Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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16

Heimkehr

Der Rest der Leute verteilte die letzten Bestände der Mannschaftskantine. Auch ich bekam meinen Teil, Briefpapier, Bleistifte, sehr viel Schuhschmiere und Lederfett. Das brachte ich Thalmanns als Abschiedsgeschenk. Ich grub den Blechkasten am Fischergrab wieder aus.

Ich trank den letzten Kaffee in meinem Zimmer und schrieb mit Kohle einen sentimentalen Vers an die Wand:

Fror mein Herz in dieser Einsamkeit,
Hab ich warm geschrieben und gelesen.
Und dann sah ich deutsche Kraft verwesen,
Dünger werden einer bessren Zeit.

Blinde trugen Schmach und Leid.
Euch nur, Wald und See, hab ich zu danken,
Die ihr, als die Menschen häßlich sanken,
Immer treu und gleich geblieben seid.

Leutnant a. D. Gustav Hester,
21. November 1918.

Dann fuhr ich auf dem Dienstrad davon. Ich trug den geliebten, verlotterten Pelzmantel, Rucksack, Handtasche, Spazierstock, und Frau Werner lief rührend übermütig nebenher. Im Hotel Adalbert, wo Pampigs und Möbus wohnten, bezog auch ich ein Zimmer. Nun war ich häufiger mit Reye, Clausen, Hühne, Behrend und anderen Offizieren zusammen, verbrachte auch viele Stunden bei Prüters. Man tauschte Neugehörtes oder Neuerlebtes aus. Der Rote Rat stand noch immer auf dem radikalen Boden der Spartakus-Gruppe. Die Verhältnisse komplizierten sich immer mehr. Sonderparteien, Sonderbehörden, Sondergruppen und Vereine bildeten sich. Ein plötzlich inszeniertes Massaker schien ebenso möglich wie ein kontrarevolutionäres Eingreifen des Militärs. Es hieß, der Kaiser gedächte nach Potsdam zurückzukehren. Und: Die unerbittlich rachelüsternen Franzosen schürten heimlich die bolschewistischen Bestrebungen in Deutschland, um Grund zum Einmarschieren zu haben. Post traf sehr unregelmäßig ein. Endlich erhielt ich einen Brief von Tante Michel. Sie lud mich gütig ein, nach Berlin zu ihr, beziehungsweise zu ihrem Bruder zu kommen.

Reye klagte mir seinen Kummer. Er hatte vor der Revolution der Kasinoverwaltung dreißigtausend Mark für Weinkäufe geliehen. Dieses Geld war nun futsch. Was ihn aber am meisten betrübte, war, daß man außer seinem Dolch auch einen Revolver beschlagnahmt hatte, der ein teures Andenken an seinen Bruder war. Ich bemühte mich sofort um die Wiederbeschaffung des Revolvers, ging deswegen mehrmals zum Roten Rat und setzte dem Ausschußmitglied Lieby so lange zu, bis er mich in den Kellerraum führte, wo man die konfiszierten Offizierswaffen aufgestapelt hatte. Reyes Revolver war nicht dabei. Es stellte sich heraus, daß der Vorsitzende des Roten Rates, Baier, der zu einer Generalsitzung nach Berlin gefahren war, gerade diesen Revolver mitgenommen hatte. Lieby schwur mir hoch und teuer, daß er mir den Revolver später zusenden würde.

Pampig kam froh erregt ins Zimmer gestürzt. Er und ein Teil der Offiziere dürften Cuxhaven verlassen. Aber Ottos Freude war verfrüht. Denn gleich darauf wurde berichtigt, daß nur Offiziere der Jahresklasse 1883 abreisen dürften. Das betraf nun mich. Ich war also frei. Aber es erforderte viele Abmeldungen, Formalitäten und Gänge, über deren Erledigung gewiß noch ein paar Tage vergingen. Da erhielt ich aus Hamburg zur rechten Zeit ein Telegramm: »Leutnant Hester Seeheim sind zur Nachrichten- und Presseabteilung des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates Mönkebergstraße 5 kommandiert Telegramm dient gleichzeitig als Urlaubsschein und Fahrtausweis Briefnummer 227.« Ob das nun vom Arbeiterrat oder vom Rat geistiger Arbeiter oder von John ausging, wußte ich nicht. Aber jedenfalls ebnete mir das den Weg. Ich telegrafierte mein morgiges Eintreffen an John und Reemis, erledigte alles Notwendige und setzte beim Zahlmeister Groth sogar noch die Auszahlung von 45 Mark durch. Dann ein Abschiedstrinken mit Pampigs, Reye und Möbus, und in aller Frühe fuhr ich mit Frau Werner nach Hamburg.

Das Telegramm war von Herrn Jackson und John erfunden und hatte nur den Zweck, mich aus Cuxhaven loszueisen. Frau John lachte, als ich in dem kurzen Pelzmantel, mit dem Spazierstock, Gepäck und Frau Werner am Strick bei ihr einrückte. Ich traf ein ganzes Heerlager von geflüchteten Offizieren, die dort alle freundschaftlichste Aufnahme und sogar noch eine ungewöhnlich gute Verpflegung fanden. John wußte von Alkoholquellen, und wir waren zwischen allgemeinen und persönlichen Erregungen sehr vergnügt. Die großen Reedereien und Kaufmannshäuser erhofften – es hieß von manchen »betrieben« – das baldige Einrücken der Engländer, weil man davon Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erwartete.

Ich suchte noch einmal Hischemöller, Hauptmann Schabert, Reemis und andere Freunde auf. Dann bestieg ich den Zug nach Berlin. Eine schauderhafte Fahrt. Alle Plätze waren sozusagen doppelt besetzt, viele Fensterscheiben eingeschlagen, die Fensterbügel und Ledergriffe abgeschnitten. Als ich nicht mehr stehen konnte, warf ich mich einfach zwischen zwei Sitzreihen auf den schmutzigen Boden und suchte nach Möglichkeit Frau Werner vor den schweren Soldatenstiefeln zu schützen, die mich rücksichtslos stießen. Tante Michels Bruder, Herr Alfred Dunsky, wohnte in einem vornehmen Haus in der Halleschen Straße. Als ich in meinem allerdings auffallenden und schmutzigen Kostüm die Treppe erstieg, stürzte ein kleiner bissiger Portier hervor und fauchte mich an: »Packen Sie sich fort! Hier ist nur Aufgang für Herrschaften! Ich sagte: »Verzeihen Sie, Herr Dunsky erwartet mich. Ich bin ein Offizier.«

»Ach was, es gibt keine Offiziere mehr!«

Da wurde ich zornig und fragte den Zwerg, ob ich ihm einmal mit der Faust die Nase verbiegen sollte, worauf er giftig heulend verschwand.

Herr Dunsky und seine Schwester empfingen mich freundlich. Aber doch nicht so herzlich, wie ich das erwartet hatte. Sie waren beide von Sorgen ganz benommen, waren deprimiert über die schrecklichen, gefährlichen und hoffnungslosen Verhältnisse in der Hauptstadt, wo alles drunter und drüber ging und die größte Not und Grippe und alles Schlimme herrschte.

Mit meiner Tante besprach ich dann meine Zukunftspläne. Ich wollte mir eine Stellung bei einer Zeitung oder bei einem der vielen neugegründeten Ämter suchen. Die Tante hatte mir bei einem Angestellten ihres Bruders in der Königgrätzer Straße ein behagliches Stübchen eingerichtet. Die Wirtsleute, sie hießen Oertner, nahmen mich und Frau Werner mit großer Herzlichkeit auf. Zunächst sollte ich aber noch einmal nach München fahren, um für die Tante wegen der Aufgabe ihrer dortigen Wohnung gewisse Schritte zu unternehmen. Ich selbst hatte dort auch noch einige Sachen stehen. So machte ich abermals solche zermürbende und beschämende Eisenbahnfahrt durch, die ich nur kurz in Leipzig unterbrach, um Mutter und Schwester zu besuchen. Auch in Leipzig war alles niedergeschlagen und erwartete blutige Ereignisse. Meine arme kleine Mutter war von der Meraner Revolution in die Münchener und dann wieder in die Leipziger Revolution geraten. Von den Freunden und Bekannten waren viele tot, im Kriege gefallen, an Grippe gestorben. Die noch lebten, hatten keine freien, frohen Gedanken mehr.

Ich nahm Abschied und mußte wieder bis München stehen. Die Soldaten schimpften unflätig auf die Offiziere und auf die Juden.

Am Freitag, dem 29. November 1918, traf ich in München ein. Der Hauptbahnhof war mit weißen Fähnchen geschmückt, aber ich empfand es bitter, daß diese Ehrung mir nicht galt. »Es gibt keine Offiziere mehr!«

Auch in München dasselbe Bild wie überall. Ernste, niedergeschlagene Mienen. Viel Krüppel. Viel Kranke. Viel Arbeitslose. Mißtrauen. Angst vor dem drohenden Bürgerkrieg. Hunger. Unbeleuchtete Straßen. Schießereien. Raubüberfälle. Diebstähle.

Ich saß in Tante Michels bisheriger Wohnung in der Arcisstraße in meinem altvertrauten Stübchen und sah meine Bücher wieder und manche Gegenstände, die ich ganz vergessen hatte. Und ich öffnete das von mir vor viereinviertel Jahren zurückgelassene Testament und mußte weinen. Weil niemand zu mir gesagt hatte: »Willkommen nach dem Kriege in der Heimat.«


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