Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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9

Rußland

Auf unseren Mützenbändern stand: »Kaiserliches Marinekorps«.

Maschinist Böse blieb mit einigen Leuten zurück, um den Transport der Dampfpinasse und der Minen zu überwachen. Wir anderen, Kapitän Hermann, der Arzt, neun Maate, einundsechzig Mann und ein »Schuft« genannter Hund wurden in acht Waggons verpackt. Ich kam mit Schmidt, Blau und Langebeck in ein Abteil zweiter Klasse. Wir zerschnitten sofort die Seitenpolster, um einen Skattisch herzustellen.

Langsam ratterten wir dahin, stundenlang, tagelang.

Auf den Stationen, wo wir hielten, ward unser Zug erst auf abgelegene Geleise rangiert, ehe man uns aussteigen ließ. Es war strengstens untersagt, sich vom Zuge zu entfernen. Es gab kein Trinkwasser, kein Waschwasser. Zu den Mahlzeiten wurden wir unauffällig in verborgene, manchmal saubere, auf anderen Stationen wieder sehr schmutzige Baracken geführt, wo wir viel fromme und patriotische Wandsprüche und manchmal gutes, manchmal schlechtes Essen vorfanden.

In einer solchen Baracke übernachteten wir einmal in Neubrandenburg in sehr ordentlichen Betten. Dann ging's weiter. Zu unserer großen Enttäuschung ließ man uns auch in Stettin nicht in die Stadt, sondern wir wurden auch dort an einer versteckten Stelle des Güterbahnhofes bewirtet. Dabei sprach mich Korvettenkapitän Hermann zum erstenmal an. Er hatte eine finstere, militärisch bellende Stimme.

»Sie sind der Maat Hester?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Sie sind Schriftsteller?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Daß Sie sich nicht unterstehen, einen Roman oder überhaupt eine Zeile zu veröffentlichen, die Sie mir nicht vorher gezeigt haben!«

Wir ratterten durstig und dreckig weiter. Der Zugverkehr war überall ungeheuerlich. Truppentransporte, Truppentransporte, gefangene Engländer, gefangene Russen.

Blau, Langebeck und Schmidt spielten Skat und rauchten. Ich schlief über ihnen in einer wonnig balancierenden Hängematte, die ich von Fenster zu Fenster gespannt hatte, die aber von Zeit zu Zeit, wenn ein Fensterpfosten ausbrach, wuchtig auf die Skatwütigen herunterstürzte. Unentwegt hängte ich sie wieder auf. Ich erwachte erst in Kreuz, wo die Landschaft schon etwas baltischen Charakter trug. Dann passierten wir die pompöse Weichselbrücke. In Simonsdorf fand ich wieder einmal Gelegenheit zum Waschen und Zähneputzen.

Wir machten uns in der Langeweile der Fahrt und aus Notwendigkeit mit den Geheimnissen und Tricks des Tornisterpackens vertraut. Dabei waren wir immer versucht, die sogenannte Eiserne Proviantration anzurühren, worauf aber fürchterliche Strafe stand. Gelegentlich hielt Herr Hermann kurze, knappe und barsche Ansprachen. Keinesfalls dürften wir nach Hause schreiben, wohin die Reise ginge, und so weiter. Ein herzliches oder freundliches Wort kam nie über seine Lippen. Es hatte sich herumgesprochen, daß Hermann der Kommandant jenes Spezialkreuzers »Wolf« gewesen war, der seinerzeit gleich nach Auslaufen festgefahren war und dabei eine Kesselexplosion erlitten hatte. Die Stellung bei uns sollte für Herrn Hermann ein Strafkommando sein. Vielleicht war er deshalb so düster und rauh. Auch der Oberassistenzarzt sprach uns nie an. Aber er traute sich wohl vor Hermann nicht. Er und der Kommandant reisten und speisten und schliefen natürlich gesondert von uns.

Die Verpflegung ward immer karger, je näher wir nach Rußland kamen. In Braunsberg gelang es mir, mit rasender Eile in die Stadt zu entwischen und ein Brot zu erstehen. Das bestrichen wir uns dann mit Senf.

Am sechsten April erreichten wir Memel. Dann ging es weiter und durch das okkupierte Rußland. Zur Linken wie zur Rechten sahen wir russische Gefangene arbeiten. Von Zeit zu Zeit tauchte ein Stacheldrahtverhau oder ein zerschossenes Haus auf. Wie gern wäre ich in Prekuln ausgestiegen, um den freundlichen Apotheker aufzusuchen, der mich in meiner Libauer Zeit so liebenswürdig aufgenommen hatte.

Am siebenten April morgens kamen wir in Mitau an. Statt Brot setzte man uns eine saure Suppe vor, die keiner von uns anrührte. Blau und ich krochen unter den nächsten Eisenbahnwagen hindurch und eilten im Laufschritt wohl zwei Kilometer weit in die Stadt. Dort kauften wir viel Brot. In der Angst, den Anschluß an unseren Zug zu versäumen, riefen wir auf dem Rückweg ein ärmliches Gefährt an. Der Kutscher aber trieb sein Pferd an, um uns zu entkommen. Jedoch wir holten ihn ein und machten uns gewaltsam zu Passagieren. Da fuhr er ganz langsam.

Als wir dann vernahmen, daß unser Zug vor zwölf Uhr nicht weiterführe, kehrten wir wieder in die Stadt zurück. Ich erkundigte mich überall nach gewissen Mitauer Bekannten, aber diese waren längst geflohen. Dagegen stieß ich auf die Adresse einer Baronin von Ostensacken, deren Enkel Peter ich aus Riga und München gut kannte. Ich war ungewaschen, ungekämmt und abscheulich verdreckt. Aber ich hungerte danach, einen Zivilisten, einen Gebildeten und einen zarteren Menschen zu sprechen. Ich zog Glacéhandschuhe, die ich in der Manteltasche fand, über meine schwarzen Hände und läutete Annenstraße 17. Die Baronin, eine ungeheuer dicke Dame, nahm mich aufs herzlichste auf. Sie war trotz ihrer Dicke wirklich jener zarte und feinfühlende Mensch, nach dem ich mich sehnte, dabei äußerst temperamentvoll und lustig. Indem sie alle Hebel in Bewegung setzte, mich zu bewirten, und es mir bequem zu machen, erzählte sie charmant. Prinz Adalbert war kurz zuvor ihr Gast gewesen. Ich möchte doch, wenn ich zurückkehrte, ihre Tochter in Kiel aufsuchen, die Frau des Admirals Spee. Ich schied mit aufrichtigem Dank. Meine Glacéhandschuhe hatte ich aber auch während des köstlichen Frühstücks nicht abgezogen.

Mitau war arg zerschossen, doch sah man überall deutsche Soldaten und russische Gefangene aufräumen und aufbauen. Ebenso fleißig wurde das Land bestellt und gepflügt. Auf einem Schutthaufen sah ich Hunderte von scharfen russischen Gewehrpatronen liegen und steckte eine zu mir.

In Tukkum hielten wir vor dem eingeäscherten Bahnhof. Die Stadt lag öde da. Die Russen hatten alle Deutschen mit weggeschleppt, und wir trafen nur heuchlerisch barmende Letten an. Die Infanteristen, die dort lagen, nahmen uns sehr freundlich auf. Den Letten wäre nicht zu trauen, es wären bereits zweiunddreißig von ihnen wegen Verräterei erschossen. Im übrigen sei in Mitau nichts los. Nun, unsere ehemals blauen, jetzt feldgrauen Jungen waren findiger und intelligenter und fanden gute Unterhaltung in diesem allerdings für uns ganz neuartigen Landquartierleben.

Wir waren in Tukkum schon zwölf Kilometer von der Front entfernt. Hermann und der Arzt quartierten sich in dem jämmerlichen besten Gasthof »Deutsches Haus« ein. Uns brachte man in einem unbewohnten Privathaus unter. Dort war alles zerschlagen oder verdreckt, ehemals schöne Stühle, Schränke und Sofas. Unter einem umgestürzten Flügel lagen Bücher. Ich griff gierig danach. Russische Schulbücher, Lexika, ein Buch über Likörfabrikation, das ich an mich nahm, um es später meinem bibliophilen und trinkverständigen Freunde Hugo von Halm mitzubringen. Beleuchtung gab es nicht. Doch hatten wir noch Reste von Talglichtern von der Bahnfahrt her. Wir richteten uns ein, so gut es ging. Einige beschafften Holzwolle, darauf wir nachts schlafen wollten, andere schleppten hölzerne Reste eines halbverbrannten Nachbarhauses herbei und schlugen Schrankleisten und Stuhlbeine ab, um die Kamine und Öfen zu heizen. Bald waren die Stuben von dickem Qualm erfüllt, aber warm. In einem Eimer, in dem wir uns kurz zuvor alle gewaschen hatten, kochten wir nun Kaffee. Die Bohnen waren mit dem Gewehrkolben auf der Tischplatte gemahlen.

Ich traf einige Lettenkinder, die deutsch sprachen, und forderte sie auf, mir Bücher, möglichst alte Bücher zu bringen. Ja, da wäre ein ganz altes, aber das hätten sie soeben verbrannt.

Wir entdeckten eine ehemalige Schuhfabrik. Neben den verlassenen Maschinen lagen Tausende von Damenstiefelabsätzen herum, und obwohl wir damit gar nichts anfangen konnten, pfropften wir sie doch in unsere Tornister.

Der größte Teil unseres Kommandos marschierte dann nach Schlokenbek. Ich fuhr mit der Bagage und der Gulaschkanone per Bahn.

Die Bahn, auf der wir fuhren, war von den Deutschen neu angelegt, und das merkte man. Alle Viertelstunden mußte sie verschnaufen und setzte danach jedesmal mit solchem Ruck ein, daß der Koch, als er das Fleisch für siebzig Mann präparierte, plötzlich ein Stück Finger dazuschnitt. Ich verband ihn und vollendete seine Arbeit. In Schlokenbek wurde die Gulaschkanone abgesetzt, mit Rindfleisch und Nudeln geladen, und nach vier Stunden fiel der mit Spannung erwartete erste Schuß, ein wenig ungewürzt und nicht ganz gar. Aber unser fröstelnder Hunger nahm ihn mit Wonne auf.

Im Schatten der Hügel und Waldungen lag noch Schnee. Fünf Kilometer voraus war unsere äußerste Front. Wir hörten Kanonenschüsse und Maschinengewehrfeuer.

Die Infanteristen suchten uns auszuforschen. Wohin wir wollten und was wir vorhätten. Wir antworteten, wir wüßten es nicht. Ein Hauptmann, dem ich die gleiche ausweichende Erklärung gab, schimpfte über unsere Geheimniskrämerei und nannte mich einen Affen.

In Schlokenbek waren keine Zivilisten mehr. Artilleristen, Infanteristen und Kavalleristen und Pioniere und Landsturmleute wimmelten grau durcheinander. Man baute Häuser, Ställe und Schuppen. Holz war im Überfluß vorhanden. Wir mußten noch einmal nach Tukkum und wieder zurück marschieren, um Pferde zu requirieren. Indessen unternahm der Kommandant in einem Auto eine Rekognoszierungsfahrt. Das ungewohnte Marschieren mit dem schweren Affen kam uns Marinern recht sauer an. Die Infanteristen lachten uns aus. Aber hinterher brauten wir uns Grog aus Rum, der uns gegen Cholera reichlich verabfolgt wurde.

»Trullalla, trullalla,
Schnaps ist gut für die Cholera!«

Wir gingen nun daran, einen Teil der Bagage auf die Loren zu packen. Vor je vier Loren wurden zwei Pferde gespannt, auf denen Jäger ritten. So zogen wir nun den schmalspurigen Schienen einer improvisierten Feldbahn nach, die in großen Windungen sechzehn Kilometer weit bis zu unserem Endziel Kneis führte. Durch weites, hügeliges Land, dann wieder durch ausgedehnte wilde Wälder, durch schwermütige baltische Landschaft.

Manchmal stapften wir durch fußhohen Schlamm. Ging es bergauf, so mußten wir die Loren schieben helfen. Auch entgleisten diese fortwährend. Es verursachte jedesmal mühevolle Unterbrechung, die schweren Feldwagen wieder auf die Schienen zu bringen. Züge von Artilleristen und Kavalleristen begegneten uns oder überholten uns. Sie staunten unsere Expedition verwundert an. Endlich wurde der Boden sandiger, wurden die Kiefern spärlicher und dünner. Wir näherten uns der Küste. Dann wand sich der Weg um Dünen, und nun lag vor uns das Meer und davor das von der Zivilbevölkerung geräumte Fischerdorf Kneis. Ich hob einen Schrapnellzünder auf, der im Sande lag. Mein Tornister war schon überschwer. Wir bezogen Quartier in den verwüsteten und zerschossenen Häusern. Je vierzehn Mann in ein Haus. Ein Haus für die Unteroffiziere. Ein Haus, natürlich das schönste Haus, für den Kommandanten. Ein Haus für den Arzt.

Bald loderten mächtige Holzfeuer auf. Holz lag in unübersehbarer Fülle herum. Die Bagage wurde ausgeladen, Hängematten, Matratzen und Proviant verteilt und sonstige wichtigste Vorkehrungen getroffen. In das wilde Tohuwabohu wetterten Flüche und Anschnauzer. Einige Leute waren betrunken. Sie hatten unterwegs ein Rumfaß angebohrt. Alle befanden sich in großer Aufregung. Denn es war schon etwas, ein ganzes Dorf zur Verfügung zu haben, ja sogar zwei Dörfer, denn unmittelbar an Kneis grenzte ein zweites Fischerdorf, Apschen. Allerdings hatten sich vor uns schon Jäger und Dragoner in den günstigsten Häusern eingenistet und das Beste vorweggeschnappt. Zum Beispiel vermißten wir Stühle; aber es gab gelernte Zimmerleute unter uns, außerdem hatten wir Säge und Messer bei uns, und wer etwa eine kleine Holzleiste brauchte, der gab einem großen, schön polierten Schrank einen Kommißstiefeltritt und nahm sich aus den Trümmern, was er brauchte.

Wir bestürmten die Jäger mit Fragen. Ja, hier ist dicke Luft. Unsere äußersten Schützengräben liegen nur drei Kilometer weiter ab. Wir werden manchmal von See aus oder von Fliegern beschossen. Dort – der Jäger zeigte auf eine Landzunge – ist eine schwere russische Batterie. Wenn die spitzkriegt, daß ihr hier was vorhabt, dann werden sie reichlich hageln.

Beizender Qualm durchzog die Stuben. Um den Koch herum duftete aus Eimern Bohnenkaffee. Es wurde abgekocht, jedoch trotz meines Hungers litt es mich nicht lange an den Töpfen. Ich durchstöberte – und viele von uns taten so aus verschiedenartiger Gier – die halbverkohlten Häuser und Häusergerippe nach Beute. Und wer ein Bedürfnis hatte, der benutzte etwa ein Granatloch im zweiten Stock und pfiff aufs Geratewohl in die Tiefe. Und es war eine Lust, ein nur noch lose in den Angeln hängendes Dachfenster mit einem Tritt herunterzuschmettern.

Die vandalischen Freuden erschöpften sich bald. In dem Bewußtsein, daß wir dort länger verblieben, und aus natürlichem Trieb fingen wir an, aufzubauen. Jeder für sein Haus. Da wurden Bänke und Tischteile aus Dreck und Trümmern gezogen, sauber geschrubbt und sorgfältig ausgebessert. Auch wir Unteroffiziere zogen aus, um Meublement zusammenzutragen. Hier auf dem Speicher stand ein Nußbaumschrank ohne Tür. Dort im Keller, unter Glasscherben und leeren Fässern verborgen, klaffte eine eisenbeschlagene Truhe, die offenbar schon von den Landsoldaten geplündert war, aber immerhin noch wertvolle Porzellansachen enthielt. Unter fünfzig tadellosen Fensterrahmen fand ich ein Wasserglas. Überall lagen Kränze und lettische Bibeln und hebräische und russische Bücher umher.

Alles hackte, sägte, nagelte, schrubbte. Beim Appell wurden scharfe Patronen ausgeteilt. Es war verboten, auf den Dünen spazierenzugehen, weil uns die Russen dort von der Landzunge aus beobachten konnten. Es war verboten, unabgekochtes Wasser zu trinken, weil man fürchtete, daß die Russen die Ziehbrunnen vergiftet hätten. Es war verboten, sich über die Peripherie der beiden Dörfer hinaus zu entfernen und sich fotografieren zu lassen. Wir durften nur über gleichgültige Dinge reden. Die Landsoldaten sollten nicht erfahren, was wir vorhatten. Als Adresse durften wir außer dem Namen nur angeben: »8. Armee, Kommando Hermann, Feldpoststation 33«. Unser Kommando war dem General von Below unterstellt. Dieser wiederum unterstand Hindenburg. Bei Alarm sollten wir vor dem Bagageschuppen antreten, wo auch unsere umschwärmte Gulaschkanone postiert war. Wenn die Russen uns an den Kragen gingen, sollten die Minen und die Pontons in die Luft gesprengt werden. Das klang alles nach furchtbar gefährlich. Mir persönlich kam die Gegend nur allzu friedlich vor.

Es lagen auch Pioniere im Ort. Mit achtzehn von diesen Leuten wurden wir andern Tags an die Dünen geschickt, wo wir unter dem Befehl des Pionier-Feldwebelleutnants Neumann Schienen legen und Schuppen für die Minen, Pontons und Boote bauen sollten. Wir begannen damit, das unebene Gelände zu planieren. Häuser oder Buden, die im Wege standen, wurden abgebrochen, Steine weggerollt, Bäume gefällt oder abgesägt, Sandhügel abgetragen und Gräben ausgehoben. Alle Werkzeuge schwitzten. Diejenigen, die mit Schaufel und Spaten hantierten, hofften auf vergrabenes Russengut zu stoßen. Denn die Jäger hatten uns das Gerücht von großen verborgenen Schätzen überliefert und hatten auch tatsächlich in Gärten und Ställen mancherlei zurückgelassene Sachen aus der Erde gegraben, Tassen, Teller, Fett und Speck.

Netze, Ruder, Bojen und sonstiges Fischer-, Angel- und Bootsgerät bedeckte den Strand. Darunter Hunderte von Waschbaljen, und der gute Nitka schickte nun noch aus Deutschland achtzig Waschbaljen hinzu. Ich fand zwei kleine Messingglocken. Die eine steckte ich in meinen Tornister. Die andere befestigte ich an der Tür unseres Unteroffizierhauses.

Wir hatten von früh bis abends Dienst, auch sonntags. Ich benutzte die Mittagspausen zu Spaziergängen. Dabei stieß ich auf verlassene russische Unterstände, die mit erstaunlicher Geschicklichkeit und Akkuratesse angelegt waren. Ich sammelte kleine Bootsgerätschaften auf, für die ich auf meinen Pontons Verwendung hatte.

In allen Häusern standen auf den Speichern nagelneue Särge. Die Matrosen trieben sehr viel Unfug mit ihnen. Ein Mann schlief sogar in solchem Sarg. Abends drang ich unerlaubterweise bis zum Strande vor. Zwei schwere Schüsse dröhnten. Auf der Landzunge wurde ein Fesselballon eingezogen.

Es war klar: wenn die Russen entdeckten, daß wir hier so große Vorbereitungen trafen, Schuppen bauten und Minen brachten, dann würden sie uns gehörig beschießen. Wir scherzten viel über diesen Fall. Unser Schreckenswort war: »Der Rurik kommt.«

Ich lernte einen Mann kennen, der mich fotografierte und im Entlauseleum wohnte. Zur Entlausungsanstalt und Badeanstalt hatte man sehr praktisch eine ehemalige Fischkonservenfabrik gemacht. Sie war von Schrapnells übel mitgenommen, aber die fleißigen und geschickten Soldaten hatten sie wieder gut instand gesetzt. In den großen Kesseln, wo einst Fische geschmort hatten, nahmen wir nun Warmwasserbäder.

Es gab mittags so nahezu immer dasselbe Essen; Zusammengekochtes. Unsere Hauptnahrung war Salz und Brot, und das ließ uns bei der schweren Arbeit manchmal schlapp werden. Auch kamen manche Leute mit ihrem Brot nicht aus. Ich half ihnen mit dem, was bei uns weniger schwer arbeitenden Unteroffizieren übrigblieb, aber das war auch nur ein Tropfen auf heißen Stein.

Die Landsoldaten zerbrachen sich den Kopf darüber, was wir Mariner im Schilde führten. Die meisten rieten auf U-Boote. Wir schwiegen uns aus. Und vor den Russen wurde alles maskiert. Die zahlreichen am Strande herumliegenden Boote der ehemals wahrscheinlich sehr reichen Fischerdörfer wurden von uns angebohrt und dann so gestapelt, daß sie unsere arbeitenden Matrosen verbargen. Auf die Schienenstränge, soweit sie jeweils gelegt waren, schütteten wir Sand. Dann fällten wir viele Tannenbäume, versahen sie, wie Weihnachtsbäume, mit Holzkreuzen, und mit diesen Bäumen wurden quer überm Schienenweg und um verdächtige Gebäude herum kleine harmlose Wälder vorgetäuscht.

Es versteht sich, daß wir gleich anfangs außer unseren Wohnräumen auch allgemeine Gebäude errichtet oder eingerichtet hatten, Lazarett, Vorratskammern, Proviantkeller, Schuppen fürs Maschinengewehr und nicht zuletzt, sondern zu allererst öffentliche Bedürfnisanstalten. All das wurde im Laufe der Zeit vervollkommnet und verbessert. Ich lernte dabei mancherlei Zimmermannskniffe und sonstiges Technisches.

Es war schönes, kaltes Wetter. Ich war abgelöst, trank Cholera-Rum und sah den Sand schippenden Soldaten zu, die den Dobermann hänselten. Dieser Hund war dümmer als ein Sack. Nie lief er einem Hasen nach. Sein Hauptvergnügen war, sich Sand ins Maul werfen zu lassen, und wenn er solche Schaufel voll Sand wütend zerknirschte, überlief mich eine Gänsehaut. Er war wirklich urdumm. Legte man ihm ein Tau lose über den Rücken, so bildete er sich ein, angebunden zu sein und heulte laut, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er verwechselte seinen Schwanz mit dem des Jägerdackels, und wenn dieser wedelte, glaubte jener sich zu freuen. Dieser Dackel dagegen war vorzüglich abgerichtet. Machte sein Herr, ein Jäger, vor einem Offizier stramm, so machte der Dackel gleichzeitig Männchen.

Wir hatten erfinderische Leute unter uns. Der Büchsenmacher zum Beispiel hatte ein Spinnrad in eine Bohrmaschine umgebaut. Der Meister, so nannten wir einen unserer tüchtigsten Leute, dichtete eines der angebohrten Boote wieder zu und unternahm damit eine Fahrt in die Bucht, um die Wassertiefen auszuloten. Er stellte fest, daß wir mindestens zwanzig Schienenlängen ins Meer legen müßten.

Die Jäger wurden damit beschäftigt, vorjährige Kartoffeln aus dem Moor zu buddeln, die hauptsächlich als Pferdefutter in Betracht kamen. Die Pioniere waren größtenteils Ostpreußen. Sie schippten, schanzten und gruben mit uns. Drei geräumige, bombensichere Unterstände wurden gebaut, einer für die Minen, der zweite für die Pontons und der dritte für Motorboot, Dampfpinasse und Schmiede. Nebenher ging die Arbeit des Schienenlegens.

In der Freizeit waren die Leute nicht minder fleißig. Man begann, in und an den Wohnhäusern und gemeinsamen Gebäuden das Zweckmäßige durch Schmuck und Luxus zu verschönern. In diesem Drang wetteiferten alle Häuser miteinander. Aus kleinmaschigen Fischernetzen wurden Fenstergardinen geschnitten. Blau hatte vor unserer Maatenvilla einen Garten angelegt. In die Beete setzten wir ausgegrabene Knollen und grünes Moos, das in der Form eines Eisernen Kreuzes und in anderen Figuren ausgerichtet wurde. Ich lieferte schmucke weiße Birkenstämmchen. Bald waren Kneis und Apschen schönere Dörfer oder mindestens sauberer und hygienischer als sie im Frieden gewesen sein mochten.

Ich ließ mich von einem Dragoner rasieren. Der glaubte, er müßte mich unterhalten, und erzählte mir deshalb ausführlich und erschrecklich realistisch, wie er gestern in seiner Besoffenheit einem Kameraden beim Rasieren das ganze Gesicht zerschnitten hätte.

Bei dem angestrengten Leben und der allgemeinen Nervosität blieben natürlich Reibereien nicht aus. Besonders innerhalb der Wohngemeinschaften entstand Zank. Meine Feinde waren die beiden Torpedermaate und der Unteroffizier Beiz, der sich eine Art Feldwebelhoheit angemaßt hatte.

Wir wagten uns heimlich immer weiter in die Umgebung hinaus. Pferdeknochen, russische Schuhe, morsche Sattelteile, Bojen und Blechdosen lagen im Sand. Ich verwahrte mir einen pfundschweren Granatsplitter. Ich ging über den Kirchhof, der kahl und verwahrlost war. Zwei Gräber von deutschen Soldaten, im übrigen nur lettische Grabschriften. Dann lagerte ich mich am Strand. Wildenten und Schwäne flogen über der Bucht. Weit draußen auf dem Meere war endlich einmal etwas zu sehen, ein weißer, dünner, sich bewegender Streifen. Es mochte ein U-Boot sein. Hinter der Badeanstalt sangen Jäger um ein Holzfeuer, das der Wind zu langen Flammen trieb. Es roch nach Fichtenholz. Ich dachte über die vertriebene Bevölkerung dieser Dörfer nach. Letten. Ich hatte ja lange unter ihnen gelebt, und ich würde nie ihr ergreifendes Ligolied vergessen.

Nachts erschreckten wir den Obermaat Lampe. Der war wirklich ein Angsthase. Einer von uns ahmte mit einem Besenstiel an der Tür das Geräusch ferner Geschützsalven nach, und ein anderer schrie dann laut in die Stube: »Rurik kommt!«

Endlich gab es einen freien Sonntagnachmittag. Ich zog mein Bestes an und machte mich wider die Vorschriften auf den Weg nach Osten. Ich mußte einmal unsere äußerste Frontlinie gesehen haben. Noch war ich nicht lange durch den Sand marschiert, als ein Posten mich anrief und Parole forderte. Ich wußte sie nicht, aber scharf ausschreitend, herrschte ich den Posten mit einem ebenso undeutlich gebrüllten wie sinnlosen Satz an: »Wissn sini – ta – borstowke –« oder ähnlich. Der Posten ließ mich verwirrt passieren, weil er mich nicht begriff und aus meiner Uniform nicht klug wurde, die ja tatsächlich eine für das Kommando Hermann speziell hergerichtete Phantasiekleidung war.

Auf ähnliche Weise gelang es mir auf meinem Weitermarsch an anderen Posten vorbeizukommen. Ich lachte innerlich über diese blöden Kerle und fand andererseits ihren Leichtsinn empörend. Ich ahnte nicht, daß sie, wenn ich aus ihren Augen war, sofort telefonischen Bericht erstatteten. Als ich einen hochstämmigen Wald passiert hatte und dann die äußerste Schützenlinie erreichte, wo es von Jägern wimmelte, kamen sofort zwei Soldaten auf mich zu und verhafteten mich. Sie untersuchten meine Taschen und brachten mich zu dem Leutnant Müller, der mit anderen Offizieren Skat spielte. Er stellte ein peinliches Verhör mit mir an. »Wer sind Sie?«

»Minenmaat Hester.«

»Warum treiben Sie sich hier so verdächtig herum?«

»Ich wollte mir einmal einen Schützengraben an der Frontlinie ansehen, ich bin Mariner.«

»Mariner? Hier in dieser Gegend?«

»Jawohl, wir liegen in Kneis.«

»Was tun Sie denn da?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»So, merkwürdig. – Wer ist denn Ihr Kommandant?«

»Korvettenkapitän Hermann. Wir haben die Feldpoststation 33.«

»Da will ich doch gleich mal Ihren Kommandanten antelefonieren.«

»Ich bitte Herrn Leutnant, das nicht zu tun, ich würde sonst bestraft werden. Ich habe mich ohne Erlaubnis, nur aus Neugier so weit entfernt.«

Die Offiziere warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. »Zeigen Sie einmal Ihr Soldbuch.«

»Mariner haben kein Soldbuch.«

»Was sind Sie für ein Landsmann?«

»Sachse.«

»Sonderbar. Sie sprechen gar nicht sächsisch.«

»Ich habe jahrelang in München gelebt.«

Einer der Offiziere, ein langer, unverkennbarer Bayer, sprang auf und fragte: »Sagen Sie mal, wie nennt man denn so ein großes Gefäß mit Bier?«

»Dös is a Maaß!« rief ich froh und meinte, damit gesiegt zu haben. Aber die Offiziere gaben sich nicht zufrieden, und je länger sie mich verhörten, desto mißtrauischer schienen sie zu werden. Schließlich meinte Leutnant Müller: was ich vorbrächte, klänge zwar ganz gut und schön, aber jeder Spion könnte dergleichen vorbringen. Er sähe sich doch genötigt, meinen Kommandanten zu benachrichtigen.

Ich bat nochmals inständig, davon Abstand zu nehmen. Darauf ließ er zwei Jäger kommen, denen er meine anzuzweifelnden Angaben mitteilte. Er ließ sie ihre Pistolen laden: »Bringen Sie den Mann bis zu seinem Standquartier und überzeugen Sie sich, ob seine Aussagen stimmen. Wenn er unterwegs den leisesten Fluchtversuch macht, dann schießen Sie ihn nieder.«

Als ich herausgeführt wurde, erblickte ich einen Jägerunteroffizier aus Kneis, der mich gut kannte. Weil er auch bei Leutnant Müller Vertrauen genoß, verwandte er sich für mich, und man gestattete mir nun, noch zu bleiben und mir die Schützengräben anzusehen. Ich spazierte vergnügt zwischen den Laufgräben, den sauberen Unterständen und den 15-cm-Geschützen der Batterien herum. Ein Proviantwagen, mit einem russischen Klepper bespannt, nahm mich dann nach Kneis mit zurück. Wir machten einen Umweg über Lazup auf schönen Waldwegen. An einem hübschen Brückchen, das die Deutschen erbaut hatten, stand »Hindenburgbrücke«. Allenthalben sah ich geborstene oder gefällte Bäume, Pferdeschädel, Granatsplitter und Reste von eingeäscherten Häusern. In der Kantine von Lazup nahmen mich die Landsoldaten gut auf. Es ging dort sehr lebhaft zu. Man zechte und lachte, und alles redete sich mit »Du« an.

Mein Ausflug blieb vor meinem Kommando unbemerkt. Dagegen wurde ich am nächsten Tage von Hermann ausgiebigst angeschnauzt, weil er herausgekriegt hatte, daß ich mich fotografieren ließ. An diesem Tage hörte man von früh bis abends die Aufschläge russischer Geschosse. Es klang wie nahes Gewitter. Aber mich deuchte, daß Hermanns Donnerwetter alles übertönte.

Bei der Arbeitsverteilung schickte man mich mit einer Gruppe zum Holzfällen in ein harzduftendes Gelände. Rehe flohen vor uns. Krähen umkreisten uns, und in das Rauschen des Meeres schlug unsere Axtmusik.

Maschinistenmaat Eckmann traf mit einem neuen Bagagetransport aus Schlokenbek ein. Er brachte auch die Pontons mit. Die Jäger schüttelten wieder die Köpfe beim Anblick dieser großen verschlossenen Badewannen. Die Pioniere, denen Pontons vertraut waren, fragten nur, wo man denn hier Brücken zu bauen gedenke.

Mitunter wurden wir truppweise zum Kirchgang befohlen. Man saß in einem qualmstickigen, mit Tannengrün geschmückten Raume auf Holzbänken. Über einem Podium stand »Heil Kaiser Dir!« Ein feldgrauer Prediger sprach über »Dienen und gehorchen« oder andere Themata.

Wir schossen Stare und brieten sie uns und tranken dazu Birkenwasser, das wir schonungslos von jungen Stämmchen abzapften.

Der Kommandant rief uns zusammen und brüllte uns an. Wir wären eine verlotterte Bande. Wir liefen hier herum als wie zum Vergnügen und vergäßen, daß wir im Kriege und vor dem Feinde wären. Er möchte darauf aufmerksam machen, daß in Tukkum ein Gefängnis sei. Hermann schloß so: »Der Hester gibt sich Mühe, aber der ist zu dumm.«

Der Dobermann sollte abgeschafft werden, weil er im Frontgelände wilderte und überhaupt verräterisch und störend wurde. Siebzig Mann verprügelten ihn und jagten ihn in die Flucht in der Richtung nach Schlokenbek. Als ein Matrose dem fliehenden Hund noch einen Knüppel nachwarf, drehte sich das Tier um, nahm den Knüppel ins Maul und kehrte lustig schwanzwedelnd zu uns zurück.

Der Maschinistenmaat traf ein, wieder mit einer Ladung unermeßlichen Nitkaschen Reichtums. Das Motorboot war unterwegs von den Loren gestürzt und beschädigt. Mit dem Zusammensetzen der Pontons und Schienen gab es viel Arbeit, die besonders dadurch gehemmt wurde, daß der Kommandant, der Maschinist, der Feldwebelleutnant und Herr Feldwebel Beiz alle durcheinander kommandierten und häufig ganz konträre Befehle erteilten. Anstatt den fachkundigen Leuten, den gelernten Technikern, Schlossern, Zimmerleuten usw., etwas Selbständigkeit einzuräumen. Schmeicheleien, Angebereien, Zänkereien düngten gesäte Zwietracht.

Ich fand bei meinen abendlichen Streifen ein seltsames Stilleben im Sande. Neben einem Nachttopf lagen eine Hornbrille und ein Granatsplitter, und auf dem Granatsplitter saß eine Hummel.

In einer sternenlosen Nacht begannen wir unsere ersten Wasserarbeiten. Die Leute mit Gummianzügen mußten voraus, aber wir anderen gleich hinterher. Mit Hilfe von improvisierten Flößen sollten wir die bisher bis ans Ufer gelegten Schienenstränge noch dreißig Meter weit über Sandbänke hinweg ins Wasser legen. Hermann war sehr nervös. Er würde jeden erschlagen, der ein Wort redete. Wenn aber einer von uns notwendigerweise sich einmal unterstand, ganz kurz sein Taschenlämpchen aufleuchten zu lassen, dann schimpfte der Kommandant durchaus nicht leise. Und wurde nicht erschlagen. Es war eine böse Wurschtelei. Manchmal arbeiteten wir angestrengt viele Stunden lang an einer Sache, die plötzlich zusammenstürzte und uns nicht einen Schritt weiter gebracht hatte. Das ganze bot ein romantisches Bild, oder eigentlich nur einen Scherenschnitt. Denn man sah nur Silhouetten gegen den Himmel. Im übrigen tastete man und tappte herum. Plötzlich stand mitten unter uns ein Ungetüm. Eine Dragonerpatrouille, zwei Reiter, die sich mißtrauisch von ihren Pferden beugten und uns dicht in die Gesichter sahen. Jemand flüsterte: »Gute Freunde, Deutsche.« Hermann bellte auf. Die Patrouille zog weiter. Ihre Pferde stiegen lautlos durch den Sand und über die Schienen, Stacheldrähte und andere Hindernisse hinweg. Über Lazup blitzten Scheinwerfersignale auf. Dann gleichzeitig mit Hagelwetter setzte Kanonendonner ein.

Das Schienenlegen im Wasser machte infolge des unebenen lockeren Sandbodens unerwartete Schwierigkeiten. Dabei galt es, die wenigen mondlosen, zufällig noch vom Nebel begünstigten Nächte auszunützen.

Oft standen wir bis zum Halse im Wasser. Manche Leute litten infolge dieser Strapazen und vielleicht auch wegen der unzulänglichen Kost an Diarrhöe und Magenschmerzen.

Mittags zeigte sich hoch in den Lüften ein Flieger. Wir hörten, wie er von irgendwo beschossen wurde, erfuhren aber nicht, ob es ein deutscher oder russischer Flieger war.

Die Russen hatten sich über Nacht dicht vor unseren äußersten Drahtverhauen eingegraben, ohne daß unsere Landsturmposten etwas gemerkt hatten. Morgens wurde die Jägerpatrouille beschossen. Zwar vertrieben die Jäger die Russen wieder und nahmen sogar einige gefangen, aber sie hatten selbst einen Toten und acht Verwundete. Die Jäger hatten schon viele und oft sehr schwere Gefechte gehabt. Von ihrer ursprünglichen Stammkompanie waren nur noch wenige am Leben.

Sonnenschein lockte schon Schmetterlinge heraus, Vögel zwitscherten. Wir säten Radieschen und Salat in unseren Gärten.

Noch schien der Russe nichts von unseren Arbeiten gemerkt zu haben. Am gefährlichsten waren uns die Flieger, denn wir wußten nicht, ob unsere Schienenstränge, soweit sie unter Wasser lagen, von oben erkennbar wären.

Ostersonntagsruhe. Ich knüpfte meine Hängematte zwischen Birken auf und schrieb Tagebuch, wozu ich abends selten kam, weil jedes Haus pro Tag nur ein Talglicht erhielt. Es war doch schön in Kneis! Wenn nur nicht soviel Zank und Neid unter uns gewesen wäre! Und wenn es dort nur ein einziges Weib gegeben hätte.

Wie Ostereier trafen unsere Minen ein und wurden schleunigst in dem festgezimmerten und mit drei Meter hohem Sand bedeckten Schuppen verborgen, der selbstverständlich auch mit Bahngeleisen verbunden und im übrigen auch gegen Fliegeraugen mit Laub maskiert war.

Dann war wieder bei Lazup ein heftiges Artilleriegefecht. Wir konnten vom Strande aus die Einschläge beobachten.

Auf einem einsamen Ausflug in neuer Richtung geriet ich durch Bickbeersträucher und rostbraune Kiefern in eine sumpfige Gegend. Dort war eine kleine Ansiedlung. Ich durchstöberte die wenigen verlassenen Holzhäuser gründlich. Von den Wänden hingen Zeitungsfetzen herab. Pferdegeschirr, Schlitten, Särge, Spinnräder, ein Kinderschuh und anderes lagen zwischen Schutt und Glasscherben. Nur eine Teekanne eroberte ich. Dann verirrte ich mich nach der Ansiedlung Rone, wo Jäger und Dragoner lagen. Dort sah ich etwas Wundervolles, nämlich eine Frau. Aber sie war in Begleitung von Offizieren und zwei Zivilisten, offenbar baltischen Adligen.

Unsere große Dampfpinasse war eingetroffen. Ich hatte meine Pontons aufmontiert. Die Schienen waren gelegt. Nun sollten die ersten Probefahrten beginnen. Ich hatte mir einen guten Lederanzug ausgesucht, trug Segeltuchschuhe und führte Rum bei mir. Um acht Uhr bei Dunkelheit ließen wir die Loren, die die Dampfpinasse trugen, abrollen. Sie entgleisten, wie der Meister es vorausgesagt hatte, weit draußen hinter der ersten Sandbank. Es kostete Stunden großer Anstrengung, Pinasse und Loren wieder ans Land zu bringen. Die Jäger griffen helfend mit ein. Der Kommandant schrie. Wir schwiegen, schwitzten, hasteten, tasteten. Wieder standen ganz unvermutet zwei Patrouillenreiter unter uns. Sie beugten sich, auf ihre Lanzen gestützt, herab. Wir flüsterten ein paar Worte mit ihnen und liebkosten ihre Pferde.

Als wir eben Loren und Pinasse in die Schuppen geborgen hatten, machten sich hinter der Landzunge Schiffe bemerkbar, die mit Scheinwerfern das Wasser absuchten.

Eichhörnchen sandte mir eine Schachtel teurer Zigaretten. Ich nahm aber nur zwei davon und verkaufte die andern. Für das Geld besorgte mir Obermaat Lampe in Tukkum eine Flasche Weißwein. Mit diesem langentbehrten Genuß lagerte ich mich abends, in einen Wachtmantel gehüllt, am kühlen Strand und schrieb an einer Novelle. Ich bedachte nicht, wie leicht ich angeschossen werden konnte. Denn gerade an diesem Tage hatte uns einer unserer Agenten aus Rußland folgende Geheimnachricht gesandt: »Heute abend um neun Uhr wird der neunzehnjährige lettische Spion Carl Bing versuchen, mit einem Boot an eurer Küste zu landen.« Darauf hatten die Deutschen an der Küste, so auch wir in Kneis, doppelte Posten ausgestellt, die den Letten sofort erschießen sollten. Denn Parole gab es bei uns nicht, nur Anruf.

Am übernächsten Tage sollten wir noch einmal Probe fahren. Die meisten von uns hatten schwere Bedenken. Denn inzwischen hatten nachts russische Torpedoboote uns verdächtig abgeleuchtet. Und am Tage waren Flieger über uns gekreist, so hoch, daß unsere Artilleriegeschosse sie nicht erreichten, wie man an den Schrappnellwölkchen sah. Nicht nur Obermaat Lampe, sondern auch andere Hasen sprachen ununterbrochen vom Sterben, Ersaufen und In-die-Luft-fliegen.

Bei Dämmerung marschierten wir zum Strand. Meine Pontons rollten zu Wasser. Dann folgte die Dampfpinasse. Sie blieb wieder stecken, aber es gelang den Gummileuten schließlich, sie über die dritte Sandbank zu bringen. Ich untersuchte meine Pontons. Der Kommandant kam herangerudert. »Halten die Pontons dicht?«

»Der eine leckt ein wenig.«

Der Kommandant schrie und kroch nun selber durch die schmalen Lucken in alle drei Pontons. »Sie lecken alle drei!« rief er. Ich erklärte ihm sachlich und militärisch, daß es sich hier mehr um Schwitzwasser handelt, daß winzige Lecks weder zu vermeiden noch von Bedeutung wären. Die Pontons, mit größeren Lecks, und mit Minen beladen, hätten in Kiel drei Tage lang bei Windstärke sechs im Wasser gelegen. Herr Hermann ließ sich beruhigen. Er wurde sogar auf seine Weise freundlich.

Dann hatte ich Ärger mit dem Feldwebel Beiz, der zwei Leute von meiner gut eingearbeiteten und, wie ich meinte, mir sehr ergebenen Pontonmannschaft für sein Büro abkommandierte. Ich setzte schließlich durch, daß wenigstens der eine Matrose, Leibgiris, mir wieder zurückgetauscht wurde. »Na, Leibgiris, ich habe schwere Kämpfe gehabt, um Sie wieder auf Ihren schönen alten Posten zu bringen. Sie fahren doch gern mit mir?«

»Nein«, sagte er mit einer weichen Stimme, »denn ich weiß, wir werden alle nicht wiederkommen. Aber weil ich nun dazu abkommandiert bin, werde ich Lust dafür haben.«

Der Dobermann war verschollen. Vielleicht hatten ihn andere Quartiere an der Front abgeschnappt. – Ich gab einem Heimaturlauber der Pioniere meine letzten Tagebücher mit, weil unsere aus- und einlaufende Post streng überwacht wurde. – Der Kommandant versammelte uns, um uns seine Pläne zu entrollen. Acht Sperren würden wir legen, morgen die erste und zwar die von den Russen am weitesten entfernte. Wir sollten zwölf Meilen weit ausfahren, vier Stunden hin, drei Stunden zurück. Er hätte im übrigen in Tukkum ein Faß Bier für uns bestellt, allerdings auf unsere Kosten.

Aber »morgen« liefen wir nicht aus, weil Hermann, wie die meisten Seeleute, den Aberglauben hegte, daß Schiffe am Freitag nicht ungestraft ausfahren.

Mittags tauchten fünf kleine und ein großes russisches Boot auf und wurden von unseren Küstenbatterien beschossen. Wir Mariner verdeckten eiligst unsere Minen und Gerätschaften mit Lärchenzweigen. Dann zog mich Gelächter nach einem Hause der Dragoner. Dort sollte eine kleine russische Stute von einem kleinen russischen Hengst gedeckt werden. Der war aber in eine große deutsche Stute verliebt, die zufällig dort an einen Proviantwagen gespannt, hielt. Es ergab sich, daß die deutsche Stute zu hoch für den Hengst war, und dieser geriet infolge seiner fruchtlosen Bemühungen in eine urkomische Raserei. Der russischen Stute drehte er verächtlich das Hinterteil zu und trat nach ihr.

Samstag nachts um zehn Uhr unternahmen wir unsere erste ernste Fahrt. Pontons und Pinasse kamen glücklich zu Wasser und über die Sandbänke hinweg. Ich hörte allerdings, wie der Kommandant in der Pinasse zornig auf Obermaat Lampe schimpfte. Aber alles kam in Schuß, und die Pinasse zog uns an der etwa fünfzig Meter langen Leine durch die kalte Nacht. Auf meinen Pontons befanden sich außer meinen fünf Seeleuten noch drei Minenheizer mit dem Torpedermaat Burkert, mit dem ich nur das Notwendigste sprach, bzw. flüsterte. Er entsicherte die Minen, bereitete sie zum Abwurf vor und kotzte seekrank.

Wenige Sterne standen am Himmel. Das Wasser überflutete unsere Decks und lief in die Pontons. Ich schraubte die Handpumpen an. Sie versagten. Wie ich das vorausgesehen hatte. Doch wußte ich mir auf andere Weise zu helfen, erfaßte die Möglichkeiten, und eine überlegene eisige Ruhe überkam mich. Das übertrug sich dann auch auf meine jungen Seeleute, die anfangs den Kopf verloren und bebbernd vom Absaufen redeten. Einer von ihnen war seekrank. Ich wies ihm unfreundlich einen Platz an, wo er sich festklammern und nichts tun sollte. Das überspritzende Wasser durchnäßte uns durch und durch und schlug wie Trommelwirbel auf das dünne Pontonblech. Leibgiris tappte sich zu mir. »Herr Bootsmaat, ich glaube, jetzt ist es Zeit, daß wir uns die Schwimmwesten anlegen.«

»Sie altes feiges Weib! Ziehen Sie sich meinetwegen hundert Schwimmwesten an!«

Von Zeit zu Zeit kroch ich in die Pontons hinein, wo sich der Wogenanprall wie ein drohendes Donnergeräusch anhörte. Ich lag dann auf allen vieren zur Hälfte im dreckigen Wasser und zeichnete mit Kreide die Leckstellen an. Dann stand ich wieder an Deck, kontrollierte das Entsichern der Minen, das Verhalten der Schleppleine und beobachtete dabei unaufhörlich die Pinasse. Dann klang ein Ruf übers Wasser: »Wirf erste Mine!«

Wir rollten den ersten dieser schweren, plumpen Kolosse über Bord. Das Wasser schloß sich über der Mine, und wir wußten, daß sie unten auf dem Meeresgrunde sich von ihrer Verankerung erheben würde, um als todbringende Blume der russischen Schiffe zu warten.

»Erste Mine ist geworfen!« gab ich zur Pinasse.

So warfen wir in Abständen zwölf Minen. Es war schon bedrohlich hell geworden, als wir zurückkehrten. Und aus dem Pinasseschornstein stieg bedenklich viel Rauch. Der Kommandant war sehr nervös. Er verhängte Strafen, und als sich das Aufbringen meiner Pontons ohne meine oder unsere Schuld verzögerte, schrie er mich durch den Schalltrichter an: »Sie verdammte Strandkanone, ich werde Sie unter die Räder bringen!«

Am nächsten Tag verbesserten wir unsere Einrichtungen nach unseren Erfahrungen. Es wurde eine Vorrichtung geschaffen, die es ermöglichte, die Pontons erst im Wasser zu beladen. Als ich dabei dem Kommandanten in bezug auf eine geringfügige Sache einen Vorschlag machte, lobte er mich und sagte: »Ausgezeichnete Idee. Ei des Kolumbus!« Der Maschinist hörte dies Lob, und aus Neid darüber schikanierte er mich den ganzen Tag über. Mich andererseits ermutigten die Worte des Kommandanten so, daß ich nun endlich einmal meine Idee mit dem Hirschlocker zur Sprache bringen wollte. Ich hub an: »Ich bitte Herrn Kapitän darauf aufmerksam machen zu dürfen, daß wir einen Hirschlocker – – –«

»Quatsch, Hirschlocker! Ich weiß schon von der Dummheit, Sie altes Rindsvieh!«

Bei der nächsten Fahrt sollten nun andere, ablösende Besatzungen ihr Debüt haben. Ich bat aber bei der Musterung, alle Fahrten mitmachen zu dürfen. Ich wußte, daß meine Ablösung, der Bootsmaat Langebeck, gar keine Lust zu dem Unternehmen hatte, sondern nur Angst und überdies Familie. Der Kommandant wies mein Gesuch schroff ab. Er brauche keine Freiwilligen. Langebeck würde fahren. Ich sollte diesem meine Erfahrungen mitteilen.

Ich hatte einen Verdruß nach dem anderen. Früh verschlief ich die Zeit. Der Maschinist schnauzte mich häßlich an. Mit den Torpedermaaten hatte ich Zank um Speck, und als die Post eintraf, war nichts für mich dabei.

Die englische Armee in Mesopotamien hatte sich ergeben. Von der Goltz war tot. Er hatte mich ungewöhnlich interessiert.

Unser Unteroffiziersklosett war nur in einer sonderbaren, sehr unbequemen Stellung zu benutzen. Weil eine Tonne im Wege stand. Niemand gab sich die Mühe, diese Tonne einmal wegzurollen. Als Klosettpapier benutzten wir lettische Bibeln.

Der Mai war gekommen. Wir bestellten unsere Gärten und umgaben sie mit zierlichen Staketen. Obermaat Blaus Beet war so kitschig, daß es allen Leuten auffiel. Er hatte es kleinlich symmetrisch über und über mit Moos, Blechdosen, Glasscherben und anderen Gegenständen besteckt. Wir nannten es das »Kutscher-Lehmann-Beet«. Blau war überhaupt ein Original. Er sah aus wie sein Spazierstock aus Naturknüppelholz, den er, soweit sich das durchsetzen ließ, sogar im Dienst bei sich trug.

Es wurde heiß. Wir waren schon alle braungebrannt. Der Matrose Lange, von Zivilberuf Zirkusausrufer, der einer unserer Spaßmacher war und, wie schon gesagt, in einem Sarge schlief, verzog mit diesem Bettersatz in einen leeren Unterstand, den er sonderbar ausschmückte. Den Zugang versperrte er mit Stacheldraht und befestigte ein Schild daran. »Varieté von Paul Lange.«

Ich teerte meine Pontons und schmiedete selber ein Eiseninstrument zum Kalfatern.

Alle Uhren wurden um eine Stunde vorgestellt. Es war nach der neuen Zeit elf Uhr nachts, als wir wieder Pontons und Pinasse zu Wasser ließen, und es gab eine große Wooling. Zwei Leuten wurden die Finger zerquetscht. Der Kommandant verteilte nach allen Seiten hin die saftigsten Anschnauzer. Diesmal galt es, die Sperre zu legen, die der Landzunge am nächsten lag. Die Landsoldaten an unserem Frontzipfel hatten Befehl, den Feind anzugreifen, um die Aufmerksamkeit von uns abzulenken. Ich durfte nicht mitfahren, sondern hatte allerlei nichtssagende Aufträge.

Gegen drei Uhr kamen Pinasse und Pontons glücklich zurück. Sie hatten sich bis auf zwei Seemeilen der Landzunge genähert, so daß sie, wenn die Russen Leuchtkugeln steigen ließen, Baulichkeiten und Bäume erkennen konnten.

»Obermaat Lampe hat fürchterliche Angst ausgestanden«, erzählte mir ein Matrose, »besonders weil der Obermaschinistenmaat Krug, um möglichst wenig Rauch zu entwickeln, bis mit vierzehn Atmosphären gefahren ist. Lampe hat darüber beim Peilen einen falschen Stern erwischt und acht Strich West Deviation gemeldet.«

Die Pontons waren gegen eine Eisenschiene gerannt. Der Maschinist vertuschte die Sache. Ich untersuchte das Floß, denn ich wußte genau, daß der dicke Langebeck kein einziges Mal in die Pontons hineingekrochen war. Sie waren indes nicht wesentlich beschädigt.

Wir waren alle äußerst nervös und litten infolge der aufgedrungenen Wasserkuren an rheumatischen Schmerzen. Der Schmied erkrankte schwer und tat uns recht leid, während wir nur lachten, als sich Obermaat Lampe beim Arzt meldete, weil er sich vor Wahnsinnsanfällen nicht sicher glaubte. Ich selbst litt jetzt häufig an Kinnkrämpfen, und meine Füße juckten weiter, und ich kratzte sie dann blutig, und dann schwollen sie an, und dann drückten die Seestiefel.

Beim Aufladen stürzte eine Mine von einer Lore. Die Pioniere flohen, laut aufkreischend. Aber es konnte gar nichts passieren, weil die Sicherung nicht gelöst war.

Als ich wieder einmal zu Wein kam, bewirtete ich meine seemännische Besatzung. Wir tauften feierlich die drei Pontons, und zwar den backbordschen »Mucky«, den mittelsten »Eichhörnchen« und den steuerbordschen »Tula«.

Kneis bekam auswärtigen Besuch, und zwar hohe Militärs vom Generalstab, geschniegelt und gebügelt mit knallroten Streifen an den Hosen. Sie besichtigten alles. Ich schloß mich einmal ihrem Gefolge an und erlebte folgendes. Der General – oder was es sein mochte – schritt auf die Badeanstalt zu. Dort stand gerade der Jäger mit dem Dackel. Der Jäger machte stramm. Der Dackel machte Männchen. Der General dankte ernst. Der Jäger riß die Türe auf und rief »Ordnung!« in die Halle. Darauf schnellten aus zehn Kesseln zehn nackte Männer empor und machten stramm.

Wieder einmal, und zwar bei hoher Dünung, rollten die Pontons ab. Die Leute in Gummianzügen schoben sie, soweit es möglich war. Aber das Übernehmen der Minen gestaltete sich sehr schwierig. Die Schienen schlugen, von den Wellen gehoben, mehr oder weniger heftig auf die Böcke nieder, und dabei wurde einmal mein Fuß heftig gequetscht. Als alles übergeladen war, stakten wir uns weiter in die See und hielten uns dort mit Mühe gegen die Strömung. So warteten wir lange auf die Pinasse. Endlich sahen wir etwas Dunkles zu Wasser gleiten, dann plötzlich aber steckenbleiben. Anscheinend war die Pinasse entgleist. Es war zu hören, wie die Leute unter dem üblichen anfeuernden »Zu-gleich« schwer arbeiteten. Stundenlang. Das schwarze Etwas bewegte sich nicht von der Stelle. Wir warteten und warteten. Die Arme taten uns vom Staken weh. Wir waren durch und durch naß, denn die Wellen schlugen unaufhörlich auf das Floß. Besorgt sahen wir nach dem Himmel, an dem schon das erste Viertel des Mondes stand. Die Heizer und Seeleute froren und murrten. Ich ging vor Anker und gab ihnen Ruhe und Schnaps. Aber ich wußte nicht, was an Land geschehen war und durfte ohne Befehl nichts unternehmen. Es herrschte etwas unerklärlich Beängstigendes in der Natur, in der Luft wie im Wasser, eine Stimmung, wie bei Sonnenfinsternissen oder kurz vor Erdbeben.

Endlich tauchte das »Dingi«, unser kleines Ruderboot, aus dem Dämmer. Der Maschinist rief uns in seiner aufgeregten Weise zu: »Salzstücken, Bleikappen, Zünder und womöglich Tiefensteller abnehmen!«

Also die Pinasse kam nicht mehr, saß offenbar fest, und wir mußten wohl damit rechnen, die Minen eventuell zu versenken, damit die Russen bei der drohenden Morgenhelle nichts merkten. Der Torpedermaat takelte mit seinen Heizern die Minen ab und schimpfte dabei, weil es an dem nötigen Werkzeug fehlte. Ich rief durchs Megaphon nach dem Strand, man möge uns Werkzeug mit dem »Dingi« bringen. Aber weder »Dingi« noch Antwort kamen. Die an Land hatten den Kopf verloren. Die Heizer drückten mir die herausgenommenen Zünder in die Hand. Ich wußte nicht, wohin ich die gefährlichen, schon bei leichtem Stoß explodierenden Dinger tun sollte, und da schnitt ich die Polster aus unserer Kochkiste und wickelte die Zünder da hinein. Dann kam der Befehlsruf: »Zurückkehren und versuchen, auf die Böcke zu kommen!«

Wir ruderten und stakten uns zurück. Es war unheimlich. Aus dem Nebel kamen uns hocherhobene Arme und rauh brummende Köpfe entgegen. Es waren die Gummileute, die bis an den Hals ins Wasser gewatet waren, um unsere Pontons in Empfang zu nehmen. Man hatte sie nur durch Verabfolgung von sehr viel Rum in das eisige Wasser gebracht, und sie waren total betrunken. Trotz ihres Beistandes und unserer äußersten Anstrengungen kamen wir nicht auf die Böcke, die nicht weit genug im Wasser standen. Wir wurden sogar selbst einmal auf Grund gestoßen, so daß ich, um die Pontons besorgt, wieder seewärts ging.

Was war vorgefallen? Eine ganz ungewöhnliche Springebbe hatte unser Auslaufen überrascht und den Strand mit eins weit hinaus bloßgelegt. Die Pinasse war mitsamt den Loren umgekippt. Der Oberleutnant stand im Wasser und kommandierte mit schöner seemännischer Ruhe. »Kohlen über Bord schütten!«

Es wurde bedenklich hell. Die aufgebrachte Stimme des Kommandanten schrie: »Alle Minen versenken!« Wir stakten uns noch weiter ab und ließen die zwölf Minen ins Wasser plumpsen. Dann, um ihr Gewicht erleichtert, und indem wir selber ins Wasser sprangen, brachten wir die Pontons schließlich auf die Böcke und dann an Land. So kurz vor Sonnenaufgang war an ein Bergen der Pinasse nicht mehr zu denken. Sie wurde mit Persennings maskiert, so daß sie aussah wie ein angeschwemmter Walfisch. Alles andere bargen wir eiligst, und dann ließ uns der Kommandant antreten. Er bedauerte das Unglück, doch sollten wir uns nicht entmutigen lassen. Er bedauerte ferner, daß neben so viel tüchtigen Leuten – er nannte den Namen Surkus – auch Faulenzer und Drückeberger wären, durch deren Schuld die anderen ins Lazarett kämen.

Es waren tatsächlich wieder viele von uns erkrankt oder verwundet. Mein gequetschter Fuß schmerzte sehr. Sieben Stunden lang steckte ich in nassen Kleidern. Dennoch war ich bester Laune. Aber als ich dann nach sieben Stunden Schlaf wieder zum Appell kam, empfand ich plötzlich Schwäche, und der Schweiß brach mir aus. Ich mußte mich auf meinen Nachbarn stützen, um nicht umzufallen.

Am Strande kam ein Schimmel angesprengt, der den Russen durchgegangen und uns von den Frontleuten schon telegraphisch gemeldet war. Aber wir vermochten ihn nicht einzufangen. Er raste weiter in der Richtung nach Rone.

Der neue Oberleutnant erwies sich als ein tüchtiger Seemann. Er scheute es nicht, bei allen Arbeiten persönlich kräftig zuzugreifen. Der hätte zu Nitka gepaßt.

Abends saß ich allein im Lazarett und war traurig, weil die andern draußen an der Aufrichtung und Bergung der Pinasse eifrig arbeiteten und ich nicht dabei sein konnte. Denn mein Fuß war so geschwollen, daß kein Schuh darauf paßte. Der Signalgast erzählte mir, daß in dem Monat von uns achtzig Leuten schon neununddreißig in ärztlicher Behandlung gewesen wären. Ich stellte melancholische Betrachtungen auf, über die Länge des Krieges, durch die, Männer meines Alters, so viel aufnahmefähige und ausgabefähige Zeit verloren. Dann brachte man den Minenheizer Heik in einer Hängematte direkt vom Arbeitsplatz ins Lazarett. Schwerkrank. Heik war ein brauchbarer, aber vielbestrafter Soldat.

Ein paar Leichterkrankte verbreiteten andern Tags freudestrahlend das Gerücht, der Kommandant habe eine Meldung eingereicht, daß er unter so schwierigen Verhältnissen das Unternehmen nicht zu Ende führen könnte. Mir verdarb diese vage Kunde die Stimmung. Als ich dann aber probeweise ein Stückchen spazieren humpelte, kam mir auf einmal sonderlich zum Bewußtsein, wie schön damals und dort der Frühling war. Ich blieb vor drei Holzfeuern stehen, über denen dampfende Kochkessel hingen. Dahinter standen schlanke Birken mit zartem Grün, und manche trugen Starkästen. Ein zartes Lüftchen verteilte den Harz- und Blütenduft, den die Sonne aus Wäldern und Baumgruppen sog. Vögel schwatzten, eine Bandsäge schnaufte. Und ich war in Tirol oder Thüringen oder Gott weiß wo in Friedenszeit.

Die Pinasse war an Land gebracht. Aus Freude darüber besoff und verbrüderte sich alles mit Rum, und der erste Maikäfer wurde herumgereicht. Auch schrieben wir einen Brief an Nitka. Der Kommandant ordnete für morgen, den 6. Mai, einen Ruhetag an. Wir sollten nur Gewehr reinigen, Zeugwäsche, Zeugflicken und sonstige leichte Arbeiten vornehmen. Einige meinten, das geschähe wegen Kronprinzens Geburtstag.

Ich fertigte mir aus einem Leibwickel und einer Brandsohle ein merkwürdiges, aber erträgliches Schuhwerk an und stelzte an zwei Knüppeln ein Stück hinaus in einen schönen Kiefernwald, dessen Stämme im Morgenlichte rot brannten, was mich an Wanjkas Ölbild denken ließ, das in meiner Stube in München hing: »Die Kiefernwälder meiner Heimat«. Wieder durchstöberte ich Häuserruinen, fand aber nichts als ein verknorrtes Aststück, aus dem man mit Phantasie einen Torlöwen sehen konnte, weshalb ich es in unserem Garten anbrachte. Doch, ich fand noch etwas, einen undefinierbaren roten Dreck. Den steckte ich dem Berliner Krug in die Hängematte. Nachmittags unternahm ich mit Landsoldaten einen Ausflug nach Lazup auf einem Bagagewagen. Dessen Pferde erregten mein Mitleid. Es mangelte allerwärts an Pferdefutter. Man gab den Tieren fast nur Kleie, oft sogar mit Sägemehl gemischt. Zum Weiden fehlte es an Zeit. Auch Streu war nicht genug vorhanden. Man half sich notdürftig mit dem Rohr von den Dächern. Zudem wurden die Gäule auf den tiefsandigen Wegen und in den schlechten Stallungen stark strapaziert, von den immer häufiger auftretenden Tierkrankheiten ganz zu schweigen.

Wir hielten erst vor einer geradezu gemütlich aussehenden Strandbatterie. Zwischen langrohrigen Schiffsgeschützen liefen Hühner herum. Der Beobachtungsposten ließ mich durchs Fernglas blicken, und da sah ich, wie drüben auf der Landzunge Soldaten an Stacheldrahtverhauen arbeiteten. In Lazup trieben die Soldaten ihren Spaß mit einer Frau, die nur eine Puppe aus Lumpen und Stroh war. Ich hatte einen brennenden Durst, aber in der Kantine gab es weder Bier noch Wein. Die letzten Bestände waren für die Offiziere reserviert.

Auf See zeigte sich die »Slava« und zwei andere russische Schiffe, die uns schon tags zuvor von unserem Agenten gemeldet waren. Unsere Küstenartillerie schoß. Wieder kreiste ein feindlicher Flieger über uns, der dann, wie wir nachträglich erfuhren, einen Arbeiterzug bei Mitau mit Bomben belegte und dadurch siebzig Leute leicht verletzte.

Abends fuhren wir wieder. Diesmal verlief alles glatt. Ruhige See, bewölkter Himmel, kühles Wetter. Die Scheinwerfer von Dünaburg drehten ihre Lichtsektoren wie Windmühlenflügel. Auf der Landzunge stiegen in kurzen Zwischenräumen Leuchtraketen auf. Wir näherten uns frech einigen russischen Schiffen, die ebenfalls Scheinwerfer spielen ließen, aber nur die Luft nach Zeppelinen und Fliegern absuchten. Wären sie darauf gekommen, auch einmal das Wasser abzuleuchten, so hätten sie uns schnell entdeckt und mit zwei guten Treffern teils in die Luft, teils auf den Meeresboden geschickt. So aber klecksten wir ihnen zwölf Pulvereier im Abstand von drei Minuten hin und kehrten ungestört heim. Die Pinasse zogen wir nun nicht mehr an Land, sondern fuhren sie in eine kleine Bucht bei Rone, wo sie als Segelboot verkleidet wurde.

Wir Seeleute waren auf der Rückfahrt abwechselnd in die Pontons gekrochen, um einen kleinen Smoke zu einem Schlückchen Rum zu nehmen. Wir hatten dann die Luken hinter uns geschlossen, damit wir uns mit den Taschenlampen leuchten konnten, und lagen dort wie in einem Zinnsarg, an dessen Wände das Rigasche Meer schlug.

Ich besuchte einen Jäger, der ein allerliebstes Eichhörnchen besaß. Das wohnte in einem Muff. Hinterher boxte ich einen Matrosen, weil er das Eichhörnchen stehlen und mit mir zusammen auffressen wollte.

Mücken und Fliegen blühten. Wanzen verschwiegen wir.

Nachts bei halbem Mond verseuchte die andere Besatzung das Wasser mit zwölf weiteren Minen. In der darauffolgenden Nacht nahm ich wieder an der Fahrt teil. Sie verlief ausgezeichnet. Ich fror etwas, und meine nassen Füße brannten und zuckten wie bei Gichtschmerzen, aber das spielte keine Rolle. Der hochnäsige Torpedermaat Burkert war wieder seekrank. Seine Heizer ließ ich bei der Rückfahrt in die Pontons kriechen, weil sie vor den überdampfenden Wellen bangten. Ich selbst hatte mich nur einmal für eine Minute in Tula verkrochen, um ein Fläschlein Rum und mein dankbares Herz zu leeren.

Ich verlor sechzehn Mark im Kartenspiel an diesen ekelhaften Torpedermaat und ärgerte mich, weil ich mich darüber ärgerte, und weil ich merkte, daß der Torpedermaat merkte, daß ich mich ärgerte, weil ich mich geärgert hatte.

Die Spaten knirschten. Ein dritter Unterstand wurde gebaut. Und wir mußten dazu einen hohen Sandberg abtragen. Feldwebelleutnant Neumann hatte die Oberaufsicht. Dieser Pionieroffizier war gewiß sehr redlich und tüchtig, meinte aber, man müßte als Vorgesetzter dauernd Strenge anwenden. So warf er uns Unteroffizieren vor, daß wir die Leute nicht genügend anschnauzten. Da ich zur Zeit keinen Anlaß dazu sah, verfiel ich auf einen Trick. Neumann kannte selbstverständlich die Namen der einzelnen Mariner nicht und nun brüllte ich, herumspazierend, laute Anschnauzer aufs Geratewohl blind in die Menge der etwa sechzig dort arbeitenden Leute, und zwar etwa so: »Herzfeld, starren Sie nicht so dämlich in die Luft, Sie fauler Hund!« – »Kinzmann, halten Sie Ihr Maul. Wir sind hier nicht zum Schwatzen da, Sie krummes Biest!« – »Stengler, wenn Sie noch einmal versuchen, sich vom Platze zu stehlen, stelle ich Sie zum Rapport!«

Es gab aber gar keinen Herzfeld unter uns, noch einen Kinzmann, noch einen Stengler, und meine Leute begriffen den Trick. Und der Feldwebelleutnant hörte mich wettern, und schlich sich befriedigt und beruhigt für ein Stündchen von dannen, worauf ich sofort eine Arbeitspause ansetzte.

Wir beobachteten einen Flieger, der über Rone sechs Bomben abwarf und, wie es schien, dann abgeschossen wurde. Nachher stellten wir aber fest, daß es sich um einen deutschen Flieger handelte, der zu einer Notlandung gezwungen war und, in der Meinung, schon über russischem Gebiet zu sein, noch schnell seine Bomben weggeworfen hatte. Die schlugen fünfzig Meter von unserer Pinasse entfernt ins Wasser. Krug und besonders Lampe waren höchst erschrocken.

Unser nächstes Auslaufen wurde von General Wieneck von der 29. gemischten Landwehrbrigade inspiziert. Weil vor dem hohen Gast weder Hermann noch der Maschinist zu schimpfen wagten, verlief alles zu aller Zufriedenheit.

Ich fand einen Barockrahmen, ließ ein gehobeltes Brett hineinsetzen und wollte damit ein Nagelstandbild errichten, wie es alle Städte und Vereine taten. Auf dem Brett entwarf ich eine Zeichnung. Eine Mine, die, halb aus dem Wasser ragend, eine fröhliche Miene zeigte. Am Horizont sah man unsere Pinasse und die Pontons. Darüber stand »Gute Mine zum bösen Spiel« und darunter stand »Kneis, Frühling 1916 K. H. 8. A.« Die Linien und Flächen dieses Bildes sollten mit Schusternägel ausgenagelt werden. Erstens: große Nägel à zehn Pfennig nur an Unteroffiziere verkäuflich; der Ertrag für eine Kneiperei gedacht. Zweitens: kleine Nägel für jedermann zum Preise von fünf Pfennig und zum Besten erblindeter Krieger. Abends eröffnete ich die Nagelung. Anfangs verspotteten und ärgerten mich die anderen. Bald aber fanden viele Geschmack an der Idee. Kleinliche Leute, wie Burkert, Blau und Eckmann, wollten dagegen nichts zahlen und verdarben mir mit ihren Nörgeleien und Stänkereien die Freude, so daß ich den Plan schließlich aufsteckte, die gesammelten Gelder zurückzahlte und nun das Nagelbild zum Spaß für mich allein vollenden wollte.

Trotz der hohen See fuhren wir wieder und warfen unsere letzten zehn Minen. Ich fror lausig, obwohl ich unterm Lederanzug so viele Kleider und Shawls trug, daß ich mich bei einem Unglück nicht durch Schwimmen hätte retten können. Das Pontonblech krachte bedenklich unter dem Anprall der Wogen. In der Pinasse fuhr diesmal und zum ersten Male der Maschinist mit. »Um sich das Eiserne Kreuz zu verdienen.« In die letzte Mine kratzten Burkert und ich unsere Namen ein. Bei der Musterung hielt der Kommandant eine Ansprache. Unsere Aufgabe sei gelöst. Wir müßten nur noch die Minen heben, die wir bei jener Springebbe versenkt hatten. Außerdem sollten wir die Unterstände vollenden und noch Schützengräben ausheben.

Es waren große Verstärkungen für das Landheer in Tukkum eingetroffen. Häufig sah man reiterlose Pferde durch die Sandstraße galoppieren. Alles war alarmbereit. Ein Durchbruchversuch der Russen wurde erwartet. Auch sollten die Russen auf der Insel Oesel zwei Armeekorps gelandet haben, die uns vom Wasser her dann seitlich angreifen konnten (da hätten unsere Minen ihnen wahrscheinlich einen Strich durch die Rechnung gemacht).

Sturm, Hagel und Schnee setzten ein. Die See brandete hoch. Früh alarmierte uns der Ruf: Unsere Pinasse sei abgetrieben. Wir wurden mit Tauwerk, Blöcken und schweren Winden im Eiltempo nach Rone gesandt, und es gelang uns, die Pinasse trotz der Stürme und der Sandbänke wieder einzufangen. Ich sah mir den Unterstand an, wo Krug und Lampe jetzt hausten. Ringsum im Sande wucherten wilde Stiefmütterchen. Ich fing ein Neunauge, ließ es aber wieder frei.

Unser Dienst ward nun leichter, manche Leute, wie Beiz und Eckmann, taten überhaupt nichts mehr. Obermaat Lampe lief in Sandalen herum und simulierte Geistesgestörtheit, um bald nach Kiel geschickt zu werden.

Wir hielten gute Kameradschaft mit den Jägern und wußten immer wieder neue Eßwaren aufzutreiben, auf dem Kauf- oder Tauschwege. Von der Kavallerie bekamen wir Rohzucker, der eigentlich für die Pferde bestimmt war. Später ließ die Militärverwaltung ihn deshalb schon vorher mit Häcksel vermengen. Aber das störte uns nicht, wir warfen den Zucker in den Tee und schöpften den Häcksel, der oben schwamm, leicht ab. Ich gab mich viel im Wachtlokal der Lauseanstalt mit einem Jäger ab, der gut musizierte und sehr einfach, doch packend seine Erlebnisse zu erzählen wußte. Bei Grodno hatte er mit anderen Jägern Kaffee gekocht, und sie hatten das Wasser dazu aus einer trüben Grabenflüssigkeit geschöpft. In diesem Graben entdeckten sie hinterher drei tote Russen.

Schach, Kartenspiel, Flöhe, Wanzen und Bäder im Meere vertrieben uns die Freizeit. Ich ging zum Leutnant und bat ihn, beim Kommandanten ein gutes Wort für mich einzulegen, daß er nämlich, falls ich fürs Eiserne Kreuz vornotiert wäre, meinen Namen streichen und mich dafür lieber zum Obermaat befördern möchte, was eine mir willkommene Erhöhung meiner Löhnung bedeuten würde.

Es trafen noch sechzehn Minen ein als Ersatz für die verlorengegangenen. Außerdem wurde unbegreiflicherweise ein Transport von fünfundzwanzig Matrosen angemeldet.

Der Admiral Begas aus Libau besichtigte unsere Arbeiten. Der Kommandant lag erkrankt zu Bett. Er war im Unterstand plötzlich zusammengebrochen. Gerade zu dieser Zeit hatte ich die Erzählung »Lichter im Schnee« vollendet. Ich ließ sie durch den Leutnant dem Kommandanten unterbreiten mit der Anfrage, ob ich sie im Simplizissimus veröffentlichen dürfte. Er ließ mich später rufen. Ich will versuchen, das Gespräch wiederzugeben, das wir führten. Alles, was er sagte, kam in jenem bekannten, »preußisch« genannten, knappen Schnauzton heraus. Ich meldete mich eintretend nach dem Bette zu: »Zur Stelle.«

»Setzen Sie sich dort auf den Stuhl!« Ich setzte mich, als hätte ich's im militärischen Turnunterricht geübt.

»Der Oberleutnant hat mir Ihren Roman vorgelesen, er liest aber schlecht. Lesen Sie mir das noch mal vor!« Ich nahm verlegen und verzweifelt das Manuskript in die Hand und las die Geschichte vor – die handlungsarm, ganz weich gehalten und eigentlich mehr ein lyrisches Gedicht war – so unmilitärisch, wie ich's vor Hermann vermochte. Es klang wie ein Rapport vor versammelter Mannschaft. Hermann unterbrach mich mehrmals mit den Worten: »Das stimmt doch nicht!«

»Nein, Herr Kapitän. Habe Wahrheit mit Dichtung gemengt.« Darauf schrie er mich plötzlich an: »Rücken Sie näher heran!« Ich sprang auf und trat stramm dem Bette näher.

»Nein!« brüllte Hermann. »Mit dem Stuhle näher! Bleiben Sie sitzen! Seien Sie mal Mensch zu Mensch!«

»Jawohl, Herr Kapitän.« Ich rückte mit dem Stuhle näher und setzte mich.

»Näher!« brüllte Hermann, daß ich erzitterte. »Mensch zu Mensch!« Ich rückte ganz nahe.

»Was haben Sie sich bei der Geschichte eigentlich gedacht?«

Ach, lieber Gott, was sollte ich da antworten?! Ich schluckste und druckste. »Ich habe gedacht, Herr Kapitän – ich habe gedacht, Herr Kapitän –«

»Ach was, Kapitän! Seien Sie Mensch zu Mensch!«

»Ich habe gedacht, Herr Ka – tsch –, daß es doch Dinge gibt – die länger sind – die merkwürdig – Gegensätze –.« Ohne Zweifel brachte ich nur konfuses Zeug heraus, und ich muß gestehen, daß die Tonart des Kommandanten zwar ununterbrochen das erwähnte Bellen blieb, daß ich aber dahinter mitunter eine tapfer verhaltene Weichheit vernahm. »Sie dürfen die Sache veröffentlichen«, meinte der Kranke schließlich, »aber erst später, wenn wir zurückkehren.« Dann fuhr er fort: »Auch unsere Pontonfahrten müßten sich doch vorzüglich verwerten lassen. Ich wenigstens habe auf diesen stumpfsinnigen Fahrten immer über allerlei nachdenken müssen. Nicht, daß ich Angst gehabt hätte.« – Er hieß mich länger bei ihm bleiben, weil er Langeweile hätte, aber er frug höflich, ob ich ihm auch solche Zeit opfern wollte. Dann ließ er sich von meinem Rigaer Aufenthalt erzählen und erkundigte sich eingehend nach der Baronin von Ostensacken. Bezüglich der Minen sagte er: »Ich glaube gar nicht an einen großen Wert unserer Sache. Die Russen werden nicht so nahe herankommen.« Dann wurde er plötzlich weich: »Ich hatte zuvor als Kommandant einen Hilfskreuzer, der mit dem »Greif« zugleich rausgehen sollte. Das Schiff ging aber leider kaputt. Nächste Woche will ich einmal nach Mitau zum Oberbefehlshaber, will ihm sagen, daß wir etwas geleistet haben und will fragen, was wir nun tun sollen.«

Ich wurde gnädig entlassen und war froh darüber. Die Beziehungen zwischen Offizier und Mann waren eben so, daß – waren eben so.

Am nächsten Morgen kam die Kunde, daß die Dampfpinasse in Rone im Sturm gesunken wäre. O weh! O weh! Der Kommandant raste.

»Ha!« rief Maschinistenmaat Eckmann. »Endlich kommt mein Motorboot an die Reihe!« Das Motorboot war wirklich bisher noch nie in Aktion getreten, sondern hatte an Land im Schuppen gestanden und war von Eckmann ohne viel Anstrengung instand gehalten worden. Und nun, als Eckmann den Ausruf tat, kam ein Matrose gelaufen und rief: »Das Motorboot brennt!« Wir stürzten hin. Das Benzol in der Bilge hatte sich entzündet. Wir schütteten Wasser und Sand in das Boot und löschten so den Brand. Aber nun war die ganze Maschinerie versandet und verdreckt. Dann kam die Nachricht, daß die Pinasse von der tobenden See zerschlagen würde und wohl kaum je wieder zu gebrauchen wäre. Es gab Leute unter uns, die sich darüber freuten. Aber niemand ließ sich das anmerken, denn mit dem Kommandanten war an diesem Tage weniger denn je zu spaßen. Wer irgend konnte, verbarg sich vor seinen Augen.

Mittags gab es eine Überraschung. Es erschien ein Karren mit zwei Zivilisten, einem Manne und einer Frau. An ihrer Seite ritt ein Soldat. Die Zivilisten stammten offenbar aus Kneis, und man hatte ihnen wohl gestattet, von ihrer Habe etwas an sich zu nehmen, was ihnen am Herzen liegen mochte. Sie gingen geradewegs auf das Haus des Kommandanten zu und holten dort einen Sarg und einen Anker vom Speicher. Dann kam aber Hermann hinzu und schimpfte die Leute so zusammen, daß das Weib in Tränen ausbrach.

Am Sonntag, dem 21. Mai, gingen wir daran, die Pinasse zu heben. Sie war inzwischen vertrieben und bis ans Dollbord versandet, und das Wasser stand noch einen Meter hoch über dem Schornstein. Wir bauten einen Kran auf zwei Pontons und schickten Leute ins Wasser, die gute Taucher waren. Bis zum Abend brachten wir die Pinasse ein Stück höher auf eine Sandbank.

Als wir ausschieden, zog ich mit den beiden Torpedermaaten zu den Dragonern zu dem Vizewachtmeister Kischkat, der uns und einige Freunde seiner Schwadron eingeladen hatte. Er feierte die Erinnerung an eine glücklich verlaufene Mensur. Kischkat erzählte amüsant von der Russenwirtschaft auf seinem Heimatsgut Barsen, Post Kraupischken, Kreis Ragnit. Wir betranken uns unsagbar an Sekt, Kognak, Portwein und Grog, so daß wir drei Minenleute auf dem dunklen Rückwege abwechselnd in Schützengräben und in Stacheldrahtverhaue fielen.

Andern Tags zogen wir aus, um die Pinasse völlig zu bergen. Das war aber aussichtslos. Die See schlug allzu heftig gegen das Wrack und trug bereits Trümmer davon den Russen zu.

Der Kommandant war für ein paar Tage nach Mitau gereist. Als das Meer sich glättete, schleppten wir die letzten Reste der Pinasse an Land, Kiel, Schraube und Welle. Mit der Pinasse war natürlich viel wertvolles Material verlorengegangen. Wer von uns seine Taschenlampe oder einen Hammer oder sonst ein Werkzeug verbummelt hatte, der behauptete nun, das hätte sich in der Pinasse befunden. Im übrigen kreuzten wir bei schönem Wetter mit Ruderbooten vergnügt über der Unfallstelle und fischten nach den versunkenen, versandeten und vertriebenen Gerätschaften, erwischten dabei auch das Manometer, ein Patentlog, Kupferrohre und anderes. Dann begannen wir mit dem Aufsuchen und Heben der seinerzeit von uns versenkten Minen. Der Kommandant feuerte den Ehrgeiz der Taucher an und setzte für das Anstecken eines Taues an zwei Minen eine Belohnung von drei Mark aus. Obermaat Blau erwarb sich dabei besondere Anerkennung. Ich gönnte es ihm, weil wir in letzter Zeit allzu viel boshafte, heimliche Anschläge auf sein »Kutscher-Lehmann-Beet« gemacht hatten. Bei den seemännischen Arbeiten tat sich am meisten der Oberleutnant Bördemann hervor.

Ich erhielt zwei Briefe: »Friedrichsort, den 19.5.16. Allen Unteroffizieren des Sonderkommandos danke ich vielmals für ihr freundliches Gedenken. Noch oft und gern denke ich an unsere hiesige gemeinsame Arbeit zurück mit dem aufrichtigen Wunsche, daß derselben auch guter Erfolg beschieden sein möge! – Dem ganzen Sonderkommando vor allem seinem Unteroffizierkorps meine besten Wünsche für ein ferneres Wohlergehen! Heil und Sieg und freundliche Grüße. Nitka, Korvettenkapitän.«

Ferner: »Eisenach, den 23. Mai 1916. Geehrter Herr Hester. Wie Sie wohl schon von Frl. Hahn erfahren haben, hat der neue Jahrgang seinen Einzug hier gehalten. Wir alle sind ganz begeistert von Ihren Schriften, die uns Frau Kurs teilweise vorgelesen hat. Um Ihnen für diese Genüsse zu danken, senden wir Ihnen beif. Zigaretten, da Sie, wie uns Frl. Hahn sagte, mit Vorliebe derartige Paketchen erhalten. Wir danken Ihnen für die uns gesandten Grüße und erwidern dieselben alle, in der Hoffnung, den vielbesprochenen Gustav Hester auch einmal kennenzulernen. Emmy Schneider. Lotte Huff. Marta Marburg. Dem Genie Gustav Hester herzl. Gruß Tilly. Lona Kalk.«

– Russische Flieger zogen über uns hin und wurden, anscheinend von Tukkum, mit Schrapnellschüssen empfangen. Das war sehr interessant anzusehen. – In Kneis blühte der Flieder. – Die letzte Mine war geborgen. – Beim Appell sagte der Kommandant: »Ich war im Hauptquartier. Der Oberkommandierende läßt Ihnen für die schwere Arbeit danken. Er hofft, daß wir uns in dem schönen Kneis noch einige Tage erholen können.«

Wir hatten Musterung auf Handwaffen und wurden in Korporalschaften eingeteilt, was auf baldigen, sehr unbeliebten Infanteriedienst schließen ließ. Nach dem Zeugflicken gab man uns Freizeit. Aber ich war mit den meisten Maaten verfeindet und deshalb strolchte ich allein durch Wald und Sumpf. In der üppig blühenden, mit Käfersummen und Vogelgezwitscher gefüllten Natur stieß ich überall auf Trümmer, die an große Armeen und heftige Kämpfe erinnerten. Mehrmals pürschte ich mich gegen den Wind so dicht an Rehwild heran, daß ich leicht drei Böcke hätte erlegen können. Aber das Jagen war nur den Offizieren erlaubt. Ich lagerte mich auf einer grünen Wiese, die über und über mit lila Blüten betupft war. Von dort aus beobachtete ich einen deutschen Fesselballon, der etwa bei Schlock aufstieg. Aus derselben Gegend rollte und dröhnte schwerer deutscher Kanonendonner. Dann grub ich irgendwo nach verborgenen Schätzen, und weil das ohne Erfolg blieb, buddelte ich mir wenigstens Kartoffeln aus der Erde für ein Puffergericht. Dann nagelte ich weiter an meinem Schusterbild, nur, weil ich's einmal angefangen hatte.

Wir fingen jetzt eifrig Sprotten und räucherten sie.

Wieder griffen feindliche Flieger die Gegend von Tukkum an.

Die fünfundzwanzig avisierten Matrosen trafen ein. Sie kamen in Marineblau und mit gepacktem Affen, schwere Burschen, und sie schwankten und machten großen Skandal. Als sie sich später zum Requirieren im Dorf verstreuten, lachten wir: »Etwas spät!«

Ich besuchte die Dragoner. Wir tauschten Kriegserinnerungen. Einer erzählte, er hätte mit anderen Ostpreußen in Rußland ein vornehmes Quartier bezogen. Sie fanden an der Wand folgende Inschrift: »Ihr lieben Feinde, nehmt mit, was ihr braucht, aber schont das übrige.« Aber sie dachten an das verwüstete Ostpreußen und schlugen sofort mit dem Gewehrkolben Spiegel und Bilder ein.

Ich erkletterte einen hohen Baum, von dem aus man bis Riga sehen sollte. Ich sah es aber nicht und verlor beim Klettern den Chrysopas aus Wanjkas Ring.

Wir hatten wieder einmal lange nichts zu beißen gehabt. Nun gab es aber auf einmal wieder alle möglichen Genüsse, weiße und rote Radieschen und Speck. Ein Jäger schenkte mir ein unübersehbares großes Salatfeld, und er lachte, als ich das Geschenk lachend ablehnte. Denn wir wußten mit dem Salat nichts anzufangen, es gab weder Öl noch Essig, noch Zitrone. Dagegen türmten sich auf unseren Tischen goldene Berge von geräucherten Sprotten. Wir betrieben einen schwunghaften Handel damit, der bis an die äußersten Schützengräben reichte. Wir wurden täglich geübtere Fischer, und das anfangs von uns selbst verwüstete Fischergerät hatten wir längst soweit als möglich wieder ausgebessert.

Ich zog mich mehr und mehr von den Unteroffizieren zurück, die von den Torpedermaaten aufgewiegelt waren. Blau hatte mich eines Speckdiebstahles beschuldigt. Ich bot ihm Prügel an, aber er kniff. Und niemand verteidigte mich. Ich zog in aller Frühe mit einem Jäger zum Wildern aus. Wir bildeten uns ein, daß wir einen Auerhahn aufgespürt hätten. Aber wir schossen nichts. Dennoch war der taufrische Morgen wunderschön. Abends verlas der Kommandant ein Schreiben, worin Prinz Heinrich uns für unsere Mühe und Arbeit dankte. Nachts konnte ich lange nicht einschlafen, weil ich über die Intrigen der Unteroffiziere nachgrübelte. Und als ich endlich doch in Träume verfiel, erwachte ich sehr bald wieder, weil ein Igel unter mir rumorte und schnüffelte, während gleichzeitig der betrunkene Krug in seiner Hängematte zu singen anfing: »Wunderbar, wunderbar – ist ne Kuh mit Pferdehaar.«

Torpedermaat Schmidt war der erste von uns, der fortkam. Er fuhr mit einem Transport Minen nach Cuxhaven zurück. Ich übergab ihm Post und Sprottenpakete zur Beförderung.

»Es sind russisch-deutsche Sonderverhandlungen im Gange«, sagte der Schreiber.

»So?«

»Vorgestern war der Kaiser in Mitau.«

»So?!« sagte ich nur. Ich war sehr müde. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Fliegen plagten mich. Ich hatte ein Geschwür am Podex, rheumatisches Zucken in den Beinen und mehrmals Anfälle von Kinnkrampf. Auch juckten meine Füße.

»Ich gratuliere Ihnen!« fuhr der Schreiber fort. Ich drehte ihm schweigend den Rücken zu. Aber beim Appell, es war der erste Juni 1916, sagte der Kommandant: »Ich ernenne hiermit den Minenbootsmaat Hester zum Obermaat.«

Die Unteroffiziere gratulierten mir, mit Ausnahme meiner drei Feinde, Eckmann, Blau und Burkert. Jemand gab mir gelbe und goldene Kronen ab, die ich sofort über meinen Anker nähte. Auch erhielt ich die Erlaubnis frontwärts zu gehen, um etwas zum Spendieren zu besorgen. In den fliederumblühten Unterständen von Lazup bekam ich diesmal überraschende Genüsse, Rotwein, Konservenmilch, Ringelwurst und Zigaretten. Bei Lazup sah in ein Grab, das auffallend künstlerisch mit Birkenstämmchen verziert war. Die deutsche Grabschrift lautete: »Hier ruht ein tapferer russischer Offizier.«

Ich braute für die Unteroffiziere eine Feuerzangenbowle, die allen schmeckte trotz des schlechten Fusels, und obwohl die Feuerzange selbst nach Fisch roch. Leider reichte sie nicht aus. Dann besuchte ich meinen Freund bei den Jägern. Der hatte gerade in der Erde unterm Keller einen Fund gemacht und schenkte mir davon eine russische Porzellantasse und drei Pfund Schmalz.

Der Kommandant verlas uns die Nachricht von der siegreichen Seeschlacht am Skagerrak und fügte hinzu: »Schade, daß wir nicht dabei waren!« Ich erlaubte mir ungefragt herauszubrüllen: »Jawohl, schade!«

Wir hatten noch faule Tage in Kneis, die uns zu Kopf stiegen, so daß wir viel albernes Zeug trieben. Als wir erfuhren, Lord Kitchener sei ertrunken, feierten unsere Leute das durch einen geschmacklosen Umzug, wobei sie eine Strohpuppe in einem mit läppischen Aufschriften bemalten Sarg durch die Straßen trugen.

Mein Nagelbild war fertig, es kam mir recht kitschig vor. Der Kommandant sah es einmal. Er fand es sehr schön und veranlaßte, daß es, wenn wir Kneis verließen, als Andenken mitgenommen würde.


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