Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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Matrosenartillerist und R.-O.-A.

Der Posten an dem schweren, mit Stacheldraht umschlungenen Eisentor schickte mich mit einer Bedeckung zum wachehabenden Offizier. Man wies mir eine Hängematte in einer Baracke an. Meine ersten Eindrücke waren sehr düster. Mein Herz war schwer. Meine Stiefelabsätze waren schief. Ich besaß keine Zivilschuhe und kein Geld.

Morgens entdeckte ich, daß die Kasematten sauber und daß die Wälle und Wiesen hübsch bepflanzt und gepflegt waren. Ich besah mir die 28-Zentimeter-Steilbahngeschütze, acht Stück. Ich hatte mich beim diensttuenden Unteroffizier gemeldet, aber weder dieser noch sonst jemand kümmerte sich um mich. Der Raum, in dem ich wohnte, war von lauter jungen Einjährigen belegt, die erst kürzlich zu Maaten befördert waren und alle Offiziere werden wollten. Sie waren sehr kühl zu mir, vielleicht, weil sie sich selbst noch nicht heimisch fühlten, oder weil sie mich als Obermaat und älteren Menschen respektierten. Nur einer von ihnen, den man als mauvais sujet vom R.-O.-A.-Kursus ausgeschlossen hatte, nahm sich meiner an. Als ich ihm vertraute, wie es um mich stünde, deprimierte er mich noch mehr, indem er äußerte, ich sollte mir keine Hoffnungen machen. Da ich weder Geld noch ansehnliche Verbindungen hätte, würde man mich ein paar Monate hinhalten und dann abwimmeln, wie man ihn abgewimmelt hätte.

Der Oberleutnant Holzapfel ließ mich rufen. Das Gespräch wurde aber abgebrochen, weil eine telefonische Meldung eintraf, daß in Standheide eine Mine angeschwemmt sei. Man schickte mich als Sachverständigen dorthin, ich sollte feststellen, ob es eine englische Mine wäre usw. Der Auftrag erleichterte mich ein wenig. Die Mine lag mit Muscheln überwachsen im Schlick auf dem Watt.

Maat Rupprecht gab mir weitere und niederschlagende Auskünfte betreffs des R.-O.-A.-Kursus. Die Hauptsache wäre tadelloses Zeug. Ich brauchte eine Extrauniform, und ich müßte den Beweis erbringen, daß meine Eltern wohlhabend wären.

Auf dem Exerzierplatz wurde ich von Kapitänleutnant Bertelsmann gerufen. Das war ein schlimmer Moment. Der Kapitänleutnant stand breitbeinig da, wippte auf den Fußballen, spielte blasiert mit seinem ungewöhnlich langen Dolch und fragte in einem näselnden Ton: »Vor allen Dingen: haben Sie Geld?«

»Nein, Herr Kapitänleutnant, aber ich erbe Geld von einer Tante.« Das war völlig erlogen, aber ich wußte mir nicht anders zu helfen.

Man teilte mich der B.-Batterie zu. Ich hatte viel Neues zu lernen. Es gab auch andere Fachausdrücke bei der Artillerie. Im ganzen ging es dort viel militärischer, aber auch anständiger zu als bei der Minenabteilung. Ich speiste mit den Einjährigenmaaten zusammen in einem kleinen, gemütlichen Kasino. Leutnant Pfohl teilte mir mit, daß ich mit diesen jungen Einjährigen und einigen Obermatrosen zunächst eine perfekte infanteristische Ausbildung durchmachen müßte. Später sollten wir selbst dann Rekruten ausbilden.

Pfohl exerzierte dann mit uns, so streng und so ausdauernd, daß mir die Kniegelenke und alle Knochen weh taten. Ich war weitaus der älteste in der Gruppe. Ich hatte die Wendungen und Griffe und Kommandos größtenteils längst verlernt, zum Teil waren diese auch inzwischen abgeändert, so hatte man alle Fremdwörter in den Kommandos ausgemerzt. Pfohl selber war ein junger Mensch mit gut trainiertem Körper, sehr eifrig, sehr gewandt und mit einer prägnanten, sympathischen Sprache. Die milchhäutigen Maate durften außerhalb der Festung in dem Ort Doose in Privatquartieren wohnen.

Betreffs einer Extrauniform wußte ich nicht aus noch ein. Von meinen Eltern hatte ich kein Geld zu erwarten und der Zuschuß meines Bruders reichte nicht aus. So schrieb ich in meiner Not herzlich und aufrichtig an die Witwe des toten Fouriers Petersen. Ich wußte, daß er eine Extrauniform besessen hatte. Frau Petersen antwortete empört, es sei pietätlos und ordinär, daß ich unmittelbar nach dem Tode ihres Mannes als Erbschleicher aufträte.

Wir exerzierten und exerzierten. Ich hatte seit Kneis ein Hühnerauge auf der Sohle. Das verursachte mir nun arge Pein. Aber ich verbiß den Schmerz und machte die von Pfohl aufs äußerste gesteigerten Laufschrittübungen mit, bis ich einmal ohnmächtig zusammenbrach. Und Pfohl ließ nicht locker, auch nicht beim Gewehrexerzieren und beim Turnen. Im theoretischen Unterricht waren mir die Einjährigen ebenfalls voraus, so daß ich manchen Tadel einstecken mußte. Indessen spürte ich hinter Pfohls Strenge doch Gerechtigkeit und auch Wohlwollen. Deshalb nahm ich mich mit alleräußerster Energie zusammen. Pfohl sprach mich einmal in der Batteriestraße an und lobte meinen guten Willen. Er fügte hinzu: »Ich habe bemerkt, daß die Einjährigen-Maate manchmal über Sie lachen, wenn Ihnen ein Griff oder eine Wendung mißlingt; ich habe die Maate deswegen zur Rede gestellt. Und am ersten Oktober kommen Sie mit den anderen nach der Stadt in die Kiautschoukaserne zur Ausbildung von Rekruten.«

Zwischendurch mußten wir dem Übungsschießen der Batterien beiwohnen. Auch trieben wir in streng disziplinierter Weise Sport und Unterhaltungsspiele, Fußball, Schleuderball. Das fand auf einer Wiese statt, wo eine Hammelherde weidete. Darunter war ein Bock, der uns oft von hinten tückisch und schmerzhaft anfiel.

In einer kühnen Stimmung bestellte ich mir bei einem Cuxhavener Schneider eine Extrauniform und schrieb an einen Verleger um Geld. Als ich das getan hatte, fühlte ich mich befreit, und das Fort kam mir auf einmal geradezu gemütlich vor. Ich fütterte die Hühner und Kaninchen. Und dann brachte mir die Postordonnanz ein Riesengeschenk von Tante Michel, hundertfünfzig Mark, die sie von ihrem Bruder für mich erbettelt hatte.

Bei einem Ausflug unserer Kompanie in die Heide nahm auch der Kompanieführer Bertelsmann teil. Wir zogen mit Musik nach den Königstannen. Die Luft war feucht und blaudunstig. Altweibersommer strich um unsere Nasen, und es roch nach Erde. Auf einer Wiese wurden Wettspiele veranstaltet, wie »Umziehen für die Nacht« oder »Hasenlaufen«. Ich war aber stets darauf bedacht, mich mustergültig zu benehmen, denn meine Kameraden hatten mir zugesteckt, daß ich auf Schritt und Tritt beobachtet würde. Und so beobachtete ich mich nun dauernd selber, und je nachdem, ob ich etwas für meine Situation günstig oder ungünstig ausdeutete, sank oder stieg im Nu meine Stimmung. Das war eine sehr unbehagliche Verfassung.

In der knappen Freizeit hetzte ich in der Stadt herum, um mir eine Paradejacke zu meiner Extrauniform und ein seidenes Tuch und Exerzierkragen und Mütze zu besorgen.

Am neunundzwanzigsten September siedelten wir in die zwischen Feldern und Rosengärten gelegene Kiautschoukaserne über. Jeder Maat bekam einen Oberartilleristen als Exerziergefreiten zur Seite, ich den ehemaligen Schullehrer Mock aus Mühlhausen in Thüringen. Wir richteten uns hinter den Verschlägen in den Mannschaftsstuben ein. Bei der Verteilung auf drei Züge kam ich zu dem von Pfohl befehligten.

Meine jungen Kameraden fühlten sich nun auf einmal als Korporale, und da wurden sie freundlicher und offener zu mir. Der lange Bickenbach, der dreiste Teuerkauf, der junge, verwöhnte Momsen, den ich den »jungen Hund mit fliegenden Ohren« nannte. Wir machten uns gegenseitig Besuche in unseren Verschlägen, die jeder mit besonderer Liebe und nach eigenem Geschmack ausgestattet hatte.

Die Kiautschoukaserne war berüchtigt wegen ihrer Diphtheriebazillen. Jedes Jahr waren dort Massenerkrankungen vorgekommen.

Ich saß mit einigen Maaten im Café Hansa, da kam Rupprecht, der inzwischen zum Vizefeuerwerker befördert war, mit Leutnant Pfohl ins Lokal. Die setzten sich an unseren Tisch. Das war mir lieb, weil ich zum erstenmal meine neue Extrauniform anhatte, und weil ich bei der Gelegenheit meinen Kameraden mancherlei in bezug auf das Verhalten den Vorgesetzten gegenüber ablauschen konnte.

Man mußte den Vorgesetzten das Gespräch ganz allein führen lassen und nur, wenn er fragte, kurz und ergeben antworten. Höchstens durfte man gelegentlich eine kleine Gegenfrage stellen. »Ich bitte um Auskunft, ob –«

Man verbot uns gewisse Lokale, zum Beispiel meine geliebte Apfelwein-Sonne. Man erzog uns wie Prinzenkinder. Pfohl gab uns auch Aufsätze auf. Ein besonders peinlicher Augenblick war es mir schon in Thomsen gewesen, als ich zum erstenmal mit den Einjährigen in einem gemeinsamen Waschraum badete und sie an meinem nackten Körper meine Tätowierungen entdeckten. Ich schämte mich auch meiner geflickten Wäsche.

Pfohl sagte vor der Front: »Am meisten Mühe gibt sich Obermaat Hester. Er gibt sich sogar zuviel Mühe.«

Ich steckte in meiner erzwungenen Haltung in einer ganz fremden Haut. Ich ging mit Glacéhandschuhen aus, und es kostete mich keine geringe Mühe, in vorgerückten Gesprächen jede Erwähnung meiner bewegten Vergangenheit zu vermeiden.

Die ersten Rekruten trafen ein. Sie trugen noch Zivil und wurden instruktionsgemäß energisch beim Wickel genommen, daß ihnen sofort Hören und Sehen verging. Auch Einjährige waren darunter. Die mußten unsere Stiefel putzen, unsere Kleider ausbürsten und unser Bett »bauen«. Als ich 1904 Einjähriger war, hatte man uns auch schroffer behandelt als die Gemeinen, und das war eine gute Einrichtung bei der Marine.

Weitere Rekrutenzüge kamen und wurden in schärfsten Drill genommen. Es gab viel komische Situationen. Einer von uns Korporalen, der noch keine Belegschaft in seiner Stube hatte, kam zu Bickenbach. »Können Sie mir einen Mann leihen?«

»Jawohl, so viel Sie wünschen. Einjährige, Elektrotechniker, Schiffer –«

»Na, dann bitte einen Kunstmaler.«

»Gut. Und wozu?«

»Er soll meine Seestiefel einfetten.«

Meist waren es siebzehnjährige Burschen, entlassene Schüler, die sich freiwillig zur Artillerie gemeldet hatten, weil sie sich dort sicherer vor dem Heldentode wähnten. Sie hatten ihre besten Anzüge an, aber das Beste schmolz bald dahin, denn sie mußten in dieser Kleidung Schränke schleppen und Kohlen schaufeln und Strohsäcke mit Papier ausstopfen. Und sie wurden dauernd von uns angeraunzt, weil sie »Sie« sagten statt »Herr Maat« oder »Herr Obermaat haben«. Oder weil sie leise sprachen oder die Stube ohne Erlaubnis verließen. »Ich bitte austreten zu dürfen.« – »Ich melde mich vom Austreten zurück.«

Dann kam ich auf Stube 79 in einen Verschlag mit dem R.-O.-A. Momsen zusammen. Wir hatten achtzehn Rekruten auf der Stube und bogen uns vor Lachen über deren naive oder als unmilitärisch komische Reden. Es gab kein Petroleum mehr. Wir mußten uns für eigenes Geld Kerzen kaufen.

»Pech!« rief Teuerkauf, der mir eine Visite abstattete, »jetzt, da wir Offiziere werden wollen, sind durch kaiserlichen Erlaß die Offiziersgehälter herabgesetzt.«

In den nächsten Tagen fand ich keine Zeit mehr, in die Stadt zu gehen. Aber ich war zufrieden, weil Pfohl und die Kameraden vorläufig nett zu mir waren. Es gab viel Dienst, um den Rekruten den ersten Schliff beizubringen. Viele von ihnen erkrankten bald. Magenkrampf – Herzstechen – Halsentzündung – Nasenpolypen. Ich selbst war stockheiser vom vielen Instruieren und Anbrüllen.

Ein Rekrut hatte seinen Kameraden bestohlen und wurde dafür mit einundzwanzig Tagen strengen Arrestes bestraft. Das war recht. Aber nicht recht erschien es mir, daß der Korporal oder ein Offizier – ich weiß das nicht mehr – diesen Sünder außerdem von dessen Kameraden verprügeln ließ.

Von den Wällen aus sahen wir die Luftschiffhalle Nordholz. Vier Zeppeline stiegen auf. Und nach Stunden kamen drei zurück. L 31 war über London abgestürzt.

Die Leutnants Hammer und Gebert führten sich ein; Gebert, der auch stellvertretender Kompanieführer für Bertelsmann war, liebte und pflegte den Gesang. Er lehrte uns hübsche Lieder, Marschlieder, Bergmannslieder, Seemannslieder. Es kam ihm darauf an, daß wir den Text vollständig beherrschten und laut heraussangen. Hammer war ein stiller und einfacher Mensch.

Von früh bis spät waren wir mit den Jungens beschäftigt. Wir führten sie zum Arzt, zur Einkleidung, zur Kirche, zum Essen, zum Dienst, zum Unterricht und zu den sogenannten Erholungsspielen. Sie mußten militärische Themata vortragen oder abfragen, wie z.B. »Benehmen gegen Vorgesetzte«, »Verhalten im Quartier und in der Kaserne«. Sie mußten während der Freizeit die Stuben fegen, Spinde und Tische schrubben, schöne Lieder singen, Stiefel putzen, Etiketten schreiben, Zigaretten aus der Kantine holen, sich aufgerufen hinterm Verschlag melden und die Fingernägel oder die Zähne vorzeigen. Ich galt unter ihnen als streng. Ein Rekrut, den ich wegen seiner Unsauberkeit abkanzelte, brach in bittere Tränen aus. Selbstverständlich hielt ich mich selber, seit ich bei den R.-O.-A.s war, peinlich sauber, manikürte meine Finger und pflegte meine Haare wie ein Dandy.

Gehen durften unsere Rekruten nicht, auch nicht laufen, sie durften nur »spritzen« oder »explodieren«. Was nicht klappte, wurde dreißigmal hintereinander wiederholt. Wenn es hieß: »Alle Korporalschaften am Schuppen antreten!« dann stoben diese weißgekleideten Bengels wie Sandwolken über den Platz und sie fielen komisch übereinander und wälzten sich in den Pfützen. Und wenn ein Unteroffizier eine Stube betrat, so brüllte der erste Rekrut, der ihn sah, mit Donnerstimme: »Aufstehen!« Und dann spritzten die anderen von ihrer Näh- oder Schreibarbeit auf und standen unbeweglich stramm, und das begab sich etwa alle drei Minuten. Und wer beim Ausziehen abends nach der Musterung innerhalb von zwei Minuten nicht schon im Bett lag, mußte sich noch dreimal hintereinander an- und ausziehen.

Beim nächsten Appell erschien der Abteilungskommandeur, der Korvettenkapitän v. Hippel, und schritt die Front ab. Er sprach mich an, weil ich als einziger in der Kompanie das Eiserne Kreuz trug. Ob ich in Flandern gewesen wäre. – Teuerkauf wollte gehört haben, daß v. Hippel betreffs der Rekruten geäußert hätte, sie sähen sehr dumm aus. So wirkten sie auch auf mich. Aber sie waren ja so jung und so kahlgeschoren und durch den plötzlichen scharfen Drill ganz verwirrt. Sie machten mir manchen Ärger, aber noch viel mehr Freude. Jeden Abend hielt ich eine Ansprach an sie. Ich ermahnte sie nach meinen Ideen zur Ehrlichkeit, zur Dankbarkeit und zur Gottesfurcht. Dieses Bestreben, bei aller Strenge menschlich und gerecht zu sein, übte Pfohl uns gegenüber in viel konsequenterem Maße.

Als die Rekruten zum Baden nach der Grimmerhörnkaserne geführt wurden, bekam ich als Ältester das Kommando über den Zug. Ich marschierte in diesem stolzen Gefühl vor dem vordersten Gliede und ließ meine Kompanie singen.

»Drei Lilien, drei Lilien,
Die pflanzt ich auf mein Grab ...«

Immer wieder stieg ich auf der großen Wichtigkeitsleiter ein Sprößchen höher. So wurde ich eines Tages »Deckoffizier vom Dienst«, das besagte, daß ich für diesen Tag das Ansehen und die Befugnisse eines Deckoffiziers hatte. Ich mußte die Wache vergattern und Posten und Stuben sowie die Kantine revidieren. Besonders war darauf zu achten, daß alle Räume nach außen abgeblendet waren.

Die Rekruten sollten kurze Lebensläufe schreiben. Mein Schmerzenskind, der lange, steife, dürre, unsaubere Landwirt Puckhaber, schrieb: »Außer mir habe ich noch sechs Geschwister.«

Gebert rief die R.-O.-A.s zusammen. Es bestünde die Absicht, sie zu einem Bierabend einzuladen. Er und Pfohl führten uns abends in das Lokal von Baumann zum Bier. Später kam der Vizefeuerwerker Rupprecht und zuletzt Kapitänleutnant Bertelsmann hinzu. Die Unterhaltung blieb zunächst zwischen Bertelsmann und Gebert. Ich richtete mich angestrengt nach den neun jungen Maaten und saß mit gespitzten Ohren steif und schweigend da. Der Kompanieführer hatte mich an seiner rechten Seite Platz nehmen lassen. »Na, Sie sollen ja so große Reden an Ihre Leute halten«, sagte er spitz zu mir, »ja, ich bekomme alles zu wissen.« Dann sprach er allgemein über Viel- oder Wenigtrinken. Leutnant Gebert trat gewandt als Verteidiger des Trinkens auf. Er prostete mir auch mehrmals zu und reichte mir einmal die Hand. Aber ich hütete mich wohl, in die Debatte einzugreifen und mehr zu tun, als knapp militärisch zu antworten oder dem Vortrinker vorschriftsmäßig nachzukommen. Denn ich wußte, warum wir Maate dort saßen und warum gerade ich den Platz neben Bertelsmann erhalten hatte. Und genauso wußten meine Kameraden, was dieses abgekartete Spiel zu bedeuten hatte. Ich verglich in Gedanken dieses peinvolle und krampfhafte Beisammensein mit Münchner Künstlerstammtischen.

Als der feldgraue Kellner die Biergläser auf den Tisch brachte, stellte er das erste dem Kompanieführer hin. Dieser sagte dann in seinem langsamen, überlegenen Ton: »Eigentlich ist es nicht in Ordnung, daß dem Kompanieführer das erste Glas vom Faß vorgesetzt wird.« Darauf sagte ich: »Ich bitte mein Glas Herrn Kapitänleutnant anbieten zu dürfen.«

»Nein«, erwiderte er beleidigt. »Ich wollte Sie nicht ausnutzen. Ich weiß auch, was sich schickt.«

Bautz! Da hatte ich meinen Schlag. Ich war innerlich sehr betrübt und dachte, was wohl dieser Faux Pas für weitere Folgen haben würde. Bertelsmann kam dann auf das Berliner Tageblatt und auf den Vorwärts zu sprechen und dann auf unsere U-Boote in amerikanischen Gewässern. Er schien gut unterrichtet und drückte sich klar aus. – Künftig sollten öfters solche Abende veranstaltet werden.

Ich schrie mir auf dem Kasernenhof im Sturmwetter den Kehlkopf wund und jagte mit den Kerls herum, daß die Funken stoben. Schon lagen vier von ihnen im Revier, der eine an schwerer Rippenfellentzündung erkrankt. Und Puckhaber ließ ich in den Pfützen sich niederlegen und wieder aufstehen und niederlegen und aufstehen, und er weinte, der unselige, verwirrte, hagere und eckige Bursche, dieser verwöhnte Bauernsohn mit seinen endlos langen Füßen. Er – fast alle taten mir leid. Aber ich mußte so zu ihnen sein, und ich wußte, wenn ich je Offizier würde, konnte ich sie anders anpacken. Außerdienstlich war ich denn auch netter zu ihnen.

Ich suchte den Schriftsteller Seeliger auf, der in der Minenabteilung Schreibermaat war, ein korpulenter, vergnügter Vierziger, an dem mir sonst nichts auffiel.

Ein Honorar von der »Jugend« versetzte mich in die Lage, meine Luxusuniform zu vervollständigen. Außerdem lud ich die jungen Maate häufig ein. Mit Jaukens, Müller, Teuerkauf, Momsen und Bickenbach trank ich Brüderschaft.

Leutnant Hammer war zu allen gütig und freundlich. Wir wußten, daß sein Vater Bäcker war.

Bei dem nächsten Gesellschaftsabend bei Baumann ging es ungezwungener und lebhafter zu, weil der Kompanieführer nicht zugegen war.

Alle waren wir heiser vom Kommandieren. Dabei ließ uns Gebert bei jeder Gelegenheit Lieder singen.

»Kehr ich einst zur Heimat wieder,
Vor des Liebchens Haus, da bleib ich stehn –

Ist es denn nun wirklich wahr,
Was man hat vernommen,
Daß so viele tausend Mann
Sind nach Frankreich kommen?«

und vieles andere.

Rekrut Hofmeister sah aus wie ein Osterhase, und er war noch dümmer als Puckhaber. Wenn ich zu ihm sagte: »Was haben Sie denn da Blaues an der Lippe?« dann machte er stramm und steckte die Zunge heraus. Er war gelernter Friseur. Aber als ich sonntags einmal notgedrungen mich von ihm rasieren ließ, fuhr er mir plötzlich mit drei großen, dreckigen Fingern tief in den Mund, um die Backe von innen auszubuchten. Es machte uns Spaß, ihn und ähnliche Tröpfe mit irgendwelchen komplizierten Aufträgen zu anderen Korporalen zu schicken. »Gehen Sie mal auf Stube 46 zu Maat Teuerkauf und fragen Sie ihn, in welchen Distrikten der Dobrudscha eine panslavistische Agitation zu konstatieren sei.«

Zum Abendbrot gab es Zulagen, und zwar zwei Brote für zweiundzwanzig Mann. – Norwegen protestierte gegen den Aufenthalt von U-Booten in norwegischen Gewässern. – Der österreichische Ministerpräsident Graf Stürgkh war ermordet worden. – Konstanza war genommen. – Wir hatten schon vier Grad Kälte und keinen Ofen und zerbrochene Fensterscheiben.

Eines Abends war ich zu Leutnant Pfohl eingeladen. Er hatte mir am Tage verschiedene Rügen erteilt. Das war nun wieder so ein grauenhafter Besuch, bei dem ich auf Offiziersbefähigung geprüft werden sollte. Jacke, Überzieher, Mütze mußten tadellos sitzen. Ich durfte keinen Gruß mit Worten erwidern und jedes »Danke« auch nur durch Strammstehen ausdrücken. Pfohl war aber nett, bot mir Zigarren und Schokolade an und erfragte meine Meinung über die Korporale. Dann erzählte er mir, daß es an der Westfront sehr schlimm um die Deutschen stünde.

Auf dem Exerzierplatz herrschte ein gelles Durcheinander von Kommandos und Rufen. Man sah komische Szenen. In einem Winkel abseits, ganz allein, machte ein Mann dauernd Kniebeuge, streckte dabei einen Schemel von sich und brüllte im Takt dazu unaufhörlich: »Jawohl, Herr Kapitän!« Das war offenbar eine Strafübung für zu leises Sprechen. Nun hatte man aber den Mann vergessen, und von Rechts wegen muß er bis zu seinem Tode dort Kniebeuge machen und Schemel strecken: »Jawohl, Herr Kapitän!«

Die Strafen waren oft sehr hart. So ließ ich Puckhaber, wegen großer Ferkeleien, einmal von seinen Kameraden im Waschraum mit Besen und Bürsten schrubben. Das war eine übliche Erziehungstortur. Das Ganze wurde in der Dienstpause vorgenommen, und die Leute waren sehr böse auf Puckhaber. Nachdem sie durch seine Schuld wieder einmal in einem noch schlimmeren Falle um ihre Freizeit gekommen waren, gab jemand das traditionell bekannte Stichwort aus: »Der heilige Geist kommt.« Und nachts erwartete und hörte ich dann, wie die Stubengenossen plötzlich mit ihren Klopfpeitschen über Puckhaber herfielen, ihn arg verprügelten und zum Schluß noch zwangen, daß er zu mir hinter den Verschlag kam: »Melde: der heilige Geist war da.« Gegen so alte Gebräuche durfte ich nicht einschreiten.

Dann wurden die Rekruten für die Vereidigung vorbereitet. Sie mußten die Eidesformel auswendig lernen. Ich – (Vor- und Zuname) – schwöre bei ... usw. Hundertmal mußten sie das hersagen, wurde ihnen das erläutert und vorgekaut. Als dann aber in der Grimmerhörnkaserne vor Seiner Exzellenz die feierliche Vereidigung in einem mit Palmen und Flaggen geschmückten Schuppen stattfand und alle Rekruten gleichzeitig die Eidesformel hersagten, hörte man viele Stimmen heraus: »Ich (Vor- und Zuname) schwöre ...« Trotz der widerlichen Quatschrede des Pfarrers machte die Feier doch einen seltsamen Eindruck. Der Sturm heulte, und während des Eidschwures brach plötzlich ein Wolkenbruch los. Das Dach des Schuppens erzitterte. Ein Mann fiel ohnmächtig um, Exzellenz hielt eine unerschütternde Rede, und die Kapelle des Musikmeisters Stolle (er lieferte alle beste Musik in Cuxhaven) suchte den Sturm zu überbieten. Nachmittags unternahmen wir einen Ausflug nach dem malerischen Orte Otterndorf. Gebert, von Zivilberuf Jurist, war sehr witzig und mir persönlich gewogen. Die meisten von uns fürchteten ihn. Pfohl, weise, junge und enthaltsam. Gebert hielt eine sehr gewandte Rede mit Hurras auf den Kaiser, und es wurde fidel. Später kehrten wir dann noch bei Baumann ein, wo Bertelsmann erschien mit seinem scharfen Gesicht, seiner Empfindlichkeit und seinen übervernünftigen, klugen Reden, die uns dämpften und beherrschten.

Dann kam ein Tag dicke Luft; der junge Maat und Korporal Ponarth war von Gebert beim Kompanieführer zum Rapport gestellt worden, weil er seine Rekruten in der Freizeit grausam geschunden hatte. Er bekam drei Tage Mittelarrest und wurde von der Liste der R.-O.-A.s gestrichen. Ich ging zu Leutnant Hammer und bat um Auskunft, ob er oder ob wir Kameraden etwas zugunsten Ponarths unternehmen könnten, denn er tat uns leid, obwohl uns sein verschlossenes und unehrliches Wesen von jeher unsympathisch war. Hammer sagte, da wäre nichts zu ändern. Ponarth hatte aus einer sadistischen Sucht heraus herzlose Schändlichkeiten begangen.

Ich war noch immer nicht legitimer R.-O.-A. und durfte auch noch nicht die Abzeichen und das Mützenband der Matrosenartilleristen tragen. Aber eines Tages wurde ich endlich zum Oberartilleristenmaat ernannt. Die Abzeichen kosteten mich wieder viel Geld. Ich hatte Sorgen, aber ich nahm mich weiter zusammen und fühlte mich weiter beobachtet. Gewiß wurde auch meine Post revidiert.

Ich hatte zwei Verhandlungen aufgenommen wegen einer zerbrochenen Lampe und eines entwendeten Handtuches und war dann zu Bett gegangen. Da erschien Leutnant Gebert, um mich zu einem Glase Bier mitzunehmen. »Wie lange Zeit brauchen Sie, sich anzuziehen?«

»Zwanzig Minuten.«

»Nein, das dauert mir zu lange.« Gebert ging. Ich fürchtete, ihn verstimmt zu haben und machte mir darüber noch lange Gedanken.

Wir wurden mit den Rekruten nach Thomsen geschickt, um ein Kaliberschießen anzusehen. Man postierte uns auf den Wall, ganz dicht vor einer 28-Zentimeter-Haubitze und verschwieg uns, daß dieses Geschütz wenige Minuten später feuern sollte. Als dann der Schuß fiel, klang das bei uns, als würde die Hölle losgelassen, und viele Rekruten setzten sich vor Schreck auf den Hintern. Man sah einen spritzenden Flammenring, vernahm ein steigendes, sich windendes Sausen, Surren und Heulen, und eine Sekunde lang war die Granate in der Luft sichtbar. Es wurde nach Land zu, acht Kilometer weit geschossen. Die Einschläge wurden telefonisch gemeldet. Obwohl man im ganzen Fort die Fenster vorher ausgehakt die Bilder von den Wänden genommen und alles Geschirr verstaut hatte, richteten die Detonationen doch mancherlei Schaden an.

Es wurde ein Vortrag für die Korporale gehalten über den grauenhaften Untergang von U 41. Ich durfte nicht teilnehmen, weil ich noch nicht R.-O.-A. war.

Kapitänleutnant Bertelsmann hielt mir eine lange Rede. Ich sei anfangs als sehr ungeeignet angesehen und hätte allen Offizieren, auch ihm, gar nicht gefallen. Doch hätte ich mich durch große Energie und fast zu viel Eifer zu einem guten Soldaten aufgearbeitet. Auch wäre ich den jüngeren R.-O.-A.s gegenüber als guter Kamerad aufgetreten. So habe er mich zum R.-O.-A. vorgeschlagen.

Und der Dienst ging weiter. Auf dem Exerzierplatz im Schneesturm war es lausig kalt, und in den Stuben stanken die Rekruten wie die Waldesel. Bei einem R.-O.-A.-Abend bei Baumann betraten auf einmal vier angetrunkene Leute der Minenabteilung das Lokal. Sie grüßten unsere Offiziere nicht, und da gab mir Leutnant Gebert, weil er merkte, daß ich diese Leute persönlich kannte, den peinlichen Auftrag, sie auszuweisen.

Ein Zeppelin mit Mimikryanstrich überflog uns. – Ich litt sehr an meinem Hühnerauge und auch ein selbsterfundenes Pflaster aus geknetetem Brot und Petroleum brachte keine Erleichterung. Ich war oft wieder traurig, und mich überkam eine Sehnsucht nach den geistigen und leiblichen Genüssen der Friedenszeit. Ich wurde öfters von den Offizieren eingeladen und konnte das leider nicht abschlagen. So gewöhnte ich mich an den steifen Verkehrston, bei dem ich eine langweilige passive Rolle spielte. Einmal rief mich Gebert und redete mich also an: »Obermaat Hester, haben Sie Lust, heute bei unserem R.-O.-A.-Abend die gesamte Zeche zu bezahlen?«

»Jawohl!« sagte ich ohne Besinnen und gleichzeitig bestürzt. Von dem wenigen Geld, was ich besaß, hatte ich in letzter Zeit öfter meine Kameraden freigehalten, was ich zum Teil in der Berechnung tat, daß mir das als Wohlhabenheit ausgelegt würde.

»Ahnen Sie denn nicht den Zusammenhang?« fuhr Gebert fort. »Sie sind zum R.-O.-A. ernannt und können sich auch schon ein wenig mit der Handhabung des Säbels vertraut machen.«

Das war freilich eine schöne Mitteilung, und die Anspielung auf den Säbel ließ mich hoffen, daß ich in nicht allzu langer Zeit auch schon zum Vizefeuerwerker befördert werden sollte, die letzte Stufe vor dem Leutnant. Nun galt es, eine Vizefeuerwerkeruniform anzuschaffen, Mantel, Waffenrock, Mütze, Achselstücke, Ledergamaschen, Koppel usw. Der Säbel allein kostete achtzig Mark. Die Hälfte dieser Unkosten trug zwar der Staat, aber der Rest machte mir Sorgen genug. Und nun mußte ich die ganze R.-O.-A.-Gesellschaft freihalten, und das kostete mich wieder sechzig Mark.

Briefe aus Leipzig: Meine Mutter schrieb unter anderem: »Ich renne beständig auf der Straße herum, da ich alle Lebensmittel selbst einhole und jedes zu einer anderen Stunde ausgegeben wird. Nach einem halben Liter holländischer Milch – oder Magermilch, laufe ich mit einem Topf bis in die Emilienstraße, manchmal zweimal vergebens! Es ist schwer jetzt, den Haushalt zu führen, d.h. für die Bewohner großer Städte; auf dem Lande ist keine Not.«

Puckhaber, Hofmeister und noch einige andere Unverbesserliche aus meiner Stube wurden in eine sogenannte Krüppelkorporalschaft abgeschoben. Ich erhielt dafür neue Leute, von denen einer wie der andere aussah. Als die in ein Kino geführt wurden und man dort gerade das Leichenbegängnis des Grafen Stürgkh zeigte, stimmten die Rekruten das Lied an: »Ich schieß den Hirsch im wilden Forst.«

Kaiser Franz Josef war gestorben. Die Offiziere trugen Trauerflors. Momsen und ich erhielten Urlaub nach Otterndorf. Die Mutter Momsens traf sich dort mit ihrem Sohne, und sie traktierte uns mit Gänseklein und Kartoffelsalat. Die Mutter stammte aus Rio Grande do Sul, wo auch ich einmal gewesen war. Sie hatte ihr Söhnchen allzusehr verwöhnt, so daß er ein recht egoistischer Mensch geworden war, der mich oft ärgerte. Ich merkte überhaupt, daß ich auf dem Punkt angelangt war, wo ich die Fehler der Kameraden erkannte, und wo sie die meinigen erkannten, daraus sich denn etwas Feindseliges entwickelte. Bedauerlich, aber das unverhinderlich Gesetzmäßige. Übrigens fand sich auch Gebert in Otterndorf ein, um zu kontrollieren, ob der Besuch von Momsens Mutter keine Erfindung sei. – Als wir zum Schießen ausrückten, flogen wieder drei Zeppeline gen England. Nur einer kam zurück. – Morgens und abends aßen wir trocken Brot, denn der Kunsthonig war nicht zu genießen. Ich schlich mich deshalb heimlicherweise manchmal in die Sonne, wo man für eine Mark und fünfzig Pfennige eine gebratene Scholle erhielt.

Ich erhielt folgendes Schreiben: »Eisenach, Burgstr. 16.d.27.11.16. Lieber Gustav Hester. Längst wollte ich an Sie schreiben, aber ich konnte den rechten Ton nicht finden. Ich möchte, daß Sie mich recht verstehen. Seitdem Sie zum erstenmal Gast in meinem Hause gewesen sind, hat jede innere Gemeinschaft zwischen uns aufgehört. Sie wissen gar nichts von mir. Ich bin Ihnen noch unbekannter, wie ein ganz fremder Mensch. Das kommt vielleicht daher, daß sich unsere Interessen zu sehr befehden. Sie wollen sich hier amüsieren, so viel es geht und tun es ohne jede Verantwortlichkeit, ich kann diesen Geist der Unordnung und Revolution nicht dulden. Er bedroht meine Existenz, mehr noch, er vernichtet mich innerlich vollständig. Ich muß Sie darum bitten, nie mehr herzukommen, wenn die jungen Mädchen hier sind. Es wird mir dies ganz furchtbar schwer, Sie sehen, ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um die Bitte auszusprechen, daß ich sie dennoch ausspreche, beweist Ihnen, daß es mir um Sein und Nichtsein geht. Ich verstehe Sie auch in Ihren albernsten Stunden und möchte Sie dann manches Mal in den Arm nehmen und Sie bitten: ›Wüten Sie doch nicht so gegen sich selbst.‹ Aber was nützt das Ihnen? Mir aber schadet es und läßt sich nicht wiedergutmachen. Ich wollte, wir könnten einmal noch den alten Ton zueinander finden, aber hier im Kreise der jungen Mädchen wird das nie geschehen. Vielleicht können wir einander einmal am dritten Ort begegnen, wenn Ihnen überhaupt etwas an einer Verständigung mit mir liegt. – Wie geht es Ihnen sonst? Tilly sagt, Sie machten einen Offizierskursus durch oder Sie gehen mit dem Gedanken daran um. Schreiben Sie mir doch mal, damit ich sehe, daß Sie wenigstens dieses eine Mal einen Funken von Verständnis für mich haben. Ach, Gustav, wie schlecht sind Sie doch mit meiner warmen Freundschaft für Sie umgegangen! – Herzlichen Gruß Frau Dora Kurs.«

Auf Scherz- und Strafwegen sammelten wir R.-O.-A.s Gelder für die kommende Weihnachtsfeier der Rekruten. Ich hatte die Kasse zu verwalten. Das war nicht sehr erfreulich, denn es gab da Burschen unter uns, die in bezug auf Geld ein sehr merkwürdiges Benehmen an den Tag legten.

Ich schrieb eine Novelle und noch eine und noch eine, aber sie mißlangen, und ich mußte sie wieder vernichten. Ich schrieb sie zu eifrig, weil ich dringend Geld brauchte. Dazwischen war uns R.-O.-A.s ein schwieriger Aufsatz aufgegeben über das Thema: »Verhaftung – vorläufige Verhaftung – Waffengebrauch.«

Der Abteilungskommandeur v. Hippel nahm eine Stubenmusterung vor. Er erkannte mich wieder und frug mich, ob ich R.-O.-A. geworden sei und welches mein bester Mann wäre. Er sprach sich befriedigt über die Besichtigung aus. Sein gütiges und ruhiges Wesen gefiel mir sehr.

Wir exerzierten öfter an den Geschützen in Thomsen. Dann unternahmen wir wieder einen dienstlich kameradschaftlichen Ausflug nach Otterndorf, wobei sich sogar der sonst so enthaltsame Pfohl einen Schwips holte.

Bukarest war gefallen. Bertelsmann hielt beim Appell wieder eine seiner langsamen, stockenden, lang überdachten Reden. Er sprach blasiert, wippte dabei auf den Fußballen und er redete sehr, sehr gern.

Ich war verschuldet und wurde dabei häufig noch angepumpt. Gebert sprach mich an: »Ihnen liegt doch daran, bald Offizier zu werden?«

»Jawohl.«

»Nun, da werde ich Sie zu Weihnachten zur Beförderung zum Vizefeuerwerker vorschlagen und gleichzeitig Ihre Abkommandierung an die Front beantragen. Sie wollen doch gern an die Front?«

»Jawohl.«

»Es werden aber noch einige Wochen nach Weihnachten vergehen, ehe Sie Vize werden.«

Die große letzte Rekrutenbesichtigung stand vor der Tür. Ich wußte, man würde mir besonders auf die Finger sehen. Ich sollte vor allen Offizieren und in Gegenwart des Abteilungskommandeurs selbständig den dritten Zug vorführen.

Ich verfaßte ein fünfstrophiges – in den Rahmen passen müssendes – Gedicht, das ich bei der Weihnachtsfeier der Rekruten vortragen wollte. Gebert hatte mir diesen Auftrag gegeben. Er ahnte nicht, wie schwer mir das in meiner sorgenvollen Zerrissenheit ankam.

Von einer anstrengenden Schießübung zurückgekehrt, wollten wir hungrig über das Essen herfallen, als man uns und alle Kasernenbewohner auf den Hof pfiff. Laut Telefonspruch sollten sämtliche Mariner um zwölf Uhr angetreten sein, um eine kaiserliche Order anzuhören. Natürlich ließ man uns eine Stunde hungrig und frierend stehen. Dann wurde das Friedensangebot an unsere Feinde verlesen. Gebert teilte anschließend daran gewisse Personalverschiebungen mit und sagte zu mir, ich könnte leider doch nicht so bald zum Vizefeuerwerker befördert werden, wie er gedacht hätte, da ich in meiner artilleristischen Ausbildung noch zu weit zurück sei. Er müsse also seine diesbezüglichen Versprechungen wieder zurücknehmen. Wahrscheinlich würde ich aber bald zur Luftabwehrabteilung abkommandiert. Diese Mitteilungen hüllten meine Vorweihnachtsstimmung in düsteres Grau. Ich war drauf und dran, meine Karriere durch irgendwelche oppositionelle Tat zu zerbrechen, um wieder der kleine, aber freiere Minenobermaat zu werden. Abends saß ich trübselig in der Stadthalle mit Leutnant Hammer, der mir in rührenden Worten sein Beileid ausdrückte. Auch Pfohl bedauerte mich und suchte mich zu trösten. Ich würde glänzend bei der L.A.A. eingeführt werden und sollte froh sein, daß ich nicht wieder nach Thomsen zurück müßte. Denn – im Vertrauen gesagt – der Kompanieführer Bertelsmann könnte mich nicht leiden. Als ich damals von der Minenabteilung nach Thomsen kommandiert worden wäre, hätten die Offiziere einen großen, langlockigen Dichter erwartet, und als mich der Kompanieführer dann erblickte, hätte er geäußert: »Dieser Kröpel wird auf keinen Fall Offizier.« Pfohl fügte noch hinzu, bei der L.A.A. hätte ich Aussicht, in einem Vierteljahr befördert zu werden.

Ich ließ mich nicht trösten. Dann rief mich Bertelsmann, hielt mir ebenfalls eine Trostrede und schloß so: ich sollte mir bis Weihnachten meine Vizefeuerwerkeruniform bereithalten.

Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, dann aber schlug meine Traurigkeit in Seligkeit um. Also wollte man mich doch schon zu Weihnachten befördern. Das wäre ein Fall von selten schnellem Avancieren bei der Artillerie gewesen. Man zog wohl dabei mein Alter in Berücksichtigung.

Ein rosiger Tag. Ich widmete mich freiwillig den Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier in eifrigster, aber nervös konfuser Weise. Ich bestellte meine Uniform. Der Säbel sah aus wie alle Marinesäbel. Der Löwenkopf am Knauf hatte ein grünes und ein rotes Auge. Aber das Elfenbein war Knochen und das Gold war nur leicht vergoldetes Eisen. Dafür kostete er allerdings auch weniger als die Friedenssäbel.

Daß mir der Simplizissimus eine Novelle zurückschickte – »die Zensur würde das keinesfalls passieren lassen« – bekümmerte mich diesmal nicht sonderlich. Ich war ja in fieberhafter Stimmung. Nachts schlief ich nicht vor vielen aufgeregten Gedanken.

Die Vorbesichtigung fand statt. Ich führte meinen Zug Rekruten vor. Bertelsmann war einigermaßen mit mir zufrieden. Pfohl aber drehte völlig durch und machte beim Melden eine sehr komische Säbelbewegung.

Beim Ausdenken und Aussuchen der Weihnachtsgeschenke mußte ich immer mit meinem Rat herhalten. Die R.-O.-A.s hatten auch für die Offiziere kleine lustige Gaben besorgt. Leutnant Geben hatte sich verlobt, und da galt es nun, ihm ein größeres und in jeder Beziehung passendes Geschenk zu überreichen. Mein Hühnerauge peinigte mich sehr. Meine Stimme war total heiser und sollte doch morgen bei der großen entscheidenden Besichtigung weithin über den Kasernenplatz tönen. Und meine Schulden drückten mich ebenso wie das Hühnerauge. Und wenn ich zu Weihnachten Vize würde und auf Urlaub führe, dann mußte ich meine Bahnfahrt selber bezahlen.

Die große Besichtigung. Wir exerzierten und kommandierten und marschierten vor dem Korvettenkapitän v. Hippel. Ich mußte erst meine Korporalschaft und dann einen ganzen Zug vorführen. Ich schwitzte in der Kälte vor Aufregung und beging mehrere Fehler. Z.B. ließ ich die Leute (markiert) schießen, ohne daß sie den Mündungsschoner abgenommen hatten. Aber im großen und ganzen machte ich wohl meine Sache gut. Und der gütige v. Hippel äußerte sogar, ich habe das sehr gut gemacht.

Abends bei der R.-O.-A.-Kneipe verteilten wir unsere Geschenke an die Offiziere. Auch Bertelsmann war zugegen und stichelte anfangs ein wenig gegen mich. Als er aber merkte, daß ich konsequent in korrekter, ernster Reserve blieb, lenkte er freundlich ein.

Am nächsten Nachmittag wurde den Rekruten beschert. Die Offiziere und Unteroffiziere, zum Teil mit ihren Frauen, waren dabei und als höchste Person der herrlich unbeholfene v. Hippel, für den ich restlos schwärmte, der mein ganzes Herz besaß. Gebert hielt eine staunenswert fließende Rede und trug ein von ihm selbst verfaßtes, schon vielfach umgearbeitetes Gedicht vor. Dann trat ich, als Weihnachtsmann verkleidet, auf. Ursprünglich hatte ich auf einem Esel in den Saal reiten sollen, aber das Tier war dann weder mit Güte noch mit Gewalt eine Treppe hoch zu bringen. Ich verteilte Geschenke mit scherzhaften Versen und trug dann das Gedicht vor, das ich mir so schwierig abgerungen hatte.

An meinen Rekrut, Weihnacht 1916

Matrosenartillerist!
Laß dir noch einmal ins Auge schaun.
Und nimm ein grades Wort nicht krumm:
Ich hätte dich, der du so dumm,
So dumm wie eine Gurke bist,
Gar oft von Herzen gern verhaun.
      Und wenn dir manche Träne rann
      Und ich der Tränen lachte,
      Geschah's im Zwang, der dich zum Mann,
      Zum deutschen Manne machte.

Nicht glaube ich, daß du mir grollst,
Ich bog dein Rückgrat und trieb dein Blut.
Nun blick mich an so gradezu,
Wie jedem Freund und Feinde du
Ins Auge ehrlich blicken sollst.
Bedenk: auch ich war einst Rekrut.
       Es kommt der Tag, da du erkennst
      Dies Muß aus rechter Ferne.
      Dein Blick wird leuchten, wenn du nennst
      Die Kiautschoukaserne.

Auch ich hab Schemel gestreckt,
Hab mich mit Griffen und Marsch gequält.
Doch heute dank ich tausendmal
Dem groben, starren Korporal –
– Gott weiß, welch fernes Grab ihn deckt –
Der meine schwache Brust gestählt.
      Nur Männer hart und felsengleich,
      Nicht Weiber und nicht Knaben,
      Will unser giftumkochtes Reich
      An seinen Fronten haben.

Sei, Kerl, ein ganzer Soldat,
Dem Kaiser treu und dem Vaterland.
Wenn Flamme dich und Donner einst
Umtobt, daß du zu bersten meinst,
Dann denke an dein Mützenband.
      Und fielest du, sei's im Hurra.
      Dann soll von einem Helden
      Mit Stolz die 4.M.A.A.
      An deine Heimat melden.

Heut soll dein Weihnachten sein
Da uns die Stunde des Scheidens naht.
Lies heute deiner Mutter Brief,
Die um dich bangt. Und fühle tief
Das rauhe Glück, Soldat zu sein
Im großen Krieg, mein Kamerad.
      Der Spruch, der auf dem Koppel steht,
      Wird rechten Weg uns zeigen.
      Bis wir uns einst zum Dankgebet
      Für Sieg und Frieden neigen.

Der Korvettenkapitän drückte mir die Hand und sagte: »Ihre Beförderung zum Vizefeuerwerker kommt noch heute abend heraus.«

Der Saal war wirklich schön geschmückt. Links und rechts vom Weihnachtsbaum lagen auf den langen Tafeln die Gaben für die Rekruten. Weihnachtslieder wurden gesungen. Ich nahm von meiner Korporalschaft Abschied. Die Leute jubelten mir zu und dankten mir, so jeder auf seine Weise. Und am nächsten Morgen weckten sie mich auf meinen Wunsch mit dem Liede

»Und alle dürren Blätter
Die fallen schwer auf mich –«

und mir war wohl und weh ums Herz.


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