Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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6

Fahrt nach dem Osten

Im letzten Augenblick war ein neuer Kommandant, ein Leutnant Kaiser, an Bord gekommen. Schon an der Ähnlichkeit glaubte ich zu erkennen, daß er ein Bruder jenes Kaiser sein müßte, unter dem ich auf »Blexen« und »Vulkan« gefahren war. Das bestätigte sich.

Dann liefen wir aus. Bei Fehmarn mußten wir im Zickzack durch Minengebiete gelotst werden. Der Kommandant des Sperrfahrzeuges »Prinz Waldemar« rief unserem Kommandanten entgegen: »Guten Abend, Herr Kaiser. Sie müssen sofort nach Kiel zurück. Haben Sie denn die Depesche nicht erhalten?«

Nach Kiel zurück?! Warum, das ward uns Mannschaften wieder verheimlicht. War dicke Luft draußen? Waren Friedensverhandlungen im Gange? Sollten unsere Fischdampfer außer Dienst stellen?

Vor der Holtenauer Schleuse lagen die Panzer ohne Beiboote unter Dampf, wahrscheinlich klar für eine Aktion im Osten oder in der Nordsee.

Wir blieben nicht lange in Kiel. Unsere Aufgabe war, den großen viermastigen Petroleumdampfer »Mannheim« nach Memel zu eskortieren. Wir nahmen ihn in unsere Mitte und dampften langsam dicht unter der Küste, um alle Leuchten auszunutzen. Die Ausgucksposten waren verstärkt.

Nachts gingen wir beim Leuchtturm Funkenhafen vor Anker. Der Leutnant begab sich an Bord der »Mannheim«, und ich ruderte dann mit einigen Leuten in der Dunkelheit umher, um unser Fischnetz auszubringen. Das ging uns aber an einem Wrack oder Felsenstück entzwei. Den Rest der Nacht verbrachte ich damit, mir auszurechnen, wer gestern meine grünen Socken aus dem Trockenraum gestohlen haben könnte.

Dann suchte uns ein heftiges Gewitter heim. Ein Fischerboot kam längsseits und verkaufte uns herrliche Fische.

Am siebenten August, in der Danziger Bucht, wurden wir davon verständigt, daß soundso viel Strich westlich von Helsternest drei Treibminen drohten. Das war mir wie eine Gratulation zu meinem Geburtstag, zu dem mir schon morgens einer der Maate in Glacéhandschuhen gratuliert hatte. Ich gab eine Flasche Rum zum besten.

Als die Kurische Nehrung in Sicht kam, gab es Alarm. Eine der Minen war gesichtet, dann stellte sich aber heraus, daß es eine Fischerboje war. Aber mittags, als ich gerade einen prächtigen Goldbutt entgrätete, bemerkten wir einen Passagierdampfer, der in auffälliger Weise plötzlich beidrehte und uns dann auch bald signalisierte: Nehmen Sie sich vor der Mine in acht.

Richtig: da trieb eine russische Kugelmine, zur Hälfte aus dem Wasser ragend. Wir näherten uns ihr auf etwa 500 Meter und eröffneten sofort ein heftiges Feuer aus unseren russischen Beutegewehren. Es wurde gut geschossen, aber es dauerte lange – mein Gewehr war zweimal heißgeschossen – ehe die Mine absackte. Und wie die Menschen in der Stadt vor einer Stelle stehenbleiben, wo kurz zuvor ein Mord passiert ist, von dem aber nicht eine Spur mehr zu sehen ist, so dampften wir nun der Stelle zu, wo die Mine verschwunden war. Das wäre uns beinahe übel bekommen, denn plötzlich gab es einen dumpfen Donner und vor uns stieg eine Wassersäule auf. Ich konnte dem Kommandanten zu meiner Befriedigung Aufklärung geben. Jene Mine war eine sogenannte Krängungsmine, so gedacht, daß, wenn ein Schiff sie überfuhr und sie dabei aus dem Gleichgewicht brachte, daß dann ein Pendel ihren Sprengstoff zur Entzündung brachte. Als wir ihren Auftriebsraum mit unseren Kugeln durchlöchert hatten, war sie senkrecht versunken und erst am Meeresboden – glücklicherweise in größerer Tiefe – hatte sie sich umgelegt und war explodiert.

Wenige Sekunden nach der Detonation bedeckte sich der Wasserspiegel in weitem Umkreis mit getöteten Fischen. Ich verzieh es dem Kommandanten nie, daß er aus einem sehr kurzsichtigen und überwichtigen Pflichtgefühl heraus uns nicht gestattete, diese köstliche und willkommene Proviantbereicherung aufzufischen, sondern eiligst Kurs aufnahm.

Als wir in Memel einliefen, standen wir alle in Urlaubsdreß an Deck, durften dann aber nicht an Land, weil einige Tage zuvor vier Matrosen von unserem Schwesternboot »Farmsen« dort desertiert waren. Auf dem Kai, wo wir anlegten, trieb sich eine neugierige und fidele Menge herum. Ich wechselte mit zwei Damen russische Sprachbrocken. Sportsboote fuhren vorbei, und dann liefen Torpedoboote und ein großer, mit abgekämpften Ulanen und Dragonern überfüllter Transportdampfer ein.

Am nächsten Vormittag erreichten wir Libau. Mein Herz schlug froh.

Am Eingang des Hafens lagen kleinere und größere Dampfer versenkt, von denen meist nur Schornsteine und Masten aus dem Wasser ragten.

Kaum lagen wir fest, so stürzte ich unter einem dienstlichen Vorwand an Land. Nacktbeinige Mädchen warteten am Kai und boten Früchte und Zigaretten an. Die Straßenbahn durften wir unentgeltlich benutzen, und Droschken waren spottbillig. Es trieb sich viel zerlumptes Bettelvolk herum.

Es gab nur bis zehn Uhr Urlaub. Der Ausschank alkoholischer Getränke war in Libau streng verboten. Die Bevölkerung bestand vorwiegend aus Juden und Letten, aber auf der Strandpromenade am Kurhaus begegneten mir auch deutschbaltische Gesichter. Die Landschaft dort weckte liebe Erinnerungen in mir.

Ich suchte meistens die dunklen Stadtteile auf, die von unseren Marinern und Infanteristen aus Angst vor lettischen Überfällen gemieden wurden. Bekannte aus Cuxhaven sprachen mich an. Der eine war mit einem Torpedoboot auf eine Mine gelaufen. Der andere gehörte zur zweiten Hilfsminensuchdivision, die vor Riga schwer beschossen war. Ich riß mich aber immer wieder schnell von den Bekannten los. Ich wollte allein sein und allein erleben.

Als Kapitän Robertson unsere Vorpostenboote inspizierte, verdroß es ihn sehr, daß ich die Konstruktion der U-Boot-Wasserbomben nicht erklären konnte. Niemand von uns konnte sie erklären. Als er indessen merkte, daß ich sonst orientiert und eifrig war, gewann ich seine Sympathie.

Es gab Personalveränderungen, die das übliche gereizte Durcheinander mit sich brachten. Leutnant Kaiser siedelte auf »Farmsen« über, wir erhielten dafür einen Herrn Wenzel, einen Deutschamerikaner zum Kommandanten. Von den vier Deserteuren von »Farmsen« war einer erwischt. Er wurde milde mit zehn Tagen strengem Arrest bestraft.

Ich wurde als Minen- und Bombensachverständiger dauernd bald von diesem, bald von jenem Kommandanten gewünscht und wurde, je unentbehrlicher ich wurde, desto selbständiger. Durch die gute Instandhaltung meines Gerätes, durch ausführliche Protokolle und sachverständige Meldungen erwarb ich mir das Vertrauen meiner Vorgesetzten, besonders des Flottillenchefs Robertson, und erreichte damit, daß man mich zum Verwalter des gesamten Such- und Sprenggerätes für alle zwölf Boote unserer Flottille einsetzte. Ich gehörte von nun an also zum Stab, wurde an Land im Hotel Petersburg verpflegt und durfte sogar an Land wohnen.

Der Stab hatte das ehemalige Zollgebäude für seine Bürozwecke requiriert. In einem Kellerraum dieses Hauses stand unser Gerät verwahrlost durcheinander. Ich sollte es wieder instandsetzen und verwalten. Man bot mir mehrere Heizer zur Hilfe an, ich begnügte mich aber mit einem. Auf den Booten ward ich natürlich sehr um meinen Posten beneidet. Ich selbst aber war halb deprimiert. Denn so viel Freiheit ich nun auch in meiner Selbständigkeit genoß, so schwand doch damit auch die Aussicht auf kriegerische Erlebnisse. Ich mietete mir im Hause Helenenstraße 28 ein möbliertes Zimmer bei einer jüdischen Wirtin. Ich fragte sie nach dem Preis. Sie sagte: »Im Frieden habe ich das Zimmer für dreißig Rubel vermietet. Aber jetzt ist Krieg. Zahlen Sie, was Sie können.« Ich zahlte ihr zehn Mark für einen Monat voraus. Unter den vielen Geburtstagssendungen, die ich in Libau vorfand, war auch eine Menge Geld gewesen.

In meinem Gerätekeller war ein wüstes Durcheinander von abscheulichen und schönen, zerschlagenen und verachteten Gegenständen, die die Russen zurückgelassen hatten. Körbe voll Gläser, Medikamente, mit denen wir nichts anzufangen wußten, weil sie russische Aufschriften trugen. Rahmenleisten, Möbel, Lampen, elektrische Artikel. Ich schaffte das alles fort und behielt für mein Büro nur einen Stuhl und ein altertümliches, geschnitztes Büfett, in dem ich gewisse Suchgerätsteile verwahren wollte, zu welchem Zwecke ich die entzückenden Büfettüren mit Fußtritten einschlug. Mit großer Liebe machte ich mich daran, die Gerätschaften zu ordnen und sie von Rost und Grünspan zu befreien. Ich ertüftelte mir sogar eine eigene Buchführung.

Es grenzte ein zweiter Raum an meinen Keller, den ich aber nicht benutzen durfte, weil dort in der Wand eine schwere Granate steckte, die, obwohl sie zuerst einen Pfeiler durchschlagen hatte, nicht krepiert war. Die Leute vom Stab hatten eine Heidenangst, daß sie bei Berührung noch nachträglich explodieren würde. Mich zog es immer wie mit magischer Gewalt zu dieser Granate. Ich hätte sie gar zu gern herausgezogen und eines Tages dem Chef des Büros überreicht, aber ich fürchtete einerseits den Zorn des Chefs und andererseits auch die Granate selbst. Immerhin berührte ich sie eines Morgens zaghaft, und am nächsten etwas fester und am dritten herzhaft, und am vierten Tage versuchte ich mit aller Kraft, sie herauszuziehen. Sie stak aber viel zu fest im Gemäuer, und so gab ich die Sache auf.

Es blühten in Libau noch die Linden. Kirschen, Stachelbeeren und Heidelbeeren wurden feilgeboten. Bis zehn Uhr trieb ich mich abends in den Limonadenbuden rum, bei Kerzenlicht, denn Petroleum war konfisziert, und ich aß billigen Kuchen mit unzähligen Fliegen.

Günstige Nachrichten trafen ein. London war bombardiert, Warschau eingenommen; die berühmte Bibliothek dort war in deutschen Händen. Meine Mutter schrieb unter anderem:

»Mein geliebter Gustav! Welche Freude hat mir heute Nacht Dein Eilbrief bereitet! Vier Tage ging ich mit halberstarrtem Herzen herum, seitdem ich am 11. August früh die Berichtigung der Admiralität las, daß nicht – wie die Russen gemeldet – zwei Torpedoboote, sondern nur zwei kleine Minensuchboote vor der Rigaer Bucht zerstört seien. – Ja, nur zwei kleine Boote! Und wieviel Menschen sind durch diese kleine Notiz in Unruhe und Angst versetzt. Gott sei Dank, nun weiß ich ja, daß es Dir sonst gut geht.«

Als die deutsche Verwaltung in Libau in Kraft getreten war, hatte sie gleich zweihundert Freudenmädchen zwecks ärztlicher Untersuchung festsetzen lassen. Es gab noch ein einziges Bordell, um ein einziges weibliches Wesen herum. An die Hunderte von Soldaten, die im Vorraum warteten, wurden Prophylaktika verteilt.

Einen seltsamen Eindruck machten die schönen Judenmädchen auf mich. Sie waren zu größter Zurückhaltung uns gegenüber angewiesen. Wenn es mir einmal gelang, mit einer oder der andern ins Gespräch zu kommen, dann staunte ich über ihre klare und kühle Anpassung an die Verhältnisse, über ihre Belesenheit und vielseitigen Sprachkenntnisse. Und sie staunten über nichts.

In meinem Privatzimmer las ich »Mozart auf der Reise nach Prag«, und dann kroch ich in mein Bett – mein Federbett – und betete dankbar und nahm mir vor, wenn unsere Boote ausliefen, dann den Chef zu bitten, mich mitfahren zu lassen.

Meine Wirtin besaß einen schrecklichen japanischen oder chinesischen Dachshund, der Schwimmhäute zwischen den Zehen hatte und mir durch seine Bissigkeit bei jeder Heimkehr beschämende und angstvolle Augenblicke bereitete. Um so freundlicher war die Wirtin selbst zu mir. Sie stellte mir öfters Blumensträuße ins Zimmer. Manchmal besuchte mich ihre alte Mutter. Sie erzählte in kluger und abgeklärter Art von ihrem Sohn, der den russisch-japanischen Krieg mitgemacht hatte. Sie tadelte mit herben Worten die Verräterei Stössls in Port Arthur und kam dann auf den gegenwärtigen Krieg und die Eroberung Libaus durch die Deutschen zu reden. Sie hatte am Kai gestanden, als die ersten deutschen Matrosen ausgeschifft wurden, und sie hatte bewundert, wie sauber diese Leute aussahen, wie manierlich sie sich benahmen und daß keiner von ihnen angetrunken war. – Während die alte Dame so mit mir plauderte, blickten wir beide zum Fenster hinaus, und gerade, als sie die Nüchternheit der Deutschen pries, tauchten auf der Straße zwei total bezechte Matrosen auf. Sie blieben direkt vor unserem Fenster stehen, weil einer dem andern von Zigarre zu Zigarre Feuer geben wollte, was aber nicht gelang.

Ich saß am Strand und las »Prinz Rosa Stramin« von Eduard Helmer. Über dem brandenden Meer stand der Himmel halb in Rotgold, halb in Grau. Dunkeläugige stolze Judenmädchen promenierten vorüber.

Auf dem Kai, an dem unsere Boote lagen, war ein hoher Berg von Messing- und Kupfergeräten aufgehäuft. Hunderte von Samowars, Kochtöpfen, Rohren, Wasserhähnen und so weiter, alles Sachen, die von der Bevölkerung zwangsweise abgeliefert werden mußten. Aus diesem Schatz stahlen wir Mariner, besonders das Maschinenpersonal, praktische Dinge für unsere Bordinteressen, Kupferdrähte, Messingschrauben und anderes. Ich nahm mir ein hübsch geformtes kupfernes Wassergefäß mit. Als ich es in meinem Zimmer auspackte, wurde an die Tür geklopft. Der Stiefsohn meiner Wirtin stellte sich vor und machte mir seine Aufwartung. Er erzählte unter anderem, er sei bei der Beuteabteilung angestellt und habe auch jenen Kupfer- und Messingberg zu bewachen, von dem leider sehr viel gestohlen würde.

Es kam Bescheid von der Minenabteilung, daß ich sofort nach Cuxhaven zurückzuschicken wäre. Ich protestierte und bat meine Vorgesetzten, bei denen ich gut angeschrieben war, mich zu behalten. Das gab nun für lange Zeit ein Hin- und Herschreiben und bei mir ein ewiges Hangen und Bangen und Hoffen.

Im Rigaschen Meerbusen tat sich was. Stündlich trafen neue aufregende Nachrichten ein. Unsere Vorpostenboote sollten um sechs Uhr auslaufen, um die Torpedoboote, die mit der »Deutschland« gemeinsam einen Vorstoß unternehmen wollten, gegen feindliche U-Boote zu schützen. Ich raste sofort an Bord, um bei dem Divisionschef die Erlaubnis zu erbitten, diese Fahrt mitmachen zu dürfen. Mehrmals hielten mich Maate auf, die neidisch sagten: »Na, Hester, Sie haben Glück. Sie haben das so schlau gedeichselt mit Ihrem Verwaltungskram, daß Sie nun an Land bleiben dürfen.«

Kapitän Robertson ließ sich endlich erweichen, nachdem ich wieder als letzten Trumpf die Protektion Seiner Majestät ausgespielt hatte. Ich durfte mich einschiffen und meldete mich sofort an Bord, aber nicht auf »Bergedorf«, sondern auf dem Führerschiff »Farmsen«, wo mich der Kommandant gern aufnahm.

Meine Wirtin weinte, als sie von meiner Ausreise hörte. Ich zog meine sogenannte Galauniform an und eilte ins Hotel Roma, weil ich um jeden Preis eine Flasche Wodka erstehen wollte. Ich hatte es sehr eilig, und als ich in das Vestibül des Hotels stürzte, lag ich plötzlich einem hoch aufgerichteten, zähnefletschenden Bären in den Tatzen. Nur ein kurzes Erschrecken, denn er war ausgestopft. Ich bekam Wodka, mit dem ich auf »Farmsen« später einen einzigen mir übel gesinnten Unteroffizier bezwang. Dann zog ich mich um und kletterte an Bord, wo alles in lebhafter Vorbereitung war. Sprengpatronen, Gewehre, Schwimmwesten, Zünderkasten, Wasserbomben und andere Waffen und Verteidigungsmittel wurden klargestellt. Auch gab man uns nochmals Instruktion über den Gebrauch dieser Apparate. Unter diesen waren interessante, aber auch manchmal recht lächerlich naive Instrumente, zum Beispiel zwei Sprengpatronen, die durch eine Stahlleine verbunden waren. Die Leine sollte dem feindlichen U-Boot so über den Rücken geworfen werden, daß die Bomben links und rechts an seine Flanken anschlugen. Das hieß, dem Hasen Pfeffer auf den Schwanz streuen.

Der ganze Hafen wimmelte von Schiffen, die auslaufen sollten. Vom Pier riefen Judenweiber uns zu: »Kommt glücklich zurück!«, auch boten einige lettische Dirnen mit lautem Geschrei sich uns eiligst noch an. Es war eine berauschende Stimmung, und ich war so glücklich wie lange nicht zuvor. Im Büro des Stabes und überall an Land, wo ich mich abgemeldet hatte, war mir Glück oder Hals- und Beinbruch oder gute Rückkehr gewünscht worden. Nun bekam ich schon wieder Angst, man hätte mir und ich hätte anderen zu wichtig über unsere Reise gesprochen. Denn im letzten Moment traf die Order ein, daß wir als U-Bootsschutz und Rückendeckung der Flotte hinter den anderen Booten zu bleiben hätten.

Wir passierten Windau und kreuzten dann in der Höhe von Domesneß, ein Boot zum andern im Abstand von tausend Metern. Der Leuchtturm Lyserort blieb in Sicht.

Um drei Uhr blitzte es auf. Unsere Kreuzer nahmen etwas unter Feuer und verschwanden vom Horizont. »Es ist eine Schweinerei«, fluchte ein Bootsmaat neben mir, »daß wir so harmlos herumkutschen müssen und nicht mit vorgehen dürfen, wir Nachpostenboote. Es handelt sich um die Durchfahrt um Ösel herum, aber die ist stellenweise nicht tiefer als vier Meter. Diesen Ausweg können nur einige von unseren Torpedobooten, nicht aber die großen Schiffe nehmen.« Das Wetter war grau. Es regnete dünn. Wir mußten mit den Kleidern am Leibe schlafen. Ich als Überzähliger und Freiwilliger hatte keine Matratze. Ich lehnte auch viele hilfsbereite diesbezügliche Angebote ab. Ich schlief auf Korkwesten wie auf Ziegelsteinen und fror nachts sehr. Da man mich zu keinerlei Dienst zwang, übernahm ich immer wieder und gern freiwillig die übelsten Wachen. Die waren ja, besonders abends und nachts, so schön. Da war das Meer Spitzengewebe auf Bronze. Und ich trank den letzten Wodka und rauchte die letzte Memphis und dachte an das Land vor mir, wo ich lange vorm Kriege so seltsame Zeiten verlebt hatte.

Auf Wache hatte ich eine Erscheinung. Wir fuhren selbstverständlich abgeblendet, lautlos rollende und jumpende dunkle Rümpfe. Ich tappte im Dunklen über das Deck, wo überall etwas einem ein Bein stellen wollte, Bolzen, Steertblöcke, Kisten, Schäkel, Toppzeichen, Planken und Ketten. Ich suchte den Decksläufer, der die Wache mit mir teilte, und erblickte ihn achtern gegen das Maschinenskylight gelehnt. Er hatte ein Sacktuch über den Kopf gezogen, so daß er wie ein altes Lettenweib aussah. »Frieren Sie?« fragte ich, an ihn herantretend. Aber er antwortete nicht, und als ich ihm nahe ins Gesicht sah, war es der Tod, der dort stand. Ich stieß ihm meine fünf Finger ins Gesicht, und da war es nicht mehr der Tod, sondern eine Eisenklampe, an der ein Bootstau aufgeschossen hing.

Ich hatte in zwei Tagen nur vier Stunden Schlaf gehabt, und auch diese waren mir von meinen juckenden Füßen vergällt.

Der Leutnant gesellte sich zu mir. Die Flotte wäre daran, die Minensperre zu räumen, die die »Deutschland« im vorigen Jahr selber dort gelegt hätte. Dann würden wir im Rigaschen Meerbusen vordringen. Der Leutnant besprach auch mit mir, wo wir gegebenenfalls die Bomben anbringen wollten, wenn wir unser eigenes Schiff vor den Feinden in die Luft sprengen müßten.

Ein Funkspruch ordnete an, daß sämtliche Torpedoboote sofort ihre Schornsteine rot anstreichen sollten. Am nächsten Morgen sahen wir sie schon derart verändert.

Wir dampften immer noch auf demselben Fleck herum. West dreiviertel Nord, und dann wieder Ost dreiviertel Süd. Der Tabak und das Brot waren ausgegangen. Wir erhielten Schiffszwieback. Ich zog einen letzten Knust durch und durch verschimmelten Brotes vor. Der Koch warf eine Tonne verdorbenen Fleisches über Bord. Es wurde langweilig. Alle hatten Sehnsucht nach dem Lande, auch der Hund, der seine Nase immer landwärts über die Reling hängte. Die funktelegraphischen Nachrichten, die immer wieder Siege und Erbeutungen aus Rußland meldeten, übten keine Wirkung mehr auf uns aus. Wir spielten Skat. Ich nähte einen Segeltuchbezug für die Alarmvorrichtung und las ungern »Das Gasthaus zur Ehe« von Zobeltitz. Ebenso langweilig trug ein Heizer Anekdoten von seinem steinalten und blinden Onkel Flint in Swinemünde vor, der statt einer Bahnsteigkarte eine Tafel Schokolade aus dem Automaten zog und, als man ihn damit nicht durch die Sperre ließ, schimpfte und drohte, er würde dann zu Fuß gehen. Auch darüber, daß er Tabak mit Tee und andermal Wachs mit Käse verwechselt hatte, lachte niemand von uns.

Das Trinkwasser ging zu Ende. Wir waren nun schon acht Tage draußen, ohne unsere Kleider einmal abgelegt zu haben.

Endlich weckte mich eines Morgens ein Schuß und der Ruf »Alarm!« »Bergedorf« hatte ein feindliches U-Boot gesichtet. Wir griffen zu den Gewehren und kreuzten ausspähend herum. Ich schärfte meine Wasserbomben und legte mir Sprengpatronen und auch ein Gewehr zurecht. Aber das U-Boot blieb unsichtbar. Entweder war es unter Wasser entkommen, oder »Bergedorf« hatte auf einen Schweinsfisch geschossen.

Schiffe der Nassau-Klasse und Torpedoboote passierten uns in höchster Schnelligkeit. Sie sollten Dünamünde bombardieren. Über ihnen flog ein Luftschiff. Unsere Vorpostenboote erhielten Befehl, sich in Windau zu sammeln. Im Hafen dort lag ein großer versenkter Dampfer. Wir gingen zwischen den demolierten Molen vor Anker. Niemand durfte an Land. Wir sahen auf große Kornspeicher, eine Windmühle und große Wälder. Ich übernahm die erste Wache. Aus der Leutnantskabine kam der Duft von Grog.

Es waren keine stolzen Gefühle, die uns beseelten, als wir wieder in Libau ankamen.

Sonntags unternahm ich einen Ausflug. Eisenbahnfahrt kostete nichts. Nach anderthalb Stunden stieg ich in Prekuln aus. Saftige Wiesen mit stattlichen Rinderherden, dahinter weithin Wälder und Wälder, und in Prekuln selber ein Gewimmel von Feldgrauen, die teils um hochlodernde Biwakfeuer lagerten, teils sich zum Abmarsch nach Riga sammelten. Alle winkten mir zu, denn Marineuniform war dort etwas Seltenes. Der Apotheker des Ortes, ein Herr Kosak, sprach mich an. Er führte mich in sein wohlgesegnetes Haus und bewirtete mich mit kurländischer Gastfreundschaft.

Eigentlich hatte ich das Schloß des Barons Korff und speziell dessen berühmte Weinkeller besichtigen wollen. Dazu ward es dann zu spät. Ich konnte nur noch das Tor des alten Schlosses betrachten.

In einem unbelichteten, kalten Viehwagen fuhr ich dann mit ruhrkranken Soldaten, mit Rote-Kreuz-Schwestern, Heilsarmeeleuten und bärtigen Kaftanjuden zurück. Viel Neues, Wirres und Intimes hatte man mir allenthalben erzählt.

Am folgenden Morgen ward mir ein böser Empfang zuteil. »Wo steckten Sie denn gestern? Sie müssen sofort mit drei Minenleuten nach Cuxhaven zurück. Ihre Ersatzleute sind bereits da.«

Es war besiegelt. An einem jener orts- und einsichtsfernen, sogenannten grünen Tische. Ich übergab mein Suchgerät. Ich fuhr in meine Wohnung, stopfte meine Sachen in den Zeugsack, drückte tröstend meiner schluchzenden Wirtin die Hand, nahm Abschied von verschiedenen Kameraden und von zwei Offizieren, die mir Beförderung versprochen hatten. Zuletzt meldete ich mich bei Kapitän Robertson ab, der mir ins Führungsbuch schrieb: »Führung gut«. Dann empfing ich meinen Transportführerschein und andere Papiere und raste, um mir diese abstempeln zu lassen, nach der Kommandantur. Mit einer dieser niedrigen, schmutzigen Droschken, deren armselige vertrottelte Führer man boxen mußte, wenn sie schneller fahren sollten. Es war fünfzehn Minuten vor Abgang meines Dampfers.

»Sind Sie entlaust?« fragte der Offizier hinter dem Schalter.

»Nein!«

»Dann dürfen Sie nicht aus Libau heraus.«

»Marine hat keine Läuse!« rief ich respektlos. »Wir haben nur Ratten und Kakerlaken.«

Wirklich ließ man mich daraufhin laufen, während ein Husarenleutnant, der vor mir ebenso dringlich am Schalter stand, zwecks Entlausung zurückgehalten wurde. Der sah mir nun böse nach.

Ich traf mit meinen Leuten eine Minute vor Abfahrt des Dampfers »Siegfried« ein, der uns und Hunderte von Feldgrauen aller Waffengattungen nach Memel tragen sollte. Als dieses Schiff meine Vorpostenflottille passierte, stieg ich auf die Reeling und schrie hinüber: »Drei Hurras der Halbflottille Ost!«

Was drüben an Deck stand, winkte mir zu. Auf dem Pier sah ich zwei meiner Offiziere und machte noch einmal stramm vor ihnen. Der Leutnant Stubenrauch rief mir zu: »Lassen Sie sich's gut gehen!«

Die See hatte beträchtliche Dünung. Von den Landsoldaten sahen die meisten weiß aus und spien. Ich fiel in Verstimmung zurück. Wozu hatte ich mir nun in Libau soviel Mühe gegeben, sogar in meinen Freistunden gearbeitet und Bücher, Schreibzeug und anderes für mein Büro aus eigener Tasche bezahlt?! Dieses ewige Abkommandiertwerden hatte auch zur Folge, daß ein Teil der mir nachwandernden Postsachen mich zu spät oder nie erreichte. Und immer wieder mußte ich den vielen Freunden und Verwandten eine neue Adresse melden.

In Memel wurden wir vier der Minenabteilung mit einem erschütternden Wagen zum Bahnhof befördert. Unterwegs sah ich zum erstenmal Gefangene in der Nähe, einen Trupp Russen. Einem Gefangenen steckte ich eine russische Zigarette zu. Meine Leute machten mir bittend den Vorschlag, einen Zug zu überspringen und erst am folgenden Morgen über Berlin weiterzufahren. Ich war einverstanden unter der Bedingung, daß sie – auf Ehrenwort – morgen pünktlich an verabredeter Stelle auf dem Bahnhof sein würden.

In Fischers Weinstuben aß ich ein vorzügliches Kalbsfilet und feierte mit einer halben Flasche Oppenheimer den Geburtstag meiner Mutter.

Auf der Überfahrt von Libau hatte ich mich beim Skat mit einem älteren Infanteristen angefreundet, der hatte drei jüdische Zivilgefangene nach Deutschland zu transportieren. Nun begegnete er mir in Memel auf der Straße mit zwei dieser Gefangenen. »Einer ist entwischt!« rief er mir zu. Ich lachte schadenfroh.

Schließlich verregnete ich gründlich im dunkelsten Memel. Als ich um drei Uhr früh die Bahnhofshalle betrat, lagen dort an dreißig unverkennbar bayrische Feldgraue im Schlaf, den Kopf auf den Tornister und im Arm einen leeren Maßkrug.

Von meinen drei Leuten war einer namens Ahlf nicht erschienen. Das war mir sehr peinlich, denn ich trug die Verantwortung dafür. Schließlich hinterließ ich ihm am Büfett einen Zettel mit dem Vermerk, daß ich in Berlin einen Zug überspringen und ihn dort erwarten würde.

Im Wartesaal begegnete ich, während ich nach Ahlf suchte, abermals dem Infanteristen mit den jüdischen Gefangenen. »Mir ist auch einer entwischt!« raunte ich ihm zu. Er lachte schadenfroh. Es gab eine lange Fahrt zwischen bunterlei Militär. Jeder hatte anderes zu erzählen, der eine vom Schneid der Kosaken, der andere von deutscher Kavallerie. Ein Husarenoffizier berichtete von einer russischen Gardereiterbrigade, die nur Schimmel und Falbe ritt und nach dreimaliger Attacke vollständig aufgerieben wurde, so daß der Boden – so drückte sich der Offizier aus – wie beschneit aussah. – Ein Infanterist oder Jäger – wer kannte sich in den vielen Uniformen aus – schilderte die Einnahme von Mitau. Nur wenige Soldaten hatten die Stadt gestürmt. »Wir sind dreimal von verschiedenen Seiten in Mitau eingerückt, haben irgendwo scheinbar Quartier bezogen und sind dann wieder von anderen Seiten eingeritten, um den Anschein zu erwecken, daß wir sehr zahlreich wären.«

Es begegneten uns aber auch immer neue Truppentransporte, die nach dem Osten befördert wurden.

Abends in Berlin traf ich verschiedene Anordnungen, um den verschwundenen Ahlf zu erwischen. Den beiden anderen Leuten befahl ich, während unseres Aufenthaltes die Bahnhofshalle nicht zu verlassen, nur die von Königsberg eintreffenden Züge zu revidieren. In der gönnerischen Annahme, daß sie diesen Befehl nicht befolgen würden, fuhr ich selbst vergnügt nach Charlottenburg. Ich suchte einen Backfisch auf, der mir einmal zu einer Liebesgabe einen naiven Brief an Unbekannt geschrieben hatte, was damals zu einer lustigen längeren Korrespondenz führte.

Ich war seit zwei Tagen ungewaschen und ungekämmt, und in dieser Verfassung lernte ich nun den Backfisch und dessen Eltern kennen, biedere und freundliche Leute, mit denen ich einen vergnügten Abend verlebte, die ich aber damals in meinem grotesken, wenn auch nur teilweisen Minderwertigkeitsgefühl in ihrer Geistigkeit weit überschätzte.

Berlin aus Marineuniform und in Freiheit genossen, war natürlich ein vergnügliches Erlebnis.

Ahlf hatte sich nicht eingefunden. Mit den beiden anderen Leuten fuhr ich weiter nach Hamburg, wo wir uns abermals längeren Aufenthalt gönnten. Ich besuchte eine bekannte Dachpappenfirma, der ich einmal als Lehrling und Kommis angehört hatte. Der Chef nahm mich in liebenswürdiger Weise auf, erkundigte sich verständnisvoll nach den maritimen Verhältnissen und nach meinen persönlichen Schicksalen und notierte meine Adresse. Die Firma würde mir, wie allen im Felde befindlichen Angestellten, jede Woche ein Paket mit Liebesgaben zusenden.

Spät nachts trafen wir in Cuxhaven in der Kaserne ein. Nach der Anmeldung eilte ich sofort zum Furier Petersen, den ich aus tiefstem Schlafe weckte. Das tat ich aus brüderlicher Liebe, aber noch mehr in der hungrigen Hoffnung, daß er mir etwas zu essen geben würde. Mit einer angebrochenen Dose Ölsardinen schlich ich dann über den vertrauten Exerzierplatz nach dem alten Holzgebäude, wo ich mir ein leeres Bett suchte. Bei Licht besehen, enthielt die Ölsardinendose nur noch Schwänze.

Viele Bekannte aus der früheren Cuxhavener Zeit begrüßten mich so herzlich, daß ich darüber vergaß, mich zu ärgern, als ich beim Feldwebel erfuhr, daß meine eilige Abberufung aus Libau tatsächlich nur eine ganz unwichtige schematisch-bürokratische Angelegenheit war.

Nach dreitägiger Fahrt hatte ich Anspruch auf einen Ruhetag und auf gewisse Marschgelder. Kein Mensch hätte gemerkt, wenn ich statt drei Tage sechs Tage berechnet hätte. Wegen der Affäre Ahlf hatte ich eine Strafe zu gewärtigen. Der Schuft traf übrigens am nächsten Mittag ein.

Ich reichte sofort ein Gesuch, das zur Hälfte Beschwerde war, an den Höchstkommandierenden von Cuxhaven zwecks Abkommandierung ein. Aber beim nächsten Appell gab es der Feldwebel mir zurück: »Ihr Wunsch geht schneller in Erfüllung, als Sie denken.« Er zeigte mir einen Befehl, daß ich und die Matrosen Ahlf und Becker sofort nach der Werftdivision in Kiel in Marsch zu setzen seien. Der Feldwebel gab dabei leise zu, daß ich nur versehentlich von ihm aus Libau zurückgeholt wäre.

In Hamburg hatte ich mehrere Stunden Aufenthalt, aber ich getraute mir Ahlfs wegen nicht in die Stadt zu wandern, sondern bewachte diesen Luftikus streng im Warteraum und folgte ihm auch auf seinen häufigen Gängen zur Toilette. Auch sprach ich nicht mehr als das dienstlich Notwendige mit ihm.

In Kiel begrüßten mich die alten Drückeberger Paasche, Lehmann, Stahlhut und Konsorten. Sie sowohl wie auch der Bürofeldwebel wußten nichts davon, daß ich zu ihrer Division beordert wäre, und meinten, da läge eine Verwechslung vor. Wütend über die schlampigen Zustände telefonierte ich sofort an den obersten Stab der Vorpostenboote. Schüßler, der Adjutant des Admirals Mischke, meldete sich, derselbe Herr, der mir seinerzeit versprochen hatte, mich auf der Vorpostenflottille zu belassen. Ich sei leider von Libau abberufen, weil für meinen Posten dort etatsmäßig kein Minen-, sondern ein Torpedomaat vorgesehen wäre. Nun hätte man mich vorübergehend der Werftdivision zugeteilt, bis gewisse Boote für einen Sonderzweck, für die man mich bestimmt hatte, fertiggestellt wären. Das klang an sich sehr interessant, aber ich traute nicht und hatte Angst davor, daß ich nun wieder den alten Schlendrian im Minendepot mitmachen sollte, wie es Stahlhut und Lehmann noch immer mit Behaglichkeit taten. Doch war ich von den letzten Reisen zu abgespannt, um zu protestieren, und dann befiel mich ein Fieber, das ich allerdings bald überwand, weil ich durch Schreibereien und sonstige unbedeutende Notwendigkeiten reichlich abgelenkt wurde.

Sehr unwirsch machte ich mich daran, meinen Bekannten meine neue Adresse zu melden, und ich fertigte sogar einen Stoß Postkarten für den nächsten Adressenwechsel im voraus an. Warum, zum Teufel, gelang es mir nicht, zu gefährlichen Abenteuern zu kommen? Ich überlegte mir allen Ernstes, ob die vielen Talismänner daran schuld wären, die ich von Tante Selma (silberner Ring), von Elfriede Musel (Holzfigur) und von vielen anderen erhalten hatte und immer bei mir führte.

Die Stadt hatte geflaggt und läutete Glocken wegen der Einnahme von Brest-Litowsk.

Ich unternahm viel kühne, dumme und verkehrte, doch immer nutzlose Schritte, um wegzukommen, obwohl ich infolge eines Sturzes gerade an einer lästigen Knöchelschwellung litt. Ich verkaufte meine Fiskusstiefel heimlich für zehn Mark. Davon konnte ich nun Weinlokale aufsuchen. Der Kellner brachte mir eine Zeitung. Lauter Lügen, Übertreibungen und Verschweigungen. Hinten schwülstige Todesanzeigen. Ich las: »Den Tod fürs Vaterland auf einem Viehtransport erlitt ...«

Man sprach und schimpfte und stritt sich heiß um die Feststellungen, daß das Essen in der ersten Werftdivision besser geworden sei, daß es bald keine Kriegslöhnung, sondern nur noch Friedenslöhnung geben und daß uns nach dem Kriege nun doch kein Kleidergeld ausgezahlt würde, wodurch alle die in Nachteil gerieten, die während des Krieges Zivilwäsche oder Zivilschuhe getragen hätten. Der Wegfall der Kleidergelder hatte zur Folge, daß wir nun unsere Uniformen nicht mehr schonten.

In unserer Stube standen je vier Betten übereinander. Ich beschlief eins im zweiten Stock. Eines Nachts wachten wir alle davon auf, daß ein Heizer, der im vierten Stock über mir wohnte, ganz bezecht heimkehrte und mit unerhörtem Lärm sein Bett erkletterte. Dann übergab er sich wohl eine Stunde lang aus solcher Höhe über den Bettrand. Niemand beschwerte sich. Aber der Mann unter mir rief bei jedem solchen Anfall von Erbrechen: »Eh! Recht so! Leiden mußt du, Biest! Du Arschbetrüger! Verrecken sollst du dabei!«

Weil die Leute, die auf dem Minendepot tätig waren, Arbeitsgelder erhielten, meldete ich mich nun wieder dienstfähig. Aber in Friedrichsort kannte man mich noch nicht, und so drückte ich mich vor der Arbeit und vor den Vorgesetzten und schlenderte nach der Festung, wo ich Herrn von Alten begrüßte und mit ihm Schach spielte. Meine Arbeitsgelder aber steckte ich abends zufrieden ein.

Ich hatte zufällig erfahren, daß zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Ort Prinz Heinrich eintreffen würde, um auf einer Pinasse der Vorführung einer neuen Erfindung, einer verbesserten Wasserbombe, beizuwohnen. Ich mischte mich unauffällig unter die Besatzung, die teils aus Marinern, teils aus Ziviltechnikern bestand. Unter den anwesenden Offizieren erkannte ich auch direkte Vorgesetzte, aber die waren zu beschäftigt, und mein Gesicht war ihnen noch zu fremd, so daß meine Gegenwart nicht auffiel. Die Pinasse lief sechzehn Meilen. Ich hielt mich während der interessanten Fahrt immer neben dem Prinzen, der Admiralsuniform trug und von der neuen Erfindung nicht sonderlich begeistert erschien. Denn als die geworfene Bombe programmäßig nach einer halben Minute explodierte, interessierte ihn nur die auf der Wasserfläche treibende Menge der vom Wasserdruck getöteten Fische, die von einem uns folgenden Torpedoboot dann aufgelesen wurden. Als sich der Prinz dann mit einer lustigen Gesprächswendung beiseite zu einigen Offizieren begab, benutzte ich die Gelegenheit, seinen Adjutanten dreist anzusprechen. Er möchte mich doch dem Prinzen wegen meiner Frontwünsche empfehlen. Er antwortete trocken, der Prinz könnte da nichts für mich tun, ich sollte mich an meine direkten Vorgesetzten wenden.

Der Fall Ahlfs kam zur Verhandlung. Ich schlippte frei. Ahlfs bekam drei Tage Mittelarrest.

Die »Deutschland« hatte bei der Aktion im Rigaschen Meerbusen einen Torpedoschuß erhalten. Grodno war gefallen. Friedrichsstadt, wohin ich einst oft allein auf der Düna gesegelt war, ebenfalls gefallen.

Einer unsrer Matrosen zeigte seinen Kameraden die Fotografie seiner Braut in Wilhelmshaven und rühmte dabei, wie anständig und gebildet das Mädchen sei. Ein Heizer warf einen Blick auf das Bild und rief aus: »Ach, das ist ja die Mary Rüsche, die alte Hure!« Der Matrose wollte ihm an die Kehle, aber der Heizer entkam und lief durch die Korridore und rief in alle Stuben hinein: »Wer Mary Rüsche in Wilhelmshaven kennt, der komme schnell auf unsere Stube.« Eine Menge Kulis strömte zusammen. Alle erkannten in dem Konterfei Mary Rüsche aus der Poststraße, und alle konnten sie die Mary und ihre Unterwäsche genau beschreiben.

Als ich eines Abends mit v. Alten in der Festungskantine gekneipt hatte und dann den dunklen Waldweg von Bellevue bis Wik im Laufschritt zurücklegen mußte, fiel ich in einen Graben und verlor dabei einen Talisman. Vielleicht war das eine gute Vorbedeutung.

Bei Cuxhaven war ein Zeppelin durch Blitzschlag vernichtet. Der Minenmatrose Pflugmacher, desertiert und erwischt, war zu fünf Jahren und drei Monaten Festung verurteilt.

Mit großer Mühe gelang es mir, sieben Tage Urlaub nach München zu erhalten. Man gestattete mir dabei keine Schnellzugsbenutzung. Am siebenten September fuhr ich ab. Den sechsstündigen Aufenthalt in Hamburg benutzte ich, um die Gärtnerstochter Tetsche aufzusuchen, für die ich als Lehrling einst geschwärmt hatte, schon weil sie immer wieder auf der Vorortsbahn aus Jux die Notbremse gezogen und dann das zürnende und drohende Bahnpersonal durch ihr goldiges Lachen bezwungen hatte. Sie war nicht zugegen, aber mit ihrer Mutter schwatzte ich lustig. Als ich diese fragte, ob sie auch Söhne im Felde habe, brach sie in Schluchzen aus. Zwei Söhne in Frankreich gefallen.

Ich wußte mir doch Schnellzugsbenutzung zu verschaffen. Auf der Bahn ging ja alles durcheinander. Im Speisewagen schwelgte ich, ich hatte ein gutes Gespräch über den Krieg mit einem katholischen Geistlichen, verliebte mich platonisch von hinten in eine schöne Frau und schlief später stundenlang fröstelnd im Gepäcknetz. Auf irgendeiner Station wollte ich mich waschen und suchte deshalb eine öffentliche Bedürfnisanstalt auf. Ich forderte eine Zelle zu zehn Pfennige, weil ich wußte, daß es dort Seife, Spiegel und Handtuch gab. Der Pförtner aber sagte: »Für zehn Pfennige ist alles besetzt. Kommen Sie hier zu fünf Pfennige herein; hier ist es auch schön.« Damit stieß er mich in ein Abteil und schloß die Tür hinter mir. Es gab dort keine Waschgelegenheit, und da ich sonst kein Bedürfnis hatte, wartete ich einige Minuten und verließ dann feig, verärgert und ungewaschen das Institut.

Nachdem ich schöne Tage in München, Leipzig, Merseburg und Regis bei Borna verbracht hatte, trat ich nun wieder in den alten Trott im Minendepot, wo wir mehr faulenzten als arbeiteten. Aber die Witze der Strohwitwen im Tiefenstellerraum wurden immer läppischer. In den Anlagen fror man, und die Fliederbüsche, unter denen wir im Sommer so geborgen schlafen konnten, hatte der Herbst schon längst entlaubt.

Wir waren unzufrieden und kriegsmüde. Ich konnte die bornierten und hochmütigen Gesichter der Kieler Bürger nicht mehr sehen. Ich wünschte die gesamten aktiven Marineoffiziere zur Hölle. Ich fand meine Kameraden erbärmlich. Ich glaubte, mein Haß und meine Verachtung ließen nur noch mich selber übrig; alles andere wurde verdammt.

Pariser Blätter brachten eine angeblich aus Kopenhagen stammende Meldung: Der Reichsverband deutscher Zahnärzte hätte beschlossen, den toten und gefangenen Russen die gesunden Zähne auszureißen und diese desinfiziert in den Handel zu bringen, um die amerikanischen Porzellanzähne zu boykottieren.

Jemand schrieb mir, ich sollte Gott danken, daß ich von Libau weggekommen wäre. Denn am selben Tage, da ich schied, war dort eine Mine angetrieben. Der sympathische Leutnant Wilkens wollte, um sie unschädlich zu machen, den Zünder herausschrauben, was ich sonst hätte tun müssen, und dabei explodierte die Mine und riß den Leutnant in Stücke. Man fand nur noch sein Handgelenk mit der Armbanduhr.

Ich bekam Befehl, als Zugführer mit den übrigen jüngeren Unteroffizieren Lehmann, Culessa und Engel nach Warnemünde zu fahren. Wir sollten dort als Minensuch-Sachverständige einige Tage auf der Vorpostenflottille West zubringen.


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