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III

Vier oder fünf Monate vor diesen Begebenheiten hatte Frau Josepha von Kerich, seit kurzem Witwe des Staatsrats Stephan von Kerich, Berlin verlassen, wo ihres Mannes Dienststellung sie bis dahin festgehalten hatte, um sich mit ihrer Tochter in der kleinen rheinischen Stadt, ihrem Heimatort, niederzulassen. Dort hatte sie ein altes Familienbesitztum mit parkähnlichem, großem Garten erworben, der am Hügel entlang bis zum Fluß hinabreichte und sich nicht weit von Christofs Wohnhaus befand. Christof sah aus seiner Mansarde die schweren Zweige der Bäume, die über die Mauer hingen, und den hohen Giebel des roten Daches mit seinen bemoosten Ziegeln. Ein kleines abschüssiges Gäßchen, das man kaum je benutzte, führte rechts am Park entlang; wenn man auf einen Stein kletterte, konnte man von dort aus über die Mauer sehen. Christof ließ sich das nicht entgehen. Er sah dann die vom Unkraut überwucherten Alleen, die Rasenplätze, die wilden Feldern glichen, die in wirrem Durcheinander stehenden alten Bäume und die weiße Hausfassade mit ihren trotzig geschlossenen Jalousien. Ein- oder zweimal jährlich kam ein Gärtner, um die Runde zu machen und das Haus zu lüften. Doch gleich darauf nahm die Natur wieder Besitz vom Garten, und alles sank in Schweigen zurück.

Dieses Schweigen machte auf Christof tiefen Eindruck. Gar oft kletterte er heimlich auf seinen Beobachtungsposten. In dem Maße, als er größer wurde, reichten zunächst seine Augen, dann seine Nase, dann sein Mund bis zur Mauerkante empor; jetzt langten, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, sogar schon seine Arme hinüber. Und trotz der unbequemen Stellung, blieb er so, das Kinn auf die Mauer gestützt, schaute und lauschte, während der Abend über die Rasenflächen seine sanften goldenen Wellen ergoß, die im Dunkel der Tannen bläulichen Widerschein entzündeten. Er verträumte sich da, bis er in der Straße Schritte nahen hörte. Des Nachts schwebten Düfte ringsum den Garten: vom Flieder im Frühling, von den Akazien im Sommer, von totem Laub im Herbst. Kehrte Christof abends auch noch so müde vom Schloß heim, so blieb er doch, um den köstlichen Hauch zu trinken, nahe seiner Tür noch stehen; und es wurde ihm schwer, sein stickiges Zimmer aufzusuchen. Oft hatte er sich auch – zur Zeit, als er noch spielte – auf dem kleinen grasbewachsenen Platz vor der Einfahrt zum Hause Kerich getummelt. Zu beiden Seiten der Pforte erhoben sich zwei hundertjährige alte Kastanien; Großvater hatte sich oft in ihren Schatten gesetzt und seine Pfeife geraucht, und die Früchte dienten den Kindern zu Wurfgeschossen und Spielzeug.

Eines Morgens, als er das Gäßchen durchschritt, kletterte er aus alter Gewohnheit auf seinen Prellstein. Er dachte an andere Dinge und schaute zerstreut umher. Schon wollte er wieder herabsteigen, als er die Empfindung von irgend etwas Ungewöhnlichem hatte. Er wandte die Augen dem Haus zu: die Fenster standen weit offen; die Sonne fiel ins Innere; und obgleich man niemand sah, erschien die alte Behausung aus fünfzehnjährigem Schlaf erweckt und des Erwachens froh. Christof kehrte in Verwirrung heim.

Bei Tisch sprach der Vater von dem, was die ganze Nachbarschaft beschäftigte: von der Ankunft Frau von Kerichs mit ihrer Tochter und einer unglaublichen Menge von Gepäck. Der Platz unter den Kastanien war von Gaffern voll, die dem Ausladen der Wagen beiwohnen wollten. Christof wurde durch diese Nachricht, die am engen Horizont seines Lebens ein wichtiges Ereignis bedeutete, sehr neugierig gemacht. Auf dem Weg zu seiner Arbeit versuchte er nach den Berichten seines Vaters sich die Bewohner des verwunschenen Hauses – phantastisch wie immer – auszumalen. Dann nahm ihn seine Tätigkeit so in Anspruch, daß er alles vergaß, bis ihm am Abend, als er schon im Begriff war, heimzukehren, das Ganze wieder einfiel; seine Neugierde trieb ihn, auf seinen Beobachterposten zu steigen, um zu erspähen, was hinter den Mauern vorgehe. Er sah aber nichts als friedliche Alleen, deren reglose Bäume unter den letzten Sonnenstrahlen zu schlummern schienen. Nach wenigen Minuten war ihm die Erinnerung an den Gegenstand seiner Neugierde entschwunden und er überließ sich, wie immer, dem süßen Reiz der Stille ringsum. Aufrecht, in unsicherer Schwebe auf der Spitze des Steins, pflegte er auf diesem wunderlichen Platz zu träumen. Nach dem häßlichen, stickigen, dunklen Gäßchen hatten die durchsonnten Gärten für ihn einen magischen Strahlenglanz. Sein Geist trieb willenlos durch die harmonischen Weiten, Melodien sangen in ihm, er entschlummerte in ihnen, vergaß Zeit und Dinge und war nur darauf bedacht, nichts vom Geflüster seines Herzens zu verlieren.

So träumte er mit offenen Augen und Mund, und hätte nicht sagen können, wie lange er geträumt hatte; denn er sah nichts. Plötzlich zuckte er zusammen. Vor ihm, an der Biegung einer Allee, standen zwei Frauen und schauten ihn an. Die eine – eine junge Dame in Schwarz mit feinen unregelmäßigen Zügen, aschblondem Haar, groß, elegant, ein unbekümmertes Sichgehenlassen in der Kopfhaltung, beobachtete ihn mit wohlwollenden und belustigten Augen. Die andere – ein junges Mädchen von etwa fünfzehn Jahren, gleichfalls in tiefer Trauer, machte ein Gesicht wie ein Kind, das von toller Lachlust überfallen wird; ein wenig hinter ihrer Mutter, die ihr, ohne sie anzusehen, ein Zeichen machte, sich still zu verhalten, versteckte sie den Mund in ihren Händen, als hätte sie alle erdenkliche Mühe, das Lachen zu bezwingen. Sie war ein kleines Persönchen mit frischem Gesicht; weiß, rosig und rund; sie hatte eine kleine, etwas dicke Nase, einen kleinen, etwas derben Mund, ein kleines, rundes Kinn, feine Brauen, klare Augen und eine Unmenge blonder Haare, die zu Zöpfen geflochten sich im Kranz um ihren Kopf legten, einen runden Nacken und eine glatte weiße Stirn freilassend – ein Gesichtchen von Cranach.

Christof war von dieser Erscheinung wie gebannt. Anstatt sich davonzumachen, blieb er mit weit offenem Mund wie festgenagelt am Platz. Erst als er die junge Dame mit ihrem liebenswürdig spöttischen Lächeln einige Schritte auf sich zukommen sah, riß er sich aus seiner Reglosigkeit und sprang – purzelte – in das Gäßchen hinunter, wobei er den ganzen Verputz mit sich fegte. Hinter sich hörte er eine wohlwollende Stimme, die ihn vertraulich anrief: »Kleiner!« und ein Kinderlachen, das klar und plätschernd wie eine Vogelstimme war. Auf Händen und Knien kam er in dem Gäßchen wieder zu sich; und nach einer Sekunde der Bestürzung rannte er mit langen Schritten davon, als habe er Angst, verfolgt zu werden. Er schämte sich; und diese Scham überfiel ihn immer wieder von neuem, auch als er sich allein zu Hause in seinem Zimmer befand. Seitdem wagte er aus lächerlicher Furcht, man könne ihm, um ihn zu sehen, auflauern, nicht mehr durch das Gäßchen zu gehen. Wenn er gezwungen war, sich in die Nähe des Hauses zu wagen, strich er mit gesenktem Kopf daran vorbei, ja er rannte fast, ohne sich je umzuwenden, vorüber. Dabei dachte er unaufhörlich an die beiden Erscheinungen, die er gesehen hatte; er stieg auf den Boden, wobei er, um nicht gehört zu werden, die Schuhe auszog, und schaute durch die Dachluke nach der Seite des Kerichschen Besitztums, obgleich er ganz genau wußte, daß es unmöglich war, irgend etwas anderes als das Laubdach der Bäume und die Schornsteine zu entdecken.

Ungefähr einen Monat darauf spielte er an einem der wöchentlichen Abende des Hofmusikvereins ein von ihm komponiertes Konzert für Klavier und Orchester. Es war ungefähr in der Mitte des letzten Teils, als er zufällig in der Loge sich gegenüber Frau von Kerich und ihre Tochter erblickte, die ihn anschauten. Darauf war er so wenig vorbereitet, daß er ganz benommen wurde und beinahe seinen Orchestereinsatz verpaßt hätte. Mechanisch spielte er das Stück zu Ende. Als es vorbei war, sah er, obgleich er vermied nach jener Seite zu schauen, wie Frau und Fräulein von Kerich leicht übertrieben klatschten, als ob sie wollten, daß er sie applaudieren sähe. Da beeilte er sich, vom Podium zu kommen. Im Augenblick, als er im Begriff stand, das Theater zu verlassen, bemerkte er im Gang, durch wenige Reihen von Menschen von ihm getrennt, Frau von Kerich, die ihn zu erwarten schien. Es war unmöglich, sie nicht zu sehen: er tat dennoch, als bemerkte er sie nicht; und indem er plötzlich Kehrt machte, ging er eilig durch die Hintertür des Theaters hinaus. Gleich darauf bereute er es; denn er sah wohl, daß Frau von Kerich ihm durchaus nicht übel gesinnt war. Aber er wußte, daß, wenn es noch einmal geschähe, er noch einmal dasselbe tun würde. Er hatte eine wahre Angst davor, sie in der Straße zu treffen. Wenn er von fern eine Gestalt entdeckte, die ihr glich, nahm er einen andern Weg.

 

Sie war es, die zu ihm kam. Sie suchte ihn in seiner eigenen Wohnung auf.

Eines Mittags, als er zum Essen heimkam, erzählte ihm Luise ganz stolz, daß ein Lakai in kurzen Hosen und Livree einen Brief an seine Adresse abgegeben habe; und sie reichte ihm ein großes schwarz gerändertes Kuvert, dessen Rückseite das Wappen der Kerichs trug. Christof öffnete es und zitterte davor, gerade das zu lesen, was darin stand:

»Frau Josepha von Kerich bittet Herrn Hofmusikus Christof Krafft, heute nachmittag um fünf ein halb Uhr den Tee bei ihr freundlichst nehmen zu wollen.«

»Ich werde nicht hingehen,« erklärte Christof.

»Wie!« schrie Luise entsetzt. »Ich habe gesagt, du würdest kommen.«

Christof machte seiner Mutter eine Szene und warf ihr vor, sie mische sich in alles, was sie nichts anginge.

»Der Diener wartete auf Antwort; ich sagte, daß du gerade heute frei wärst. Du hast zu der Zeit nichts vor.«

Wenn Christof sich auch noch so sehr ärgerte und schwor, daß er nicht gehen würde, so konnte er jetzt nicht mehr gut absagen. Als die Einladungsstunde kam, machte er sich mißlaunig fertig: im geheimen aber war er gar nicht böse, daß der Zufall seinem widerstrebenden Willen Gewalt antat.

Frau von Kerich hatte ohne Mühe in dem Pianisten des Konzertes den kleinen Wilden wiedererkannt, dessen struppiger Kopf ihr am Tage ihrer Ankunft über ihrer Gartenmauer erschienen war. Sie hatte in der Nachbarschaft Erkundigungen über ihn eingezogen; und was sie von Christofs Familie und dem schweren und tapferen Leben des Kindes in Erfahrung gebracht, hatte ihr Interesse eingeflößt und sie neugierig darauf gemacht, ihn zu sprechen.

Christof war krank vor Schüchternheit, als er in einen lächerlichen Gehrock gepreßt, in dem er wie ein Landpastor aussah, das Haus erreichte. Er versuchte sich einzureden, daß die Damen von Kerich am ersten Tag, als sie ihn gesehen, nicht die Zeit gehabt hätten, seine Züge zu erkennen.

Ein Diener führte ihn durch einen langen Korridor, dessen Teppich das Geräusch der Schritte erstickte, in ein Zimmer mit einer Glastür, die zum Garten führte. Der Tag war kühl; ein kleiner Regenschauer fiel; im Kamin brannte ein kräftiges Feuer. Am Fenster, durch das man die Silhouetten der triefenden Bäume im Nebel erblickte, saßen die beiden Damen. Als Christof eintrat, hielt Frau von Kerich eine Handarbeit auf dem Schoß, während ihre Tochter aus einem Buche vorlas. Als sie ihn sahen, tauschten sie einen schelmischen Blick.

»Sie erkennen mich«, dachte Christof ganz verdutzt.

Er machte eine ungeschickte Verbeugung nach der andern.

Frau von Kerich lächelte belustigt und streckte ihm die Hand entgegen:

»Guten Tag, lieber Nachbar,« sagte sie. »Ich freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen. Seit ich Sie im Konzert gehört, hatte ich nur den einen Wunsch, Ihnen zu sagen, welch großes Vergnügen Sie mir bereitet haben. Und da das einzige Mittel, Ihnen das aussprechen zu können, war, Sie hierher zu bitten, so hoffe ich, Sie werden mir verzeihen, daß ich es angewandt habe.«

In diesen liebenswürdigen Worten lag, trotz ihrer Alltäglichkeit und einer kleinen versteckten Dosis Ironie, soviel Herzlichkeit, daß Christof sich wieder sicher fühlte.

»Sie erkennen mich nicht,« dachte er erleichtert.

Frau von Kerich stellte ihre Tochter vor, die inzwischen das Buch geschlossen hatte und Christof neugierig beobachtete.

»Meine Tochter Minna,« sagte sie, »die sich sehr wünschte, Sie kennen zu lernen.«

»Aber Mama,« sagte Minna, »wir sehen uns doch heute nicht zum erstenmal.«

Und sie brach in Lachen aus.

»Sie haben mich wiedererkannt,« dachte Christof ganz niedergeschlagen.

»Richtig«, meinte Frau von Kerich, gleichfalls lachend, »Sie haben uns ja am Tage unsrer Ankunft schon einen Besuch abgestattet.« Bei diesen Worten lachte das junge Mädchen von neuem; Christof machte ein so jämmerliches Gesicht, daß Minna bei seinem Anblick noch lauter losplatzte, ja sie weinte fast vor Lachen. Frau von Kerich wollte ihr Einhalt gebieten, konnte aber nicht anders, als mit in die Fröhlichkeit einzustimmen; und schließlich wurde Christof, trotz seiner Verlegenheit, selbst davon angesteckt. Ihre gute Laune war unwiderstehlich: man konnte sie unmöglich übelnehmen. Doch verlor er aufs neue ganz die Fassung, als Minna, nachdem sie sich wieder gefaßt, ihn fragte, was er denn eigentlich auf ihrer Mauer anfange. Er stotterte ratlos irgend etwas hervor, und Minna amüsierte sich über seine Verwirrung. Frau von Kerich kam ihm jedoch zu Hilfe, indem sie den Tee servieren ließ und so dem Gespräch eine andere Wendung gab.

Sie fragte ihn freundlich nach seinem Leben aus. Er aber fühlte sich noch immer recht unbehaglich. Er wußte nicht, wie er sitzen, und wie er seine Tasse, die stets umzukippen drohte, halten sollte; er glaubte sich verpflichtet, jedesmal, wenn man ihm Wasser, Mich, Zucker oder Kuchen anbot, sich schleunigst zu erheben und eine steife Verbeugung zu machen; dabei fühlte er sich in seinem Gehrock, seinem Kragen, seiner Krawatte wie in einen Schildkrötenpanzer gepreßt, wagte kaum den Kopf nach rechts oder links zu drehen, und konnte es eigentlich auch gar nicht. Die tausend Fragen, die Frau von Kerich an ihn richtete und ihre verbindlichen Formen betäubten ihn; unter Minnas Blicken, die er an seinen Zügen, seinen Händen, seinen Bewegungen, seiner Kleidung festgesogen fühlte, empfand er sich vollends wie erstarrt. Sie wollten es ihm gern gemütlich machen und verwirrten ihn nur immer mehr: Frau von Kerich durch den Schwall ihrer Worte, Minna durch kokette Seitenblicke, die sie ihm instinktiv, nur um sich zu amüsieren, zuwarf.

Endlich gaben sie es auf, irgend etwas anderes als Verbeugungen und Einsilbigkeiten aus ihm herauszuziehen; und Frau von Kerich, müde, die Kosten der Unterhaltung allein zu tragen, bat ihn, sich ans Klavier zu setzen. Viel schüchterner als vor einem Konzertpublikum, spielte er ein Mozartsches Adagio. Doch gerade diese Schüchternheit, die leise Befangenheit, die sein Herz in der Nähe dieser beiden Frauen zu empfinden begann, die harmlose Erregung, die seine Brust schwellte und ihn glücklich und unglücklich zugleich machte, paßten vortrefflich zu der Zartheit und jugendlichen Verschämtheit dieser Musik und verliehen ihr einen frühlingshaften Zauber. Frau von Kerich war ganz gerührt; sie lobte in einer überschwänglichen Art, wie sie Damen der Gesellschaft häufig eignet; darum war es aber nicht weniger aufrichtig gemeint, und selbst die Übertreibung war süß zu hören, wenn sie aus so reizendem Munde kam. Minna schwieg und sah mit schalkhaftem Erstaunen auf diesen Jungen, der sich so dumm anstellte, wenn er sprach, dessen Finger jedoch so beredt waren. Christof empfand die Zuneigung der Frauen und faßte sich ein Herz. Er spielte weiter; und halb zu Minna gewandt, sagte er mit befangenem Lächeln, ohne den Blick zu erheben:

»Jetzt sollen Sie hören, wie das auf der Mauer war.« Und er spielte ein kleines selbstkomponiertes Stück, in dem er wirklich die musikalischen Gedanken entwickelt hatte, die ihm auf seinem Lieblingsplatz beim Anblick des Gartens gekommen waren, wenn nicht gerade an jenem Abend, an dem er Minna und Frau von Kerich gesehen hatte – obgleich er aus irgendeinem dunkeln Grund, den nur sein Herz kannte, sich davon zu überzeugen versuchte – so doch an vorhergehenden Abenden; und so konnte man auch aus dem stillen Auf und Nieder dieses andante con moto die heiteren Erinnerungen an Vogelgesang, an das Summen der Insekten und an das feierliche Schweigen hoher Bäume im Frieden der untergehenden Sonne erkennen.

Seine beiden Zuhörerinnen lauschten voller Entzücken. Als er geendet hatte, stand Frau von Kerich auf, ergriff mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit seine Hände und dankte ihm mit Wärme. Minna klatschte in die Hände, schrie, es sei »wundervoll« gewesen und sie wolle ihm eine Leiter an die Mauer stellen lassen, damit er ganz nach seinem Belieben arbeiten und noch mehr solche »famosen« Werke schaffen könne. Frau von Kerich bat Christof, nicht auf die närrische Minna zu hören; er möge ihren Garten benutzen, so oft er nur wolle, da er ihn so liebe, und sie fügte hinzu, daß er nicht einmal seine Aufwartung zu machen brauche, wenn es ihn langweile.

»Sie brauchen uns nicht Ihre Aufwartung zu machen,« hielt Minna für gut hinzuzusetzen. »Aber wenn Sie es nicht tun, dann wehe Ihnen!« Dabei drohte sie ihm voll komischen Ernstes mit dem Finger.

Minna empfand durchaus keinen besonderen Wunsch nach Christofs Besuch, nicht einmal danach, daß er sich ihnen gegenüber zu den Regeln der Höflichkeit zwänge; aber es machte ihr Spaß diesen kleinen Effekt zu haschen, denn sie fühlte instinktiv, daß er ihr gut zu Gesicht stand.

Christof wurde vor Freude ganz rot. Vollends gefangen aber nahm ihn Frau von Kerich durch den Takt mit dem sie von seiner Mutter und seinem Großvater sprach, die sie früher gekannt hatte. Aus dem Wunsche heraus, sie so tief zu empfinden, bauschte er diese leichte Güte, diese gesellschaftliche Gnade vor sich selbst zu liebevoller Herzlichkeit auf und fühlte sich davon ganz durchdrungen. Mit kindlichem Vertrauen begann er von seinen Plänen, seinen Leiden zu erzählen. Dabei merkte er nicht, wie die Zeit verging, und sprang ganz entsetzt auf, als ein Diener erschien und meldete, das Diner sei angerichtet. Seine Verwirrung aber wandelte sich in Glück, als Frau von Kerich ihn nötigte, zum Essen bei ihnen, wie bei guten Freunden, zu bleiben. Man legte ihm sein Gedeck zwischen Mutter und Tochter; aber er gab bei Tisch eine weniger vorteilhafte Vorstellung seiner Talente als am Klavier. Diese Seite seiner Erziehung war sehr vernachlässigt worden; er schien zu glauben, daß bei Tisch Essen und Trinken die Hauptsache sei und es auf die Manieren wenig ankomme. Die wohl erzogene Minna sah ihm daher entrüstet mit verzogenem Mäulchen zu.

Man rechnete darauf, daß er sich gleich nach dem Essen verabschieden würde. Statt dessen folgte er ihnen in den kleinen Salon, setzte sich zu ihnen und dachte gar nicht ans Gehen. Minna unterdrückte ihr Gähnen und machte ihrer Mutter allerlei Zeichen. Er aber merkte es nicht, denn er war von seinem Glück berauscht und meinte, die andern müßten wie er empfinden, besonders da Minna rein aus Gewohnheit fortfuhr, ihm Äugelchen zu machen; – dann aber wußte er auch nicht recht, wie er, einmal auf seinem Platz, sich erheben und Abschied nehmen sollte. So wäre er die ganze Nacht sitzen geblieben, wenn Frau von Kerich ihn nicht mit liebenswürdiger Ungeniertheit schließlich selbst verabschiedet hätte.

Da ging er und trug in seinem Innern den lieblichen Wiederschein von Frau von Kerichs braunen und Minnas blauen Augen mit sich fort; noch fühlte er auf seiner Hand die feine Berührung der zarten, blumensanften Finger; und ein köstlicher Duft, den er nie zuvor geatmet hatte, hüllte ihn ein, betäubte ihn, nahm ihm fast die Besinnung.

 

Zwei Tage darauf erschien er, wie verabredet, wieder, um Minna eine Klavierstunde zu geben. Von da an stellte er sich unter diesem Vorwand regelmäßig zweimal wöchentlich am Vormittag ein. Und oft genug kam er abends nochmals, um zu musizieren und zu plaudern.

Frau von Kerich sah ihn gern; sie war eine kluge gutherzige Frau. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie ihren Mann verloren, und obgleich an Körper und Herz noch jung, hatte sie sich ohne Bedauern aus der großen Welt zurückgezogen, in der sie seit ihrer Heirat eine gewisse Rolle gespielt hatte. Vielleicht hatte sie sich um so leichter von ihr getrennt, als sie sich stets gut dort unterhalten hatte und klug genug war, einzusehen, daß man nicht zu gleicher Zeit Gegenwart und Vergangenheit genießen könne. Sie bewahrte Herrn von Kerich ein treues Gedenken, wenn sie auch zu keiner Zeit ihrer Ehe etwas wie Liebe für ihn empfunden hatte: eine warme Freundschaft genügte ihr; ihre Sinne waren ruhig, aber ihr Herz liebevoll.

Sie hatte sich ganz der Erziehung ihrer Tochter gewidmet; und dieselbe Kühle, die sie in der Liebe bewies, mäßigte auch, was die Mütterlichkeit oft an Übertriebenem und Krankhaftem hat, besonders wenn das Kind das einzige Wesen ist, auf das eine Frau ihre eifersüchtigen Bedürfnisse, zu lieben und geliebt zu werden, überträgt. Sie liebte Minna zärtlich, beurteilte sie aber mit Klarheit und verhehlte sich keine ihrer Unvollkommenheiten, ebensowenig, wie sie sich über sich selbst zu täuschen suchte. Geistreich und gescheit, wie sie war, hatte sie einen untrüglichen und schnellen Entdeckerblick für die Schwächen und Lächerlichkeiten eines jeden; daran fand sie, ohne eine Spur von Bosheit, großes Vergnügen; denn sie war ebenso nachsichtig wie spottlustig, und wenn sie sich auch über Leute lustig machte, so erwies sie ihnen doch gern auch allerlei Freundlichkeiten.

Der kleine Christof war ihrer Güte wie ihrem kritischen Geist eine willkommene Übung. In der ersten Zeit ihres Aufenthalts in der kleinen Stadt, während ihre tiefe Trauer sie von der Gesellschaft ausschloß, war ihr Christof eine Zerstreuung. Zunächst durch sein Talent. Wenn sie auch nicht musikalisch war, liebte sie doch die Musik; sie verschaffte ihr ein körperliches und seelisches Behagen, bei dem ihr Denken sich in eine sanfte Melancholie auflöste. Wenn sie so – während Christof spielte – leise lächelnd am Feuer saß, eine Handarbeit in den Händen, empfand sie das mechanische Auf und Ab ihrer Finger und dies lässige Dahinträumen, in dem allerlei Bilder aus der Vergangenheit an ihr vorüberschwebten, als stillen Genuß.

Mehr aber noch als für die Musik interessierte sie sich für den Musiker. Sie war intelligent genug, um Christofs seltene Begabung zu empfinden, wenn sie auch nicht fähig war, seine wahre Eigenart ganz zu beurteilen. Sie beobachtete voller Neugier das Erwachen der rätselhaften Flamme, die sie in ihm glimmen sah. Gar bald hatte sie seine guten Eigenschaften herausgespürt, seine Rechtlichkeit, seinen Mut und jenen gewissen Stoizismus, der bei Kindern so rührend ist. Nichtsdestoweniger betrachtete sie ihn aber doch mit dem gewöhnlichen Scharfblick ihrer spöttischen Augen. Sie lächelte über seine Tölpelhaftigkeit, seine Häßlichkeit und all das Komische an ihm; sie nahm ihn nicht ganz ernst, – wie sie überhaupt nicht vieles ernst nahm. Seine närrischen Einfälle, seine Heftigkeit, seine phantastischen Launen machten auf sie zunächst den Eindruck, als ob bei ihm nicht alles im rechten Gleichgewicht sei; sie sah in ihm einen jener Kraffts, die brave Leute und gute Musiker, aber alle ein wenig verrückt waren.

Diese leichte Ironie entging Christof; er fühlte nur die Güte Frau von Kerichs. Er war so wenig daran gewöhnt, daß man gut zu ihm war. Wenn auch seine Obliegenheiten im Schloß ihn in tägliche Beziehung zu der großen Welt brachten, so war der arme Christof doch ein kleiner Wilder ohne Bildung und Erziehung geblieben. Der Egoismus des Hofes gab sich nur mit ihm ab, um sein Talent auszunutzen, ohne jemals zu versuchen, ihm in irgend etwas dienlich zu sein. Er kam aufs Schloß, setzte sich ans Klavier, spielte und ging fort, ohne daß irgend jemand sich je Mühe gab, sich mit ihm zu unterhalten, es sei denn, um ihm ein banales und zerstreutes Kompliment hinzuwerfen. Niemand war seit Großvaters Tode, weder zu Hause noch außerhalb, je auf den Gedanken gekommen, seine Bildung zu fördern, ihn ins Leben einzuführen, ihn zum Mann zu erziehen. Er litt grausam unter seiner Unwissenheit und seinen schlechten Umgangsformen. Er mühte sich bis aufs Blut, sich ganz allein zu bilden; aber es gelang ihm nicht. Bücher, Unterhaltungen, Beispiele, alles fehlte ihm. Er hätte seine Bedrängnis einem Freunde gestehen müssen und konnte sich dazu nicht entschließen. Selbst Otto gegenüber hatte er es nicht gewagt, denn bei den ersten Worten hatte dieser einen Ton hochmütiger Überlegenheit angeschlagen, der ihn wie ein glühendes Eisen brannte.

Und siehe da, bei Frau von Kerich ging alles ungezwungen. Von selbst, ohne daß er nötig hatte, irgend etwas zu fragen, – was seinen Stolz soviel gekostet hätte – hielt sie ihm gütig vor, was er nicht tun dürfe, machte ihn darauf aufmerksam, was er zu tun hätte, gab ihm Ratschläge über die Art und Weise, sich zu kleiden, zu essen, zu gehen, zu sprechen, ließ ihm keinen Fehler in seinem Benehmen, seinem Geschmack, seiner Sprechweise durchgehen; und so leicht war ihre Hand, so bedacht, die Empfindlichkeit und den Argwohn des Knaben zu schonen, daß er unmöglich verletzt sein konnte. So bildete sie ihn auch literarisch, ohne daß sie den Anschein erweckte, sich darum zu kümmern; sie schien sich nicht über seine außergewöhnliche Unwissenheit zu wundern; aber sie ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um seine Irrtümer ganz einfach und ruhig aufzuklären, als wäre es ganz natürlich, daß er sich geirrt habe. Und anstatt ihn durch pedantische Lektionen zu verscheuchen, hatte sie sich ausgedacht, ihre abendlichen Zusammenkünfte damit auszufüllen, daß sie Minna oder ihn schöne Stellen aus der Geschichte oder aus deutschen und fremden Dichtern vorlesen ließ. Sie behandelte ihn wie das Kind im Hause, nur mit einer kleinen Nüance von Gönnertum, was er aber nicht bemerkte. Sie bekümmerte sich sogar um seine Kleidung, erneuerte sie, wenn nötig, strickte ihm ein Halstuch, schenkte ihm kleine Toilettegegenstände: und dies alles mit so viel Anmut, daß er sich durch solche Bemühungen und Geschenke nicht bedrückt fühlte. Kurz, sie umgab ihn mit all jenen kleinen Aufmerksamkeiten, jener liebevollen halb mütterlichen Fürsorge, die jede gütige Frau instinktiv für jedes Kind, das ihr anvertraut wird oder sich ihr anvertraut, bereit hat, ohne daß sie darum notgedrungen ein tieferes Empfinden für dasselbe gefaßt zu haben braucht. Christof aber glaubte, daß diese ganze Zärtlichkeit ihm persönlich gelte, und er verging fast vor Dankbarkeit; dies äußerte sich in jähen und leidenschaftlichen Ausbrüchen, die Frau von Kerich ein wenig lächerlich vorkamen, ihr aber trotzdem Vergnügen machten.

Zu Minna waren seine Beziehungen ganz andrer Art. Als er sie bei der ersten Unterrichtsstunde, noch ganz berauscht von den Erinnerungen des vergangenen Abends und den liebkosenden Blicken des jungen Mädchens, wiedergesehen hatte, war er höchst erstaunt gewesen, in ihr ein völlig anderes Persönchen zu finden, als das, welches er einige Stunden vorher gesehen hatte. Sie schaute ihn kaum an, hörte nicht, was er sagte, und erhob sie die Augen zu ihm, so las er eine so eisige Kälte in ihnen, daß er ganz betroffen wurde. Er quälte sich lange, um herauszubekommen, womit er sie beleidigt haben könnte. Aber beleidigt hatte er sie in nichts und Minnas Gefühle neigten sich ihm heute weder mehr noch weniger zu als gestern. Heute wie gestern war ihr Christof vollständig gleichgültig. Wenn sie sich das erstemal zu seinem Empfang mit einem Lächeln in Unkosten gestürzt hatte, so war es aus angeborner Mädchenkoketterie geschehen, der es Spaß macht, die Macht ihrer Augen beim ersten besten zu erproben, der sich ihrer Langeweile bietet, und sei es ein aufgeputzter Affe. Aber schon am nächsten Morgen hatte die allzu leichte Eroberung keinen Reiz mehr für sie. Sie hatte Christof beobachtet und ihn als einen häßlichen, armen, schlecht erzogenen Jungen erkannt, der zwar gut Klavier spielte, aber abscheuliche Hände hatte, seine Gabel bei Tisch in geradezu unglaublicher Art hielt und den Fisch mit dem Messer aß. So erschien er ihr sehr wenig interessant. Sie wollte gern Klavierstunden bei ihm nehmen, sie wollte sich sogar ganz gern mit ihm amüsieren, weil sie für den Augenblick keinen andern Gefährten besaß, und weil sie trotz ihres Wunsches, nicht mehr als Kind zu gelten, von Zeit zu Zeit eine tolle Lust zu spielen überfiel, ein Bedürfnis, ihren Überschuß an Frohsinn auszuleben; und dieser wurde, wie bei ihrer Mutter, durch den Zwang, den ihr die frische Trauer auferlegte, manchmal noch angestachelt. Aber sie kümmerte sich nicht mehr um Christof als um ein Haustier; und geschah es manchmal an Tagen ihrer schlimmsten Kälte doch noch, daß sie ihm plötzlich süße Blicke zuwarf, so war es reine Vergeßlichkeit, weil sie an etwas ganz anderes dachte, – oder auch, einfach, um nicht aus der Übung zu kommen. Christofs Herz bebte, wenn sie ihn so anschaute. Und dabei sah sie ihn kaum: sie lebte in einer Traumwelt. Das junge Ding war in einem Alter, in dem man seine Sinne mit angenehmen Träumen beständig umschmeichelt. Sie dachte ohne Unterlaß an die Liebe, mit einer Neugierde, die nur infolge ihrer Unwissenheit noch ganz unschuldig war. Übrigens träumte sie als wohlerzogenes Fräulein von Liebe nur im Hinblick auf eine Heirat. Die Gestalt ihres Ideals stand durchaus noch nicht fest. Bald träumte sie davon, einen Leutnant zu heiraten, bald war es ein Dichter von der erhabenen und makellosen Art eines Schiller. Ein Zukunftsplan stürzte den andern um; und jeder neue wurde stets mit gleichem Ernst gefaßt und mit derselben Überzeugtheit erwogen. Schließlich aber mußte einer wie der andre einer vorteilhaften Wirklichkeit Platz machen. Denn es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit romantische junge Mädchen gewöhnlich ihre Träume vergessen, wenn sich ihnen eine weniger ideale dafür aber sicherere Aussicht bietet. Übrigens war Minna bei aller Sentimentalität und Romantik ruhig und kühl. Trotz ihres aristokratischen Namens und des Stolzes, den ihr das Wörtchen »von« einflößte, hatte sie das Gemüt einer kleinen deutschen Hausfrau, – im köstlichen Alter der ersten Jugend.

 

Christof verstand natürlich nichts von dem komplizierten Mechanismus – komplizierter dem Anschein nach als in Wirklichkeit – eines weiblichen Herzens. Oft wurde er durch das Benehmen seiner schönen Freundinnen in Verwirrung gesetzt; aber er war in seiner Liebe zu ihnen so glücklich, daß er ihnen gern alles nachsah, was an ihnen beunruhigte und ein wenig traurig stimmte, nur um sich einzureden, daß er von ihnen ebenso geliebt werde, wie er sie liebte. Ein herzliches Wort oder ein liebevoller Blick setzten ihn in Verzückung. Manchmal wurde er dadurch so aus der Fassung gebracht, daß er in Tränen ausbrach.

In dem stillen kleinen Salon saß er am Tisch, wenige Schritte von Frau von Kerich entfernt, die beim Lampenschein nähte … (Minna las an der anderen Seite des Tisches vor; durch die geöffnete Gartentür sah man den Sand der Allee im Mondschein glänzen; ein sanftes Murmeln raunte von den Gipfeln der Bäume …). Da fühlte er sein Herz so von Glück geschwellt, daß er plötzlich grundlos von seinem Stuhl aufsprang, sich Frau von Kerich zu Füßen warf, ihre Hand, ob sie auch mit der Nadel bewaffnet war, ergriff und sie mit Küssen bedeckte, und unter Schluchzen seinen Mund, seine Wangen, seine Augen darauf preßte. Minna erhob die Augen von ihrem Buch, zuckte leicht mit den Schultern und zog ein Mäulchen. Frau von Kerich sah lächelnd auf den großen Jungen, der sich zu ihren Füßen wälzte, streichelte ihm mit der freien Hand den Kopf und sagte mit ihrer hübschen, herzlichen dabei spöttischen Stimme:

»Nun, mein großer Dummerjan, nun, was gibt's denn?«

O Süßigkeit dieser Stimme, dieses Friedens, dieser Stille, dieser köstlichen Atmosphäre, dieser Oase mitten im rauhen Leben, und – himmlisches Licht, das mit seinem Widerschein die Dinge und Wesen vergoldet – dieser Zauberwelt, die aus dem Lesen der göttlichen Dichter emporstieg! Goethe, Schiller, Shakespeare, Fluten der Kraft, des Schmerzes und der Liebe! …

Minna las, den Kopf über das Buch geneigt und das Gesicht vom Vorlesen leicht gerötet, mit ihrer frischen ein wenig lispelnden Stimme, der sie einen bedeutenden Ton zu geben versuchte, wenn sie die Worte von Kriegern und Königen sprach. Manchmal nahm auch Frau von Kerich selber das Buch; dann verlieh sie den tragischen Vorgängen die geistreiche und zarte Anmut ihres Wesens; meistens aber lauschte sie, in ihrem Stuhl zurückgelehnt, ihre ewige Handarbeit auf den Knien; sie lächelte zu ihren eignen Gedanken, denn in allen Werken fand sie stets sich selber wieder.

Auch Christof hatte zu lesen versucht; aber er hatte darauf verzichten müssen: er stotterte, verfing sich in den Worten, übersprang die Interpunktionen, schien nichts zu verstehen und war so gerührt, daß er bei den pathetischen Stellen innehalten mußte, weil er die Tränen kommen fühlte. Dann warf er das Buch verärgert auf den Tisch, und seine beiden Freundinnen lachten hell auf … Wie er sie liebte! Überall trug er ihr Bild mit sich, und dies Bild verschmolz mit Shakespeares und Goethes Gestalten. Fast vermochte er sie nicht auseinanderzuhalten. Manches köstliche Dichterwort, das auf dem Grund seines Wesens leidenschaftliche Schauer wachrief, wußte er nicht mehr von dem lieben Munde zu trennen, durch den er es zum erstenmal hatte vernehmen dürfen. Noch nach zwanzig Jahren konnte er Egmont oder Romeo nicht wieder lesen oder spielen sehen, ohne daß ihm bei bestimmten Versen die Erinnerung an diese stillen Abende von neuem auftauchte mit ihren Glücksträumen, mit den geliebten Gesichtern von Frau von Kerich und Minna. Stundenlang verbrachte er damit, sie anzuschauen, abends wenn sie vorlasen, – nachts, wenn er träumte oder wenn er in seinem Bett erwachte und mit offenen Augen dalag, – tagsüber am Orchesterpult, wenn er mit halbgeschlossenen Lidern ganz mechanisch spielte. Er empfand für beide die kindlichste Zärtlichkeit. Liebe kannte er noch nicht, aber er glaubte sich verliebt. Nur wußte er nicht genau, ob in die Mutter oder in die Tochter. Er prüfte sich ernsthaft, wußte aber nicht, welche er wählen sollte. Da er jedoch meinte, er müsse sich um jeden Preis entscheiden, so neigte er sich mehr Frau von Kerich zu. Und wirklich machte er, nachdem er sich für sie entschieden hatte, die Entdeckung, daß er sie liebe. Er liebte ihre klugen Augen, das zerstreute Lächeln ihres halboffenen Mundes, ihre hübsche Stirn, die mit dem seitlich gescheitelten feinen glatten Haar so jugendlich wirkte, ihre etwas verschleierte Stimme mit dem leichten Hüsteln, ihre mütterlichen Hände, die Eleganz ihrer Bewegungen und ihre fremde Seele. Er erschauerte vor Glück, wenn er neben ihr saß und sie ihm freundlich die Stelle eines Buches erklärte, die ihm unverständlich war; dabei stützte sie ihre Hand auf Christofs Schulter, und er fühlte die sanfte Wärme ihrer Finger, ihren Atem an seiner Wange, den süßen Duft ihres Körpers; er lauschte in seliger Verwirrung, dachte nicht mehr an das Buch und begriff nichts. Das merkte sie und bat ihn, zu wiederholen, was sie eben gesagt habe: er aber blieb stumm; dann schalt sie ihn lachend, drückte ihm die Nase ins Buch, und sagte, er werde sein Leben lang ein kleiner Esel bleiben. Worauf er erwiderte, das sei ihm ganz gleichgültig, vorausgesetzt, daß er ihr kleiner Esel wäre und sie ihn nicht von sich jagte. Sie tat, als mache sie Schwierigkeiten; schließlich aber sagte sie, wenn er auch nur ein böser und schrecklich dummer, kleiner Esel sei, so wolle sie ihn doch behalten – und vielleicht sogar lieb haben, – obgleich er zu gar nichts in der Welt gut sei, – höchstens ganz einfach ein guter Junge zu sein. Dann lachten sie beide, und er schwamm in Wonne.

 

Seitdem er entdeckt hatte, daß er Frau von Kerich liebe, zog sich Christof von Minna etwas zurück. Er fing an, sich über ihre hochmütige Kälte zu ärgern; und je öfter er sie sah, um so mehr gewann er an Sicherheit und freierem Benehmen und verbarg ihr seine schlechte Laune nicht. Sie reizte ihn gern durch kleine Sticheleien, und er antwortete dann derb darauf. Stets sagten sie sich unangenehme Dinge, über die Frau von Kerich nur lachte. Doch war Christof in diesem Wortkampf nicht der Überlegene und wurde dadurch oft so aufgebracht, daß er meinte, er könne Minna nicht ausstehen; er redete sich ein, daß er nur Frau von Kerichs wegen immer wieder komme.

Er setzte indessen seine Klavierstunden weiter fort. Zweimal wöchentlich von neun bis zehn überwachte er die Tonleitern und Übungen des jungen Mädchens. Das Zimmer, in dem sie sich aufhielten, war Minnas studio. Ein wunderlicher Arbeitsraum, der mit erstaunlicher Treue den sonderbaren Wirrwarr dieses kleinen Weiberhirns widerspiegelte.

Auf dem Tisch ein ganzes Orchester von winzigen Katzenstatuetten, jede mit einem andern Instrument; daneben ein kleiner Taschenspiegel, Schreibzeug, Toilettegegenstände; alles in peinlicher Ordnung. Auf einer Etagere winzige Musikerbüsten: Beethoven mit gerunzelter Stirn, Wagner mit seinem Barett – und der Apollo von Belvedere. Auf dem Kamin neben einem aus einer Schilfpfeife rauchenden Frosch ein Papierfächer mit dem Bayreuther Festspielhaus in schlechter Malerei. In der »Bibliothek« einige Bücher: Lübke, Mommsen, Schiller, Sans famille, Jules Verne, Montaigne. An den Wänden große Photographien der Sixtinischen Madonna und Herkomerscher Gemälde: sie waren mit blaugrünen Bändern eingefaßt. Dann hing da auch in einem Rahmen aus Silberdisteln die Ansicht eines Schweizer Hotels; vor allem aber überall und in allen Winkeln eine Unmenge Photographien von Offizieren, Tenoren, Orchesterdirigenten und von Freundinnen, – sämtlich mit Widmungen versehen, fast alle mit Versen – oder doch wenigstens mit etwas, das man landläufig Verse nennt. Inmitten des Zimmers thronte auf einem Marmorsockel eine bärtige Brahmsbüste; und über dem Klavier schaukelten sich an einem Faden kleine Plüsch-Äffchen und Kotillonerinnerungen.

Mit vom Schlaf noch verschwollenen Augen und verdrießlicher Miene kam Minna stets zu spät; sie reichte Christof kaum die Hand, wünschte ihm kühl guten Morgen und setzte sich stumm, ernst und würdevoll an das Klavier. Übte sie allein, so machte es ihr Vergnügen, ohne Ende Tonleitern zu spielen; denn die erlaubten ihr, ihren Halbschlaf angenehm auszudehnen und die Träume, die sie beschäftigten, weiter zu spinnen. Christof aber zwang ihre Aufmerksamkeit auf schwierige Übungen: dann gab sie sich aus Rache manchmal Mühe, so schlecht wie möglich zu spielen. Sie war ziemlich musikalisch, machte sich jedoch nicht sonderlich viel aus Musik. Aber wie so viele meinte sie, sie müsse Klavierspielen können; und so nahm sie ihre Stunden ziemlich gewissenhaft, abgesehen von ein paar Augenblicken teuflischer Bosheit, wenn sie ihren Lehrer aufbringen wollte. Weit mehr indessen brachte sie ihn durch die eisige Gleichgültigkeit auf, mit der sie lernte. Das schlimmste jedoch war, wenn sie sich einbildete, ihre Seele in eine ausdrucksvolle Stelle legen zu müssen: dann wurde sie sentimental und fühlte doch innerlich gar nichts.

Der kleine Christof war nicht sehr höflich, wenn er so neben ihr saß. Niemals machte er ihr Komplimente: weit entfernt davon. Sie trug ihm das nach und ließ keine seiner Bemerkungen ohne Widerspruch vorübergehen. Gegen alles, was er sagte, hatte sie etwas einzuwenden, und wenn sie sich irrte, so blieb sie trotzig darauf bestehen, sie spiele nur, was vorgeschrieben sei. Er wurde gereizt, und sie sagten sich dauernd allerlei Liebenswürdigkeiten. Dabei unterließ sie es nicht, trotzdem sie die Augen auf die Tasten gesenkt hielt, ihn zu beobachten, und freute sich über seine Wut. Um sich die Zeit zu verkürzen, erfand sie törichte kleine Listen, die keinen andern Zweck hatten, als die Stunde zu unterbrechen und Christof zu ärgern. Sie bekam einen heftigen Hustenanfall und tat, als ob sie ersticken müsse, nur um sich interessant zu machen; oder sie hatte dem Zimmermädchen etwas äußerst Wichtiges zu sagen: Christof wußte, daß es Komödie war, und Minna wußte, daß Christof wußte, daß es Komödie war; das aber gerade machte ihr Spaß; denn Christof durfte nicht sagen, was er dachte.

Als sie sich eines Tages wieder so vergnügte und, das Mäulchen ins Taschentuch versteckt, herzbewegend hustete, als ob sie sogleich ersticken sollte, während sie in Wahrheit den gereizten Christof von der Seite beobachtete, kam sie auf den Gedanken, ihr Taschentuch fallen zu lassen, um Christof zu zwingen, es aufzuheben; er tat es in der denkbar unhöflichsten Weise. Sie belohnte ihn dafür mit dem »Danke!« einer großen Dame, was ihn fast zum Zerspringen brachte.

Dies Spiel fand sie so ausgezeichnet, daß es wiederholt werden mußte. Am nächsten Morgen fing sie wieder an. Christof aber fiel nicht darauf herein: er kochte vor Zorn. Einen Augenblick wartete sie, dann sagte sie in geärgertem Ton:

»Würden Sie nicht so gut sein, mir mein Taschentuch aufzuheben?«

Da hielt Christof nicht länger an sich.

»Ich bin nicht Ihr Diener!« schrie er grob. »Heben Sie sich's selbst auf!«

Minna barst vor Zorn. Sie stand so heftig von ihrem Klaviersessel auf, daß er umfiel:

»Nein, das ist zu stark,« sagte sie, schlug wütend auf das Klavier und ging empört hinaus.

Christof wartete, daß sie zurückkäme. Aber sie kam nicht. Er schämte sich seines Benehmens: er fühlte, er habe sich wie ein Flegel aufgeführt. Aber schließlich war er mit seiner Kraft am Ende; Minna machte sich mit zu großer Unverschämtheit über ihn lustig. Er fürchtete, daß sie sich jetzt bei ihrer Mutter beklage, und daß er sich so für immer Frau von Kerichs Zuneigung verscherzen werde. Er wußte nicht, was tun; denn, obschon er seine Brutalität bedauerte, hätte er doch für nichts auf der Welt um Verzeihung gebeten.

Auf gut Glück kam er am nächsten Morgen wieder, obgleich er dachte, Minna würde sich weigern, ihre Stunde zu nehmen. Minna aber, die zu stolz war, sich bei irgend jemand zu beklagen, Minna, deren Gewissen sich übrigens nicht ganz vorwurfsfrei fühlte, erschien, wenn auch um noch fünf Minuten später als gewöhnlich. Ohne den Kopf nach ihm zu wenden, ohne ein einziges Wort zu sprechen, setzte sie sich stocksteif vor das Klavier, als sei Christof für sie nicht vorhanden. Nichtsdestoweniger nahm sie ihre Stunde wie auch alle folgenden, denn sie wußte sehr wohl, daß Christof von Musik etwas verstehe, und daß sie sauber Klavierspielen lernen müsse, wollte sie das sein – was zu sein ihr Ehrgeiz war: eine junge Dame aus guter Familie und tadellos erzogen.

Wie sehr aber langweilte sie sich! Wie sehr langweilten sie sich beide!

 

An einem nebligen Märzmorgen, als kleine Schneeflocken wie Federchen durch die graue Luft flogen, befanden sie sich wieder im studio. Es war noch kaum Tag. Minna stritt wie gewöhnlich wegen einer falschen Note, die sie gespielt hatte, und von der sie behauptete, daß »sie so dastände«. Obgleich er genau wußte, daß sie log, neigte sich Christof dennoch über das Heft, um die fragliche Stelle aus der Nähe zu sehen. Sie hatte die Hand aufs Pult gestützt und nahm sie nicht weg. Sein Mund war dieser Hand ganz nahe. Er versuchte zu lesen, doch gelang es ihm nicht: er schaute auf etwas anderes – auf dieses zarte, durchscheinende Etwas, das Blütenblättern glich. Und plötzlich – er wußte selbst nicht, was ihm einfiel – preßte er seine Lippen mit aller Kraft auf dieses Händchen.

Beide waren sie darüber in gleichem Maße bestürzt. Er schnellte in die Höhe, sie zog ihre Hand fort –, und sie erröteten beide. Sie sprachen kein Wort, sahen sich nicht an. Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens nahm sie ihr Spiel wieder auf; aber sie war ganz erregt: ihre Brust hob sich wie in Beklemmung; und sie spielte eine falsche Note nach der andern. Er merkte es jedoch nicht: denn er war noch viel erregter als sie; seine Schläfen hämmerten; er hörte nichts, wußte nicht, was sie spielte, und machte, nur um das Schweigen zu brechen, aufs Geratewohl da und dort eine Bemerkung. Er glaubte, nun sei er in Minnas Augen endgültig unmöglich. Er schämte sich über das, was er getan und hielt es für albern und plump. Als die Stunde zu Ende war, verließ er das Zimmer, ohne Minna auch nur anzusehen, ja er vergaß sogar, sie zu grüßen. Sie aber zürnte ihm deshalb nicht. Sie dachte gar nicht mehr daran, Christof unerzogen zu finden; und wenn sie so viel falsche Noten gespielt hatte, so kam dies daher, weil sie Christof unaufhörlich mit staunender Neugierde und – zum erstenmal – mit Sympathie beobachtet hatte.

Als sie allein war, schloß sie sich, anstatt wie an andern Tagen zu ihrer Mutter hinüberzugehen, in ihr Zimmer ein und ging über dieses außergewöhnliche Ereignis gründlich mit sich zu Rate. Sie setzte sich mit aufgestützten Ellbogen vor den Spiegel, aus dem ihre Augen ihr leuchtend entgegenblickten. In der Anstrengung des Denkens biß sie sich leicht auf die Lippe. Und während sie so mit Wohlgefallen ihr niedliches Gesicht betrachtete, sah sie errötend und lächelnd die ganze Szene wieder vor sich. Bei Tisch war sie angeregt und lustig. Dann lehnte sie es ab, auszugehen, und blieb einen Teil des Nachmittags über im Salon, eine Handarbeit in den Händen, an der sie kaum zehn Stiche machte, und selbst die waren noch falsch; aber was lag ihr daran! In einer Ecke des Zimmers, den Rücken ihrer Mutter zugewandt, lächelte sie still vor sich hin; dann wieder überfiel sie ein plötzlicher Drang, sich Bewegung zu machen, und sie sprang mit hellem Singen im Zimmer umher. Frau von Kerich fuhr zusammen und schalt sie närrisch. Minna fiel ihr um den Hals, bog sich dabei vor Lachen und küßte sie, als wolle sie sie erwürgen.

Abends, als sie auf ihr Zimmer ging, legte sie sich noch lange nicht schlafen. Immerfort sah sie sich in den Spiegel, beschwor die Erinnerung wieder herauf, und da sie den ganzen Tag nur an das Eine gedacht hatte, konnte sie schließlich an gar nichts mehr denken. Langsam zog sie sich aus; hielt alle Augenblicke inne und setzte sich auf ihr Bett und versuchte sich Christofs Bild wieder vorzustellen: es war ein Phantasie-Christof, der ihr erschien; und jetzt deuchte er ihr gar nicht mehr übel. Sie legte sich nieder und löschte das Licht. Nach zehn Minuten ging ihr die Szene vom Morgen plötzlich wieder durch den Kopf und sie lachte hell auf. Ihre Mutter erhob sich leise, und öffnete die Tür, weil sie meinte, daß sie trotz ihres Verbotes im Bett lese. Doch sie fand Minna ruhig hingestreckt, die Augen im Halbschein des Nachtlichts weit offen.

»Was gibt's denn«, fragte sie, »was macht dich denn so fröhlich?«

»Gar nichts,« antwortete Minna ernsthaft. »Ich denke.«

»Du kannst ja von Glück sagen, wenn du dich in deiner Gesellschaft so gut unterhältst. Aber jetzt heißt es schlafen.«

»Ja, Mama,« antwortete Minna sanft. Innerlich jedoch murrte sie: »Aber geh doch hinaus! Geh doch nur hinaus!« bis sich die Tür wieder schloß und sie ihrer Träumerei weiter nachhängen konnte.

Sie überließ sich einem lässig weichen Hindämmern. Beinahe schon im Einschlafen aber fuhr sie voller Freude noch einmal in die Höhe:

»Er liebt mich … Wie entzückend! Wie nett von ihm, daß er mich liebt! … Und wie liebe ich ihn!«

Sie umarmte ihr Kopfkissen und war bald fest eingeschlafen.

 

Als die beiden Kinder zum erstenmal wieder zusammenkamen, war Christof von Minnas Liebenswürdigkeit überrascht. Sie sagte ihm guten Tag und fragte ihn mit sehr sanfter Stimme, wie es ihm ginge; mit artiger, bescheidener Miene setzte sie sich ans Klavier und war ein Engel an Fügsamkeit. Keine einzige ihrer boshaften Launen kam ihr mehr in den Sinn; sie lauschte andächtig auf Christofs Einwände, erkannte ihre Richtigkeit an, schrie selber erschreckt auf, wenn sie falsch spielte, und versuchte sich zu verbessern. Christof begriff nichts von all dem. In kürzester Zeit machte sie erstaunliche Fortschritte. Sie spielte nicht nur besser, sie schien sogar die Musik zu lieben. So wenig er auch zum Schmeichler gemacht war, so mußte er sie dennoch loben. Sie errötete vor Freude und belohnte ihn mit einem tränenumflorten Blick der Dankbarkeit. Sie kleidete sich für ihn mit besonderer Sorgfalt, trug Bänder in prächtigen Farben und lächelte Christof mit schmachtenden Augen zu, was ihm mißfiel, ihn aufreizte und bis zum Grund seiner Seele bewegte. Jetzt war sie es, die zu plaudern versuchte; doch ihre Unterhaltungen hatten nichts Kindliches: sie redete höchst ernsthaft und zitierte mit pedantischer gezierter Betonung die Dichter. Er antwortete kaum; ihm war höchst unbehaglich zu Mut: diese neue Minna, die er nicht kannte, setzte ihn in Erstaunen und Unruhe.

Sie beobachtete ihn unausgesetzt. Sie wartete … Worauf? … Das wußte sie selber kaum … Sie wartete darauf, daß er wieder anfinge. – Da er aber überzeugt war, er habe sich wie ein Lümmel betragen, hütete er sich wohl; es schien sogar, als dächte er überhaupt nicht mehr daran. Das machte sie haltlos; und eines Tages, als er ganz ruhig und in respektvoller Entfernung von den gefährlichen kleinen Pfoten saß, packte sie die Ungeduld. Mit einer so plötzlichen Bewegung, daß sie selbst nicht Zeit fand, darüber nachzudenken, preßte sie ihm ihr Händchen an die Lippen. Er war darüber ganz bestürzt, dann wütend und beschämt. Doch er küßte sie nichtsdestoweniger und zwar höchst leidenschaftlich. Aber Minnas naive Unverfrorenheit empörte ihn; und beinahe hätte er sie glatt sitzen lassen.

Aber er konnte es nicht mehr. Er war gefangen. Ein Strudel von tausend Gedanken überflutete sein Inneres; er konnte sich nicht hindurchfinden. Wie Dämpfe, die vom Tale aufsteigen, hoben sie sich aus der Tiefe seines Herzens. Aufs Geratewohl wanderte er nach allen Richtungen durch diesen Liebesnebel; und was er auch tat, immer nur ging er in der Runde um eine dunkle fixe Idee, ein unbekanntes, gefährliches und verführerisches Begehren, wie eine Motte um die Flamme kreist. Es war das plötzliche Aufwallen der blinden Naturgewalten.

 

Eine Zeit der Spannung folgte. Sie beobachteten sich, sehnten sich und fürchteten sich beide. Sie waren in Unruhe. Ihre kleinen Feindseligkeiten und Launen trieben sie zwar weiter; doch zu Vertraulichkeiten kam es nicht mehr zwischen ihnen: sie waren einsilbig, jedes damit beschäftigt, in der Stille seine Liebe aufzubauen.

Die Liebe hat sonderbare Rückwirkungen. In dem Augenblick, als Christof die Entdeckung machte, daß er Minna liebe, entdeckte er gleichzeitig, daß er sie immer geliebt hatte. Seit drei Monaten sahen sie sich nun fast täglich, ohne daß er von dieser Liebe eine Ahnung gehabt hätte. Jetzt aber liebte er sie: nun mußte er sie natürlich auch schon seit aller Ewigkeit geliebt haben.

Es war für ihn eine Erlösung, endlich dahinter zu kommen, wen er eigentlich liebte; liebte er doch schon so lange, ohne zu wissen wen! Er war wie befreit, gleich einem Kranken, der an einem allgemeinen, unbestimmbaren und schwächenden Übel leidet, und nun das Leiden sich plötzlich in einem heftigen auf eine bestimmte Stelle lokalisierten Schmerz zusammenziehen fühlt. Nichts reibt so sehr auf, wie Liebe ohne ein bestimmtes Ziel: gleich einem Fieber zernagt und untergräbt sie die Kräfte. Eine Leidenschaft, die man kennt, spannt den Geist aufs äußerste; das wirkt ermattend, aber man weiß doch warum. Es ist eine Überanstrengung, nicht aber eine Verzehrung. Alles lieber als Leere.

Obgleich Christof nach Minnas Benehmen mit gutem Grund glauben durfte, daß er ihr nicht gleichgültig sei, konnte er es doch nicht lassen, sich zu quälen in dem Gedanken, sie verachte ihn. Sie hatten niemals eine ganz bestimmte Vorstellung voneinander gehabt; nie aber war diese Vorstellung verwirrter und falscher als jetzt: eine Reihe unzusammenhängender sonderbarer Bilder, die nicht in Übereinstimmung zu bringen waren; denn sie fielen von einer Übertreibung in die andere, und dichteten einander der Reihe nach sämtliche Fehler und Vorzüge an, die sie nicht besaßen: die Vorzüge, wenn sie einander fern, die Fehler, wenn sie zusammen waren. Und in beiden Fällen gingen sie gleichermaßen fehl.

Was sie eigentlich selbst wünschten, wußten sie nicht. Christof empfand seine Liebe als jenen gebieterischen, unbedingten, Erwiderung heischenden Zärtlichkeitsdrang, der ihn schon seit seiner Kindheit durchglühte, den er auch von den andern verlangte, und den er den andern gütlich oder gewaltsam gern abgetrotzt hätte. Für Augenblicke mischte sich diesem allesbeherrschenden Sehnen nach Hingabe seines Selbsts und der andern, – vielleicht vor allem der andern, – der Anflug eines ihm unbekannten Begehrens, das ihn schwindeln machte und das er nicht verstand. Minna, die vor allem neugierig war und entzückt von der Aussicht, einen Roman zu erleben, suchte daraus alle nur mögliche Nahrung für ihre Eitelkeit und Sentimentalität zu ziehen; sie täuschte sich nur zu gern über das, was sie empfand. Ein gut Teil ihrer Liebe hatten sich beide nur aus Büchern angelesen. Sie durchlebten nochmals gelesene Romane und träumten sich beständig in Empfindungen hinein, die sie gar nicht hatten.

Aber der Augenblick kam, wo all diese kleinen Lügen, der ganze kleinliche Egoismus vor dem göttlichen Aufleuchten der Liebe vergehen sollte. Ein Tag, eine Stunde, – ein paar ewige Sekunden … Und alles kam so unerwartet! …

 

Eines Abends waren sie allein und plauderten. Das Dunkel schlich in den Saal. Ihre Unterhaltung hatte eine ernste Färbung angenommen. Sie sprachen vom Unendlichen, vom Leben und vom Tode. Das gab einen großartigeren Rahmen für ihre Gefühlchen ab. Minna klagte über ihre Vereinsamung: was Christof natürlich zu der Antwort veranlaßte, daß sie nicht so allein sei, wie sie behaupte.

»Nein,« meinte sie und schüttelte ihr Köpfchen, »alles das sind Worte. Jeder lebt für sich, kein Mensch interessiert sich für einen, niemand liebt einen.«

Pause.

»Und ich?« fragte Christof plötzlich, bleich vor Erregung.

Minna, der kleine Heißsporn sprang mit einem Ruck auf und ergriff seine Hände.

Da öffnete sich die Türe. Erschreckt flogen sie auseinander, und schon trat Frau von Kerich ins Zimmer. Christof vertiefte sich in ein Buch, das er verkehrt herum hielt. Minna beugte sich tief über ihre Arbeit und stach sich mit der Nadel in den Finger.

Während des ganzen Abends blieben sie nicht mehr allein, und fürchteten sich auch davor. Als Frau von Kerich einmal aufstand, um im Nebenzimmer etwas zu suchen, erbot sich Minna, die im allgemeinen nicht sehr aufmerksam war, es ihr zu holen; Christof aber benutzte ihre Abwesenheit, um sich zu verabschieden, ohne ihr gute Nacht zu sagen.

Als sie am nächsten Morgen zusammenkamen, warteten sie schon ungeduldig darauf, ihre unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen. Es gelang ihnen aber nicht im geringsten. Dabei waren ihnen im Grunde die Umstände günstig. Sie gingen mit Frau von Kerich spazieren und hätten zehnmal Gelegenheit finden können, ganz nach Belieben miteinander zu plaudern. Aber Christof fand die Worte nicht; er selbst war darüber so unglücklich, daß er sich soweit wie möglich von Minna entfernt hielt. Die tat, als merke sie seine Unhöflichkeit nicht; aber sie war gekränkt und zeigte es deutlich. Als Christof sich endlich zwang, einige Worte hervorzupressen, hörte sie ihm mit so eisiger Miene zu, daß er kaum den Mut hatte, seinen Satz zu beenden. Aber auch der Spaziergang fand sein Ende. Die Zeit verstrich. Und Christof war verzweifelt, daß er sie so wenig auszunutzen gewußt hatte.

Eine Woche ging dahin. Schon glaubten sie, daß sie sich über ihre gegenseitigen Gefühle getäuscht hätten. Sie waren nicht sicher, ob sie die ganze Szene jenes Abends nicht bloß geträumt hatten. Minna grollte Christof. Christof hatte Angst, ihr allein zu begegnen. Sie standen kühler als je miteinander.

Da kam ein Tag. Den ganzen Morgen und einen Teil des Nachmittags hatte es geregnet. Sie blieben im Haus, sprachen und lasen nicht, gähnten, schauten aus dem Fenster, fühlten sich gelangweilt und verdrießlich. Gegen vier Uhr hellte sich der Himmel auf. Da gingen sie in den Garten. Auf die Terrassenbrüstung gelehnt, schauten sie hinab auf die Rasenabhänge, die zum Fluß hinunterführten. Die Erde dampfte, ein warmer Dunst stieg zur Sonne auf; Regentröpfchen glänzten im Gras; der feuchte Erdgeruch mischte sich mit dem Duft der Blumen; rings um sie her summte ein goldener Schwarm von Bienen. Sie standen dicht beieinander und schauten sich nicht an; sie konnten sich nicht entschließen, das Schweigen zu brechen. Eine Biene kam geflogen, klammerte sich linkisch an eine Glyzinientraube, die schwer von Regen hing, und ließ einen ganzen Wassersturz über sich niedergehen. Da lachten sie gleichzeitig auf; und im selben Augenblick fühlten sie auch, daß sie nicht mehr böse aufeinander, daß sie gute Freunde seien. Dennoch vermieden sie es auch weiter, sich anzusehen.

Plötzlich nahm Minna, ohne den Kopf zu wenden, Christof bei der Hand und sagte:

»Kommen Sie.«

Damit zog sie ihn im Lauf zu dem kleinen Irrgarten mit den von Buchs eingefaßten Pfaden, der sich mitten in dem Lustwäldchen erhob. Sie erstürmten den Hügel, sie glitten über den aufgeweichten Boden, und die nassen Bäume schüttelten ihre Zweige über sie aus. Als sie die Höhe schon beinahe erreicht hatten, hielt Minna inne, um Atem zu schöpfen.

»Einen Augenblick, – einen Augenblick,« sagte sie ganz leise und rang nach Luft.

Er sah sie an. Sie blickte weg: sie lächelte, keuchend mit halb offnem Munde. Ihre Hand hielt sie fest um Christofs Hand geschlossen. Sie fühlten, wie das Blut in ihren aneinandergepreßten Handflächen hämmerte und wie ihre Finger bebten. Rings um sie her war Stille. Die hellen Triebe der Bäume erschauerten in der Sonne. Mit hellem Silberklang tröpfelte ein kleiner Regen aus dem Laub; und durch den Himmel schossen helle Schwalbenschreie.

Sie wandte ihm den Kopf zu: es war wie ein Blitz. Sie fiel ihm um den Hals, er warf sich in ihre Arme.

»Minna, Minna, mein Liebling!«

»Ich liebe dich, Christof! Ich liebe dich!«

Sie ließen sich auf einer feuchten Holzbank nieder. Sie waren von Liebe erfüllt, von süßer, tiefer, törichter Liebe. Alles andere war verschwunden. Kein Egoismus mehr, keine Eitelkeit, keine Hintergedanken. Alles Dunkel ihrer Seele war von diesem Liebesatem fortgeweht. Liebe, Liebe, – sprachen ihre lachenden und tränenfeuchten Augen. Das kalte, kokette, kleine Mädchen, der stolze Junge, sie waren durchglüht von dem Drang, sich hinzugeben, sich aufzuopfern, zu leiden, einer für den andern zu sterben. Sie kannten sich selbst nicht mehr, waren nicht mehr dieselben; alles war verwandelt: ihre Herzen, ihre Züge, ihre von Güte und rührender Zärtlichkeit strahlenden Augen. Minuten der Reinheit, der Selbstverleugnung, der völligen Hingabe des eignen Ich, wie sie das Leben nie mehr wiederbringt!

Nach einem verliebten Gestammel, nach leidenschaftlichen Schwüren, ewig einer des andern zu sein, nach Küssen und unzusammenhängenden, glückstaumelnden Worten merkten sie plötzlich, daß es schon sehr spät sei; da liefen sie zurück, hielten sich bei den Händen, waren dauernd in Gefahr, auf den engen Wegen hinzufallen, und stießen sich an den Bäumen; aber blind und trunken vor Freude spürten sie nichts.

Als sie sich getrennt hatten, kehrte er nicht heim: er hätte nicht schlafen können. Er ging vor die Stadt und wanderte querfeldein; aufs Geratewohl schritt er durch die Nacht. Die Luft war frisch, das Land lag dunkel und verlassen. Ein Käuzchen schrie fröstelnd. Wie ein Schlafwandler ging er. Er stieg zwischen den Reben den Hügel hinauf. In der Ebene zitterten die kleinen Lichter der Stadt und am dunklen Himmel die Sterne. Auf eine Mauer am Wegrand setzte er sich nieder und wurde plötzlich von einem Tränenausbruch geschüttelt. Warum, wußte er nicht. Er war zu glücklich. Der Überschwang seiner Freude war Trauer und Freude zugleich. Dankbarkeit für sein Glück war darin, Mitleid mit denen, die nicht glücklich waren, ein schwermütiges und süßes Gefühl von der Zerbrechlichkeit aller Dinge, ein Lebenstaumel. Er weinte mit Wonne, und unter Tränen schlief er ein. Als er erwachte, dämmerte bereits der Morgen. Weiße Nebel zogen über den Fluß und hüllten die Stadt ein, wo Minna schlief, todmüde, das Herz erhellt von einem Lachen des Glücks.

 

Gleich am nächsten Morgen glückte es ihnen, sich wieder im Garten zu sehen und sich von neuem zu sagen, daß sie sich liebten; schon aber war es nicht mehr die göttliche Unbewußtheit des gestrigen Abends. Minna spielte ein wenig die Liebende; und auch er, wenngleich aufrichtiger, führte eine gewisse Rolle durch. Sie sprachen davon, wie sich ihr Leben gestalten würde. Er klagte über seine Armut, seine bescheidene Stellung; darauf spielte sie die Großherzige und freute sich an ihrem eignen Edelmut. Sie behauptete, daß Geld ihr ganz gleichgültig sei. Das war es auch wirklich; denn sie kannte es nicht; sie kannte keine Entbehrung. Er versprach ihr, ein großer Künstler zu werden; das fand sie amüsant und schön wie einen Roman. Sie meinte, es sei ihre Pflicht, sich wie eine wahre Liebende aufzuführen; also las sie Gedichte und war sentimental. Er wurde davon angesteckt. Er achtete auf seine Kleidung und wurde dadurch lächerlich; er achtete auf seine Redeweise und wurde geschraubt. Frau von Kerich beobachtete ihn lachend und fragte sich, was ihn nur so albern machen könne.

Doch es kamen noch Minuten von unsagbarer Poesie. Mitten in fahlen Tagen leuchteten sie plötzlich auf, gleich einem Sonnenstrahl im Nebel. Oft war es nur ein Blick, eine Gebärde, ein Wort, die nichts bedeuteten und dennoch sie mit Glück überschwemmten. Es waren die »Auf Wiedersehen« am Abend, auf der schlecht erleuchteten Treppe, die Augen, die einander suchten und im Halbdunkel errieten, der Schauer ihrer Hände in Berührung, das Beben der Stimme, alle jene kleinen Nichts, deren Erinnerung sich nachts verdichtete, wenn sie in so leichtem Schlafe lagen, daß jeder Stundenschlag sie weckte, und wenn ihr Herz wie das Murmeln einer Quelle ihnen zuraunte: »Ich werde geliebt.«

Sie entdeckten die Schönheit aller Dinge. Der Frühling lächelte mit wunderbarer Süße. Der Himmel hatte einen Glanz, die Luft eine Milde, wie sie es nie vorher gewußt hatten. Die ganze Stadt, die roten Dächer, die alten Mauern, das holprige Pflaster schmückten sich mit heimeliger Lieblichkeit, die Christof fast wehmütig stimmte. Nachts, wenn alle Welt schlief, erhob sich Minna aus ihrem Bett, und stand schlaftrunken und fiebernd am Fenster. Und an den Nachmittagen, an denen er nicht da war, saß sie träumend im Schaukelstuhl, ein Buch auf den Knien, die Augen halb geschlossen, einer glücklichen Mattigkeit hingegeben, Körper und Geist von Frühlingsluft umweht. Sie verbrachte jetzt lange Stunden am Klavier, wo sie, mit einer für andere aufreizenden Geduld, Akkorde und Tonleitern wiederholte, bis sie vor Erregung ganz bleich und kalt wurde. Bei Schumannscher Musik weinte sie. Für alle war sie von Mitleid und Güte erfüllt; und ihm ging es wie ihr. Den Armen, die sie trafen, gaben sie verstohlene Almosen und wechselten dabei verständnisvolle Blicke: dann waren sie ganz glücklich, so gut zu sein.

In Wahrheit waren sie es eigentlich nur recht gelegentlich. Minna entdeckte plötzlich, wie traurig das bescheidene Pflichtleben der alten Frieda wäre, die schon seit ihrer Mutter Kindheit im Hause diente; und sie lief eiligst zu ihr und fiel ihr um den Hals – zum großen Erstaunen der guten Alten, die in der Küche gerade Wäsche ausbesserte. Doch das hinderte sie nicht, sie zwei Stunden später hart anzufahren, weil Frieda nicht beim ersten Klingelzeichen erschienen war. Und Christof, der sich in Liebe für alles Menschliche verzehrte und einen Umweg machte, nur um ein Insekt nicht zu zertreten, war gegen seine eigene Familie voller Gleichgültigkeit. In sonderbarer Rückwirkung war er sogar den Seinen gegenüber um so kälter und stumpfer, je mehr Herzlichkeit er allen übrigen Wesen entgegenbrachte: kaum dachte er an sie; er sprach barsch mit ihnen und begegnete ihnen mit steter Gereiztheit. Ihrer beider Güte war nur eine Überfülle von Zärtlichkeit, die plötzlich überschäumte und dem ersten, der zufällig ihren Weg kreuzte, zugute kam. Waren solche Krisen vorüber, so zeigten sie sich egoistischer als gewöhnlich; denn ihr Geist war nur von einem einzigen Gedanken erfüllt, und auf ihn wurde alles zurückgeführt.

Welchen Raum nahm die Gestalt des kleinen Mädchens doch in Christofs Leben ein! Welch Aufruhr aller Gefühle, wenn er sie im Garten suchte und von fern ihr weißes Kleidchen entdeckte; – wenn er im Theater wenige Schritte von ihren noch leeren Plätzen entfernt saß, die Tür der Parkettloge sich plötzlich öffnen und die lachende Stimme erklingen hörte, die er so gut kannte; wenn in einem fremden Gespräch zufällig der liebe Namen von Kerich ausgesprochen wurde! Er erblaßte, errötete; minutenlang sah und hörte er nichts mehr. Und gleich darauf ergoß sich ihm eine Sturzwelle von Blut durch den ganzen Körper, ein Sturm unbekannter Kräfte.

Minna, dies naiv-sinnliche deutsche kleine Mädchen, kannte sonderbare Spiele. Sie legte ihren Ring auf einen Mehlkuchen; und einer nach dem andern mußte ihn mit den Zähnen und ohne sich dabei die Nase weiß zu machen, herunternehmen. Oder sie zog wohl auch durch einen Zwieback einen Faden, den jeder von ihnen mit einem Ende in den Mund nahm; und nun galt es, an dem Faden entlang so schnell wie möglich an den Zwieback zu kommen und ihn anzubeißen. Ihre Gesichter kamen dabei einander immer näher, ihr Atem mischte sich, ihre Lippen berührten sich, sie lachten ein erkünsteltes Lachen und ihre Hände waren eisig kalt. Christof überkam ein Drang zu beißen, weh zu tun; mit einem Ruck fuhr er zurück; und sie lachte gezwungen weiter. Dann wandten sie sich voneinander ab, spielten die Gleichgültigen und schauten sich doch verstohlen immer wieder an.

Solche Spiele hatten für sie einen beunruhigenden Reiz: sie suchten und flohen sie gleichzeitig. Christof hatte Angst davor und mochte dann noch lieber den Zwang solcher Zusammenkünfte, bei denen Frau von Kerich oder jemand anders anwesend war. Keine lästige Gegenwart konnte ja das Zwiegespräch ihrer verliebten Herzen stören; Widerstand machte es nur inniger und süßer. Alles zwischen ihnen war nun von unschätzbarem Wert: ein Wort, ein Lippenkräuseln, ein Blick genügten, um unter dem schlichten Schleier des täglichen Lebens den reichen unberührten Schatz ihres Innenlebens durchleuchten zu lassen. Sie allein konnten es sehen: so meinten sie wenigstens und lächelten sich, selig über ihre kleinen Geheimnisse, zu. Beim Belauschen ihrer Worte hätte man nichts anderes als eine Salonunterhaltung über gleichgültige Dinge vernommen: ihnen war es ein ununterbrochener Liebesgesang. Sie lasen wie in einem offnen Buch die flüchtigsten Veränderungen aus ihren Zügen, ihren Stimmen; ebensogut hätten sie mit geschlossenen Augen lesen können; denn sie brauchten nur ins eigne Herz zu lauschen, um dort das Echo vom Herzen ihres Liebsten zu hören. Sie strömten über von Vertrauen ins Leben, ins Glück, in sich selbst. Ihre Hoffnungen waren grenzenlos. Sie liebten, wurden geliebt, waren glücklich ohne jeden Schatten, ohne einen Zweifel, ohne eine Sorge um die Zukunft. O, schöner Friede dieser Frühlingstage! Keine Wolke am Himmel. Ein so fester Glaube, daß nichts ihn je erschüttern zu können scheint. Eine so überquellende Freude, daß nichts sie zu erschöpfen vermag. Leben sie? Träumen sie? Gewiß, sie träumen. Zwischen dem Leben und ihrem Traum besteht kein Band. Keines, oder nur dies eine, daß auch sie selber in dieser Zauberstunde nur ein Traum sind: denn ihr Wesen ist aufgelöst im Hauch der Liebe.

 

Frau von Kerich brauchte nicht lange Zeit, um hinter ihre kleinen Schliche zu kommen, die ihnen so fein dünkten, die aber sehr ungeschickt waren. Minna schöpfte einigen Verdacht, seitdem ihre Mutter eines Tages unverhofft eingetreten war, als sie mit Christof aus etwas größerer Nähe als schicklich sprach und sie beim Knarren der Tür eiligst und in linkischer Verwirrung auseinandergefahren waren. Frau von Kerich hatte getan, als ob sie nichts gemerkt habe. Minna bedauerte das fast. Sie hätte gern gegen ihre Mutter zu kämpfen gehabt: das wäre doch romantischer gewesen.

Ihre Mutter hütete sich wohl, ihr dazu Gelegenheit zu geben; sie war zu klug, um sich zu beunruhigen oder der Sache irgend eine Wichtigkeit beizumessen. Doch sie sprach vor Minna über Christof mit Ironie und verspottete unbarmherzig seine Lächerlichkeiten: mit ein paar Worten machte sie ihn unmöglich. Das tat sie ohne jede Berechnung, rein aus dem Instinkt heraus, mit der natürlichen Arglist einer braven Frau, die ihr Eigentum verteidigt. Minna konnte sich noch so sehr sträuben, schmollen, unartig antworten und die Richtigkeit der Beobachtungen trotzig abstreiten: sie waren nur allzu gerechtfertigt, und Frau von Kerich besaß eine grausame Geschicklichkeit, den richtigen Punkt zu treffen. Christofs plumpe Stiefel, seine geschmacklosen Anzüge, sein schlecht gebürsteter Hut, sein provinzialer Dialekt, seine lächerliche Art zu grüßen, sein lautes vulgäres Lachen, nichts wurde vergessen, was Minnas Eitelkeit verletzen konnte: und stets war es nur eine einfache, wie im Vorübergehen hingeworfene Bemerkung; nie war sie in Form einer Anklage gehalten; und wenn sich Minna gereizt auf die Hinterbeine stellte und widersprechen wollte, sprach Frau von Kerich in aller Harmlosigkeit schon von etwas ganz anderem. Aber der Pfeil saß, und Minna war getroffen.

Langsam begann sie, Christof mit kritischeren Blicken zu betrachten. Er fühlte es halb und halb und fragte sie manchmal beunruhigt:

»Warum siehst du mich so an?«

»Wegen gar nichts!« gab sie ihm dann zur Antwort.

Aber einen Augenblick später, wenn er wieder vergnügt war, warf sie ihm gereizt vor, daß er so laut lache. Er war betroffen, denn niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, daß er sich ihr gegenüber beim Lachen in acht nehmen müsse: seine ganze Freude war ihm verdorben. – Oder, wenn er in völliger Selbstvergessenheit plauderte, hörte sie mit zerstreutem Ausdruck zu und unterbrach ihn plötzlich, um eine unfreundliche Bemerkung über seine Kleidung zu machen, oder sie verwies ihm mit ausfallender Schulmeisterlichkeit seine ordinären Ausdrücke, daß ihm die Lust verging, noch irgend etwas zu sagen, und er manchmal ganz böse wurde. Dann redete er sich ein, daß es nur ein Beweis von Minnas Interesse sei, wenn sie sich über seine Manieren ärgerte; und sie redete sich das selber ein. Er versuchte demütig, sich ihre Worte zunutze zu machen. Sie wußte ihm jedoch keinen Dank: denn es gelang ihm nur selten.

Aber er fand nicht die Zeit, – und Minna ebensowenig –, die Veränderung, die in ihr vorging, zu merken. Ostern war gekommen, und Minna sollte mit ihrer Mutter eine kleine Reise zu Verwandten in der Nähe von Weimar machen.

In der letzten Woche vor der Trennung fanden sie die Stimmung der ersten Tage wieder. Abgesehen von einigen ungeduldigen Bemerkungen war Minna herzlicher als je. Am Vorabend der Abreise gingen sie lange im Park spazieren; geheimnisvoll zog sie Christof in die Tiefe des Laubgangs und hing ihm ein parfümiertes seidnes Beutelchen um den Hals, in das sie eine Locke von sich getan hatte. Sie tauschten von neuem ewige Schwüre und versprachen einander feierlich, sich täglich zu schreiben; und dann wählten sie am Himmel einen Stern, den sie beide jeden Abend zur selben Zeit anschauen wollten.

Der verhängnisvolle Tag brach an. Zehnmal hatte er sich während der Nacht gefragt: »Wo wird sie morgen sein?« Und jetzt dachte er: »Heute ist es. Heute Morgen ist sie noch hier; heute Abend ist sie es nicht mehr.« Schon vor acht Uhr ging er zu ihr. Sie war noch nicht auf. Er versuchte, im Garten umherzuwandern; aber er brachte es nicht fertig, und ging wieder hinein. Die Korridore standen voller Koffer und Pakete; er setzte sich in eine Zimmerecke nieder, horchte auf das Gehen der Türen, das Krachen der Dielen, und erkannte die Tritte, die in der oberen Etage hin- und hergingen. Frau von Kerich kam vorüber; als sie ihn sah, huschte ein leises Lächeln über ihre Züge, und, ohne sich aufzuhalten, warf sie ihm ein spöttisches Guten Morgen hin. Endlich erschien Minna. Sie war bleich und ihre Augen waren geschwollen; so wenig wie er, hatte sie in dieser Nacht geschlafen. Mit wichtiger Miene gab sie den Dienstboten Befehle; sie reichte Christof die Hand, sprach dabei aber ruhig weiter mit der alten Frieda. Sie war schon reisefertig. Frau von Kerich kam zurück. Sie besprachen sich über eine Hutschachtel. Minna schien gar nicht auf Christof zu achten, der vergessen und unglücklich neben dem Klavier stand. Nun ging sie mit ihrer Mutter hinaus; dann kam sie zurück, rief aber von der Schwelle Frau von Kerich noch etwas zu. Darauf schloß sie die Tür – und sie waren allein. Sie lief auf ihn zu, ergriff seine Hand und zog ihn in den kleinen Nebensalon, dessen Vorhänge geschlossen waren. Dort drückte sie plötzlich ihr Gesicht gegen das Christofs und küßte ihn aus Leibeskräften.

Unter Tränen fragte sie:

»Versprichst du mir, versprichst du, daß du mich immer lieben wirst?«

Sie schluchzten ganz leise und machten krampfhafte Anstrengungen, es nicht hören zu lassen. Beim Geräusch von Schritten trennten sie sich. Minna trocknete sich die Augen und setzte ihre wichtige kleine Miene den Dienstboten gegenüber wieder auf; aber ihre Stimme zitterte.

Es gelang ihm, ihr das Taschentuch, das sie hatte fallen lassen, zu rauben, ihr kleines schmutziges, zerdrücktes, tränenfeuchtes Taschentuch.

Dann begleitete er seine Freundinnen in deren Wagen bis zum Bahnhof. Während sie sich gegenübersaßen, wagten die beiden Kinder, aus Furcht in Tränen auszubrechen, sich kaum anzusehen. Ihre Hände fanden sich flüchtig und drückten sich bis zum Schmerzen. Frau von Kerich beobachtete sie mit überlegenem Wohlwollen und schien nichts zu merken.

Endlich schlug die Abschiedsstunde. Als der Zug sich in Bewegung setzte, ging Christof neben dem Wagen her, lief dann mit, schaute nicht um sich, rannte alle Bahnbeamten an und hielt die Augen auf Minnas Augen geheftet, bis der Zug enteilt war. Aber noch immer lief er weiter, bis er nichts mehr sah. Da hielt er außer Atem inne. Dann befand er sich wieder auf dem Bahnhof, inmitten lauter Gleichgültiger. Als er nach Hause kam, fand er die Seinen glücklicherweise ausgegangen; und er weinte den ganzen Morgen.

 

Zum erstenmal lernte er den furchtbaren Schmerz der Trennung kennen. Unerträgliche Qual für alle liebenden Herzen. Die Welt ist leer, das Leben ist leer, alles ist leer. Das Herz krampft sich, man kann nicht mehr atmen: zu leben ist tödliche Angst, eine schier unerfüllbare Aufgabe. Besonders, wenn ringsumher lebendige Spuren vom Gegenstand einer Liebe bleiben, wenn alle Dinge sie beständig heraufbeschwören, wenn man in der vertrauten Umgebung bleibt wo man zusammen gelebt hat, wenn man sich selbst leidenschaftlich daran klammert, das entschwundene Glück an denselben Orten wieder aufleben zu lassen. Dann ist es wie ein Abgrund, der sich unter jedem Schritte öffnet: man neigt sich über ihn, wird vom Schwindel erfaßt, man glaubt zu fallen, man fällt. Man meint, dem Tod ins Angesicht zu sehen. Und man sieht ihn wirklich. Trennung ist nur eine seiner Masken. Lebendig sieht man dem Hinschwinden des Liebsten zu, was das Herz besitzt: das Leben verlischt, es bleibt nichts als ein schwarzes Loch, das Nichts.

Christof suchte alle die geliebten Orte wieder auf und litt nur um so mehr. Frau von Kerich hatte ihm den Schlüssel zum Garten überlassen, damit er während ihrer Abwesenheit dort spazieren gehen könne. Noch am selben Tag kehrte er in den Park zurück und verging fast vor Schmerz. Auf dem Hinweg glaubte er, dort ein wenig von der, die fort war, wiederzufinden: und er fand sie nur allzusehr; ihr Bild schwebte über allen Rasenplätzen; bei jeder Wegbiegung war er gewärtig, sie auftauchen zu sehen; aber er marterte sein Herz damit, sich vom Gegenteil zu überzeugen, die Spuren seiner Liebeserinnerungen wieder aufzusuchen, den Weg zum Irrgarten, die glyzinienbehangene Terrasse, die Bank im Laubengang; und mit selbstquälerischem Trotz wiederholte er sich immer wieder: »Vor acht Tagen … vor acht Tagen …, gestern, hier war es, gestern war sie hier, heute Morgen sogar …« Er wühlte sein Herz mit solchen Gedanken auf, bis er fast verging und sterbensmatt Einhalt tun mußte. – In seine Trauer mischte sich der Zorn gegen sich selbst wegen all der schönen Zeit, die er ungenutzt hatte verstreichen lassen. So viel Minuten, so viele Stunden, in denen er das unendliche Glück genoß, sie zu sehen, sie zu atmen, sich an ihrem Sein zu weiden! Und er hatte es nicht zu würdigen gewußt! Er hatte die Zeit verstreichen lassen, ohne jeden kleinsten Augenblick auszukosten! Und jetzt! … Jetzt war es zu spät … Unwiederbringlich! Unwiederbringlich!

Er ging wieder heim. Seine Familie war ihm ein Greuel. Er konnte ihre Gesichter, ihre Gebärden, ihre geschmacklosen Unterhaltungen nicht ertragen, die immer dieselben wie am verflossenen Abend waren, dieselben wie an den Tagen vorher, dieselben wie zur Zeit, da sie noch da war. Sie führten ihr gewohntes Dasein weiter: als ob sich gar nicht solch ein Unglück dicht neben ihnen abspielte. Auch die Stadt ahnte nichts. Alle Leute gingen lachend, lärmend und geschäftig ihrem Berufe nach. Die Grillen zirpten; der Himmel strahlte. Er haßte sie alle, fühlte sich vom allgemeinen Egoismus zermalmt. Und doch war er, für sich allein, egoistischer als sämtliche Erdbewohner. Nichts hatte mehr Wert für ihn. Er besaß keinerlei Güte mehr, liebte niemand mehr.

So verbrachte er jammervolle Tage. Seine Beschäftigungen nahm er automatisch wieder auf; aber er hatte keinen Lebensmut mehr.

Als er eines Abends stumm und bedrückt mit den Seinen bei Tisch saß, klopfte der Briefträger an die Tür und überbrachte ihm ein Schreiben. Sein Herz erkannte es, bevor er noch die Schrift gesehen hatte. Vier Augenpaare hingen sich mit indiskreter Neugierde an ihn, warteten darauf, daß er lese, klammerten sich an die Hoffnung auf diese Zerstreuung, die sie aus der gewohnten Langeweile herausrisse. Er aber legte den Brief neben seinen Teller und zwang sich, ihn nicht zu öffnen, indem er mit gemachter Gleichgültigkeit vorgab, er wisse, um was es sich handle. Seine Brüder jedoch glaubten das nicht und belauerten ihn weiter, so daß er bis zum Ende der Mahlzeit auf die Folter gespannt blieb. Dann erst war es ihm vergönnt, sich in sein Zimmer einzuschließen. Sein Herz schlug dermaßen, daß er den Brief beim Öffnen fast zerriß. Er zitterte davor, was er lesen werde; doch sowie er die ersten Worte überflogen hatte, überkam ihn eine Freude.

Minna schrieb ihm heimlich ein paar sehr zärtliche Worte. Sie nannte ihn: »Liebes Christlein,« sagte ihm, daß sie viel geweint habe, daß sie jeden Abend, den sie in Frankfurt verbracht hätten, den Stern angeschaut habe, daß Frankfurt eine großartige Stadt wäre, wo es wundervolle Läden gäbe, daß sie aber auf nichts achte, weil sie nur an ihn denke. Sie erinnerte ihn, daß er geschworen hätte, ihr treu zu bleiben und niemand in ihrer Abwesenheit zu sehen, damit er ganz allein an sie denken könne. Sie wollte, daß er die ganze Zeit, in der sie nicht da sei, arbeite, damit er berühmt würde und sie mit ihm. Sie schloß mit der Frage, ob er auch noch an den kleinen Salon denke, in dem sie sich am Morgen der Abreise Lebewohl gesagt hätten; und sie bat ihn einmal morgens wieder dorthin zu gehen; sie versprach ihm, in Gedanken noch dort zu sein und ihm noch einmal ebenso Lebewohl zu sagen. Sie unterschrieb: »Ewig dein! Ewig! …« und dann hatte sie noch eine Nachschrift hinzugefügt, um ihm zu raten, sich anstatt seines häßlichen Filzhutes einen Strohhut zu kaufen, – alle eleganten Leute trügen das hier: – einen grobgeflochtenen Strohhut mit einem breiten blauen Band.

Christof las den Brief viermal, bevor er ihn ganz und gar verstand. Er war wie betäubt und fand nicht einmal mehr die Kraft, glücklich zu sein; er fühlte sich plötzlich so matt, daß er zu Bett ging; nachdem er den Brief immer und immer wieder aufs neue gelesen und geküßt hatte, legte er ihn unters Kopfkissen und vergewisserte sich unaufhörlich, daß er noch da sei. Ein unaussprechliches Wohlbehagen überkam ihn. Und er schlief in einem Zug bis zum Morgen.

Sein Leben wurde nun erträglicher. Minnas treues Gedenken schwebte rings um ihn her. Er gab sich daran, ihr zu antworten; aber er hatte ja nicht das Recht, ihr offen zu schreiben, mußte verbergen, was er fühlte; das war peinlich und schwierig. So gab er sich Mühe, seine Liebe unter zeremoniellen Höflichkeitsformeln, die er stets in komischster Weise anwandte, ungeschickt zu verschleiern.

Nachdem sein Brief abgegangen, wartete er auf Minnas Antwort, lebte überhaupt nur noch in dieser Erwartung. Um Geduld zu bewahren, versuchte er spazieren zu gehen und zu lesen, aber er dachte nur an Minna und sprach sich ihren Namen mit geradezu wahnsinniger Beharrlichkeit immer wieder vor. Für diesen Namen empfand er eine so abgöttische Liebe, daß er überall, wohin er ging, in seiner Tasche einen Band Lessing bei sich trug, weil Minnas Name darin stand; und jeden Tag, wenn er aus dem Theater kam, machte er einen großen Umweg, um bei einem Kurzwarenladen vorbeizukommen, dessen Schild die fünf angebeteten Buchstaben trug.

Zerstreute er sich, so warf er es sich vor, hatte sie ihm doch mit Nachdruck befohlen, zu arbeiten, um sie berühmt zu machen. Der naive Egoismus dieser Bitte rührte ihn als ein Zeichen ihres Vertrauens. Um es zu rechtfertigen, beschloß er ein Werk zu schreiben, das ihr nicht nur gewidmet, sondern wirklich geweiht wäre. Übrigens hätte er auch augenblicklich gar nichts anderes machen können. Kaum hatte er dazu das Konzept entworfen, als ihm die musikalischen Gedanken auch schon zuströmten. Es war wie eine Wassermenge, die sich seit Monaten in einem Becken angesammelt hat, nun plötzlich hervorstürzt und alle Dämme niederreißt. Acht Tage lang ging er nicht aus seinem Zimmer. Luise stellte ihm sein Essen vor die Tür; denn er ließ nicht einmal sie zu sich hinein.

Er schrieb ein Quintett für Klarinette und Streichinstrumente. Der erste Teil war ein Gedicht voller Hoffnung und jugendlicher Wünsche; der letzte ein Liebesgetändel, nur hie und da etwas von Christofs ungezügeltem Humor unterbrochen. Doch das ganze Werk war um des zweiten Teils, des larghetto, willen geschrieben, in dem Christof eine kleine feurige und kindliche Seele gemalt hatte, die Minnas Porträt war oder sein sollte. Keiner hätte sie darin wiedererkannt, sie selbst weniger als irgend jemand; das Wesentliche aber war, daß Christof sie darin ganz und gar erkannte; und ein Schauer von Glück durchrann ihn bei dem Gedanken, daß er sich des Wesens der Geliebten so bemächtigt habe. Keine Arbeit war ihm je so leicht und glücklich vonstatten gegangen: sie war eine Auslösung für den Liebesüberschwang, den die Trennung in ihm erzeugt hatte; und gleichzeitig gaben ihm die Sorge um das Kunstwerk, die Anspannung, welche nötig war, um die Leidenschaft in eine schöne klare Form zu meistern und zusammenzuschließen, so viel geistige Gesundheit, solches Gleichgewicht aller seiner Kräfte, daß ihm das eine Art physischer Wollust verursachte. Höchster Genuß, den jeder schaffende Künstler kennt: während er schafft, ist er dem Sklaventum seiner Wünsche und Schmerzen nicht unterworfen und wird seinerseits ihr Herrscher. Alles, was sonst ihn genießen, alles, was ihn leiden machte, scheint ihm nun das freie Spiel seines Willens. Nur allzukurze Augenblicke! Denn nachher empfindet er um so drückender die Ketten der Wirklichkeit.

Solange Christof mit dieser Arbeit beschäftigt war, hatte er kaum Zeit, an Minnas Fernsein zu denken: er lebte mit ihr. Minna war nicht mehr in Minna; sie war ganz und gar in ihm. Aber als er fertig war, fand er sich wieder allein, einsamer als zuvor, müder als zuvor, erschöpft von der Anstrengung; es fiel ihm ein, daß er vor zwei Wochen an Minna geschrieben, und daß sie ihm nicht geantwortet hatte.

Er schrieb ihr wieder; und diesmal konnte er sich nicht dazu entschließen, ganz den Zwang zu beobachten, den er sich im ersten Brief auferlegt hatte. Er warf Minna in scherzhaftem Ton vor, – denn ernstlich glaubte er es selbst nicht, – daß sie ihn vergessen habe. Er schalt sie wegen ihrer Faulheit und neckte sie zärtlich. Von seiner Arbeit sprach er höchst geheimnisvoll, um ihre Neugierde zu reizen, und weil er ihr bei der Rückkehr eine Überraschung bereiten wollte. Den Hut, den er sich gekauft hatte, beschrieb er bis ins Kleinste; und er erzählte, daß er, um den Befehlen der kleinen Despotin zu gehorchen, – denn er hatte dem Brief jeden Anschein von Anmaßung genommen – gar nicht mehr ausgehe, und sich krank stelle, um alle Einladungen ablehnen zu können. Aber er verschwieg, daß er selbst mit dem Großherzog kühl stand, weil er in seinem Übereifer an einem Abend, zu dem er aufs Schloß gebeten war, sich hatte entschuldigen lassen. Der ganze Brief war von fröhlicher Ausgelassenheit und voll jener kleinen Geheimnisse, die für Liebende so wichtig sind: er bildete sich ein, Minna allein habe dazu den Schlüssel, und hielt sich für äußerst geschickt, weil er das Wort Liebe überall sorgfältig durch das Wort Freundschaft ersetzt hatte.

Nach dem Schreiben fühlte er sich momentan erleichtert: zunächst, weil ihm der Brief ein Gespräch mit der Abwesenden vorgegaukelt hatte; vor allem aber, weil er sicher war, Minna würde nun sofort antworten. So war er während der drei Tage, die er der Post zugebilligt hatte, um seinen Brief zu Minna und ihm die Antwort zurückzutragen, sehr geduldig. Als aber der vierte Tag verstrichen war, wußte er wieder nicht, wie er weiter leben sollte. Er hatte nur noch während der Stunde, die jeder Postbestellung voranging, Energie und Interesse für die Außenwelt. Dann bebte er vor Ungeduld. Er wurde abergläubisch und suchte in den kleinsten Zeichen – dem Knistern des Feuers im Herd, einem zufällig ausgesprochenen Wort – die Bestätigung, daß der Brief eintreffen werde. War die Stunde dann vorbei, fiel er in seine tiefe Niedergeschlagenheit zurück. Nichts mehr von Arbeit, keine Spaziergänge: der einzige Daseinszweck war, die nächste Post zu erwarten; und seine ganze Energie gab er darauf aus, die Kraft zu finden, so lange zu warten. Kam aber der Abend, und es gab für den Tag keine Hoffnung mehr, dann war er ganz mutlos: ihm war, als würde er es nie fertig bringen, bis zum nächsten Morgen zu leben; und er blieb stundenlang am Tisch sitzen, ohne zu sprechen, ohne zu denken, ohne selbst die Kraft zu finden, sich niederzulegen, bis ihn endlich ein letzter Rest von Willen sein Bett aufsuchen ließ; dann sank er in einen schweren Schlaf voll törichter Träume, die ihn glauben ließen, daß die Nacht kein Ende nähme.

Diese fortwährende Erwartung wurde mit der Zeit zur körperlichen Qual, zur wirklichen Krankheit. Schließlich, kam er dahin, seinen Vater, seine Brüder, den Briefträger selbst zu verdächtigen, den Brief empfangen zu haben und ihn ihm vorzuenthalten. Er wurde von Unruhe zernagt. An Minnas Treue zweifelte er keinen Augenblick. Wenn sie ihm nicht schrieb, mußte sie krank sein, im Sterben liegen, vielleicht tot sein. Aufs neue griff er hastig zur Feder und schrieb ihr einen dritten Brief, ein paar herzzerreißende Zeilen, und dachte diesmal nicht daran, seine Gefühle noch seine Orthographie zu überwachen. In der Eile hatte er manches durchstrichen, die Seite beim Umwenden verwischt, den Umschlag beim Schließen beschmutzt: gleichviel! Er hätte nicht mehr bis zum nächsten Postzug warten können. Er brachte schleunigst den Brief selbst zur Post und wartete nun in Todesangst. In der zweiten Nacht hatte er eine deutliche Erscheinung von Minna, sie war krank und rief ihn; da stand er auf und war nahe daran, zu Fuß loszumarschieren, um sie aufzusuchen. Aber wo? Wo sie finden?

Am vierten Morgen endlich kam ein Brief von Minna – eine knappe halbe Seite, kurz und geziert. Sie schrieb, daß sie nicht begriffe, was ihm solche dummen Besorgnisse hätte einflößen können, daß es ihr gut ginge, daß sie keine Zeit zum Schreiben habe, daß sie ihn bäte, sich in Zukunft weniger aufzuregen und ihr nicht ewig Briefe zu schicken.

Christof war tief bestürzt. Er zweifelte keinen Augenblick an Minnas Aufrichtigkeit, machte sich selbst Vorwürfe, dachte, daß Minna ganz mit Recht über seine unvorsichtigen und verrückten Briefe ärgerlich sei. Er nannte sich einen Einfaltspinsel und schlug sich mit der Faust vor die Stirn. Aber was er auch tat: er mußte wohl oder übel fühlen, daß Minna ihn nicht so liebte wie er sie.

Die nun folgenden Tage waren ganz unsagbar trübe. Des einzigen Gutes, das ihn ans Dasein fesselte, seiner Briefe an Minna, sah er sich beraubt und lebte nur noch rein mechanisch; und das einzige Tun, das ihn an seinem Leben noch interessierte, war, abends beim Zubettgehen auf seinem Kalender wie ein Schulbub einen der endlosen Tage auszustreichen, die ihn noch von Minnas Rückkehr trennten.

 

Der Zeitpunkt der Rückkehr war verstrichen. Schon seit einer Woche hätten sie da sein müssen. Christofs gänzlichem Darniederliegen war ein fieberhafter Tätigkeitsdrang gefolgt. Minna hatte ihm bei der Abreise versprochen, ihm Tag und Stunde ihrer Ankunft mitzuteilen. Von Augenblick zu Augenblick wartete er darauf; und da er ohne Nachricht blieb, erging er sich in tausend Mutmaßungen, um sich die Verspätung zu erklären.

Eines Abends war ein Nachbar, einer von Großvaters Freunden, der Tapezierer Fischer, herübergekommen, um mit Melchior seine Pfeife zu rauchen und zu schwatzen, wie er es öfters nach dem Essen tat. Christof, den seine Gedanken plagten, wollte gerade in sein Zimmer hinaufgehen, da er dem Briefträger doch schon vergeblich aufgelauert hatte, als ihn ein Wort zusammenfahren ließ.

Fischer sagte, daß er frühzeitig am nächsten Morgen zu den Kerichs gehen müsse, um Vorhänge aufzumachen. Christof fragte betroffen:

»Sind sie denn schon zurückgekommen?«

»Witzbold! Das weißt du doch ebensogut wie ich,« meinte der alte Fischer spöttisch. »Schon längst! Vorgestern sind sie heimgekehrt.«

Christof hörte nichts weiter. Er verließ das Zimmer und machte sich zum Ausgehen fertig. Seine Mutter, die ihn seit einiger Zeit, ohne daß er's merkte, verstohlen beobachtete, folgte ihm in den Flur und fragte ihn schüchtern, wo er hinginge. Aber er verließ ohne Antwort das Haus. Er litt Qualen.

Er lief zu den Damen von Kerich. Es war neun Uhr abends. Sie waren beide im Salon und schienen über sein Kommen nicht erstaunt. Mit Seelenruhe sagten sie ihm Guten Abend. Minna, die gerade schrieb, streckte ihm über den Tisch hin die Hand entgegen, fuhr in ihrem Briefe fort und fragte ihn dabei mit zerstreuter Miene, wie es ihm gehe. Sie entschuldigte sich übrigens wegen ihrer Unhöflichkeit und tat, als ob sie hörte, was er sagte; aber bald fiel sie ihm ins Wort, um ihre Mutter nach etwas zu fragen. Er hatte sich eine rührende Rede auf alles, was er während ihrer Abwesenheit gelitten hatte, ausgedacht: jetzt konnte er kaum ein paar Worte stammeln; niemand schien großen Wert darauf zu legen, und er fand nicht den Mut weiter zu sprechen: es klang alles so falsch.

Als Minna ihren Brief beendet hatte, nahm sie eine Handarbeit, setzte sich einige Schritte von ihm entfernt hin und fing an, ihm von ihrer Reise zu erzählen. Sie sprach von den schönen Wochen, die sie verlebt habe, von den Reitausflügen, von dem Leben auf dem Schloß und von der interessanten Gesellschaft; nach und nach wurde sie angeregter und machte auf Ereignisse oder Menschen Anspielungen, die Christof nicht kannte, während die Erinnerung daran sie und ihre Mutter lachen machte. Christof fühlte sich daher als Fremder; er wußte nicht, wie er sich dabei benehmen sollte, und lachte mit verlegener Miene. Er ließ die Blicke nicht von Minnas Antlitz, schaute nach ihren Augen, flehte um das Almosen eines Blickes. Und sah sie ihn an – was sie selten tat, da sie sich öfter an ihre Mutter als an ihn wandte – so waren ihre Augen wie ihre Stimme zwar freundlich, aber gleichgültig. Nahm sie sich ihrer Mutter wegen zusammen oder verstand er sie nicht? Er hätte sie so gern unter vier Augen gesprochen; Frau von Kerich aber ließ sie nicht eine Minute allein. Er versuchte das Gespräch auf seine Angelegenheiten zu bringen; er sprach von seinen Arbeiten, seinen Plänen; undeutlich wurde ihm bewußt, daß Minna ihm langsam entglitt; und instinktiv versuchte er, sie an sich zu fesseln. Und wirklich schien sie mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören; sie unterbrach seinen Bericht durch allerlei Zwischenbemerkungen, die zwar nicht immer ganz zutreffend waren, deren Ton jedoch volle Anteilnahme verriet. Im Augenblick aber, wo er wieder Hoffnung zu schöpfen begann, ganz berauscht von ihrem reizenden Lächeln, sah er, wie sie das Händchen vor den Mund hielt und gähnte. Da brach er kurz ab. Sie merkte es und entschuldigte sich mit ihrer Müdigkeit. Er erhob sich, hoffte aber, daß man ihn noch zum Bleiben auffordern werde. Aber als nichts dergleichen geschah, zog er den Abschied in die Länge, in der Erwartung, daß man ihn wenigstens auffordern werde, am nächsten Tage wiederzukommen; doch auch hiervon war nicht die Rede. Schließlich mußte er aber doch einmal gehen. Minna begleitete ihn indessen nicht hinaus. Sie reichte ihm mitten im Salon die Hand, eine ausdruckslose Hand, die kalt und fühllos in der seinen lag. Und so verabschiedete man sich steif und förmlich voneinander.

Voller Entsetzen kam Christof heim. Von jener Minna von vor zwei Monaten, seiner lieben Minna, war nichts mehr übrig. Was war vorgefallen? Was war aus ihr geworden? Für einen armen Jungen, der noch niemals den steten Wechsel, das vollständige Verschwinden und das gänzliche Neuwerden lebendiger Seelen erfahren hatte, von denen die meisten gar keine Seelen, sondern eine Sammlung mehrerer Seelen sind, die einander folgen, sich verwandeln und beständig verlöschen, war die schlichte Wahrheit zu grausam, als daß er hätte daran glauben mögen. Mit Abscheu stieß er den auftauchenden Gedanken von sich und versuchte sich einzureden, daß er falsch gesehen habe und daß Minna noch immer dieselbe sei. Und er beschloß, gleich am nächsten Morgen wieder zu ihr zu gehen und sie um jeden Preis zu sprechen.

Er schlief die ganze Nacht nicht, er zählte Stunde um Stunde den Glockenschlag der Uhr. Schon in aller Herrgottsfrüh strich er um das Haus der von Kerichs herum, und sobald er konnte, trat er ein. Doch nicht Minna traf er, sondern Frau von Kerich. Häuslich und Frühaufsteherin, die sie war, war sie gerade dabei, die Blumentöpfe unter der Veranda zu begießen. Als sie Christofs ansichtig wurde, begrüßte sie ihn mit einem spöttischen Tonfall in der Stimme:

»Ach Sie sind es … Sie kommen gerade zur rechten Zeit, ich habe mit Ihnen zu reden. Warten Sie, warten Sie …«

Damit ging sie einen Augenblick ins Haus, um ihre Kanne fortzustellen und sich die Hände zu trocknen, kam aber gleich wieder zurück. Als sie die fassungslose Miene Christofs sah, der ein Unheil nahen fühlte, lächelte sie ein wenig.

»Gehen wir in den Garten,« fuhr sie fort, »dort sind wir ungestörter.«

Christof folgte Frau von Kerich in den Garten – den Garten, der noch ganz von seiner Liebe erfüllt war. Sie schien es indessen mit dem Sprechen gar nicht eilig zu haben, und belustigte sich an der Verwirrung des Knaben. »Setzen wir uns dorthin,« sagte sie endlich.

Ausgerechnet war es gerade die Bank, auf der Minna ihn am Vorabend ihrer Reise geküßt hatte.

»Ich denke, Sie wissen, um was es sich handelt,« sagte Frau von Kerich, die, um ihn vollends zu verwirren, jetzt eine ernste Miene aufsetzte. »Ich hätte das nie von Ihnen gedacht, Christof. Ich habe Sie für einen zuverlässigen Jungen gehalten und hatte volles Vertrauen zu Ihnen. Niemals hätte ich gedacht, daß Sie es mißbrauchen würden, um zu versuchen, meiner Tochter den Kopf zu verdrehen. Sie war unter Ihrer Obhut. Sie hätten sie achten müssen, mich achten, sich selber achten.«

In ihrem Ton lag leichte Ironie; – Frau von Kerich legte dieser Kinderliebe nicht die geringste Wichtigkeit bei; – Christof aber fühlte das nicht; diese Vorwürfe, die er wie alles tragisch nahm, gingen ihm tief zu Herzen.

»Aber gnädige Frau … aber gnädige Frau …« stammelte er mit tränenerfüllten Augen. »Ich habe Ihr Vertrauen nie mißbraucht … Bitte glauben Sie das doch ja nicht … Ich bin kein schlechter Mensch, das schwöre ich Ihnen! … Ich liebe Fräulein Minna, ich liebe sie von ganzem Herzen, ich will sie doch heiraten.«

Nun lächelte Frau von Kerich.

»Nein, mein armer Junge,« sagte sie mit jenem Wohlwollen, das im Grunde doch so hochmütig war und das er endlich zu verstehen begann, »nein, das ist unmöglich, das ist eine Kinderei.«

»Warum? Warum?« fragte er.

Er griff nach ihren Händen, glaubte nicht, daß sie ernsthaft spräche, und fühlte sich durch ihre sanftere Stimme fast schon wieder beruhigt.

»Darum!« gab sie ihm mit dem gleichen Lächeln zur Antwort.

Da er aber auf seiner Meinung bestand, erklärte sie ihm, nicht ohne eine leichte Ironie – denn sie nahm ihn nicht ganz ernst –, daß er ja kein Vermögen habe, und daß Minna der Sinn nach anderm stände. Er widersprach: das mache nichts aus, er werde schon reich und berühmt werden und Ehren, Geld, kurz alles, was Minna nur wolle, erwerben. Frau von Kerich zeigte sich skeptisch; dieses Selbstvertrauen machte ihr indessen Spaß, und sie begnügte sich zum Zeichen der Ablehnung mit dem Kopf zu schütteln. Er aber beharrte immer noch hartnäckig auf seiner Ansicht.

»Nein, Christof,« sagte sie schließlich in entschiedenem Ton, »nein, es lohnt sich nicht darüber zu streiten, es ist unmöglich. Es handelt sich nicht nur um Geld. Da ist soviel! … Die gesellschaftliche Stellung …«

Sie brauchte gar nicht auszureden. Dieser Stich war ihm bis ins Mark gedrungen. Seine Augen sahen plötzlich klar. Er spürte die Ironie hinter dem freundlichen Lächeln, er sah die Kälte in diesem wohlwollenden Blick, er begriff mit einemmal, was ihn von dieser Frau schied, die er wie ein Sohn geliebt hatte, die ihn wie eine Mutter zu behandeln schien; er fühlte die ganze Gönnerschaft und den ganzen Hochmut, der hinter ihrer Herzlichkeit lag. Totenbleich stand er auf. Noch immer sprach ihm Frau von Kerich mit ihrer weichen Stimme zu; für ihn war jedoch alles längst zu Ende; er hörte nicht mehr die Musik dieser Sprache; unter jedem Wort gewahrte er die Dürre dieser geschmeidigen Seele. Er konnte keinen Ton erwidern – und er ging. Alles drehte sich vor ihm im Kreise.

In sein Zimmer heimgekehrt, warf er sich aufs Bett und wurde in seinem verletzten Stolz von einem Wutanfall gepackt, wie er ihn schon manchmal gehabt hatte, als er noch ganz klein gewesen war. Er zerbiß sein Kopfkissen, stopfte sich das Taschentuch in den Mund, damit man ihn nicht schreien höre. Er haßte Frau von Kerich, haßte Minna; er verachtete sie vom Grund seines Herzens. Ihm war, als sei er geohrfeigt worden, und er bebte vor Scham und Wut. Er mußte es ihnen zurückgeben, auf der Stelle handeln; er würde sterben, wenn er sich nicht rächte.

Und er stand auf und schrieb einen Brief von alberner Heftigkeit:

Gnädige Frau,

Ich weiß nicht, ob Sie, wie Sie behaupten, sich in mir getäuscht haben. Was ich aber weiß, ist, daß ich mich grausam in Ihnen täuschte. Ich glaubte, daß Sie meine Freundinnen wären. Sie sagten es, Sie taten, als ob Sie es wären, und ich liebte Sie mehr als mein Leben. Ich sehe jetzt, daß all das eine Lüge ist, und daß Ihre Zuneigung für mich nichts als Trug war: Sie benutzten mich, ich belustigte Sie, ich zerstreute Sie, ich machte Ihnen Musik – ich war Ihr Dienstbote. Ihr Dienstbote aber bin ich nicht! Ich bin keines Menschen Dienstbote!

Sie gaben mir deutlich zu verstehen, daß ich nicht das Recht hätte, Ihre Tochter zu lieben. Nichts auf der Welt kann mein Herz hindern, das zu lieben, was es liebt; und bin ich Ihnen nicht ebenbürtig, so bin ich doch ebenso adelig wie Sie. Nur das Herz adelt den Menschen: bin ich nicht Graf, so habe ich dafür vielleicht mehr Ehre in mir als mancher Graf. Im Augenblick, wo er mich beleidigt, verachte ich ihn, ob Schuhputzer oder Graf. Wie Dreck verachte ich alles, was sich adelig dünkt und nicht den Adel der Seele besitzt. Leben Sie wohl! Sie haben mich verkannt. Sie haben mich getäuscht. Ich verabscheue Sie.

Der, welcher Ihnen zum Trotz Fräulein Minna liebt
und sie bis zum Tode lieben wird, weil sie ihm gehört
und nichts sie ihm wieder entreißen kann.

Kaum hatte er seinen Brief in den Kasten geworfen, als ihn der Schrecken über das, was er getan, packte. Er versuchte, gar nicht mehr daran zu denken; doch gewisse Sätze kehrten ihm immer wieder ins Gedächtnis zurück; und der kalte Schweiß brach ihm aus, wenn er sich vorstellte, daß Frau von Kerich diese Ungeheuerlichkeiten läse. Im ersten Augenblick hielt ihn seine Verzweiflung selber aufrecht; aber am nächsten Morgen schon begriff er, daß sein Brief keinen andern Erfolg haben würde, als ihn ganz und gar von Minna zu trennen: und das erschien ihm als das furchtbarste Unglück. Noch hoffte er, daß Frau von Kerich, die seine Zornesausbrüche kannte, auch diesen nicht ernst nehmen würde, daß sie sich's mit einer strengen Verwarnung genug sein lassen, und daß sie vielleicht – wer weiß – durch die Aufrichtigkeit seiner Leidenschaft gerührt sein würde. Er harrte nur auf ein Wort, um sich ihr zu Füßen zu werfen. Fünf Tage wartete er darauf. Dann kam ein Brief. Er lautete:

Lieber Herr Krafft,

Da nach Ihrer Ansicht ein Mißverständnis von beiden Seiten zwischen uns besteht, ist es sicher das klügste, es nicht weiter auszudehnen. Ich würde mir Vorwürfe machen, Ihnen noch länger Beziehungen aufzudrängen, die Ihnen peinlich geworden sind. Sie werden es also nur natürlich finden, wenn wir sie abbrechen. Ich hoffe, daß es Ihnen fernerhin nicht an Freunden fehlen wird, welche Sie so, wie Sie es wünschen, zu schätzen wissen. Ich zweifle nicht an Ihrer Zukunft und werde Ihre Fortschritte im musikalischen Beruf von fern mit Sympathie verfolgen. Mit Gruß

Josepha von Kerich.

Die bittersten Vorwürfe wären weniger grausam gewesen. Christof sah sich verloren. Man konnte dem, der einen ungerechterweise anklagte, antworten. Was aber war zu tun gegen das Nichts dieser höflichen Gleichgültigkeit? Er wurde wie rasend. Er dachte daran, daß er Minna nicht wiedersehen werde, nie mehr wiedersehen werde; das konnte er nicht ertragen. Er fühlte, wie wenig aller Stolz der Welt bedeutet gegen ein klein wenig Liebe; so vergaß er alle Würde, wurde nachgiebig, schrieb neue Briefe, in denen er flehte, man möge ihm verzeihen. Sie waren nicht weniger töricht als der, in dem er seinem Zorn hatte die Zügel schießen lassen. Man antwortete ihm gar nicht.

Und alles war zu Ende.

 

Fast ging er daran zugrunde. Er wollte sich töten. Er wollte töten. Wenigstens bildete er sich ein, daß er es wollte. Er hatte aufrührerische mörderische Gedanken. Man ahnt nicht den Grad der Leidenschaft in Liebe und Haß, die gewisse Kinderherzen manchmal verzehren. Es war die furchtbarste Krisis seiner Kindheit. Sie setzte seiner Kindheit ein Ende. Sie stählte seinen Willen; aber es fehlte nicht viel, so hätte sie ihn für immer gebrochen.

Er wußte nicht mehr wie leben. Aufs Fensterbrett gestützt, sah er stundenlang auf den gepflasterten Hof hinab und überlegte wie als kleines Kind, daß es ja ein Mittel gäbe, der Lebensfolter zu entrinnen, wenn sie zu schwer würde. Das Mittel lag da vor seinen Augen, bereit auf der Stelle zu helfen … auf der Stelle? Wer konnte es wissen? … Vielleicht nach Stunden – nach Jahrhunderten – grausamer Qual! … Aber seine Kinderverzweiflung war so tief, daß er sich in den schwindelnden Abgrund solcher Gedanken gleiten ließ.

Luise sah, daß er litt. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit ahnen, was in ihm vorging; aber ihr Instinkt warnte sie dunkel vor der Gefahr. Sie versuchte sich ihrem Sohne zu nähern, in sein Leid einzudringen, um ihn trösten zu können. Aber die arme Frau hatte verlernt, sich mit Christof vertraut auszusprechen; seit manchem Jahr schon verschloß er seine Gedanken in sich; und sie war von den materiellen Sorgen des Lebens zu sehr in Anspruch genommen, um Zeit zu haben, sie ahnend auszuspüren. Jetzt, da sie ihm so gern zu Hilfe gekommen wäre, wußte sie nicht, was tun. Sie strich völlig ratlos um ihn herum; sie suchte nach Worten, die ihm gut getan hätten; aber aus Furcht, ihn zu reizen, wagte sie nicht zu sprechen. Dabei ärgerte sie ihn trotz aller Vorsicht durch jede Gebärde, allein schon durch ihre Gegenwart; denn sehr geschickt war sie nicht, und er war nicht sehr nachsichtig. Dennoch liebte er sie, liebten sie sich beide. Aber es braucht so wenig, um Menschen, die sich von Herzen lieben und achten, zu trennen! Ein zu lautes Sprechen, eine Bewegung, die nicht am Platze ist, eine harmlose Angewohnheit mit den Augen oder mit der Nase zu zucken, die Art zu essen, zu gehen und zu lachen, eine undefinierbare physische Störung … Man sagt sich selbst, daß es nichts bedeutet, und doch ist es eine Welt. Sehr oft genug, um Mutter und Sohn, Bruder und Bruder, Freund und Freund, die sich nahe standen, einander für immer zu entfremden.

So fand denn Christof in der Zärtlichkeit seiner Mutter keinen genügenden Halt während der Krisis, die er durchmachte. Und dann – was bedeutet dem mit seiner Leidenschaft allein beschäftigten Egoismus die Zärtlichkeit anderer?

Eines Nachts, als die Seinen schliefen und er gedankenlos und untätig am Tisch saß und gefährlichen Grübeleien nachhing, hallte Lärm von Schritten durch die schweigende kleine Straße, und ein Klopfen an der Tür riß ihn aus seiner Betäubung. Man vernahm ein undeutliches Stimmengemurmel. Ihm fiel ein, daß sein Vater abends nicht nach Hause gekommen war, und voller Wut glaubte er, daß man ihn wohl wieder betrunken nach Hause brächte, genau wie in der vorigen Woche, wo man ihn mitten auf der Straße liegend aufgefunden hatte. Denn Melchior legte sich keinerlei Zwang mehr auf; er ergab sich seinem Laster mehr und mehr, übrigens ohne daß seine Mordsgesundheit unter den Ausschweifungen und Unvorsichtigkeiten, die einen andern längst getötet hätten, auch nur im geringsten zu leiden schien. Er aß für vier, trank bis zur Bewußtlosigkeit, verbrachte ganze Nächte beim schlimmsten Hundewetter im Freien, ließ sich bei Keilereien verprügeln und stand trotzdem am nächsten Morgen in seiner ganzen lärmenden Fröhlichkeit wieder auf seinen Beinen und wollte, daß alle Welt um ihn her so vergnügt sei wie er selbst.

Luise war aus dem Bett gesprungen und ging eilig öffnen. Christof hielt sich die Ohren zu, um nicht Melchiors weinselige Stimme und die spöttischen Bemerkungen der Nachbarn mit anhören zu müssen … Plötzlich packte ihn eine unerklärliche Angst: das Gesicht in den Händen verborgen, fing er grundlos zu zittern an. Und gleich darauf ließ ihn ein herzzerreißender Schrei den Kopf aufrichten. Er sprang zur Tür …

Inmitten einer Gruppe von Männern, die mit leiser Stimme im dunklen Flur sprachen, der durch den flackernden Schein einer Laterne erhellt war, lag auf eine Tragbahre hingestreckt, – wie einstmals Großvater – ein regloser Körper, der von Nässe triefte. Luise schluchzte am Hals des Toten. Man hatte Melchior soeben ertrunken im Mühlgraben gefunden.

Christof stieß einen Schrei aus. Die ganze übrige Welt verschwand, all seine andern Schmerzen waren wie weggefegt. Er warf sich neben Luise über die Leiche seines Vaters und sie weinten zusammen.

 

Als er neben dem Bett saß und den letzten Schlaf Melchiors bewachte, dessen Gesicht jetzt einen strengen und feierlichen Ausdruck hatte, fühlte er, wie die düstere Ruhe des Todes in ihn eindrang. Seine kindliche Leidenschaft war wie ein Fieberanfall verflogen; der Eiseshauch des Grabes hatte alles mit sich fortgetragen. Minna, seinen Stolz, seine Liebe und ihn selbst … Ach, es war schrecklich, daß alles so wenig neben dieser Wirklichkeit bedeutete, der einzigen Wirklichkeit: dem Tod! Lohnte es sich, so viel zu leiden, so viel zu ersehnen, sich so zu mühen, um endlich dahin zu gelangen! …

Er schaute auf seinen entschlafenen Vater, und ein unendliches Mitleid erfüllte ihn. Er rief sich die geringsten Beweise seiner Güte und Zärtlichkeit ins Gedächtnis; denn bei all seinen Fehlern war Melchior ja nicht schlecht gewesen, es war so manches Gute in ihm. Er liebte die Seinen. Er war ehrenhaft. Er besaß etwas von der starrsinnigen Rechtlichkeit der Kraffts, die in Fragen der Moral und Ehre keinerlei Deutelei duldeten und die sich nie die geringste jener kleinen Schmutzereien erlaubt hätten, die so viele Leute der Gesellschaft nicht als ernstliche Vergehen ansehen. Er war tapfer und stellte sich jeder gefahrvollen Gelegenheit mit einer Art Freude. War er verschwenderisch für sich, so war er es auch für andere: er konnte nicht ertragen, daß man traurig war; und er schöpfte gern aus dem Vollen von dem, was ihm gehörte – und was ihm nicht gehörte, – zugunsten armer Teufel, die ihm auf seinem Weg begegneten. Alle diese guten Eigenschaften standen Christof jetzt vor Augen: – teilweise erfand er sie auch oder übertrieb sie. – Ihm war, als habe er seinen Vater verkannt. Er warf sich vor, ihn nicht genug geliebt zu haben. Er sah ihn vom Leben besiegt, und er meinte seine unglückliche, willenlos umhergetriebene Seele, die für den Kampf zu schwach gewesen, über ihr unnütz verlorenes Leben seufzen zu hören. Von neuem vernahm er die jammervolle Bitte, deren Ton ihm einmal das Herz zerrissen hatte:

»Christof, verachte mich nicht!«

Und er wurde von Gewissensbissen geschüttelt. Er warf sich über das Bett und küßte weinend das Antlitz des Toten. Wie damals wiederholte er:

»Mein lieber Papa, ich verachte dich nicht, ich liebe dich! Vergib mir!«

Die Klage aber beruhigte sich nicht und kehrte voller Angst wieder:

»Verachtet mich nicht! verachtet mich nicht! …«

Und plötzlich sah Christof sich selbst an Stelle des Toten hingestreckt; er vernahm die furchtbaren Worte aus seinem eignen Munde, er fühlte auf seinem Herzen die Verzweiflung eines unnützen, unwiderruflich verlorenen Lebens lasten. Und er dachte mit Entsetzen: »O alles, – alle Leiden, alles Elend der Welt eher, als dahin kommen!« … Wie nahe war er daran gewesen! War er nicht beinahe der Versuchung unterlegen, sein Leben selber zu zerbrechen, um feige dem Leid zu entfliehen? Als ob nicht alle Leiden, alle Verrätereien Kindersorgen wären neben der höchsten Qual, dem größten Verbrechen, sich selbst zu verraten, seinen Glauben zu verleugnen, sich im Tode zu verachten!

Er sah das Leben als einen Kampf ohne Rast und ohne Gnade, in dem der, der ein Mensch sein will, würdig des Namens Mensch, unaufhörlich gegen Armeen unsichtbarer Feinde kämpfen muß: die mörderischen Kräfte der Natur, die dunklen Triebe, die düstren Gedanken, die ihn verräterisch dazu treiben, sich wegzuwerfen und sich zu vernichten. Er sah, daß auch er nahe daran gewesen war, in die Falle zu gehen. Er sah, daß Glück und Liebe der Trug eines Augenblicks sind, um das Herz dahin zu bringen, die Waffen zu strecken und abzudanken. Und der kleine fünfzehnjährige Puritaner vernahm die Stimme seines Gottes:

»Geh hin und ruhe niemals.«

»Wohin aber soll ich gehen, Herr? Was ich auch tue, wohin ich auch schreite, ist das Ergebnis nicht stets das gleiche, endet es nicht doch immer so?«

»Geht hin und sterbet, ihr, die ihr sterben müßt! Geht hin und leidet, ihr, die ihr leiden müßt! Man lebt nicht, um glücklich zu sein. Man lebt, um Mein Gesetz zu erfüllen. Leide. Stirb. Doch sei, was du sein sollst: – ein Mensch


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