manchmal brachten es diese Feiglinge in ihrer schmachvollen Angst dahin, jedes menschliche Gefühl zu verlieren: wie der traurige Held Hauptmanns, Alfred Loth, der die Wesen, welche ihm am teuersten waren, wie Pestkranke verläßt, als er sie leiden sieht und sie im Verdacht hat, von erblicher Krankheit befallen zu sein. Am liebsten hätte er sie, wie im Mittelalter, aus Furcht vor der Ansteckung eingemauert. Man wußte nicht, was widerlicher war, seine Feigheit oder sein ungebändigter Egoismus. Christof, der ja selber auch ein »Gespenst« war, empörte sich gegen diese Lumpen, die nicht einmal damit zufrieden waren, selbst gemein zu sein und aus der Schlacht zu fliehen, sondern alles taten, um die, welche tapfer gegen ihre erbliche Belastung ankämpften, niederzuschmettern. Er, der in seinen Tiefen den väterlichen Alkoholismus, die dunklen Brünste, die Wahnbilder und Brutalitäten seiner flämischen Vorfahren grollen fühlte, auch er kannte die Raubtiere der Erblichkeit: sie lauerten ihm auf, sie gaben ihm mit hängender Zunge und gespitzten Fangzähnen das Geleit; er vernahm ihren Atem in seinem Rücken; er wußte, schwankte er, so würden sie sich auf ihn werfen. – Aber er schwankte nicht! Und das Bewußtsein der Gefahr spannte seine Kräfte, anstatt sie niederzudrücken, und erfüllte ihn mit heldenmütiger Begeisterung.

Diese von Entsetzen niedergeschmetterten Jammerlappen aber waren im Gegenteil wie eine Herde zum Tode Verurteilter, die darauf wartet, daß man sie schlachtet. – Und doch waren sie noch die Besten unter allen, die Aufrichtigsten: sie hatten aus der Lüge herauskommen wollen, hatten die Heuchelei sozialer Einrichtungen und pharisäischer Seelen mit ihrem Blick durchbohrt. Wer es schien eine Art Schicksal, daß unter allen Deutschen diese Vorkämpfer der Wahrheit die Schwächsten und Kränklichsten waren. Die Tatmenschen standen an anderm Platz. Sie hatten Besseres zu tun. Sie schmiedeten das Kaiserreich.

Und wie kam übrigens auch bei diesem »Jungdeutschland«, das einem neuen Wahrheitsideal ergeben war, immer wieder der alte Urgrund der Rasse unter der Schminke zum Vorschein! Plötzlich fand man, wider ihren Willen, die germanische Sentimentalität wieder, Geheimnistuerei, rätselvolle und melodramatische Gebärden, romantisch-mystische Kindlichkeiten, eine Kleine-Mädchen-Romantik, eine Sucht nach gefühlvollen Ergüssen. Immer sehnsuchtsvolle, schmachtende, einsame Seelen, sogenannte unverstandene große Männer, unheilvolle Frauen, – Frauen vom Meer: Und ewig schlammiger Grund, Triebsand und Nebel des Herzens, das »Grau in Grau des Nordens« die unerträgliche Langweile. – »Vor Sonnenaufgang« war das erste Werk des deutschen Realismus genannt. Die Sonne war noch immer nicht aufgegangen. So wie einer ihrer Dichter sang:

»Grau der Himmel,
grau die See
und grau
das Herz.«

Und natürlich war die schöne Tat der Wahrheit in der Kunst bald von ihren schwachen Verteidigern im Stich gelassen. Wie wenig Seelen waren imstande gewesen, sie lange zu ertragen! Selbst die Anführer der Bewegung, die wenig zahlreichen wirklich aufrichtigen Realisten – es waren ihrer höchstens drei oder vier – hatten sich unter der allzu schweren Last der Wahrheit geduckt. Müde ließen sie sich in das Althergebrachte zurücksinken; sie schlossen Vergleiche. Und nun kam eine Reaktion von falschestem Idealismus auf, ein Neoidealismus blasierter Literatur, die nicht einmal mehr die Entschuldigung hatte, an den lebendigen Quellen der Nation zu schöpfen, die mehr Genuß an fremdem, seltenem Trank fand, und um ihren Durst stets zu reizen, Maeterlinck und Nietzsche, Ibsen und D´Annunzio, Verlaine und Oskar Wilde sonderbar mischte. Sie nannten sich Dionysier und Befreite des Scheins, was ihnen freies Spiel gab, dem Leben den Rücken zu drehen und nach ihrem Belieben von einem zum andern zu schweifen. Damit nur ja nichts ihre schlafwandlerischen Visionen störe, beschrieben sie die Welt mit geschlossenen Augen. Sie fürchteten dem Blick der Gorgo zu begegnen – dem blendenden Angesicht der Wirklichkeit. Sie mühten sich, zwischen sich und ihrem Denken einen Schleier durchsichtiger Gaze zu spannen (so wie es einer unter ihnen für Zuschauerraum und Bühne vorgeschlagen hatte, um das Schauspiel zu mildern und das gefürchtete Leben in unschädliche Ferne zu rücken). Das große Publikum schaute dieser Geschmackswendung mit vollkommener Ruhe zu. Es war durch nichts zu verwundern; alles schien ihm gut: Naturalismus, Symbolismus, Klassiker, Romantiker, respektlose Jüdeleien, offizielle Speichelleckereien, Vaudevilles, Tendenzstücke und französische Schweinereien; es wollte alles, was man wollte, und mit unermüdlich gleichmäßigem Wohlgefallen folgte es allen ungereimten Gedankensprüngen, die statt seiner dachten:

»Siehst du da unten die Wolke, die wie ein Kamel aussieht?«

»Bei Gott, man könnte wirklich meinen, sie sei ein Kamel.«

»Ich würde sie eher für ein Wiesel halten.«

»Ja, ja, sie ist jetzt ganz wie ein Wiesel.«

»Oder wie ein Besen?«

»Ganz wie ein Besen.«

Und unter denen, die ein Erwachen der Nation prophezeit hatten, erklärte mehr als einer voller Bitterkeit, daß er sich getäuscht habe, daß die Schlacht verloren sei, ohne Einschränkung verloren, daß Lüge, Schlendrian und Fingerfertigkeit gesiegt hätten. Der Abend war wieder niedergesunken, und es war nicht Tag geworden. Einige fahle Sonnenstrahlen inmitten des Nebels, – und von neuem Dämmerung, trüber Schein schwankender Kerzen, verschwimmende seltsame Schatten, die über die Mauer gleiten, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie eine vom Wind gewundene Fackel flackerte das Wahnsinnsphantom des großen Nietzsche in licht- und lustlosen unterirdischen Räumen, wühlte und grub in seiner Mine, schrie, daß der Tag nahe sei, daß die Morgenröte zu leuchten begänne, und versank, um sie zu suchen, mit fanatischem Gelächter tiefer in den Eingeweiden der Nacht. Von seinem roten tanzenden Widerschein war die ganze Höhle erhellt. Dann hatte ein eisiger Wind die Fackel ausgeblasen und alles war erloschen. – O Licht! …

Christof floh die Grube und die erstickende Nacht. Er hatte es eilig, um in die lichte Welt zurückzukehren

… ritornur nel chiaro mondo …

und die schönen Dinge, die den Himmel tragen, zu schauen …

 … le cose belle
che porta il ciel …


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