Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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4

Minenabteilung

In der Kaserne fand ich manches verändert, vor allem war die Disziplin strenger geworden und größere Sparsamkeit wurde geübt. Ich mußte mich auf zwanzig Büros anmelden, bis man mich und noch einen Bootsmaat als Korporale in die Stube 45 zu soundso viel Mann steckte. Diese Leute waren meist Rekruten und deshalb gefälliger zu den Maaten als die Leute an Bord. Sie richteten morgens unsere Betten und erledigten kleine Besorgungen für uns. Andererseits war hier das Essen schlechter als an Bord; für große Fresser gab es sogar unzureichend Brot. Manche alten Bekannten traf ich wieder, so einen dicken Maat, der inzwischen auf der »Yorck« gewesen war und sich bei deren Untergang gerettet hatte.

Auf »Vulkan« war mir bei meinem Weggang die Nagelschere abhanden gekommen; nun schliff ich mir meine Krallen an dem großen Küchenschleifstein im Hof.

Morgens wurden wir zu verschiedenen Arbeitsleistungen oder zum Wachegehen ausgesucht und nach allen Richtungen geschickt. Solange ich noch neu war, das heißt: solange mein Gesicht den Vorgesetzten noch nicht bekannt war, schlug ich mich in die Büsche, richtiger gesagt ins Klosett und auf den Trockenboden, als wie im vorigen Jahre. Nur auf dem Personalbüro war ich täglich und bewarb mich.

In der Kantine ging es bunt zu, obwohl das, was es dort zu kaufen gab, teuer und schlecht war. Da saßen alte Matrosen herum, besonders die Leute vom fünften Geschwader, das man als untauglich außer Dienst gestellt hatte, und erzählten von Seegefechten bei Scarboro, Whitby und Yarmouth, oder von Schiffsunfällen, die sie mitgemacht hatten. Die andern hörten ohne Begeisterung und ohne Spannung zu. Wieder andere nahmen den neuen, erst halb eingekleideten Reservisten im Kartenspiel Geld ab, Betrunkene grölten, und jemand schlug aufs Klavier. Dann trat plötzlich eine Ordonnanz ein und rief laut nach einem Manne namens Tick, der von irgendwelchem Büro gesucht wurde. Ein Kochsmaat, der über einem Liebesbrief eingeschlafen war, wachte über dem »Tick?« – »Tick?« – auf und erklärte der Ordonnanz, daß und wann und wie Tick schon lange ums Leben gekommen wäre. Darauf trat mein Feldwebel zu mir und deutete mir an, daß er meine Drückebergerei durchschaut habe, und ich gefälligst morgen mit den anderen antreten sollte.

Beim nächsten Frühappell stand ich prompt im Glied. Ein langer, rothaariger Matrose fiel mir auf, weil er eine englische Marineuniform trug und ein Glasauge hatte. Es war ein Mann von der »Mainz«, dem ein Granatsplitter das Auge ausgeschlagen hatte, und der dann von den Engländern gerettet und gefangengenommen, im übrigen in Gefangenschaft sehr gut behandelt worden war. Später hatte man ihn gegen einen englischen Gefangenen ausgetauscht. Der Feldwebel frug ihn, ob er wieder dienstfähig wäre. »Jawoll.«

Es wurde bekanntgegeben, daß der Osterurlaub gestrichen wäre. Jedoch sollten diejenigen Urlaub erhalten, die bei Verwandten oder Bekannten noch Goldstücke auftrieben, und zwar würde für hundert Mark in Gold ein Tag, für dreihundert Mark drei Tage und für tausend Mark fünf Tage bewilligt. Ich sah in vielen Augen denselben Zorn blitzen, den ich über diesen Trick empfand.

Bei der Dienstverteilung wurde ich zur Wache Südzentrale der Elektrizitätswerke abgeteilt. Mit Musik marschierten wir mittags dorthin. Das Wachtlokal war ungemütlich, aber wir waren gemütlich. Wir sprachen von Zusammenbruch, von Einziehung der Trauringe und spielten Schach und Karten. Ich las Lessings Hamburgische Dramaturgie und verbrühte mir eine Hand mit heißem Kaffee, weil jemand den Untergang der »Magdeburg« so spannend erzählte. Wenn wir Posten standen, so geschah das vor der Inselbrücke. Jedermann, der über die Brücke wollte, mußte sich durch Passierschein ausweisen; bei Offizieren, Deckoffizieren und Fähnrichen mit Portepee genügte es, wenn sie die Parole wußten. Diese letzteren gebärdeten sich meist sehr entrüstet, wenn wir sie ohne Parole nicht durchließen. Mir sauste ein Auto durch, darin Prinz Adalbert saß. Leider erkannte ich ihn zu spät, sonst hätte ich ihn wegen Ausweises, und zwar nicht aus Schikane, bestimmt angehalten. Dann gab es der Zufall, daß Leutnant Kaiser die Brücke passieren wollte und die Parole nicht wußte. Ich raunte sie ihm zu, wir lächelten einander an, und er ging vorbei. Nach vierundzwanzig Stunden wurden wir abgelöst und marschierten durch den fußhohen Schlamm zur Kaserne. Wenn wir begegnenden Offizieren mit Paradeschritt salutieren mußten, spritzte der Schlamm hoch auf. Kinder folgten uns amüsiert und bewarfen uns mit Schnee und Pferdemist; die Wilhelmshavener Zivilisten sahen dem lächelnd zu.

Es folgte eine faule Zeit. Ich lag lange helle Stunden lang in meinem Bett oder ging in dem engen Unteroffiziersverschlag wie ein Königstiger auf und ab oder sah durchs Fenster auf ein Stück Brachland, das von Rekruten zwecks Kartoffelbaues urbar gemacht wurde. Geld hatte ich keins mehr, mein blauer Sweater und die vorletzte Hose waren längst zum Trödler gewandert.

Ein nettes Geschichtchen ging um: Auf einem kleinen Vorpostenboot forderte ein Matrose Sonntagsurlaub mit der Begründung, er wollte zur Kirche. Der Kommandant schlug das Gesuch ab, bekam dann aber offenbar Gewissensbisse, weil er dem Mann die Erlaubnis zum Kirchgang nicht verweigern durfte. Am Sonntag früh wurde der Matrose zum Kommandanten befohlen, der hinter einer Bibel stand und ihm entgegenschrie: »Mütze ab zum Gebet! Vater unser, der du bist im Himmel...« Der Kommandant schnurrte das Gebet herunter und schloß in grimmigem Ton mit den Worten: »...in Ewigkeit Amen. So, nun scheren Sie sich zum Teufel!«

Endlich ward ich aufs Personalbüro gerufen und mit anderen Leuten zur Minenabteilung nach Cuxhaven abkommandiert.

Ein Extrazug führte zweihundert Mann und fünfzig Unteroffiziere nach Cuxhaven. Als wir Oldenburg passierten, sangen wir die verbotene sogenannte Oldenburger Nationalhymne.

O Oldenburg von heute,
Du bist mein Paradies.
Du lieferst alle Leute
Mit große Hand und Fuß.
Quak quak!

Eine Frucht gedeiht im Lande,
Dem Seemann wohlbekannt.
Da schreit die ganze Bande:
Heil dir, du Oldenburger Land!
Quak quak! usw.

Die zweite Strophe bezog sich auf das häufige und gefürchtete Seemannsessen ›Steckrüben oder Oldenburger Südfrüchte‹.

Ich saß zwischen fremden Maaten in einem Frauenabteil und sah durchs Fenster überall winkende Menschen, alte Herren, ernste Frauen, rührende Kinder, und da ward ich seit langem wieder einmal von dem Begriffe Krieg ergriffen. Als wir vom Bahnhof in Cuxhaven einmarschierten, neugierig von den Bürgern betrachtet, rief uns ein Arbeiter zu: »Was wollt ihr hier? Wir haben selbst nichts zu fressen!« Und auf dem Kasernenhof gab es denn ein deprimierend langes Warten, Abzählen und Namenverlesen, bis wir in die verschiedenen Gebäude und Räume verteilt waren. Am meisten enttäuschte uns aber die Nachricht, daß von Urlaub nach Hamburg nicht die Rede wäre. Ich wurde in der sogenannten Süddeichkaserne, einer uralten Holzbaracke, untergebracht. Der Feldwebel, der uns dorthin führte, sagte: »Lassen Sie sich nicht von den Ratten auffressen.«

Außer zwei Kalfaktern waren wir nur Unteroffiziere in der großen Stube 49, die eisigkalt war. Wir erhielten nur wenig Kohle. Brot war noch nicht da. Alles, was wir über Dienst und Leben dort erfragten oder was uns vorgelesen wurde, klang sehr entmutigend. Niemand durfte die Grenzen der Festung überschreiten. Über alle militärischen Dinge mußte strengstes Stillschweigen bewahrt werden. Pünktlich um neun Uhr abends mußte der feindlichen Flieger wegen jedes Licht peinlichst abgeblendet sein. In den Schlafräumen durfte dann überhaupt kein Licht mehr brennen, da war es also nichts mehr mit Aufbleiben und Tagebuchschreiben.

Betreffs unsrer Bestimmung war nichts Genaues in Erfahrung zu bringen, nur daß wir erst einen Minensuch- und Räumkursus durchmachen sollten.

Cuxhaven war ein hübscher Ort und von Stacheldraht umgeben. Auf unserem malerischen Kasernenhof, wo zwischen baufälligen Gebäuden ein Entengraben lief mit einer zierlichen Brücke, gab es allerhand Interessantes zu betrachten, die Batterien, eine unförmige Strandkanone, Scheinwerfer und sonderbares Minengerät.

Abends hatte ich in einer stockdustren Stadt kleine Abenteuer und saß schließlich in einem Café, vergeblich mich bemühend, vielen Offizieren den Rücken zuzudrehen, die alle sich Poussiermädchen an den Tisch geholt hatten.

Vormittags: Turnen, Instruktionsunterricht, Pistolenschießen und Exerzieren. Dann Antreten zum Appell. Da wurden wir aufs Geratewohl verteilt, die eine Gruppe zur zwanzigsten Halbflottille, die andere, und darunter ich, zur »Fliegenden Hilfs-Minen-Such-Division«. Ich war anfangs niedergeschmettert, weil ich befürchtete, wieder auf ein kleines Boot geschickt zu werden. Erst als man mir bedeutete, der Ausdruck »fliegende« wollte besagen, daß wir je nach Bedarf bald hierhin, bald dorthin geschickt werden sollten, gab ich mich zufrieden und versteckte mich sogar vor der ärztlichen Untersuchung.

Beim ersten Unterricht am Minensuch- und Fanggerät staunte ich über die vielen sinnreichen, komplizierten und kostspieligen Apparate, die erforderlich waren, um feindliche Minen aufzustöbern und zu sprengen. Ein Obermaat trug das Theoretische monoton und in eingedroschenen Phrasen vor und zeigte uns dabei die Modelle und ihre einzelnen Teile. Mir kam zugute, daß ich mich schon früher etwas um Minenwesen gekümmert hatte. Anderen wurde die ganze Sache nur dadurch mehr oder weniger verständlich, daß sie Tag für Tag wiederholt wurde. Bald mußten wir selber Rekruten unterrichten.

Ein Maat von uns wurde dazu abgeteilt, mit einer Korporalschaft Rekruten zu exerzieren. Dieser Maat, ein alter Reservist, hatte längst die vorgeschriebenen Kommandos vergessen. Er kommandierte also, was ihm gerade einfiel: »Stillgestanden! – Knie ... beu...eu...eugt!« Die dreißig Mann senkten sich in Kniebeuge. Der Maat wußte plötzlich nicht mehr, was zu kommandieren wäre, damit die Leute wieder die Beine streckten. Er sann und sann. Den Leuten zitterten die Knie in der anstrengenden Haltung. Endlich half sich der Maat, indem er statt des militärisch-turnerischen ein seemännisches Kommando gab: »Langsam aufführen!«

Von Bismarcks hundertstem Geburtstage an mußten wir schon um fünf Uhr aufstehen. Es folgte eine Reihe von Feiertagen mit viel Freizeit und mit festlichen Essenzulagen. Zehnjähriges Bestehen der Minenabteilung und Ostern. Ich suchte einmal in der Stadt das Seemannshaus auf und fand es ebenso fad und verlogen wie alle deutschen Seemannsheime, die ich irgendwo kennengelernt hatte. Dunkle ungeheizte Räume, ein paar christlich-sanfte Unterhaltungsbücher und ebensolche, auch ganz unberührte Zeitungen, ein Billard mit zerschnittenem Tuch und ein sogenanntes Wunschbuch, wo hinein ich keinen Wunsch, sondern eine Beschwerde trug. Außer mir war kein Besucher da. Der angestellte Obermatrose, der mir leuchtete, teilte mir geschwätzig mit, daß die »Karlsruhe« durch eine Explosion im Golf von Mexiko untergegangen und die Hälfte der Besatzung von Haifischen verschlungen wäre. Ich fand netten Anschluß bei meinen Kameraden und zählte bald zu den Hauptspaßmachern. Timm, unser Stubenältester war ein uralter Yankeesailor, der gegen jegliche Arbeit und gegen jede Dienstverordnung opponierte. Allnächtlich kam er humorvoll bezecht zurück und konnte dann nur noch englisch oder seemännisch sprechen. Es gab überhaupt prächtige alte Fahrensleute unter uns, und manches seltene Lied aus Segelschiffstagen klang auf. Bei Schach und Skat freundete ich mich mit dem Schreiber und mit dem Furier an.

Weil uns keine Kohlen mehr geliefert wurden, verfeuerten wir heimlich Schrankbretter und Latten aus dem Dachstuhl. Wir hielten vortrefflich zusammen und lachten bis zum Einschlafen von Bett zu Bett. Kleine Trübungen blieben natürlich nicht aus. Zum Beispiel schnarchte Maat Fö nachts unerträglich, aber wenn wir ihm dann jedesmal eine breite Hand voll Schnupftabak über die Nase schütteten, dann half das. Und »Franz mit dem strahlenden Gesicht« hatte mir, während ich schlief, hundertmal den Stempel »Gott strafe England« ins Gesicht gedrückt. Ich revanchierte mich am Donnerstag mit Ruß, aber am Freitagmorgen fand ich meine einzige blaue Hose in einem gefüllten Wascheimer schwimmend. Darauf gab es in der Nacht zum Sonnabend ein hitziges Bombardement mit geräucherten Schellfischen.

Bootsmaat Stahlhut aus meiner Stube kam vom Urlaub zurück. Am letzten Urlaubstage war seine Frau gestorben. Er hatte telegraphisch um Urlaubsverlängerung gebeten, was ihm aber nicht bewilligt wurde. Und so hatte er die tote Frau mit einem dreijährigen Kind zurücklassen müssen. Ein anderer Maat in der Minenabteilung empfing drei Depeschen: Seine Frau läge im Sterben. Der Urlaub wurde ihm aber erst bewilligt, als sie gestorben war.

Wir waren entrüstet, am meisten Timm. Timm war aber Tag über immer entrüstet. Er warf zum Beispiel eines Mittags seine Erbsensuppe mit Teller und Löffel an die Wand, weil er gehört hatte, wie jemand zu jemandem sagte, ein Freund hätte geschrieben, ihm sei von einer gewissen Person angedeutet, daß die Minenbootmannsmaate nach Beendigung des Krieges nicht gleich entlassen würden, sondern erst die heimischen Gewässer von regulären und wilden Minen säubern müßten.

Krokusse und Mandelbäume blühten schon, als wir »Fliegenden« eine Exkursion nach dem Schießplatz bei Salenburg machten, um Sprengübungen beizuwohnen. In aller Frühe marschierten wir durch die hügelige Heide, durch saubere Dörfchen und an dem Galgenberg vorbei, der unseren Kollegen Störtebeker verewigt. Auf dem Schießplatz waren Wälle aufgeworfen, Schützengräben ausgehoben und alle Vorbereitungen getroffen, um Eisenbahnschienen, Balken, Stahltaue und anderes auf verschiedene Weise, elektrisch und mit Zeitzünder zu sprengen. An hundert Torpedomatrosen und Matrosenartilleristen waren versammelt und Deckoffiziere erklärten die Manipulationen. Da aber ein Regenschauer einsetzte, sah ich mir nur eine Sprengung an und verduftete unter Rauch und Knall mit einigen Kameraden ins Dorf in ein Wirtshaus und von dort über andere Dörfer und Wirtshäuser bis nach Brokeswalde, wo wir so etwas wie einen Arbeiterkommers veranstalteten, tanzten, Mädchen abknutschten, Maikäfer fingen und Maikätzchen an die Mützen steckten.

Unser strenger, aber achtenswerter Feldwebel verlas beim Appell eine Bekanntmachung, daß im Korridor die Tafel mit den Namen der den Heldentod Gefundenhabenden nicht dazu da wäre, um Zigarrenstummel darauf abzulegen.

Andermal rückten wir in Eilmärschen nach dem Hafen, um auf kleinen Schleppern auf See praktisch auszuführen, was wir vom Minenräumen im Schuppen gelernt hatten. Wir fuhren nach Helgoland zu, Cuxhaven und der Küstenort Dunen, wo ein ganzer Häuserkomplex aus artilleristischen Gründen niedergelegt war, blitzten in der Sonne. In der Luft hing ein Schütte-Lanz oder ein Parsival. Zwölf gekaperte Fischdampfer wurden eingebracht. Sie sollten unter holländischer Flagge gefahren sein, aber englische Besatzung haben, die uns wahrscheinlich Minen hingekleckert hatte.

Alles in allem fühlte ich mich jetzt wohl und war zufrieden.

Unser Dienst war nicht schwer, aber auf die Dauer uninteressant. Jeder versuchte ihn durch Schwindeleien, Drückebergereien oder Selbsttäuschungen zu kürzen. »Bitte austreten zu dürfen.« »Bitte austreten zu dürfen.« Das Pissoir war unser Lustschloß. Dort atmete man auf und nahm ein paar Züge von einer Zigarette.

An der Zeugwäsche brauchten wir Unteroffiziere nicht teilzunehmen. Turnen und Unterricht am Minensuchgerät fand im Schuppen statt, wo es wenigstens nicht so kalt war. Gewehre hatten wir nicht, sondern nur altmodische Seitengewehre mit großen Körben, sogenannte Entermesser und Pistolen. Das Exerzieren mit Pistole ward langweilig. »Mit Schulterstück zum Schuß! – Fertig! – Richtung auf die Dachrinne! – Visier zweihundert! – Feuern! – Stopfen! – Durchladen!«

Der Mittagsappell zog sich endlos in die Länge, weil die Privatpost dort verteilt wurde. Während der Verlesung der meist belanglosen Kompaniebefehle –, daß zum Beispiel jeder Mann auf Antrag ein Gesangbuch erhalten könnte, oder daß das Grüßen in der Stadt zu wünschen übrig lasse, – dachten wir in strammer Haltung an die unsrer wartende Erbsensuppe.

Wir unternahmen wieder eine praktische Minensuchfahrt, diesmal elbaufwärts. Auf einem der Schlepper, die wir dazu benutzten, und die alle zu verschiedenen Nummern den englischen Namen Fairplay trugen, lernte ich den jüngsten Matrosen unserer Marine kennen. Es war ein flotter, etwas verwöhnter Bengel von fünfzehn Jahren. Er war früher in Zivil als Decksjunge dort an Bord gewesen, hatte sich bei Kriegsausbruch geweigert, den Schlepper zu verlassen und es beim Admiral durchgesetzt, daß man ihn als Soldaten einkleiden ließ.

Wir hatten bei dieser Exkursion auch Gelegenheit zum Angeln. Im Hafen lag der kleine Kreuzer »Nymphe«, auf dem ich vor mehr als zehn Jahren gedient hatte.

Ich hörte, daß die holländischen Fischdampfer, die neulich eingebracht waren, keine englische, sondern holländische Besatzung hätten. Offenbar, obwohl nicht nachweisbar, hatten sie Spionage für England getrieben. Es war ja so leicht, durch Rauchsignale, durch verabredete Formationssprache und tausend andere Mittel die Engländer über gewisse Beobachtungen zu informieren. Diese Fischdampfer hatten sich seit auffällig langer Zeit in deutschen Gewässern herumgetrieben, und wir maßen ihnen die Schuld dafür bei, daß unserer Flotte kürzlich ein besonderes Unternehmen mißglückt war. Nun schikanierten wir sie wenigstens, indem wir ihre Schiffe einbrachten und erst dann wieder entließen, wenn wir ihre auf deutschem Gebiet gefischten Fische für unsere Rechnung verkauft hatten. Wir liebten die Holländer nicht, und immer wieder tauchte das Gerücht auf, Deutschland träfe Vorbereitungen, um ihnen die Schelde wegzunehmen.

Im Fischereihafen stahl ich mir einen Schellfisch, den ich während des Rückmarsches unterm Überzieher verborgen hielt, nur in eine Postkarte eingewickelt. Abends war Alarm, weil von Oldenburg aus feindliche Flieger gemeldet waren. Sie kamen aber nicht zu uns, sondern statteten wohl der Jade einen Besuch ab. Später leistete ich mir, weil ich das Honorar für eine Novelle erhalten hatte, im Restaurant Fischereihafen eine Pulle Rheinwein zu entgrätetem Steinbutt. Vielleicht war das einer jener holländisch-englisch-deutschen Fische.

Der Furier Petersen sah aus wie ich, nur daß er eine knallrote Nase hatte. Wir wurden immer verwechselt, oder wir wurden Brüder genannt, und wir redeten einander mit Bruder an. Weil unsere Freundschaft von Tag zu Tag inniger wurde, kultivierten wir diese Ähnlichkeit noch, indem wir etwa gleichzeitig unsere Haare ganz glatzekahl scheren oder unsere Barte in gleicher Art zustutzen ließen. Petersen, obwohl ein einfacher Mann, spielte vorzüglich Schach und Skat. Er hatte an einer gewissen Komik dieselbe Freude wie ich, und er besaß einen hervorragenden Humor nebst einer großen Ruhe. Ich hörte einmal zu, wie ein witzloser Feldwebel ihn zur Rede stellte und befragte, wo die fünf Rattenfallen geblieben wären. Petersen antwortete immer wieder ganz ruhig: »Die sind aufgebraucht.« Und dann gab es ein halbstündiges Gespräch hitzig und hitziger einerseits und gleichbleibend sanft andererseits über das Thema: Inwiefern können Rattenfallen aufgebraucht werden? Als Furier und Verwalter von wertvollen Sachen war Petersen natürlich sehr umworben und erhielt unter anderem auch vom Küchenpersonal besondere Bissen zugesteckt. Davon gab er mir stets reichlich ab. Einmal führte er mich in seine Furierkammer, zeigte mir das Material, über das er herrschte und sagte: »So, lieber Bruder, was du davon gebrauchen kannst, das nimm dir.« Ich wollte seine Güte nicht ausnützen und besann mich, daß wir in der Süddeichkaserne keine Klosettanlagen hatten, sondern bei jedem Bedürfnis und so nachts und bei Kälte und Regen ein weites Stück über den Kasernenhof laufen mußten. Ich wählte mir also eine Schachtel Globus-Stiefelfett und einen Nachttopf aus. Mit diesen zwei Geschenken schritt ich über den Exerzierplatz durch die Reihen gedrillt werdender, aber nun lachender Rekruten. Meine Stube war gerührt über meine Stiftung, die jedoch schon nach wenigen Tagen als völlig unzureichend in Vergessenheit geriet.

Diejenigen, die zur zwanzigsten Halbflottille abkommandiert waren, rückten ab nach Kiel. Franz mit dem strahlenden Gesicht hinterließ mir als Abschiedsgeschenk eine Kaffeekanne, in die eine Hartwurst so fest eingezwängt war, daß ich die Kanne sprengen mußte, um die Wurst zu befreien, und die Wurst war dann innen stinkig verdorben. Wir Fliegenden sollten ebenfalls in den nächsten Tagen fortkommen. Ach, ich hatte mich eben so schön eingelebt in dem hübschen Cuxhaven mit seinen alten Bäumen; mit der »Alten Liebe«, den verschiedenen Seezeichen, und ich hatte so nette Bekannte und einen Bruder gefunden.

Feindliche Flieger hatten mehrere offene Ortschaften bombardiert und nach den Zeitungsberichten wie immer nur kleine Kinder oder junge Mädchen getroffen. Und Petersen gab mir im Vertrauen Nachricht davon, daß der kleine Kreuzer »Hamburg« abgesoffen wäre, was ich im Vertrauen weitergab.

Unsere Kasernenbatterien schossen nur nach Versuchsballons, das war für uns Zuschauer ein amüsanter Wettstreit mit Feuerwerk. Abends betrat ich als Unteroffizier vom Dienst das Büro und geriet in einen fidelen Schnack mit einem Feldwebel, der meinen Spaßen gern zuhörte und eine Vorliebe für kleine Wortgeplänkel hatte. Seine frohe Stimmung ausnutzend, fragte ich, ob man mir einen Tag Sonntagsurlaub nach Hamburg geben würde. Er hieß mich gleich ein Gesuch aufsetzen, worin ich als Grund »Besuch meiner Braut, die ich seit vier Jahren nicht gesehen habe«, einsetzte. Der Feldwebel trug das Schreiben sogleich zum Kompanieführer und brachte es als genehmigt zurück.

Das wurden ein paar unverhoffte, wohltuende Urlaubsstunden in Hamburg, es trübte sie auch nicht, daß die neue Hose, die ich mir dort billig erstand und gleich im Laden anzog, nach einer Stunde schon kürzer wurde und in mehreren Nähten platzte. Ich bummelte durch vertraute Straßen, Gassen und Kneipen, saß und sprach mit Verwundeten und mit Türken und Chinesen. Es wimmelte natürlich in Hamburg von Marinern, aber die Stadt ehrte und unterstützte sie in wirklich großzügiger und vornehmer Weise. Sie wurden schon – und selbstverständlich in gleicher Weise die Landsoldaten – auf dem Bahnhof von Damen des Roten Kreuzes freundlich empfangen und aufs reichlichste und beste bewirtet.

Mir war die Hauptsache, daß ich Meta Seidler aufsuchte. Sie war meine erste Liebe, und ich war ihre erste Liebe gewesen. Obwohl sie seitdem schon lange verheiratet war und mit ihrem Manne, Mutter, Schwester, kreischenden Papageien und schreienden Kindern zwei enge Vorstadtstübchen bewohnte, waren wir doch in alter ungetrübter Herzlichkeit zusammen. Metas Mutter hatte 1901, als ich zur See ging, eine Seemannskneipe sehr brav und liebevoll geführt, und Metas jetziger Mann war auch mit unter den Seeleuten gewesen, die gleich mir um Metas Liebe buhlten. Für uns junge Seefahrer war das eine schöne, unbändige Zeit gewesen. Nach jeder Reise hatte unser Herz mächtig geklopft, wenn wir heimkehrend das alte Schifferwahrzeichen, die Michaeliskirche, erblickten, der gegenüber die Seidlersche Kellerwirtschaft lag.

Ich hatte keine Lust, in den letzten Cuxhavener Tagen noch Dienst zu verrichten, sondern meldete mich zum Erstaunen meiner Kameraden freiwillig auf Wache, nachdem ich mich von Fö verabschiedet hatte, der noch am selben Tage fort mußte, nämlich für zehn Tage in Arrest. Auf Wache packte ich meine Sachen, wusch Taschentücher und hängte sie in die Sonne.

Meine Füße juckten wieder heftig. Mir war, wie vor jedem Wechsel, ein bißchen unbehaglich zumute, und auf der Kasernenhofwüste sah und hörte ich einen rohen Maaten, der einen alten Matrosen zum Strafexerzieren kommandierte. »«Laufschritt marsch marsch! – Hinlegen! – Auf! – Hinlegen! – Auf! – Links schwenkt marsch! – Laufschritt marsch marsch!«

Beim Morgenrot verließen die Fliegenden Cuxhaven, vergeblich bemüht, ein anständiges Lied in Gang zu kriegen. Mein Bruder Petersen gab mir bis zum Bahnhof das Geleite. Wir hatten uns noch in theatralischer Stellung vor der großen Strandkanone fotografieren lassen. Auf dem Bahnsteig in Hamburg wurden uns vom Roten Kreuz Zigarren, Ansichtskarten und Kaffee gereicht. Aber dem folgte die große Enttäuschung: man ließ uns nicht in die Wartehallen, worauf wir uns gefreut und wohin manche von uns ihre Frauen und Bräute bestellt hatten. Wir durften nicht einmal auf den Perron, sondern wurden in einen abgelegenen Keller geführt, der bereits von Infanteristen überfüllt und verraucht war. Die Infanteristen mußten den Keller für uns räumen und dann schloß man hinter uns die Türen ab. Wir waren empört über solche schmachvolle Behandlung. Mir persönlich war es schon vorher gelungen, unter gewissen Vorwänden mich von unserem Trupp loszumachen, und so saß ich nun in der Wartehalle und bestieg später, als es nach Kiel weiterging, ein Zivilistenkupee, wo ich auf der Basis meiner Uniformsicherheit alles zum Lachen brachte.


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