Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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3

In See auf »Blexen« und »Vulkan«

Nun lag unser Boot draußen verankert auf Vorposten. Ich hockte in einer schmierigen Hose und mit beschmierten Händen auf meiner Koje unter der Back und badete mein Herz in einem achtundzwanzig Seiten langen Brief von Eichhörnchen. Auf dem Tisch flackerte eine Kerze, die ich durch den aufrecht gestellten Sozialen Volkskalender von 1913 nach zwei Seiten abgeblendet hatte. Denn nicht das zarteste Lichtscheinchen durfte aus dem Schiff dringen. Ich dachte dann sehr deprimiert daran, daß ich wohl nun den ganzen Krieg über auf diesem harmlosen Sperrfahrzeug zubringen würde, ohne je an den Feind zu kommen. Vorläufig war allerdings alles, was ich bei viel Arbeit und wenig Schlaf sah, verrichten und lernen mußte, eigenartig und interessant. Und mit der Kasernen- und Werftzeit verglichen ein guter Fortschritt. Ich war auch im großen und ganzen zufrieden, als ich so auf meiner Seegrasmatratze schaukelte und Eichhörnchens überschwengliche, innige Reden las, die das Postboot abends in unsere kalte, rauhe oder rohe Abgeschiedenheit gebracht hatte.

Dann ging ich mit dem naseweisen, schlanken Matrosen Eichmüller Deckswache. Er an Steuerbord, ich an Backbord. Wir mußten auf alle ein- oder auslaufenden Schiffe aufpassen; besonders befürchtete man feindliche Torpedoboote und Unterseeboote. Den sich nähernden Schiffen hatten wir mit vielfachen Anrufen, unter Anwendung vielfacher Apparate auf den Zahn zu fühlen. Laternen, Raketen, Blink- und sonsterlei Signale kamen in Betracht. Dabei war die Wasserfläche in weitem Umkreis, unsere Ankerkette, waren Bänke, Bojen, Strömungen, Minen, Kompaß, Wind, Schüsse von draußen und Mitteilungen anderer Schiffe zu beachten, die in gewisser Entfernung von uns lagen. Vor allem standen wir mit unserem Führerboot »Glückauf« in stetem Signalverkehr. Dort residierte der strenge Sperrkommandant. Die umliegenden Forts waren leicht zu alarmieren, und unsere Kanone blieb immer schußbereit. Der Wachtdienst machte mir das meiste Vergnügen.

Sonst mußte ich viel herumlaufen, bald auf die Brücke klettern, bald hier oder dort die Leute kontrollieren, die zum Teil wenig seemännische Erfahrung hatten oder sich gern um die Arbeit drückten; dann wieder an den Maschinentelegraphen oder an die Flaggen oder an Bord von anderen Fahrzeugen, die längsseits kamen, um irgendwas abzugeben oder überzunehmen.

Tag und Nacht abwechselnd vier Stunden Dienst, vier Stunden Schlaf. Aber in die Schlafzeit fielen die Mahlzeiten, das Sichwaschen, die Zeugwäsche, das Zeugflicken, überhaupt alle privaten Angelegenheiten. Es war gerade kein einfacher Dienst. Schon was wir in bezug auf Signale und Vorschriften in kurzer Zeit beherrschen sollten, kam mehreren Sprachen gleich.

Ich war meiner Augen wegen sehr in Sorge. Ich sah keineswegs schlecht, aber ich sah nicht so scharf in die Ferne, wie die meisten von uns. Wenn ich neben dem Kommandanten auf der Brücke oder neben Stuben, unserem besten, erfahrensten Seemann, am Ruder stand und ein auftauchendes Schiff später entdeckte als sie, dann war ich ganz unglücklich. Denn ich hütete mich, diese Augenschwäche einzugestehen und riskierte lieber, für unachtsam zu gelten, weil ich die übertriebene Angst hegte, man könnte mich nachträglich für borddienstuntauglich erklären. Dabei ersetzte ich durch verdoppelte und begeisterte Aufmerksamkeit zweifellos das Manko meiner Sehkraft.

Das Schwein, den Koch Apfelbaum, wurden wir endlich los; wir vertauschten ihn gegen einen neuen Koch, nachdem er zum Schluß noch den größten Teil unserer Kantinengelder versoffen hatte. Von mir war er einmal darüber ertappt worden, wie er Rotkohl in der Kaffeemühle zerkleinerte, da hätte ich beinahe wieder ein gutes Wort für ihn eingelegt.

Kaum waren meine gequetschten Finger wieder heil, so fiel ich, als wir das Schiff zu der gefürchteten Kohlenübernahme herrichteten, in eine Bunkerluke und prallte so heftig auf, daß mir eine Zeitlang übel war. Da ich aber im übrigen mit einigen Schrammen davonkam, so war ich zufrieden, auf anständige Art vom Kohlen ausgeschlossen zu sein. Schlimmer stand es um mein Fußleiden, seitdem ich oft stundenlang in nassen Schuhen und Strümpfen stak.

Durch den Lotsen erfuhren wir Neuigkeiten, darunter die Geschichte von den Deutschen, die sich gefangen auf einem englischen Boot befanden, das auf eine von ihnen gelegte Minensperre lief, die aber nicht warnten und nichts verrieten, sondern sich opferten. »Blexen« löste sich mit den anderen Booten ab. Waren wir heute Vorpostenboot, so lagen wir morgen als verfügbares Freiboot neben »Glückauf«, und übermorgen waren wir vielleicht inneres oder äußeres Sperrschiff. Manchmal gab es Eßzulagen, für jedermann ein Stückchen Sülzwurst. Oh! Und immer wieder wurden Übungsstunden im Signalisieren angesetzt. Das Winken machte mir Spaß. Ich beherrschte den einen Teil davon, das Geben, so gut, daß ich mir sogar eine Geheimschrift daraus konstruierte, mit der ich von nun an in meinen Tagebüchern zensurbedrohte Notizen schrieb. Aber gegen das Morsen nahm ich eine Abwehrstellung ein, wie etwa gegen Stenographie, die mir ebenfalls als eine seelenlose, langweilige und zeitvergeudende Angelegenheit vorkam.

Ich hielt Eichmüllern eine pädagogische Rede: er sollte doch sein rabautziges Wesen lassen und nicht über alles und jedes nörgeln, er sei doch der Jüngste. Eichmüllern schienen meine Ermahnungen seltsam nahezugehen. Er sackte wie zerknirscht zusammen und gluckste und druckste, als ob er in Tränen ausbrechen wollte. Aber plötzlich merkte ich, daß er nur seekrank war. Ich ließ den komischen Teufel ablösen und durfte mich selbst ein paar Stunden schlafen legen, allerdings in Kleidern. Wir lagen dicht am Minenfeld. Der Wind stand dorthin, so daß wir, wenn das Tau riß, mit dem wir am Dampfer »Seeadler« hingen, wahrscheinlich bald gen Petrus geflogen wären.

Ich wollte indessen nicht schlafen. Der leitende Maschinistenmaat, den wir um seine Einzelkabine beneideten, bot mir zwei Rudolf-Stratz-Bände an, die einzigen Bücher an Bord. Ich zog aber vor, Briefe zu beantworten. Alle, die mir schrieben, verlangten ausführliche Antwort, ohne zu ahnen, wie wenig Zeit wir dazu hatten, und wie schwierig es war, bei der schlechten Beleuchtung in gebückter Haltung und womöglich im Geschaukel des Seegangs mit plumpen Hornhänden Briefe zu schreiben.

Meine Eltern bat ich, mir Streichhölzer, Wurst, Zwirn und Malzbonbons zu senden. Die Wellen klatschten an die Bordwand. Jessen und der Obermaat schnarchten und dünsteten. Ein in meiner Tinte ersoffener Kakerlak geriet mir in die Feder. Ich klebte ihn auf mein Ölzeug, das neben meiner Koje seemännisch duftete. Die nächste Deckwache im Regen würde ihn ins Meer befördern. Dann erwachte der Obermaat über mir und schimpfte. Die Decksbohlen waren nicht dicht, und so fiel ihm von Zeit zu Zeit ein Wassertropfen ins Gesicht. Das Schiff schweute. Wind und See schwollen an.

Abermals nahm ich Eichhörnchens Brief vor. Aber an gewissen Stellen, wo sie vom Krieg und von deutscher Unbezwingbarkeit und Ähnlichem sprach, wich meine Meinung allzusehr von der ihrigen ab, und da ich wußte, daß in diesem Punkte mit ihr ebensowenig zu disputieren war wie mit meinem Vater, und weil ich mich außerdem nach strengster Vorschrift in Briefen oder Tagebüchern über so etwas nicht auslassen durfte, so legte ich mein Schreibzeug beiseite und schickte mich an, eine Unterhose zu flicken. Doch gewisse Geräusche veranlaßten mich, an Deck zu eilen. Ein Fairplaydampfer legte an. Laute Rufe – eine Wurfleine flog zu uns – Gischt spritzte auf – Korkfender quietschten – und eine Order wurde herübergereicht. Wir sollten morgen Routineboot sein. Sehr angenehm, denn da kamen wir auf ein paar Stunden in den Hafen.

Es ward Sturm. Hohe Wellen warfen uns unterwegs hin und her und schlugen über Deck. Da war es nicht so einfach, bei den anderen Schiffen anzulegen, denen wir Wasser, Proviant und Post besorgten. Einmal stieß denn auch »Blexens« Nase mit einem peinlichen Bums auf »Seeadler«. Der Maat in der Maschine behauptete, ich habe den Telegraphen falsch bedient. Ich behauptete, er habe volle Kraft vorwärts statt rückwärts gefahren. Der Steuermann erteilte einen Rüffel so diskret, daß dieser wie an eine dritte unbekannte Größe gerichtet schien. Wir hatten Löhnung erhalten, und ich fand im Hafen Gelegenheit, vier Stücke Zwetschgenkuchen mit Schlagrahm herunterzuschlingen und auf heimlichen Umwegen Verschiedenerlei für mich und meine Kameraden einzukaufen. Als ich einem Offizier auf Sperrschiff »Franz« eine Bestellung überbrachte, lag auf dem Tisch dort eine Nummer der »Jugend«. Ich nahm die Hacken zusammen und sagte militärisch: »Ich bitte Herrn Leutnant um die ›Jugend‹.«

»So?« sagte er erstaunt. »Sonderinteressen? Na dann nehmen Sie sie.«

Auf der Rückfahrt begegneten wir der einlaufenden Flotte. Voran fuhr »Markgraf«, ein neues Schiff, das seine Probefahrt machte und vorläufig nur mit Zivilisten besetzt war. Deshalb dippte es sogar vor uns die Flagge. Wir betrachteten die Panzer mit Sachkenntnis und Neugier, zählten die Geschütze, lasen die auf und nieder sausenden und hin und her springenden Signale ab und stellten fest, daß sich der Admiral Lanz auf der »Ostfriesland« befand. Die Flotte unternahm jetzt öfters Ausflüge, offenbar zur Beruhigung der Bevölkerung. Auch mußten die nichtansässigen Frauen und Bräute Wilhelmshaven verlassen.

An Deck von »Seeadler« wuschen sich von der Abendsonne vergoldet lauter nackte, tätowierte Leute, welche dabei die Lorelei sangen.

Wir dampften sofort weiter auf Vorposten. Der Sturm nahm weiter zu. Wir versteckten uns, wo es anging, vor den überschießenden Wassern hinters Ruderhaus, und einmal liefen wir auf Grund. Es war aber Sand, wir kamen wieder frei. Dann: Lampen klar! – Loten! Wieder loten! – Fall Anker! Stuben ward dabei ein nettes Stück Fingerfleisch abgequetscht. Ich verband ihn sauber, und um mich etwas wichtig zu machen, träufelte ich, weil ich in der Apotheke nichts Besseres fand, etwas Hoffmannstropfen auf die Wunde.

Nachts auf Wache empfand ich dankbar, wie viel zu gut es mir erging, während mich meine Angehörigen bedauerten. In solcher Stimmung redete ich herzlich auf den ewig griesgrämigen Eichmüller ein und traktierte ihn mit Wurst und Zigaretten. Gespenstische Schatten, Torpedoboote, huschten vorbei, darauf glitt ein schmaler Silberstreifen durchs Wasser mit einem Turm.

Wir schwitzten und froren im Ölzeug am Ruder, am Lot, am Ankerspill und an den Tauen. Die im engen Maschinen- und Heizraum hatten bei dem »Blexen«-Hexentanz ebenfalls keinen leichten Stand. Manche, an der Spitze der Kommandant, waren jämmerlich seekrank. Als ich außenbords am Bug die Talje aus dem Anker hakte, weichte mich eine salzige See durch und durch ein. Da schmeckte dann mein Pfeifchen doppelt gut. An der jämmerlichen und doch komisch harmlosen, aber nun im Krieg oft wieder gefährlichen Seekrankheit hatte ich nie zu leiden. Aber Herr Kaiser zum Beispiel saß bei schwerer See völlig erledigt und apathisch in seiner Kabine, und keine Macht und keine Gefahr hätte diesen sonst so tüchtigen Seemann und pflichtgetreuen Soldaten dann an Deck bewegen können.

Gar zu gern hätte ich meine Mandoline oder ein Schachspiel an Bord gehabt. Der Maschinistenobermaat wäre mein Partner gewesen. Vom Kommandanten abgesehen, war er der Gebildetste, das heißt, ich darf ja nicht den Dienstmannmatrosen vergessen, der seine vornehmen und wohlgesetzten Manieren selber nicht unter den Scheffel stellte.

Wir brachten einen Kutter mit Matrosenartilleristen nach Schillig. Dort ankerten wir nicht, sondern setzten uns einfach auf Schlick. Die Artilleristen sollten während der Ebbe Markbojen setzen. Wir lachten sie ob ihrer Wasserscheu aus. Als wir sie dann nach Wilhelmshaven zurückschleppten, hofften wir ein Stündchen an Land gehen zu dürfen. Wir mußten aber an Bord bleiben und blickten, während wir die vom Salzwasser angegriffenen Gewehre reinigten, schmachtend nach den auf dem Pier lustwandelnden Matrosenbräuten und nach den stolzen Offiziersdamen, die aus Autos stiegen. Das Wetter war diesig, als wir wieder ablegten. Die Bojen waren kaum noch zu erkennen, wir mußten den Kompaß zu Hilfe nehmen. Wir hatten gerade unter Schwierigkeiten am Heck von »Seeadler« festgemacht, als wir angerufen wurden. Wir sollten nachsehen, was da zirka 20 Meter voraus im Wasser triebe und wie ein fremdes Unterseeboot aussähe. Wir warfen die Leine los und dampften neugierig nach jener Stelle, nahmen uns vor, wenn es ein Unterseeboot wäre, dasselbe zu rammen. Ja, da trieb etwas – zwei senkrecht aus dem Wasser ragende Rohre. Periskope eines Unterseebootes? – Verdammt noch mal! – Man durfte sich andererseits nicht blamieren. Volle Kraft voraus! – Hart Backbord! – Halbe Kraft zurück! Stop! (Denn um den Befehl, statt des Wortes »Stop« das deutsche Wort »Halt« zu gebrauchen, kümmerten wir uns höchstens im theoretischen Unterricht.) Und nun fischten wir das treibende Etwas heraus. Es war ein alter Marinemantel, dem das Futter und die Knöpfe abgetrennt waren, und dessen Ärmel infolge irgendwelcher physikalischen Gesetze senkrecht aus dem Wasser gestanden hatten. Wir lachten uns aus und trösteten uns. Die bewegte See bot oftmals solche Täuschungen. Und besser zu viel Vorsicht als zu wenig.

Bei der Abendmusterung wurde der Tagesbefehl verlesen. Vier Mann der Sperrfahrzeugdivision waren mit drei Tagen Mittelarrest bestraft worden, weil sie über Urlaub geblieben waren, usw. Ein Passus verbot die Veröffentlichung von Soldatenbriefen. »Das gilt besonders unserem Schriftsteller«, sagte der Steuermann, auf mich deutend.

Nachdem ich eine Zeitlang ergebnislos eine Angel ausgeworfen hatte, spielte ich ausnahmsweise einmal mit den Matrosen Karten, aber so intensiv, daß ich nachts träumte, wir wären auf eine Mine gelaufen und in die Luft geflogen, spielten aber trotzdem immer weiter Karten. Den Gedanken, auf eine Mine zu geraten, malten wir uns auch in wachem Zustand oft aus, er lag ja so nahe wie die Minen selbst. Viel Ruhm war bei unserer Sperrfahrzeugdivision – wie bei all den winzigen Booten, die mit Minen zu tun hatten – nicht zu ernten. Wer in die Luft flog, konnte meistens nichts mehr erzählen, und wer nicht flog, hatte nichts Kriegerisches zu berichten; denn mit dem Feinde ins Gefecht zu kommen, war nicht unsere Aufgabe, im Gegenteil, wir hätten dabei sehr schnell sehr schlecht abgeschnitten.

Der Signalgast schenkte mir eine neuste Zeitung. »Oh! was wird nicht alles zusammengelogen«, hatte er oder ein anderer darauf geschrieben. Dieser Signalgast war ein Drückeberger, aber ein flinker, geschmeidiger, Bursche. Ein »Schlenkpäkchen«, nannten wir solche Leute, die in allem eine gewisse Gerissenheit hatten und sich, obwohl nachlässig, doch mit einem scharmanten Schmiß kleideten. Dieser Signalgast trug seinen Mützendeckel schief, hatte ein schräges Gesicht und schöne Tätowierungen. Er war mir sympathischer, als ich bei seinem fragwürdigen Charakter mir anmerken lassen durfte. Ja, was ward nicht alles zusammengelogen, und wie wirr wurden dadurch die verschiedenen, unorientierten Meinungen verschoben. Was in den Briefen stand, die aus der Heimat an uns – oder nur von mir zu reden – an mich gelangten, klang oft so ärgerlich unecht. Da wurde ich wegen der mir drohenden Gefahren beklagt, da wurde von furchtbaren Völkermorden und vom Haß gegen England gesprochen. Wieviel trauriger fand ich die kleinen Falschheiten, Schmeicheleien und Eifersüchteleien unter uns selber. Wir Seeleute haßten die Engländer nicht. Wir hatten früher in scharfer, aber ehrlicher Konkurrenz mit ihnen gestanden, und jetzt suchten wir sie selbstverständlich soviel als möglich zu schädigen, aber wir achteten sie, und soviel bekannt ward, bezeugten wir den Gefangenen oder Schiffbrüchigen dieselbe Ritterlichkeit und Hilfsbereitschaft, die die Engländer uns gegenüber bewiesen. Hüben wie drüben gab es Ausnahmen oder Verkennungen, und die wurden durch Irrtümer entstellt, und aus dem Entstellten machten dann Leichtgläubigkeit oder Verlogenheit etwas folgenschwer Schlimmes.

Das Barometer fiel. Unsere kleinen Schiffchen rollten und jumpten schon toll genug. Das Siegfriedgeschwader passierte uns, aber diese schweren Küstenpanzer, deren Typ längst veraltet war, weil er dem Feinde zu viel Zielfläche bot, trotzten dem Wetter viel leichter als wir.

Die wilde »Blexen« rief mir Erinnerungen an Sturmfahrten auf ähnlichen Kauffahrteischiffen wach; besonders gedachte ich eines kleinen englischen Fischdampfers, auf dem ich als Matrose eine derbe, erlebnisreiche Zeit verlebt hatte. Jetzt galt unsere Besorgnis besonders den Ankerketten, beziehungsweise Schiffstauen. Es war schon verteufelt kalt. Ich wollte mich vor dem Winter abhärten und trug darum noch die Brust frei. Aber wenn ich so neben dem Kommandanten auf der Brücke am Telegraphen stand und durch die geöffneten Klappfenster der heulende Nordwest und von Zeit zu Zeit ein harter Schwall Wasser herein, über uns und in meinen Hemdausschnitt drang, dann war das recht ungemütlich.

Auf den Sturm folgte Nebel, das rechte Wetter für englische Vorstöße. Wir hörten alsbald von Helgoland her heftiges Schießen. Sofort verschwand die Vorpostenkette unserer Schlachtschiffe, die bis zur Weser hin sichtbar waren. Aber sie kehrten enttäuschend bald zurück.

Ein paar Tage später gab es eine Sturmnacht, da hatte »Blexen«, von Wilhelmshaven kommend, in der Dunkelheit den Weg verfehlt und mußte schließlich, nicht wissend wo, vor Anker gehen. Wir schliefen zu Unrecht mit bösem Gewissen, aber mit Recht sehr schnell ein. Ich hatte die erste Wache. Ein Gewitter blitzte über uns. Ein Scheinwerferstrahl – vermutlich vom »Glückauf« – strich über die grollende See und blieb sekundenlang auf uns haften, was auf mich so wirkte, als hätte der Sperrkommandant »Aha!« gerufen. Dann verzogen sich die dunklen Wolken; Blinkfeuer und die Konturen verstreuter Schiffe wurden wahrnehmbar. Dann traten die Sterne deutlich hervor, und in Südsüdost zeigte sich ein langgeschweifter Meteor.

Schon wenige Tage danach erlebten wir vor der Geniusbank einen Sturm, der alle bisherigen an Stärke übertraf, und mit dem, wie wir beobachteten, auch die größten Schiffe schwer zu ringen hatten. Wir steckten an Kette heraus, was wir nur hatten, aber die langen Wellen strafften sie, und dann knackte es unheilvoll. Bei uns an Bord warteten drei erkrankte Matrosen, die an Land zum Arzt sollten. Sie sahen hundselend aus, aber wir konnten sie nicht loswerden; es war unmöglich, sich bei solchem Unwetter einem andern Schiff zu nähern. Wir waren alle käsebleich und ernst. Meer und Himmel schienen ein einziges, wogendes, zischendes, heulendes Grau. Immer wieder waren wir sekundenlang ganz in Wasserwirbel gehüllt. Wir hielten aus. Wir mußten ja aushalten. Wir sangen sogar auf der Brücke und auf Deckswache, obwohl unsere Lieder nicht so leicht fröhlich klangen, wie sie gedacht waren.

Als Sperrschiff hißten wir bei Tag zwei aus Rohr und Draht geflochtene Kegel, bei Nacht große, farbige Laternen. Diese wurden mit Petroleum gespeist. Und sie an Deck bei solchem Sturm und Regen anzuzünden, war ein viele Schachteln Zündhölzer kostendes Kunststück und keine Arbeit für Nervöse.

Es drohte die Gefahr, daß wir auf die Bank trieben. Wir sahen ununterbrochen angestrengt nach allen Seiten aus. Tatsächlich veränderte sich, nach den wenigen Bojen, die wir peilen konnten, unsere Lage merklich. Der Obermaat meldete es dem Kommandanten. Aber dieser lag wie tot in seiner Koje. Nach einiger Zeit ging ich hinunter: »Herr Steuermann, der Anker faßt nicht. Wir treiben den Bojen zu. ›Merkur‹ und ein anderes Boot sind bereits Anker hoch westlich unter Küste gedampft.« Doch der seekranke Steuermann nahm keine Notiz von meinem Bericht und erst, als ich ihm später ein drittes Mal dringend Meldung erstattete, erhob er sich und wankte an Deck. »Bootsmaat Hester, gehen Sie mit an den Anker!« rief er mir mißmutig zu. Wir wanden mit Mühe den Anker hoch, mußten uns dabei mit Armen und Beinen festklammern und feststemmen, um von den wuchtig herüberschlagenden Wassermassen nicht fortgespült zu werden. Das war die Stunde, da man einen Kautabak zu schätzen wußte. Unser tapferer Stuben wurde von einem Brecher gegen die Bordwand gestoßen, als er die Ankertalje außenbords einschäkeln wollte, und wäre, da der Kommandant in seiner Benommenheit bei diesem Manöver volle Kraft fuhr, weggerissen worden, wenn Jessen und ich ihn nicht im letzten Moment noch gefaßt hätten.

»Es ist ja höchste Zeit!« rief mir der Steuermann vorwurfsvoll zu. »Wir sind ja schon dicht vor der Bank!«

»Jawohl«, gab ich gekränkt zurück, »ich habe das auch gemeldet.«

Wir schimpften nun über den Sperrkommandanten, der sich gar nicht um uns zu kümmern schien. Und ohne Order von ihm zu haben, steuerten wir nun, unaufhörlich von mächtigen Brechern erschüttert, Wilhelmshaven zu. Das Wasser stand zwei Fuß hoch an Deck, und darin schwammen Korkwesten, Mützen und Suppentöpfe, rumms nach links und rumms nach rechts. Trotz Ölzeugs waren wir alle bis auf die Haut naß.

Im Fluthafen trafen wir unsere Schwesterboote an, die sich alle selbständig dorthin geflüchtet hatten. Kommandanten und Mannschaften tauschten, vergnügt, in Sicherheit zu sein, ihre Erlebnisse aus. Der Schlepper »Pegu« hatte den Anker verloren und war um Haaresbreite an den Minen vorbeigetrieben. Dem »Mars« war das Geschützpodest zertrümmert; die Kanone hing schief auf der Seite. Bei uns war der Unteroffiziersraum voll Wasser; auch die Koje des Obermaschinistenmaates war zum Aquarium verwandelt, darin sich Tassen, Löffel, Bilder und eine Weckuhr ausgetummelt hatten. Die boshaft Neidischen unter uns freuten sich darüber, denn der Obermaschinistenmaat besaß als einziger ein Federbett. Unsere Hängelampe hing nur mehr an einer Angel. Die eisernen Staken der Topplaterne pendelten in der Luft, unser Geschütz hatte sich gesenkt. Alles tropfte und troff.

Eins von den Lazarettschiffen war aufgelaufen. Im Hafen trieb eine Menge weggeschwemmter voller Bierfässer herum. Es meldeten sich Lotsen bei uns, die nach dem draußengebliebenen Führerschiff gebracht werden wollten. Die Kommandanten schlugen das lachend ab. Vorläufig aßen wir erst einmal ordentlich zu Mittag; und besprachen dabei, wie die Löwen schlingend, hübsch biergemütlich den überstandenen Äquinoktialsturm. Dem Obermaschinistenmaat waren zwei fremde Fässer Bier an den Fingern kleben geblieben, so fühlten wir uns bald für alle Strapazen reichlich entschädigt. Natürlich gab es nun Arbeit genug, das Verwüstete wieder aufzuklaren. So war mein Gewehr zum Beispiel, das ich noch vor drei Tagen gereinigt und dick mit Vaseline und Margarine eingeschmiert hatte, völlig verrostet. Nachmittags legte ich mich in nassen Kleidern in mein nasses Bett, deckte mich mit dem nassen Ölmantel zu und schlief, während von oben permanent Wasser auf mich tropfte, wie gestorben. An solches nasses Schlafen waren wir gewöhnt. Aber daß es nicht immer ohne Folgen blieb, war vielen von uns anzusehen, so dem hohlwangigen Maschinistenmaat und auch Eichmüller. Bei mir meldete sich auch sofort wieder der Husten. Im übrigen war ich aber eine lange gegerbte, zähe Haut.

Was alle Boote gefürchtet hatten, traf nur für unsere besonders kleine »Blexen« ein. Wir mußten wieder hinaus.

Da ich auf der Brücke stand, hörte ich die Gespräche zwischen Lotsen und Kommandanten, die aktueller und glaubwürdiger klangen, als das Gewäsch der Mannschaften. Danach sollte eine Granate auf »Frauenlob« mitschiffs eingedrungen sein, zwei Leute zerquetscht haben und, ohne zu explodieren, auf demselben Wege, wie sie gekommen, auch wieder herausgeflogen sein. Hm! Hm! – »Eichmüller«, sagte ich zu diesem, »merke dir: es ist viel klüger, sich mit sich selbst als sich mit andern zu unterhalten.« Mein aufgezwungener Mitwachgänger nickte stur, rülpste und sagte: »Ja.«

Es gelang uns, mittels Wurfleinen Proviantkisten und Postsäcke auf »Glückauf« zu befördern und selbst Sendungen zu übernehmen. Wir erhielten Befehl, ins Emdener Fahrwasser zu dampfen. Leicht gesagt und schwer getan. Finsternis herrschte. Durch den peitschenden Regen einerseits und die Maschinenwärme andererseits liefen die Fenster des Ruderhauses und die Kompaßscheibe immer wieder an. Auf der Brücke war es für vier Personen hinderlich eng. Loten! – Elf Meter – Volle Kraft – Stop – Rückwärts – Acht Meter – Langsam – Die Lampen anzünden! Dafür war ich verantwortlich. Es mußte schnell und nach außen nicht sichtbar geschehen. Aber diesmal ging alles schief. Das Öl brannte schlecht. Ein Glaszylinder nach dem andern ging entzwei. Der Sturm oder die überspritzenden Seen löschten das eben Entzündete wieder aus. Dann hatte ich wieder die Streichhölzer verlegt und stieß mich, im Dunkeln tappend, an einem Bolzen, und dabei trug uns das Schiff ruhelos bald himmelwärts, bald schwindelnd talab. Kommandos unterbrachen die Arbeit. Klar zum Ankern! – Fall Anker – Fünfzehn Faden Kette – vier Meter Tiefe – Ruder zehn Grad Backbord! Auf das Landblinkfeuer zu – Mehr Steuerbord – Boje voraus! –

Endlich lagen wir gut. Ich warf mich erschöpft in einem noch etwas trockenen Winkel nieder, neben mir der Kommandant. Er gab mir noch einige dienstliche Instruktionen und schloß mit dem Seufzer: »Das ist ein Leben!« – »Ja«, antwortete ich, »und wenn der Krieg zu Ende ist, haben wir nichts vom Feind gemerkt, und man sieht uns scheel an.« – »Nein, Hester«, erwiderte er, »wir haben das Unsrige –« Wahrscheinlich wollte er noch »getan« sagen, aber er schlief schon. In diesem Augenblick rief die Wache, daß wir trieben und wieder auf elf Meter ins Fahrwasser geraten wären. Also alle Mann an Deck, Kette einholen und neues Suchen und neue Manöver. Weil ich Mittelwache hatte, schickte mich der Kommandant zur Koje. Er duldete auch nicht, daß ich freiwillig an Deck blieb. Bevor ich mich hinlegte, schrieb ich noch bei einem Lichtschimmerchen Tagebuch. Neben mir phantasierte Jessen im Schlaf. Er hielt dänische Reden, die mir, ich weiß nicht warum, sehr deutschfeindlich vorkamen.

So fuhren wir Tag für Tag, auch sonntags und nachts, im Regen und Wind. Die Kriegsflagge an der Gaffel war zerfetzt und vom Ruß geschwärzt wie die Pulverflagge. Meine Seestiefel verloren durch das künstliche Trocknen und wieder Naßwerden und wieder Trocknen ihre Fasson und waren auch nicht durch Tran mehr zu erweichen, so daß sie mir die Füße blutig scheuerten. Nachts fröstelte einem. An Land kamen wir nur selten. Unsere »Blexen« war so leck und beschädigt, daß wir die Hoffnung hegten, bald einmal zwecks Reparatur in die Werft zu kommen. Nachts im Ruderhaus war ich, allein für mich, am glücklichsten. Da konnte ich grübeln und schreiben und lesen. Ich hatte mir eine Beleuchtung konstruiert, die, von außen nicht bemerkbar, nur mein Notizbuch oder die Zeitung beleuchtete. Die Briefe, die ich schrieb, strotzten, wie ich erfuhr, von Schreibfehlern. Aber sie waren auch immer in Eile und Müdigkeit geschrieben, vielleicht verdarb auch das seltsame Gemisch von Seemanssprache, Plattdeutsch und anderen Dialekten, das wir an Bord redeten, die Orthographie. Auf dem Ruderhaus lag eine rote Rakete, die auf besondere Weise zu entzünden war. Sie sollte losgelassen werden, wenn wir ein feindliches Schiff bemerkten, und sie hätte dann die ganze Küste alarmiert, die sofort in langen Strichen Schrappnellfeuer eröffnet hätte. Uns wurde nie klar, auf welche Weise dann unsere eigenen Boote von diesem Schrappnellfeuer verschont geblieben wären.

Es kamen wieder ruhige und sonnige Tage. Im Wasser trieben Wrackstücke und Teile von Schiffsladungen. Besonders große Balken, die einerseits eine Gefahr für die Schiffe und andererseits wertvolles Holz waren, fischten wir heraus, eine der angenehmeren Abwechslungen, zu denen auch das Übungsschießen mit der Kanone oder mit Gewehren nach einer schwimmenden Scheibe gehörte.

Ich bekam wieder Pakete von Haus und von Maulwurf und von Eichhörnchen. Das Eßbare teilte ich mit allen. Die Pulswärmer schenkte ich Stüben, und mit den verwelkten Sträußen und mit der Fotografie meines Schwagers Hermann, der als feldgrauer Offizier ritt, schmückte ich meine Kojenwand.

Vor dem Kriege hatte ich mir wenig aus Süßigkeiten gemacht, jetzt war das ganz anders. Wenn ich an Land kam, schwelgte ich in Schlagsahne und Zwetschgenkuchen, und an Bord erfand ich mir eine Art Bonbons aus Kakao, Hoffmannstropfen und Migränezucker.

Kleine Zwischenfälle gab es immer. Durch Schuld des Lotsen rannten wir eine Dampfpinasse an, deren Wert wir auf fünfzigtausend Mark schätzten. Wir hatten mit einem Scheibenfloß Verdruß, das wir einschleppten, das aber von der Strömung unter unser Boot gerissen wurde, wobei Jessen beinahe ums Leben kam. Wir kamen so nach und nach beinahe alle einmal beinahe ums Leben. Ein Doppeldecker flog über uns und ging dann im schönen Gleitflug aufs Wasser nieder; das war doch eine ganz andere Waffe als unsere langweiligen Sperrfahrzeuge oder die von den übrigen Marinern das »Filzlausgeschwader« genannten Suchboote. Wir beneideten auch die tapfere Infanterie, die schneidige Kavallerie, die heldenhaften Pioniere. Wir, oder wenigstens ein Teil von uns, beneideten alle anderen Waffengattungen.

Abends in Wilhelmshaven schossen wir wie losgelassene Eber an Land. Ich las – das tat man schon allgemein so – zwischen den Zeitungszeilen. Die »Möwe« war gesunken. Reims war wieder in französischen Händen. Als ich nachts zurückkam, hatte ich gehörig einen in der Krone. Ich sprach eine hübsche Dame, die aus einem Parterrefenster schaute, so an: »Auf wen warten Sie? Sind Sie verheiratet? Haben Sie Blumen gern?«

Da inzwischen Ebbe eingetreten war, lag »Blexen« jetzt so tief unter der Mole, daß ich nur mit Hilfe einer Leiter an Bord gelangen konnte, was bei meinem Zustand sehr langsam gelang. Unterwegs, also mitten auf der steilen Leiter, fiel mir ein Auftrag ein, den mir der Kommandant schon vor einer Woche erteilt und den ich immer wieder vergessen hatte. Ich sollte feststellen, ob die Matrosen Sturm und Schulz katholisch oder protestantisch wären. Ich rief nun laut den Sturm und den Schulz, und sie kamen, waren aber auch so bezecht, daß wir uns absolut nicht verstanden. Sturm meinte, er sollte das Abendmahl bekommen und forschte immer nach dem Becher.

Nach dem Malheur mit der Dampfpinasse überstrichen wir jetzt heimlich den am Bug in goldenen Lettern prangenden Namen »Blexen« mit schwarzer Farbe, damit wir in künftigen ähnlichen Fällen uns unerkannt aus dem Staube machen könnten. Um die Matrosen etwas zu entlasten, teilten wir Unteroffiziere uns freiwillig in die nächtlichen Hafenwachen. Neben mir lag zufällig der Dampfer »Hansa«, der seinerzeit im Frieden den Dampfer »Primus« mit fünfhundert Passagieren zum Sinken gebracht hatte. Jetzt war die »Hansa« Lazarettschiff, und der Posten davor erzählte mir, daß alle Wilhelmshavener Krankenhäuser überfüllt wären.

Auf dem Marktplatz erkannte ich am nächsten Morgen vor einer Blumenbude die Dame, die ich nachts angesprochen hatte. Ich kaufte ihr ein Sträußchen und sagte: »Merken Sie nun, warum ich Sie gestern gefragt habe, ob Sie Blumen gern haben?« Pfeiffer traf ich an, wie er in hellster Freude seine feldgraue Ausrüstung betrachtete, mit der er anderntags gleich vielen anderen der dort in der Kaserne herumlungernden Matrosen nach Belgien abrücken sollte. Außerdem war er zum Obermaaten befördert worden, wohl seiner unerschütterlichen Ruhe wegen, die als »Gesetztheit« geschätzt wurde. Ich eilte auf seinen Rat hin sofort zum Personalbüro A und bat ebenfalls um Beförderung zum Obermaaten, was nämlich mit einer geringen Erhöhung meiner geringen Löhnung verbunden gewesen wäre. Es hieß, ich sollte mich dieserhalb an meinen Kommandanten wenden. Da ich das ohne besondere Begründung nicht konnte, nun aber einmal auf dem Büro war, bat ich, wenigstens auf ein größeres, ins direkte Gefecht kommende Schiff versetzt zu werden. Mein Name wurde vornotiert. Er war schon oft vornotiert.

Auslaufend geriet »Blexen« einer heimkehrenden T-Flottille in die Quere. Der Chef des Führerbootes stellte erzürnt den Namen unseres Kommandanten fest. Der war ziemlich bedrückt. Nach unsrer aller Ansicht traf ihn zwar kein Verschulden, aber er würde doch eine Zigarre vom Sperrkommandanten bekommen, denn er war kein Redner und verstand es nicht, sein Recht und unsere Rechte zu verteidigen.

Unsere arme »Blexen« als kleinstes Schiffchen mit seinem guten, anständigen Kommandanten wurde immer als Mädchen für alles und für alle ausgenutzt. Wir wurden bei hoher Dünung von Boot zu Boot geschickt, mußten dann auf einem verankerten Scheibenfloß die Leinwand reparieren, und als wir das, mit nackten Füßen auf dem nassen Holz hin und her glitschend, mühselig erledigt hatten, geriet hinterher das Floß in unsere Schiffsschraube und wurde in Splitter und Fetzen zermahlen. Und der Steuermann holte sich auf »Glückauf« seine »dicke Zigarre«, und wir wurden – es war ein freier Sonntag – mit Zimmerleuten nach Wilhelmshaven gesandt, um ein neues Floß dort herzustellen. Zwar halfen wir uns, indem wir im Hafen ein fertiges, nagelneues, irgendwo angeschlossenes Floß mit List und Kraft stahlen, und um die Zeit der Selbstherstellung vorzutäuschen, durften wir nun sogar noch drei Stunden an Land gehen.

Bei jedem Tod- und Teufelwetter schickte der Sperrkommandant unsere Nußschale herum, daß sogar die Lotsen manchmal den Kopf schüttelten. Wir mußten alle losen Dinge festbinden, Bö über Bö, Brecher über Brecher drangen auf uns ein, bis unsere derben Hände von der Nässe waschfrauenweich wurden und unsere Bärte mit einer Salzschicht bedeckt waren. Schon hatte der Sturm unsere Kriegsflagge und unsere Mützenbänder um ein Drittel ausgefranst. Dem Sperrkommandanten bereitete es eine offensichtliche Freude, Herrn Kaiser besonders schwierige Aufträge zu geben, denen »Blexen« eigentlich nicht gewachsen war. Er sträubte sich auch zähe dagegen, unser Schiff in die Werft zu entlassen, obwohl ihm gemeldet war, daß sich eine Stahlleine in dessen Schraube verwickelt hatte.

Es gab Strapazen, Verwickelungen, Enttäuschungen, Entbehrungen, Überraschungen, Freuden und Genüsse in Duodez.

Dafür, daß uns alle möglichen Aufträge schikanös aufgehalst wurden, entschädigten wir Mannschaften uns wenigstens insofern, als wir gelegentlich das eine oder andere Nützliche für uns stahlen, eine Leberwurst aus einer Massenproviantsendung oder ein gut verwendbares Brett oder einen Topf Farbe.

Es zog schauderhaft im Unteroffiziersraum; durch einen Ventilator blies mir der Wind nachts gerade auf die Schulter. Ich bekam Rheuma und Zahnschmerzen.

Eine Serie Taschentücher ward mir weggeweht, und daß Dichten nicht zum Hosenflicken paßt, merkte ich zu spät, nachdem ich meine Hose versehentlich nach außen gesäumt hatte.

Wenn ich von Zeit zu Zeit endlich wieder einmal an Land kam, fühlte ich mich einsam. Da war kein Mädchen, kein Freund, kein einigermaßen gütiger Mensch zu finden, kein Theater, kein Konzert, und ich freute mich beinahe dann, wieder in das enge Einfamilienhaus »Blexen« und in Regen, Sturm, Nässe, Kälte hinauszukommen.

Schöne Nacht. Der Komet stand noch immer am Himmel. Am Horizont stiegen weiße, rote und grüne Raketen auf. An Backbord und dem Eisendeck dröhnten Eichmüllers schlapsige Tritte, und an Steuerbord hörte man einen Heizer den Koch anlügen. Ich betrachtete im Ruderhaus ein brennendes Restchen Kerze; die oberste Stearinfläche mit ihren weißen Stalakmiten und Vertiefungen glich einer Polarlandschaft in Miniatur.

Wir brachten die stolze Botschaft von Land, daß U 9 drei englische Panzerkreuzer in Grund gebohrt hätte. Und am nächsten Mittag fuhr U 9 an uns vorüber. Der Kommandant von »Seeadler« ließ seine und unsere Mannschaften antreten, und wir brachten dem siegreichen Unterseeboot drei Hurras aus, die von drüben erwidert wurden. Auch die großen Schiffe empfingen das U-Boot mit Hurras und mit Musik, und wir sahen durch die Ferngläser, wie Admiral Lanz in einer Pinasse vom Flaggschiff nach U 9 fuhr und jedem Mann die Hand drückte. Ich pfropfte mir dabei das Maul mit Quarkkuchen voll, den ich in einem Liebespaket vorgefunden hatte. Aber er schmeckte mir nicht, ich war ganz krank vor Neid. Auch Lektüre hatte ich erhalten, so die Seeschlacht bei Tsushima, ferner »Jena oder Sedan«, ein Buch, gegen das ich voreingenommen war und das ich vorläufig einmal mit Steuermann Kaiser gegen ein Buch über den Kronprinzen eintauschte.

Der Obermaschinistenmaat erzählte eine wahre Geschichte aus seinem Vaterhause. Er hatte ein gefülltes Waschbecken in die Klosettöffnung gesetzt, das dort genau hineinpaßte, damit sich sein Bruder in der Dunkelheit hineinplazieren sollte. Und dann hatte sich aber statt des Bruders die alte Mutter des Obermaschinistenmaates in die Nässe vertieft.

Jessens Lieblingsbeschäftigung war das Deckwaschen. Wir packten ihm heimlich den Wasserschlauch in sein Bett.

Ich ging beim Mondschein sechs Kilometer weit spazieren, das heißt: hin und her auf dem schwankenden Deck, was ich infolge meiner krummen Beine vorzüglich konnte. Die Wolken bildeten eine Laokoon-Gruppe. – »Sieh mal, Jessen, diese Kerls mit Riesenschlangen. Und gestern der große Regenbogen am Himmel wie ein Tor. Kannst du dir vorstellen, daß durch dieses Tor die Kriegsgefallenen ziehen nach dem Kometen oder nach dem Monde?«

»Nee.« Jessen grinste.

»Jessen, siehst du gar nicht, wie verschieden und immer schön die Meereslandschaften sind, die uns stündlich umgeben? Oder die Möwen, die so vornehm fremd kreisen, sich plötzlich mit stillen Flügeln vom Winde weit abtragen lassen oder bis dicht über die Wasserfläche abstürzen; um, im letzten Moment schon wieder aufflatternd, einen Bissen aus den Wellen zu erhaschen? Diese Möwen, die, auf dem Wasser schaukelnd, von der Sonne beleuchtet, wie Lichter strahlen?«

»Das ist sehr schön«, sagte Jessen und griff nach dem Wasserschlauch, »aber ein Schnaps wäre mir jetzt lieber.«

»Mir auch«, gestand ich.

Der Dienstmannmatrose riet mir, doch einmal etwas auf Weddigen zu dichten, und als ich nach kurzer Zeit aufsagte:

Hört, was ich Frohes singe:
Juchhei!
Der Kapitänleutnant Weddigen
Schien gar nicht mehr zu sättigen,
Sprach: Aller guten Dinge
Sind drei.

Da gewann ich sehr an Respekt und mußte das allen aufschreiben.

Im Kettenbunker, wo auch der eiserne Bestand an Proviant lag, war eine Ratte beobachtet worden. Wir pumpten den ganzen Raum voll Wasser, und da mußte das arme Vieh schließlich heraus und wurde unter wildem Gejohle jämmerlich erschlagen.

Die Löhnung war ausbezahlt worden. Der lustige Heizer Tünnes zeterte laut, weil er das Geld hier auf See nicht an den Mann bringen könnte. Auf Befehl wurde eine Kollekte zugunsten des Roten Kreuzes veranstaltet.

Auf dem Lokus wurde ich, als ich Hindenburgs neueste Siege las, hinterrücks von einer Woge besiegt. Zum Abendessen blieben die versprochenen Kartoffelpuffer aus, weil das Wasser einen halben Meter hoch in der Küche stand und zweimal das Feuer ausgelöscht hatte. Die Lotsenflagge war in der Takelage verwickelt. Eichmüller kletterte empor. Das Stag brach. Eichmüller stürzte herab, blieb aber unverletzt. Er kletterte nun auf die Brüstung des Signalstandes. Das Schiff legte sich über. Eichmüller wäre in die Binsen gegangen, wenn ich ihn nicht noch glücklich aufgefangen hätte. Ich rief dem Signalgast zu, er sollte am Mast hochklettern, aber er weigerte sich feig. Da enterte ich selbst hoch und klarierte die Flagge. Der Steuermann hatte den Vorfall bemerkt und schalt auf den Signalgast: »Wie können Sie sich weigern! Wissen Sie nicht, wie Achtungsverletzung im Kriege bestraft wird? Und schämen Sie sich nicht, als Seemann so bange zu sein, daß ein alter Bootsmaat Ihnen was vormachen muß?«

Ich hatte ein früher einmal von mir verfaßtes Novellenbuch besorgt und es dem Kommandanten geschenkt. Nun ärgerte ich mich, weil ich das aus Eitelkeit getan hatte.

Das nächste Mal an Land begegnete ich unserem Heizer Tünnes und dem Koch. Letzterer war im Unterhemd, das Oberhemd hatte er verkauft. Die beiden sangen mitten auf der belebten Straße laut und betrunken »Der Papst lebt herrlich in der Welt«. Sie grüßten aber militärisch korrekt, und als ich ihnen zulächelte, kam Tünnes auf mich zu und verehrte mir seinen rheinisch-blonden Voll- und Schnurrbart, den er sich soeben hatte abnehmen lassen und eigentlich seiner Braut senden wollte. Ich lud eine Dame in ein Café ein, bekam aber den typisch Wilhelmshavener Korb. »Ich mit einem Kuli?« Als ich mit Wurstpaketen und mit der Nachricht, Antwerpen sei gefallen, wieder an der Nassau-Brücke eintraf, war mein Schiff weg. Vom andern Ufer rief mir jemand zu: »Blexen« sollte außer Dienst stellen und sei deshalb in die Werft eingelaufen. Wir bekämen ein neues Schiff. Neu war immer erfreulich.

Auf tausend Irrwegen, mit tausend Fragen, über tausend Büros, Beamte und Arbeiter entdeckte ich endlich in einem Mastenwald »Blexen« neben einem großen Seeschlepper »Vulkan«. Diesen Seeschlepper sollten wir übernehmen. Meine Kameraden waren bereits eifrig im Gange, das Inventar und unsere Privatsachen hinüberzubringen. »Vulkans« Zivilbesatzung wurde mit Fragen bestürmt. Wie läuft das Schiff? Leckt es in den Kojen? Habt ihr Wanzen an Bord? Es war ja für uns eine bedeutungsvolle Sache, ein Schiff aufzugeben und ein neues zu beziehen. Wo werde ich schlafen, fragte jeder, und jeder sah sich das Material und die Räumlichkeit für seine Sonderbestimmung an. Hier war natürlich alles besser. Hier waren drei Zylinder in der Maschine. Hier waren eine Kommandobrücke und oben eine Lotsenkajüte und achtern ein großer Salon mit plüschgepolsterten Bänken, das würde unser Unteroffiziersraum werden. Daneben eine bequeme Kabine für den Steuermann, eine Pantry für den Koch, zwei Klosetts, davon eins für Munition und Segeltuch, und für mich eine Lampenkammer. Unter Deck gab es einen Raum für Trossen und schweres Takelwerk; es war sogar ein Rettungsboot vorhanden. Ja, mit diesem Schlepper würden wir getrost um Kap Horn fahren. Jeder von uns fühlte sich in ein Paradies versetzt. Wir Unteroffiziere feierten das nachts in einer Spelunke, um eine gemeinsame Braut herum, Anni, die Vulkangöttin genannt.

So ideal, wie wir die Platzverteilung uns ausgemalt hatten, kam es nun aber nicht. Es gab Enttäuschungen und Brummen und Murren, obwohl wir eigentlich Ursache hatten, recht dankbar zu sein. Ich kam mit Jessen in eine Kabine, die etwa vier Quadratmeter maß. Er, als Älterer, bekam die richtige Koje; ich schlief auf einer kurzen Plüschbank, und meine darüber hinausragenden Beine mußte ich in eine Art offenen Kasten stecken. Dafür wurde ich durch ein Kommodenfach entschädigt. Wenn ich das Kommodenfach herausziehen wollte, mußte Jessen erst an Deck gehen. Wenn Jessen ins Bett kroch, mußte ich mich ganz platt an die Wand drücken. Beim ersten großen Reinigen gab es beglückende Funde, absichtlich oder versehentlich zurückgelassene Gegenstände in Winkeln und Spinden; Teller, Löffel, ein Kalender, ein Kleiderbügel, ein Kamm. Das war wie im Märchenland. Besonders Flaschen wurden geradezu erregt hervorgezogen, dann unter allgemeiner Spannung berochen. Gilka stand darauf. Und Leinöl war darin. Der Heizer Tünnes trank alle Flaschen ungeprüft aus. Ich hatte das Glück, Rizinus-Öl zu erwischen, damit wollte ich meine Seestiefel weich machen.

Neben uns, leer, zerschrammt, zerschunden und verbeult, lag unsere »Blexen«. Sie sollte nach einer Emdener Minensuch-Division gehen, aber der Oberleutnant, der sie dorthin bringen sollte, weigerte sich, das gebrechliche Fahrzeug zu übernehmen. Wir hatten Leute unter uns, die schon in Zivil und als Schiffer solche Fahrzeuge wie »Blexen« und »Vulkan« gefahren hatten. So konnten wir ungefähr berechnen, welche Unsummen das Chartern, Indienststellen und Außerdienststellen es den Staat kosten würde und welche Verwirrungen zu Friedensschluß bei Zurückgabe der Boote entstehen mußten. Jessen hatte Geburtstag. Ich weckte verabredetermaßen die Matrosen, und wir brachten ihm, den Wasserschlauch in der Hand, eine Ovation.

Noch ein letztes Mal sahen wir »Blexen«, von fremden Matrosen hinausbugsiert. Ich stellte traurige Betrachtungen an, und dabei ward mir etwas anderes klar, nämlich, daß sich alle Schiffe und alle echten Seeleute entzaubern, bevor sie in ihren Hafen zurückkehren.

Der Obermaschinistenmaat war an Land gegangen, um sich von der »Vulkan«-Braut zu verabschieden. Außerdem besorgte er unsere Post. Für mich war eine Bierkarte mit Unterschrift von Max Halbe, und Süßigkeiten vom Pazifisten Quidde dabei, ferner eine neue Pfeife, die ich Apollo benamste.

»Vulkan« lief aus, lief zirka zwölf Seemeilen. Eine allgemeine Nervosität lag auf uns. Jeder war jemandem böse, ich dem Kommandanten, der mich, als er das merkte, zu einem Schnaps einlud.

So ging's, so geht's. Bald waren wir auf dem großen »Vulkan« unzufriedener als auf der kleinen »Blexen«.

Es schien, als wäre der Kommandant ein anderer geworden. Er aß nicht mehr mit uns gemeinsam, sondern in seinem Salon, hatte sich ein eigenes Klosett reserviert, was uns sehr beleidigte, und schlug auf einmal einen strengeren Befehlston an.

Als wir uns von den Dukdalben an der Mole die Pfahlmuscheln absammelten, die ein gutes Gericht mit Zwiebelsoße gaben, kam ich mit einem Heizer ins Gespräch. »Böttger heißen Sie?« fragte ich. »Leben Ihre Eltern in Kurland?«

»Ja«, antwortete er, »woher kennen Sie die?«

»Ich saß einmal vor mehreren Jahren in Riga in einem Eisenbahnzug zwischen lauter Russen. Neben mir ließ sich schweigend ein älteres Ehepaar nieder. Das war in der Nacht vom Dezember auf Januar. Ich wußte, daß der Zug Punkt zwölf Uhr abfahren mußte. Das war, nach deutscher Zeit gerechnet, die Silvesterstunde. Als nun die Bahn sich in Bewegung setzte, da hätte ich aus einem Gefühl von Einsamkeit und Heimweh heraus so gern laut ›Prost Neujahr‹ gerufen. In diesem Moment küßte der schweigsame Herr die schweigsame Dame und sagte leise und innig: ›Gutes neues Jahr!‹ Da wurde ich mit ihnen bekannt und habe sie später oft besucht.«

Einmal weckte mich der Koch mit folgendem Geflüster: »Bootsmaat, Feuer an Bord –« Wirklich, die Kombüse brannte, aber wir löschten das Feuer rasch. Die See war spiegelglatt, nur als die ›Pillau‹ in voller Fahrt vorüberdampfte, rüttelte uns ihre Bugwelle hoch. Es war so, als hätte ein vorbeirennender Mann uns einen Stoß mit dem Ellbogen versetzt und dabei gerufen: »Platz da, ihr Faulenzer, ich hab Wichtiges vor!«

Mutter hatte mir meine Mandoline gesandt. Ich konnte nur wenige Lieder darauf klimpern, jetzt, mit meinen steifen Arbeitsfingern ging's noch schlechter. Auch hatte das Instrument einen Sprung bekommen, aber es zierte unsere Kabine, und auf einem der bunten Bänder war von Maulwurf ein Maulwurf eingestickt. Und dann spielte ich, die Matrosen sangen dazu, unser Leiblied »Seemannslos« von Adolf Martell. Wer mochte wohl dieser Martell sein, lebte er noch? Ahnte er, wie populär dieses Lied geworden war?

Erna Krall schrieb mir über ihre Tätigkeit als Krankenschwester; sie beklagte sich über ihre Großmutter, die sie immer schon um zehn Uhr zu Bett schickte. Ach hätte ich doch eine Großmutter, die mich um zehn Uhr zu Bett schickte.

Ins Tagebuch notierte ich mir: Jessen. Sehr eifrig. Bastelt zu jeder Tageszeit an Deck herum und schielt dabei häufig nach der Brücke, ob man's bemerkt. Nach einem Malheur aus dem Wasser gezogen, sah er aus wie ein Seehund, der gleich niesen wird. – – – Obermaat Eibel trägt immer eine Bartbinde und ein schlechtes Gewissen, was er durch gelegentliche Anfälle von Arbeitswut verbergen möchte. »Kann ich Ihnen helfen?« fragt er dann, und wenn man »Ja« antwortet, entfernt er sich eilig.

Maschinistenmaat Witzmann, kleinlicher, pedantischer Spießer, spricht Sächsisch und hat eine Heidenangst davor, daß wir auf das zirka achtzig Meter von uns entfernte Minenfeld geraten könnten. Ich überbringe ihm immer eiligst, was ich von Explosionsunfällen in der Stadt oder vom Lotsen höre. – – – Der hohe Sperrkommandant, Kapitänleutnant Rusch, schlank, ruhig, mit einem ewigen maliziösen Lächeln im Gesicht, ununterbrochen streng. – – – Obermaschinistenmaat Schaffrot, sehr geschickter Techniker, lustig, derb, unvornehm, ungebildet. – – – Matrose Stüben, rothaarig und dick, sieht aus wie ein Riesenschweinchen, ist aber unser bester und zuverlässigster Seemann. – – –

Auch auf »Vulkan« leckten die Kojen und schlossen die Bullaugen schlecht. Ich war Tag und Nacht naß; mir hätten Flossen wachsen können.

Der Kommandant vom Fahrzeug »Rote Sand« war so unbeliebt, daß wir uns laut amüsierten, als sein Boot mit einem Fischdampfer kollidierte und sich dabei den Steuerbordbug eindrückte. Doch kamen bei allen anderen Booten ebenfalls von Zeit zu Zeit mehr oder weniger schlimme Zusammenstöße vor, was jedesmal ein langes Nachspiel von Zank und Verdruß hatte.

Es zirkulierte eine Liste, jeder sollte eintragen, was er an Schuhwerk und Kleidungsstücken notwendig brauchte. Ich schrieb nur hin »Zwei Obermaatenabzeichen« und unterstrich das »Ober«, um den Wink noch deutlicher zu machen.

»Bootsmaat«, brummte Eichmüller nachts auf Wache, »dort ist ein Licht.« Ich folgte seinem Finger und sagte dann: »Nein, das ist Meeresphosphor.« Schweigend gingen wir weiter, jeder auf seiner Seite, mit gleichmäßigen schnellen Schritten und in unförmige Wachmäntel gehüllt. »Eichmüller«, sagte ich nach einer Weile, »hast du die Schüsse gehört?«

»Das ist der Dienstmann«, erklärte Eichmüller gähnend, »der klopft auf den Tisch; die spielen unten Karten.« Darauf wurde ich zum Steuermann gerufen. Der sagte: »Ich habe eine Meldung über Sie gemacht«, und schob mir ein Schriftstück hin. Ich las: »Ich halte den Bootsmaat Hester für geeignet zur Beförderung ... K. Kaiser.« Ich dankte militärisch, strahlte Glück und empfing noch eine Zigarette und Befehle. So kam ich wieder an Deck. Es war eine kalte Nacht. Am Mast schlug das Tauwerk, und an die Schiffswand planschte, rauschte und zischte das Wasser. Aber mir war wohl zumut, und in dieser Stimmung redete ich immer aufs neue auf Eichmüller ein, obwohl ich klüger getan hätte, meine Worte an ein Waschfaß oder an ein Dampfrohr zu richten. »Denke dir: Portugal geht nun auch gegen uns. Das wäre ja an sich nicht schlimm, aber es liegen noch etwa 200 deutsche Schiffe in portugiesischen Häfen.« Um zwei Uhr wurde ich abgelöst. Der mürrisch Ablösende kam mit den gotteslästerlichsten Flüchen auf Krieg und Seefahrt an Deck. Ich vergnügter Abgelöster tröstete ihn: »Laß gut sein! Im April singen wir unser altes Reservistenlied

Zum letztenmal hab ich an Bord geschlafen,
Zum letztenmal die Hängematt gezurrt...«

Dann übergab ich die Instruktionen: »Ruder zehn Steuerbord – der Wind dreht, das Schiff wird gleich schwojen – sechs Uhr Dampf auf – sechs Uhr dreißig Wecken – Anruf Dora – Antwort Richard.«

Nach dreizehn Tagen kam ich wieder an Land und hatte mit dem Obermaat Proviant einzukaufen. Wir fuhren im strömenden Regen mit einem geborgten Schlachterwagen in gestrecktem Galopp. Ich hielt eine Tüte im Arm, die, als sie aufweichte, rohe Eier fallen ließ. Der Obermaat hielt Semmeln auf seinem Schoß, die, je nässer sie wurden, desto größer wurden.

Ein Heizer von »Diomedes« war wahnsinnig geworden. Er hatte sich plötzlich geweigert, in den »tiefen« Heizraum zu gehen, war später in der Werft desertiert und – obwohl der Posten auf ihn geschossen hatte – entkommen.

Wenn wir uns auf See amüsierten, dann geschah es mit Kartenspiel, unanständigen Späßen und Schabernack. Schaffrot hatte mir heimlich Salz in den Tee getan. Ich mischte die Barthaare von Tünnes in seinen Tabak. Einmal versuchte ich einen Vorleseabend zu arrangieren und las leichtverständliche Balladen von Münchhausen vor, aber was nützt der Kuh selbst solches Muskat.

Wir sahen viele Seehunde und Schweinsfische. Zugvögel ruhten sich auf uns Insel aus.

Es kamen Nebeltage. Wir mußten dann häufig Torpedoboote heraus oder hereinlotsen, und die Nebelglocke klang den ganzen Tag. Meine kupfernen Lampen, früh geputzt, waren abends schon wieder grünspanig, und ich wünschte mir, so viel Butter zu besitzen, wie ich Putzpomade verbrauchte.

Dann ging ich wieder einmal stundenlang in einer dunklen Nacht Wache. Es war ganz still. Nur in der Rudermaschine knackte, brodelte und klapperte es geheimnisvoll. Schaffrot kam aus der Maschine, und wir setzten einen Suppenwürfel unter Dampf, weil wir nicht Kochgelegenheit hatten. Plötzlich hörten wir ein Platschen im Wasser, klang so, wie wenn ein Hund gegen den Strom paddelt. Gemeinsam fischten wir aus dem Wasser einen abgekämpften, grauen Vogel, etwa so groß wie ein Huhn, ohne Schwimmhäute und mit einem langen geraden Schnabel. Im Nu gerieten wir in Streit, wem das Tier nun gehörte, mir oder Schaffrot. Da dieser aber gerade in die Maschine gerufen wurde, schob ich das erstarrte Tier mit dem Fuß unter einen Stoß an Deck aufgestapelter Bretter, um es nach Beendigung meiner Wache mitzunehmen. »Wo ist der Vogel?« schrie der Obermaat zurückkehrend. »Ich hab ihn wieder über Bord geworfen.« – »Du lügst!« Schaffrot suchte und fand den Vogel und bettete ihn sogleich in seine Koje. Dort erholte er sich innerhalb einer Stunde, war aber derweilen ausgelaufen, so daß Schaffrots Bett durchnäßt war.

Wir wußten alle nicht, was das für ein seltener Vogel war, aber wir tauften ihn Anni in Erinnerung an die »Vulkan«-Braut. Anni wurde in den warmen Maschinenraum gebracht. Dort sprang sie sofort in die Ölbilge. Ein Heizer zog sie heraus und legte die Öltriefende in eine Kiste voll weißer Putzwolle. Diese Kiste verließ sie als Schwan, denn die Putzwolle blieb an dem Öl kleben. Deshalb wurde Anni jetzt mittels Bürste und Seifenwasser abgescheuert, und weil wir Angst hatten, sie möchte wieder in die Bilge fallen, steckten wir sie in eine Rolle Linoleum. Da paßte sie genau hinein, und die Öffnungen vorn und hinten wurden durch Ziegelsteine so versperrt, daß nur der Kopf heraussehen konnte. Versuchsweise stopften wir ihr dann hintereinander Kartoffeln, Leberwurst, Brot und Steckrüben in den Schnabel, was sie aber alles von vorn wiedergab. Abermals freigelassen, jedoch gewissenhaft beaufsichtigt, fand sie dennoch Gelegenheit, in den Kohlenbunker zu entkommen, wo sie, als das Schiff überlegte, verschüttet wurde. Eine Rettungsexpedition grub sie aus. Sie sah sehr schwarz und traurig aus und siechte dahin. Als sie nicht mehr auf den Beinen stehen konnte, warfen wir sie mitleidig ins Feuerloch in die lodernden Flammen.

Wir hatten Anni geliebt und sie war uns eine sehr angenehme Abwechslung in der Monotonie da draußen gewesen. Diese Monotonie mußte Menschen, die wie wir so dicht und primitiv zusammenhausten, verderben. Wir wurden untereinander und zu Untergebenen von Tag zu Tag reizbarer und gehässiger. Man schikanierte von oben bis unten, und das lief wieder zurück wie der Schlag ans Hängetau.

Seit einiger Zeit war der Kommandant plötzlich sehr kühl zu mir. Ich bekam nicht heraus, weshalb.

Der Leutnant von Raichert kam an Bord. Zu mir! Ich sollte ihm innerhalb von drei Tagen ein Potpourrilied auf den Geburtstag des Kommandanten von Sperrschiff »Franz« dichten. Das Lied sollte von der »Glückauf«-Kapelle gespielt und von den Offizieren gesungen werden. Ich erhielt die entsprechenden Unterlagen. Das Geburtstagskind war ein fünfzigjähriger Leutnant, der älteste Leutnant in der Marine.

Ich konnte Herrn von Raichert das nicht abschlagen, aber ich war gerade so verbittert über die Öde des Dienstes, über die ungerechte Verteilung der Arbeit und über das kühle Verhalten des Steuermanns mir gegenüber. So saß ich denn abends müde und gallig in meiner Kabine und quälte mich mit dieser albernen Gelegenheitsdichtung ab. Aber meine zersprungenen Hände taten weh, und dann störte mich Jessen, indem er mir andauernd von der Schweinekartoffel »Präsident Krüger« vorschwärmte. Ich floh in die Lampenkammer, aber dort hockte schon Eichmüller, und der erzählte mir, in seiner nuschelnden, verdrossenen Sprechweise, er habe soeben geträumt, daß der Sperrkommandant für ihn Zeugwäsche gemacht habe. Und ob ich auch Wanzen habe, und ob ich wüßte, daß wir morgen zum Impfen müßten. Und ... und ... und.

Am nächsten Tag brachte ich das Gedicht doch zustande und lieferte es verabredeterweise an unseren Steuermann ab. Er bot mir eine Zigarre an. Da wagte ich die Frage, ob er eigentlich etwas gegen mich habe. Er antwortete nicht, war aber seitdem wieder freundlich zu mir.

Die Flotte war noch immer draußen. Gegen drei Uhr hörten wir lebhaftes Schießen, aber das konnte ja auch Manöver sein. Dann hieß es, ein Torpedoboot sei bei Schillig – also dort, wo »Glückauf« lag – auf unsere eigenen Minen gelaufen. Wir erhielten Befehl, sofort ein Sanitätsschiff durch die Sperre zu lotsen, konnten dann aber in dem dicken Nebel das Schiff nicht finden. Der Auftrag war ernst, es gab infolge unserer Aufregung ein Durcheinander. Dann kam uns der Befehl, langsam nach Schillig zu dampfen und nach treibenden Minen zu suchen, eventuell solche mit unserer Kanone abzuschießen. Geschütz klar. Wir fuhren los. Außer dem unten Dienst versehenden Personal stand alles an Deck, am Bug, auf der Brücke, einige in den Wanten. Wir spähten mit äußerst gespannten Augen in den Nebel. Dauernd wurde die Glocke geschlagen und in Sekundenabständen die Dampfpfeife gezogen, diese dicht hinter mir, so daß bei jedem ihrer stoßenden Töne irgendwelche Häute in meinem Kopf und in meinem Magen vibrierten.

»Da! – Drei Strich an Backbord!« War das eine Mine? – Nein, es war eine Matratze.

Tut! Tut! Kling! Kling! Kling! Von verschiedenen Seiten her erklang jetzt das Heulen von Torpedobootssirenen.

Da! – Wir fischten eine Korkweste auf. Sie war »Glückauf« gezeichnet. Bald darauf eine zweite, die gehörte zu einem Torpedoboot, vermutlich zu dem, das in die Luft geflogen war. Und nun sichteten wir viele schwimmende Korkwesten und Hängematten und ein Buch und Balken und Matratzen. Und das Wasser war von nun an mit einer Ölschicht bedeckt. Wir suchten diese Gegend ab, holten eine Mütze heraus, die ich an mich nahm, und die die Inschrift »S.M.S. Yorck« trug. »Yorck«? »Yorck« war ein großer Kreuzer. Aber Matrosen trugen manchmal noch ihre früheren oder geliehene Mützenbänder. Bald fischten wir weitere Mützen heraus, auf allen stand »Yorck«. Sollte »Yorck« verunglückt sein, das Schiff, auf das ich einmal kommen sollte und damals zu meinem Schmerz nicht kam?

Wir spähten und lauschten und verloren im Nebel die Orientierung, waren selbst in Minengefahr. Endlich tauchte »Glückauf« aus dem Nebel. Zwei Fahrzeuge und Beiboote lagen an seiner Seite. In einem Peilboot sahen wir Menschen an Deck, die nur mit Unterzeug bekleidet oder in Decken gehüllt waren, Gerettete. Wir fuhren längsseit von »Merkur«, auf dessen Deck es von Geretteten wimmelte. Die erzählten uns, die »Yorck« sei um zehn Uhr mit dem Bug auf eine Mine und unmittelbar danach mit dem Heck auf eine zweite Mine gestoßen, habe sich sofort auf die Seite gelegt und darauf ganz umgedreht, kieloberst. Die Matrosen waren gerade klar zum Ankern gewesen, so war es einem Teil gelungen, gegen die Wendung des Schiffes kletternd, sich auf die Kielfläche zu retten, die aus dem Wasser herausragte.

»Merkur« und »Saturn« hatten eine Menge Lebende, Verwundete und Tote aus dem Wasser gezogen. So war auch der Kommandant gerettet, dem es wohl sehr übel zumut sein mochte, zumal er – so erzählte man mir – schon einmal bei Helgoland ein Torpedoboot in Grund gefahren hatte. Auch der erste Offizier war gerettet. Ich sah ihn mit verbundener Hand an Deck stehen, ein jüngerer Offizier machte ihm die Hosenklappe zu.

Die Besatzung der »Yorck« betrug neunhundert Mann. Davon waren schätzungsweise fünfhundert tot – oder –

Bald sahen wir das Wrack aus dem Nebel tauchen, ein gigantischer roter Walfischrücken, auf dem Leute von »Glückauf« und anderen Fahrzeugen kletterten. Die wollten Sprengstoff anbringen, ein Loch in den Rumpf sprengen, in dessen Innern vielleicht trotz der Gase, der Hitze, der Dämpfe und Brände noch Menschen lebten.

»Glückauf« hatte seine Flagge auf Halbmast gesetzt. Spät abends traf eine Werftbarkasse ein mit ernsten graubärtigen Zivilarbeitern, die sich Korkwesten angelegt hatten, und Bergungsgeräte, Schneidemaschinen usw. mitbrachten. »Vulkan« sollte diese Barkasse nach dem Wrack oder doch möglichst in dessen Nähe bringen. Das war nicht ungefährlich, da unser Boot zirka dreieinhalb Meter Tiefgang hatte. »Klarmachen zum Sterben!« rief Tünnes. Aber einige von uns benahmen sich wirklich sehr furchtsam. Obermaat Eibel hielt sich vorsichtig nur auf dem Hinterdeck auf.

Sämtliche herbeigeeilten Kriegsschiffe richteten ihre Scheinwerfer auf das Wrack, das sich in dieser Beleuchtung seltsam romantisch von der Dunkelheit abhob. Über der Gruppe von Arbeitern und Matrosen, die am Kiel arbeiteten, stand ein Lichtgebilde, das einem Regenbogen ähnelte, und die Boote, die von und nach dem Wrack verkehrten, gerieten bald in tiefste Schatten, bald in grellste Helle. In einem dieser Boote saß ein Admiral, daneben der Kommandant der »Yorck«, ein bleicher, verstörter Mann, der unser aller Mitleid erregte. Ein anderes Boot schaffte einen bewußtlosen Mann weg. Der war nicht etwa aus dem Rumpf herausgeholt, wie wir erst dachten, sondern es war ein Arbeiter, der nur einmal hineingeschaut hatte.

»Vulkan« wurde spät noch ausgeschickt, um ein Unterseeboot anzuhalten und dieses aufzufordern, seine Erkennungssignale zu geben. Der Kommandant des Unterseebootes fluchte nicht schlecht über unsre grünschnablige Nußschale, feuerte aber doch die verlangten bunten Raketen ab. Da wir dann gleich weiter, auf Position fuhren, ergaben sich für mich achtzehn Stunden ununterbrochenen Dienstes. –

Während ich an Land Proviant holte, fischte »Vulkan« eine Leiche auf, einen alten verheirateten Matrosen. Er hatte eine Korkweste um, konnte also nicht ertrunken sein, sondern war vermutlich in dem kalten Wasser erfroren. Weil er bei der hohen Dünung nicht ins Boot zu bringen war, befestigte man eine Wurfleine an seinen Armen und schleppte ihn so nach »Luci Wrede«. Er lag dabei auf dem Bauch, und durch die Fahrtwelle sträubte sich sein Haar, was sehr gruslig aussah. Auch andere Boote bargen in den nächsten Tagen noch Leichen, die mit Ebbe und Flut hin und her wanderten. Ein einlaufendes Kriegsschiff gab uns den Winkspruch: »Südlich von den Minen treiben Leichen.«

Allerwärts an Land wie an Bord war der »Yorck«-Unfall Tagesgespräch. Ich hörte viele Schilderungen von Einzelheiten. Ein Obermaat suchte einen Mann zu retten, da sackte dieser mit dem Rufe »Jesus Maria, mein armes Weib!« ab. Ein Deckoffizier, den man aus dem Wasser ziehen wollte, rief abwehrend: »Nein, erst meine Kameraden, ich schwimme gut!«

Am meisten wurde natürlich die Frage debattiert: Wer trägt die Schuld an dem Unglück und wer die Verantwortung? Der Kommandant? Der Lotse? Der erste Offizier?

Am sechsten Oktober stiegen Taucher in das Wrack, konnten aber zunächst nur Munition und einige Gerätschaften bergen. Auch Minensucher waren an der Stelle tätig. Auf »Glückauf« herrschte von Mittag an bis tief in die Nacht wildes Hallo. Dort wurde mit Musik, Gesang und donnernden Reden der Geburtstag des Kommandanten von »Franz« gefeiert. Die lärmende Fröhlichkeit der Offiziere in nächster Nähe des traurigen Wracks, das noch so viele Leichen, vielleicht noch gar abgesperrte Lebende enthielt, erregte unter den Mannschaften tiefe Entrüstung. Ich dachte nicht so schlimm darüber. Ich fand es viel unerträglicher, daß die Mannschaften in Wilhelmshaven spätestens um neun Uhr an Bord oder in der Kaserne sein mußten, während der jüngste Leutnant die ganze Nacht an Land verbringen durfte. Ich hatte kürzlich einen Matrosen beobachtet, der aus Wut über diese Bestimmung auf offener Straße einen Tobsuchtsanfall bekam und wütend gegen seine Kameraden einschlug, die ihn an Bord zu bringen und zu beruhigen suchten. Erst wollte ich mich begütigend einmischen, aber ich ließ das sein, weil er eventuell sonst mir, seinem Vorgesetzten, auch eins versetzt hätte und dafür dann schwer bestraft worden wäre.

»Vulkan« lag Seite an Seite mit »Glückauf«. Ich fing manches auf aus den Festreden, die dort gehalten wurden, übergeistig war es nicht. Leutnant von Raichert rief mich von drüben an Deck, sagte, mein Potpourri hätte großen Anklang gefunden, und reichte mir »vorläufig« eine halbe Flasche Sekt über die Reeling. Ich nahm mir vor, dieses kupferberg-goldene Pullchen bis zu einer feierlichen Gelegenheit aufzuheben. Dann überlegte ich mir aber, daß, wenn wir auf eine Mine liefen, sicherlich auch diese Flasche zum Teufel ginge. So leerte ich sie abends mit Jessen, und um der Sache etwas Feierliches beizugeben, trank ich Brüderschaft mit ihm, worauf ich ihn sofort mit pöbelhaften Vorwürfen überschüttete. Weil er so unmanierlich wie eine Drecksau fräße. Wenn das Essen aufgetragen wurde, stürzte er wie ein blinder, gieriger Eber darauf los, stieß mich dabei zum Beispiel mit dem Ellenbogen ins Auge und brummte dann – anstatt sich zu entschuldigen – nur: »Uff! Uff!« Weil er ferner nur ein Taschentuch besäße, darin er Äpfel aufbewahrte. Weil er mich bei jeder Gelegenheit absichtlich mit dem Wasserschlauch anspritzte und sich selber häufig statt mit Wasser und Seife – angeblich der Eile wegen – mit Spucke und Seife wusch.

Schaffrot gesellte sich zu uns. Er erzählte, daß er ein Gesuch um Heimaturlaub eingereicht habe, seine Frau läge schwer krank im Hospital, und seine Kinder, auch erkrankt, wären bei fremden Leuten untergebracht. Er war sehr traurig darüber, daß er ein kleines Anhängsel verloren hatte, ein billiges Kreuzchen, das ihm seine Mutter auf dem Totenbette gab, mit der Bitte, es immer bei sich zu tragen. »Mehr habe ich von meiner Mutter nicht gehabt«, sagte er rührend. Dann berichtete er aber lustiger von einer Wanze in seiner Koje, der er auf der Spur sei und die er »Emden« nannte, weil sie ihm immer wieder entkam. Ich hatte eine Gegengeschichte von einer Wanze, die ich kürzlich gefangen hatte, die ich aber, weil es nicht in meiner Kabine war, sondern in Eibels, den ich nicht leiden mochte, dann wieder aussetzte. Zuletzt wurde Schaffrot sehr bezecht, und da gestand er uns, daß seine Frau eigentlich nicht im Krankenhaus, sondern auf Abwegen wäre, und da wollte er sie einmal in flagranti erwischen.

Für kurze Zeit – gestohlen und wieder weggestohlen – hatten wir einen unglaublich unedlen Hund an Bord, der auf den Namen »Bootsmann« hörte. Wir sagten: Er unterscheidet sich von unserem anderen Bootsmann dadurch, daß der eine das Deck rein und der andere es voll macht.

Immer mehr geriet ich in den Ruf eines großen Medizinmannes, obwohl ich alles nur mit Baldrian und Borsalbe heilte, davon ich reichliche Vorräte besaß.

Als wir wieder einmal zu Ausbesserungsarbeiten in der Werft lagen, besuchte ich den hölzernen Intendanturrat Bruhn. Er sollte mir zu einem Posten auf einem größeren Schiff verhelfen. Auch wurde ich in verschiedenen Büros vorstellig; ich meldete mich zu den Fliegern, auf ein Unterseeboot und nach Flandern. Überall wurde ich mit leeren Worten abgespeist. Ich sah in dieser Beziehung gar keinen Weg mehr. Auf unseren Kommandanten konnte ich nicht zählen, er hatte weder Einfluß noch Energie dafür. Der Sperrkommandant würde mich sicher schroff abweisen. Eine höhere Instanz kannte ich nicht und hätte mich auch nicht direkt an sie wenden dürfen.

Von meiner Beförderung war auch nicht mehr die Rede. Sollte der Steuermann seinen Antrag zurückgezogen haben? Er war in letzter Zeit sehr verstimmt gewesen und hatte bald mit diesem, bald mit jenem von uns Auftritte gehabt, am meisten mit dem Maschinenpersonal. Dabei war er häufig durchaus ungerecht vorgegangen. Schaffrot hatte ihm einmal in berechtigtem Zorn sehr mutig geantwortet, nur war er dabei leider aus der militärischen Form geraten. Herr Kaiser war offenbar nervös geworden. Einerseits stand er dicht vor seiner Beförderung zum Leutnant, andererseits hatte er unglücklicherweise gerade jetzt mehrmals hintereinander Zusammenstöße mit anderen Schiffen verschuldet.

Schöne dunkle Nächte erlebte ich auf Wache. Das Filzlausgeschwader fuhr vorbei, wechselte unterwegs seine Formation, aber man sah nicht etwa die einzelnen Boote, sondern nur ihre roten, grünen und weißen Lichter, die sich wie im Reigen verschlangen. Zwei Zeppeline gingen durch die Wolken. Und unheimliche Nächte gab's mit sonderbaren Geräuschen an der Ankerkette oder im Tauwerk, mit gespenstischen Schatten und fahlen Lichtstreifen. Und da mußten wir ein Bremer Schleppschiff anhalten. Der Lotse ging mit drei bewaffneten Matrosen hinüber, um es zu untersuchen.

Laut Bericht der Leipziger Neuesten Nachrichten brachte die Armeelinie von der Nordsee bis an die Grenze der Schweiz am sechsten November ein Hoch auf die Marine aus.

Mutter fragte an, ob wir einen Bedürftigen an Bord hätten, der keine Liebesgaben erhielte und dem sie dann eine Weihnachtsüberraschung bereiten wollte. Ich überdachte unsere fünfzehn Mann Besatzung, fand aber keinen darunter, der dessen bedürftig und dessen wert gewesen wäre, nicht mal einen, der das überhaupt verstanden hätte.

Es wurde kalt und kälter. Der erste Schnee fiel. Ich fror, besonders beim Ankerhieven und wenn ich mit nassem Tauwerk oder den steifen, obendrein splitterigen Stahlleinen zu tun hatte, bös an den Händen, und diese wurden dann so starr, daß ich bei Sonnenuntergang beim Anzünden der Lampen oft Zylinder zerbrach. Jessen hatte Frostbeulen an den Füßen, so daß er nicht mehr in die Seestiefel hineinkam.

Das Wrack der »Yorck« war durch Sprengungen und durch Sturm und Brandung ganz zerrissen. Es ragten nur noch einzelne zackige Teile aus dem Wasser.

Ob wir uns untereinander zankten oder mitsammen scherzten, jeder hatte doch die anderen satt. Jeder sehnte sich nach etwas Fernem, nach Weib und Kind oder nach Freiheit, nach seinem Zivilberuf, nach Mädchen oder Freunden oder nach Ruhm und Abenteuern. Nun hofften wir, daß bald Treibeis käme, dann mußte die Minensperre doch aufgehoben werden. Das Aufstehen fiel einem schwer, man seufzte in sich hinein. Man wurde unter soviel Ungerechtigkeiten selber ungerecht. Jessen wurden fünf Tage Urlaub bewilligt. »Ja, die Verheirateten werden immer bevorzugt«, sagten die Ledigen. Jessens Frau bezog monatlich fünfzig Mark staatliche Unterstützung, obwohl er doch ein sehr reicher Bauer war. Er fand das selbst ungerecht, »aber«, meinte er, »andere bekommen es ebenso ungerechterweise, warum soll ich es dann nicht mitnehmen.« Über die Verteilung des Eisernen Kreuzes kreisten zahllose gehässige, oft auch witzige Anekdoten. Und während die Mannschaften darbten und im Stumpfsinn vertierten, hatten es die Offiziere – nun ja, sie hatten es besser. Es gelangten allgemeine Liebesgabenpakete, besonders von den Hansestädten, an die Marine, manchmal auch an unsere Division, bis nach »Glückauf«. Wir kleineren Boote bekamen nichts davon ab. Es kam der Schützengrabentrost auf. Wenn einer von uns sich über irgend etwas beklagte, dann ward ihm erwidert: »Was sollen erst die sagen, die jetzt in den Schützengräben liegen!« Vielleicht hatten die im Schützengraben einen ähnlichen Trost.

Petroleum, Lebensmittel, alles wurde teurer und teurer und immer rarer. Die Liebesgabenpakete enthielten schon grauenhafte Ersatzangelegenheiten, zum Beispiel Grog-Kapseln, in heißem Wasser aufzulösen. Wenn wir Routineboot waren, wurde ich meist mit zum Proviantbesorgen abgeteilt. Die schmutzigen Säcke und fettigen Waren verdarben meine Uniform, aber ich genoß dann ein bißchen Freiheit, und es geschah dann immer etwas, was sich um ein weniges von dem Tagesverlauf an Bord unterschied. Zwei Matrosenartilleristen luden mich zum Bier ein. Sie hatten bei Krupp neue Geschütze eingeschossen; die Geschosse – fünfzehn Zentner schwer – sollten achtundvierzig Kilometer weit tragen, also ein gutes Stück weit über den Kanal ins Englische. Ich sprach mit Arbeitern, die zitronengelb aussahen, weil sie in Schießbaumwolle arbeiteten. Oder ich sah, wie Mädchen aussahen, die angezogen und ohne einen zu beachten, vorübergehen. Als ich ein Schaufenster betrachtete, um Weihnachtseinkäufe zu machen, sprach mich Herr von Raichert an, zog mich in einen Tabakladen und kaufte mir eine Kiste Zigarren. Ich gratulierte ihm zur Beförderung zum Oberleutnant. Dann fuhren wir durch Sturm und Hagel mit dem Schlachterwagen, den uns der Metzger nur ungern überließ. Denn jeder von uns war betrunken, und jeder wollte kutschieren und keiner konnte es, und der Gaul hatte einen Abscheu gegen die Hafengegend. Tünnes fiel plötzlich rückwärts vom Bock in den Wagen und blieb steif in Fleisch, Zucker, Heringen und Butter liegen. Weil »Vulkan« schon ausgelaufen war, benutzten wir »Saturn« zur Rückfahrt, mußten allerdings frierend an Deck stehen, weil die unteren Räume gerade gegen Wanzen ausgeschwefelt wurden. In der Kombüse saß ein Matrose, der wunderschön und künstlerisch variiert pfiff. Auf »Vulkan« stärkte ich mich an Kartoffelpuffern, die der Hund schon abgeleckt hatte, denn wir hatten wieder einen Hund gestohlen. Der wohnte in meiner Koje. Er durfte sich mir gegenüber alles erlauben, mir über Bauch und Gesicht spazieren und dabei Flöhe ansetzen, die roten Pantoffeln zernagen und in meinen Eßnapf niesen. Natürlich hatte er auf dem kalten Eisenschiff Rheumatismus bekommen, wir ächzten nachts um die Wette. Müde saß ich mit ihm in meiner kleinen Kabine, wo ich alle vier Wände vom Sitz aus mit der Hand erreichen konnte und las über die Giftmischerin Timm. Dann kehrten Jessen und Schaffrot vom Urlaub zurück. Der Bootsmann erzählte von großen Niederlagen der Deutschen in Frankreich, er hatte das von dem offenbar sehr deutschfeindlichen Pfarrer seiner Heimat. Schaffrot war bei einem ganz feinen, vornehmen Diner dabeigewesen, wo es bei jedem Gang frische Teller und frische Bestecks gab.

Morgens signalisierte man uns, wir seien abgetrieben. Eibel stürzte aufgeregt an Deck, es wäre bei dem furchtbaren Sturm ungeheuer aufzupassen! In diesem Augenblick wurde Eibel durch eine hereinbrechende Welle von oben bis unten eingeweicht. Wir lachten uns tot.

Schwere, langgezogene, bleierne Wogen rollten. Bei der Übergabe von Proviant an »Luci Wrede« plumpsten Kartoffelsäcke ins Wasser. Futsch! Irgendeinem Tier oder einer Pflanze kamen sie doch wohl noch zugute. Es ist eigentlich gar nicht möglich, Speisen als solche aus der Welt zu schaffen. Als wir aber »Glückauf« Postsäcke hinüberjonglierten und dabei ein Privatbrief über Bord fiel, befahl der Sperrkommandant, trotz des hohen Seeganges sofort ein Boot zu Wasser zu lassen. Stuben, Eichmüller und ich sprangen in unser Rettungsboot, das sofort vom Sturm weit abgesetzt wurde. Als wir über das Minenfeld trieben, stießen wir aus Spaß mit den Riemen ins Wasser. Nach dem Brief aber sahen wir uns nicht lange um. Der war selbstverständlich in dem gischtschäumigen Wasserchaos nicht zu finden. Nur mit Mühe pullten wir uns nach »Glückauf« zurück. Aber der Sperrkommandant hatte mir diesmal gefallen. Wir ankerten. Ich zog auf Wache, peilte Voslapfeuer West zum Norden und entdeckte dabei unsere alte »Blexen«, die zwei Scheibenflöße vorbeischleppte. Dann leistete mir der Kommandant auffällig freundlich Gesellschaft, ich sah ihm an, daß er die ganze Nacht über gekotzt hatte. Es sei eine Meldung wegen der stibitzten Kartoffeln gekommen, sagte er und erteilte mir Ratschläge, wie ich die Sache vertuschen möchte. Dann verließ er mich, und ich hörte ihn unten noch zu Jessen sagen: »Jessen, ich gratuliere Ihnen, Sie sind zum Obermaaten befördert.«

Also der war befördert! Ich nicht. Warum nicht ich, der ich genau so eifrig wie Jessen meinen Dienst versehen hatte und dabei bei weitem militärischer war als er. Hatte der Sperrkommandant meine Beförderung abgelehnt? Oder hatte Herr Kaiser sie gar nicht beantragt? Warum deutete man mir auch gar nichts darüber an? Ein dumpfer Groll bemächtigte sich meiner; ich verbohrte mich in feindselige Träume. Jessen selbst benahm sich ebenso taktvoll wie herzlich zu mir. Ich schenkte ihm meine Obermaatenabzeichen, die er sich schmunzelnd auf die Ärmel nähte. Am nächsten Tag übergab ich dem Steuermann ein Gesuch zur Befürwortung und Weitergabe an den Sperrkommandanten. Es war vorschriftsmäßig und im üblichen Tone abgefaßt und lautete wörtlich so:

Ich bitte an den Kämpfen im Westen teilnehmen zu dürfen.

Gründe: Ich glaube dem Vaterlande am besten im Gefecht dienen zu können und besonders dafür geeignet zu sein, auch spreche ich verschiedene Sprachen und bin ledig und kampfbegeistert.

Ich war entschlossen, dieses Gesuch nötigenfalls bis zur höchsten Instanz durchzusetzen. Herr Kaiser schickte mich zum Kommandanten von »Glückauf«, der schickte mich zum Durchfahrtskommandanten und so ging es weiter, und alle schimpften und nannten mein Gesuch aussichtslos. Aber ich ließ es laufen.

Einmal kam Herr Kaiser und erzählte mir von seiner Zivilstellung als vierter Steuermann auf dem Passagierdampfer »Imperator«. Damals hatte er ein monatliches Gehalt von 200 Mark, jetzt bezog er das Doppelte. Mir war es gar nicht recht, daß er mich auf Wache besuchte und mir stundenlang Privates erzählte, denn erstens würde er das später wieder bereuen und zweitens fror ich sehr, weil er im Redeeifer immer so lange an einer Stelle stehen blieb.

Stuben war über Urlaub geblieben. Anstatt ihn streng zu bestrafen, wurde dafür den anderen, die nun daran waren, für lange Zeit der Urlaub gestrichen.

Gewisse Fahrzeuge begannen die Minen zu lichten. Man entschärfte diese und brachte sie ins Depot. Sie waren über und über mit Muscheln bewachsen.

Endlich kam mein Gesuch zurück. Der Sperrkommandant hatte es nicht weitergegeben, sondern mit Bleistift darauf vermerkt: »Das hat wohl jeder. Abkommandierung ausgeschlossen, jeder tut dort Dienst, wo er hingestellt wird.« Außerdem ließ er mir durch den Steuermann sagen, ich sollte ihm nie wieder mit so albernen Sachen kommen.

Ich mied meine Kameraden. Ich wusch meine blaue Uniform mit Panamaspänen, und über mein Unglück tief nachsinnend, mochte ich wohl ein arg verdrossenes Gesicht ziehen. Denn Tünnes, der unter allgemeinem Gelächter splitternackt, kohlschwarz und mit einem umgehängten Küchenbeil an Deck erschien, sagte in kölnischem Dialekt: »Herr Bootsmaat sehen heute aus wie eine saure Gurke.«

Ich hatte keinen Sinn mehr für Scherze. Ich hörte auch auf keine Trostworte mehr, wurde gegen alle Welt verbittert und verbissen, und was den Steuermann betraf, so schmollte ich. Es kam zu einer langen Auseinandersetzung. Nachdem Herr Kaiser mir sagte, ich könnte ohne Furcht und unmilitärisch reden, kam ich bald in Feuer. Ich schilderte, daß ich mir wie ein Verbrecher vorkäme. Ich sei mit tiefer Begeisterung in den Krieg gezogen. Ich habe die unwürdigsten Arbeiten, die kalte, viel zu kurze Koje und andere Beschwerlichkeiten ohne Murren ertragen und meinen Dienst eifrig versehen. Ich sei nicht befördert worden, obwohl ich doch eine Gehaltserhöhung besser gebrauchen könnte als mancher andere. Man hielte mich hier gefangen, ohne Urlaub; ich hätte nie Gelegenheit, einmal mit einem gebildeten Menschen zu sprechen. Für all das könnte ich doch wenigstens die Erlaubnis erwarten, ins Gefecht geschickt zu werden, zumal so viele alte Leute ins Feld müßten, die Frau und Kinder hätten und gern zurückblieben. Hier an Bord sei kein einziger, der sich in den Kampf wünschte, im Gegenteil freuten sich alle, wenn sie möglichst weit vom Schuß wären. Ich führte an, was Schaffrot und Jessen auf der Bahn von den Verwundeten gehört hatten, die durchaus nicht Lust zum Weiterkämpfen äußerten. »Ich weiß«, sagte ich, »daß es schwer ist, mit einem Gesuch durchzudringen, das der Sperrkommandant verwirft, beziehungsweise mit einem feindlichen Vermerk weitergibt. Aber ich werde nicht nachgeben. Ich werde weitergehen bis zum Kaiser. Die oberste Heeresverwaltung kann nicht wollen, daß den eifrigsten Soldaten, begeisterten, kampffähigen Menschen ein Dienst aufgezwungen wird, der sie in das Gegenteil verwandeln muß. Und ich werde von Bord kommen, auch wenn der Kaiser es nicht bewilligt. Ich kann in Arrest gehen oder über Bord springen oder sonst was tun.«

Der Kommandant, dem eine solche ausführliche Darstellung wohl etwas Neues war, machte ziemlich konfuse Einwendungen und suchte mich mit allgemeinen Worten zu beschwichtigen. Der Sperrkommandant sei ja im Grunde eigentlich ganz anderer Meinung. Unser Dienst sei hier trotz seiner Unansehnlichkeit viel aufreibender, verantwortungsvoller und gefährlicher, als ich mir das dächte.

Als wir uns mittags etwas aufs Ohr gehauen hatten, erfolgte eine tolle Detonation. Wir stürzten alle an Deck in der Meinung, auf eine Mine gelaufen zu sein. Aber es war nur in der Nähe eine Mine abgeschossen worden, und wir hatten unten die Schallwirkung unter Wasser besonders stark empfunden.

Draußen schien wieder dicke Luft zu sein. Torpedoflottillen liefen mit äußerster Kraft aus, ebenso »Pelikan«, der Minen an Deck bereitgestellt hatte.

Ich rauchte viel und nahm vierundzwanzig Stunden lang keine Nahrung zu mir, um recht blaß auszusehen; dann meldete ich mich beim Stabsarzt krank. Teils lügend, teils wahrheitsgemäß erzählte ich von Schwindelanfällen, krampfartigen Magenschmerzen und Flimmern vor den Augen. Der Stabsarzt war ein stiller, sympathischer Herr. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich, während er mich untersuchte, ihm plötzlich zuflüsterte: »Ich habe so viel Kummer.« Er wiederholte diese Worte leise und wie gerührt, was wiederum mich rührte. Aber er ordnete nicht an, daß ich von Bord in die Kaserne käme, wie ich erstrebt hatte, sondern verschrieb mir nur eine Medizin.

Der Dienstmann fragte mich nachts nach dem Namen eines Sternbildes, das gerade über uns stand. Das Kreuz des Südens log ich aus meiner Verlegenheit heraus, und weil Herr Binneweis – so hieß der Dienstmann – mir glaubte, so bezeichnete ich ihm weitere Gestirne mit glatt erfundenen Namen wie Plinius, Trinius, Merovinka.

Die »Hamburg« lief angeschossen ein.

Ich schrieb heimlich ein vier Folioseiten langes Gesuch an den Festungskommandanten von Wilhelmshaven. Das gab ich an Land bei seinem Feldwebel ab. Der sagte: »Nun, da wird Ihnen der hohe Herr wohl aufs Dach hageln.« Bei meiner Rückkehr wehte auf »Vulkan« der Offizierswimpel. Herr Kaiser war befördert. Ich gratulierte ihm.

Das erste Weihnachtspaket traf ein, von meinem Bruder Wolfgang. Die Punschessenz tranken wir unverdünnt aus. Bald folgten weitere Pakete von allen Seiten. Mehrere Tabakpfeifen, davon nannte ich die erste nach meiner Stimmung »Groll«. Zwei geschmückte Tannenbäumchen, Rollschinken, Pulswärmer, Pulswärmer, Pulswärmer, Äpfel, Nüsse, Zigaretten, Bonbons. Wir wußten in unserer engen Kabine nicht, wo wir die vielen Sachen und Kisten und Schachteln unterbringen sollten. Ich sandte einen Teil der Gaben an meine Freunde und Bekannten weiter, wobei ich einmal versehentlich jemandem sein eigenes Geschenk zurückschenkte. Auch verkaufte ich einiges an Bord, weil ich Geld benötigte. Für Eichhörnchen erstand ich einen schönen, präparierten Möwenbalg, und legte ein Gedicht dazu.

Als ich bei unserem neugebackenen Leutnant saß und die Proviantrechnungen addierte, fragte er plötzlich: »Sie haben wohl nicht viel Freude an dieser Arbeit?«

»Nein, Herr Leutnant!«

Heiliger Abend 1914. Nach dem Abendessen (Schweinskoteletts) löste ich den Matrosen der Brückenwache freiwillig ab, weil ich nicht an der Feier teilnehmen wollte. Wie alle Fahrzeuge, so hatte auch »Vulkan« sein Bäumchen und kleine Geschenke für jedermann. Der Leutnant war wegen der Bescherung etwas in Verlegenheit. Es war etwas knapp bei uns an Äpfeln, Nüssen und Grog, und er wußte nicht recht, ob er von sich aus etwas spendieren sollte, obwohl doch schon seine Beförderung ein Anlaß dazu gewesen wäre. Auch war er nicht der Mann, der eine Rede halten konnte.

Als die anderen achteraus gerufen wurden, feierte ich auf der Brücke allein mit Mond und Sternen. Das Wetter war kalt. Ich hatte meine beste Garnitur angezogen und trug die Brust frei. Und ich dachte innig all derer, die wahrscheinlich jetzt meiner gedachten.

Am Horizont sah man die Umrisse von Kriegsschiffen. Die Marine war heute besonders wachsam. Man rechnete damit, daß die Engländer, die deutsche Sentimentalität ausnutzend, zu Weihnachten etwas unternehmen würden. Vor dem sechsten Januar sollte auch niemand von uns beurlaubt werden.

Der Leutnant holte mich herunter zu den Kameraden, die um seinen großen Tisch saßen und ihre Päckchen schon geöffnet hatten. Er bedankte sich dafür, daß ich den Baum so schön geschmückt hätte und war überhaupt besonders liebenswürdig zu mir.

Anfangs kam gar keine Stimmung auf, erst der Grog und die Pfannkuchen brachten das zustande. Ich wurde genötigt, Mandoline zu spielen. Die anderen sangen dazu. Binneweis hielt eine fatal lange Rede, die mit Anzüglichkeiten gespickt war und an einer Stelle, da wir alle eine große Schweinerei erwarteten, plötzlich den Leutnant leben ließ. Dieser erwiderte etwas merkwürdig, aber wohlgemeint und ließ Seine Majestät leben, worauf es Binneweis drängte, sämtlichen deutschen Frauen ein Hoch auszubringen. Es wurden Anekdoten, Couplets und bedenkliche Witze vorgetragen. Der Hauptspaßmacher war Tünnes. Während alledem schwieg ich niedergeschlagen. Ich hatte gedacht, man würde mir eine günstige Antwort auf mein Gesuch bescheren, davon war nicht die Rede. So blieb ich auch bei diesem Feste dem Leutnant gegenüber streng militärisch. Ich stand zum Beispiel jedesmal stramm, wenn ich ihm ein Streichholz reichte. Auch Jessen schwieg den ganzen Abend über, aber nur, um seine Unmanierlichkeit nicht bloßzustellen, und weil er meistens fraß.

Der Witz ließ nach, der Grog war getrunken, wir gingen auseinander. Alle schüttelten sich die Hände und wünschten sich Fröhliche Weihnachten. Nur der Bauer Jessen legte sich schweigend schlafen. Obwohl auch ich müde war, schrieb ich doch noch Tagebuch. Aus Maulwurfs Tannenbäumchen tropfte heißes Wachs auf mein Papier.

Am ersten Feiertag hörte ich, wie der Kommandant sagte, es sei ein Seegefecht bei Helgoland im Gange. Ich benutzte meine Freizeit, um meine Schubfächer einmal gründlich zu säubern. Auf einmal erklang starker Geschützdonner. Gleichzeitig ertönte der Befehl: »Alles an Deck!«

Vier feindliche Flieger zeigten sich. S.M.S. »Seydlitz« hatte Schrapnellfeuer auf sie eröffnet. Wir machten unsere Kanone klar. Aber die feindlichen Flieger entschwanden rasch, und als deutsche Flugzeuge und ein Zeppelin zur Verfolgung erschienen, war es neblig geworden.

Der Leutnant war schlechter Laune. Er zankte sich wieder einmal öffentlich von Brücke zu Brücke mit dem Kommandanten von »Rotesand«.

Ich wurde auf »Glückauf« geholt, um das dortige Orchester mit meiner Mandoline zu verstärken. Das Konzert scheiterte aber an allgemeiner Verstimmung, sowohl der Instrumente wie der Leute. Ich tauschte mit den »Glückauf«-Maaten ausgelesene Bücher und erhielt dabei ein Ullsteinbuch »Anständige Frauen«, von Emil Marriot, das schenkte ich Binneweis.

Alles Tauwerk war eines Morgens bereift. Wenn man damit hantierte, wurden die Hände knüppelsteif. Das Deck war glatt beeist. Wir spähten fahrend nach »Luci Wrede« aus, die wir ablösen sollten. Sie lag dicht bei den Minen. Aber wir fanden sie im dicken Nebel nicht und wurden unruhig. »Fahrzeug voraus!« riefen drei Stimmen gleichzeitig. Ein gewaltiger Schiffskörper mit drei Schornsteinen tauchte dicht vor uns auf.

Wir konnten knapp noch abdrehen. Ein warnender Megaphonruf drang zu uns: »Fahrt verringern!« und der große Bruder war wieder im Nebel verschwunden. Nachts wurde ich in meiner Koje wie in einem Mixbecher herumgeschüttelt. Noch schlaftrunken, von einer Wand zur andern geworfen, zog ich mich möglichst warm und wasserdicht an. Als ich die Tür öffnete, donnerte draußen der Sturm, und schreckhafte Seen fegten über Deck.

Vier Stunden Wache im Orkan auf der Brücke. »Vulkan« pendelte zwischen Meeresgrund und Himmelszenit. Die über das Schiff wuchtenden Brecher rissen die eiserne Brückentreppe aus den Angeln und spülten Korkwesten, Balgen, überhaupt alles, was nicht angebunden war oder sich nicht krampfhaft mit beiden Händen festklammerte, über Bord. Wer nicht unbedingt an Deck zu tun hatte, blieb unten. Die mehrere Zentner schwere Signalglocke läutete ohne Bedienung.

Mein Wachvorgänger wollte den Kommandanten auf den Ernst der Situation aufmerksam machen. In der Kajüte führte der Weihnachtsbaum mit den unterschiedlichsten Gerätschaften einen wilden Tanz auf. Dazwischen lag sterbenskrank dahingestreckt der Kommandant.

»Wollen Herr Leutnant nicht mal an Deck kommen? Das weht immer schlimmer. ›Diomedes‹ und ›Franz‹ sind schon weit vertrieben. Unser Anker hält vorläufig noch.« Der Kommandant erklärte, er ginge nicht an Deck. Was es denn da weiter zu sehen gäbe.

Nachmittags mußten wir unseren zweiten Anker ausbringen und alle Kette stecken. Der Kommandant kam schließlich doch für eine Stunde auf die Brücke. Er hatte dunkelrote Flecken im Gesicht, und er blieb an Steuerbord übers Geländer gebeugt und erbrach sich. Eichmüller und ich machten sich heimlich über ihn lustig, obwohl auch wir bleich und von Furcht erfüllt waren. Wir froren sehr, weil wir nicht auf und ab gehen konnten. Durch die mit weißen, zerfetzten Schaumgeweben bedeckten, dunkelgrünen Wogen flüchteten sich Torpedoboote nach Wilhelmshaven. Ihnen folgte ein Fischdampfer mit gebrochenen Masten. Vor seinem Bug stand eine stete hohe Wassersäule. Es war natürlich nicht daran zu denken, daß ich nach Ablösung endlich einmal die mich bedrückenden Weihnachtsdankesbriefe schrieb.

Wider Erwarten hatte sich das Routineboot herausgewagt. Von Toni Pfeiffer erhielt ich ein Lebenszeichen aus Wenduyne. Von Louise Reichard erhielt ich eine Dose Schoten. Horsmann lachte mich brieflich aus, weil ich Immermanns Münchhausen ernstlich für verheftet gehalten hatte, nachdem der erste Band mit dem elften Kapitel begann. Ferner oder ganz fern Stehende schrieben an mich, darunter viele, die aus Neugier, Hysterie, Langeweile oder aus Geschäftsinteresse Kriegsberichte von mir haben wollten. Sie betonten, daß ich angesichts meines schweren Dienstes meine Antwort lange hinausschieben sollte, flochten aber gleichzeitig geschickte Fragen ein, die eine rasche Antwort erheischten. Unerquickliche Zeitungen mit nur günstigen Nachrichten, albernen oder plumpen Anmerkungen der Redaktion und eitlen Todesanzeigen. Überschwengliche Kaisergedichte von Max Bewer und Abbildungen von höchsten Damen in modischer Tracht als barmherzige Schwestern.

Die Leute vom Routineboot wollten gehört haben, daß der Kommandant der »Yorck« zwei Jahre Festung und sein erster Navigationsoffizier ein Jahr Gefängnis erhalten hätte.

Durch den Orkan war viel Schaden angerichtet. Der große Kran in der Werft sollte umgefallen sein. Die gütige, arme, kranke Margot Fichtner, zu der ich und zu der wir eigentlich alle so oft ungerecht überlegen gewesen waren – wir damals in München – sie also sandte mir jetzt ein reiches Liebesgabenpaket, das in einer Flasche Kognak gipfelte. Hugo von Halm teilte mir mit, daß der Kunsthistoriker Oskar Dolch an der Front gefallen war. Mir ward sehr weh ums Herz. Da war ein lieber Freund von mir tot, ein Mann von wunderbarem Wissen und feinstem künstlerischem Geschmack. Dolch hatte mich häufig ob meiner Unwissenheit getadelt und mir dies und jenes beizubringen versucht. Er war bescheiden, gastfrei und hatte eine entzückende Art, mit einfachen Mädchen – etwa mit einem Milchmädchen – umzugehen. Er liebte diese Mädchen so zart.

Nachts auf Wache rauchte ich dem Verstorbenen zu Ehren die Pfeife Libertas, die ich dazu ausersehen hatte, nur zum Gedächtnis Gefallener geraucht zu werden. Eichmüllern bedeutete ich, jegliches Geschwätz zu unterlassen. Als er trotzdem bald vom Vertörnen der beiden Ankerketten, bald von anderen ihn angeblich beunruhigenden Angelegenheiten zu brummeln begann, half ich mir anders, indem ich meinerseits das, woran ich denken wollte und zutiefst dachte, laut aussprach und den Obermatrosen damit zum Zuhörer machte.

»Dolch ist tot! Ein junger Gelehrter, auf den alte, erfahrene Fachleute hörten und von dem sie lernten. Ein Mann, der eine große Zukunft hatte, ein edler Mensch, gegen den du, Eichmüller, ein Schweinigel bist. Nie wieder werden wir eine dieser wilden, geistreichen und sonderbaren Nächte in jener geheimnisvollen Parterrewohnung feiern. Wenn die Scheiben früh sich blau färbten, und wir noch immer beim Burgunder saßen und bis zur Heftigkeit über den Leutnant von Zabern und den Wilhelminischen Geist stritten, dann warst du, Dolch, stets einig mit mir. Aber von Halm, der selber nie gedient hatte, sondern nur immer wieder sich auf seinen Bruder berief, der allerdings ein tüchtiger Offizier war, dieser unser von Halm warf uns zuletzt sozialdemokratische Gesinnung vor. Und nun sitzt von Halm noch in der Heimat, und du, Dolch, bist in der ersten Reihe der Mutigsten gefallen.«

Als Libertas ausgeraucht war, holte ich Margots Kognakflasche vor, und nach mancherlei Zeremonien, die mir in meiner Situation ein echtes Bedürfnis waren, durfte auch Eichmüller einen Schluck trinken, er mußte zuvor aber laut in den Sturm rufen, was ich ihm wortweise vorsprach: »Ich trinke auf das himmlische Wohl des toten Dolch, gegen den ich ein Schweinigel bin!« Darauf schlich ich mich in die zufällig unverschlossene Kombüse und durchstöberte die Schubfächer nach etwas Eßbarem, fand dort aber nur schmutzige Wäsche, aus der beim Strahl meiner Taschenlampe Hunderte von Kakerlaken nach allen Seiten flohen.

Tante Selma bat ich im nächsten Brief, ein grünes Kränzchen ohne Blumen, ohne Worte und ohne Namen an die Tür von Dolchs Parterrewohnung zu hängen.

Die Befehle betreffs Sparsamkeit mehrten sich, waren aber bei der Marine besonders schwierig durchzusetzen. Kartoffeln sollten fortan gewaschen und mit Schale gekocht werden. Alle, auch die kleinsten Reste von Wollsachen sollten gesammelt und auf »Glückauf« abgegeben werden. Dreimal wurde ich vom Leutnant darüber erwischt und davon abgehalten, daß ich einen uralten Strumpf ins Meer werfen wollte, den schon Tante Selma vor mir getragen und den ich später zum Lampenreinigen und zuletzt zum Säubern meiner mit Staufferfett besudelten Hände benutzt hatte.

Ich wurde zum Sperrkommandanten befohlen, zum »Einsperrkommandanten« sagte Schaffrot. Der Durchfahrtskommandant hatte ihm mein Gesuch zur Erledigung gegeben, und nun las es Kapitänleutnant Rusch in Gegenwart meines Kommandanten sowie seines Verwalters laut vor, wobei er alles auf seine Art widerlegte und mir militärischen Ungehorsam vorwarf. Mein Schreiben sei mehr Beschwerde als Gesuch. Daß ich gern fortmöchte, könnte jeder sagen. Es wäre selbstverständlich, daß ich meine Pflichten bestens erfüllte, und er könnte nicht fortwährend neue Leute einstellen. Eigentlich hätte ich Arrest verdient, er wollte mich aber mit nur einem scharfen Verweis bestrafen. Die Audienz war damit zu Ende. Abends zeigte mir Herr Kaiser den Tagesbefehl, worin meine Strafe »strengen Verweis wegen unmilitärischen Benehmens« schon angezeigt war. Das war meine erste von den in den Büchern fortlebenden Strafen bei der Kaiserlichen Marine.

Ich versandte Neujahrswünsche und ließ einen Hyazinthenstock für den Intendanturrat Bruhn besorgen. Eichhörnchen bat mich in einem verspäteten Briefe, das Weihnachtsbäumchen von ihr – ich hatte es früher erhalten und am zweiten Feiertage Witzmann geschenkt – mit brennenden Kerzen in die See zu werfen, als Gruß an die »Yorck«-Leute. Nun besteckte ich einen Tannenzweig mit Lichtern, band eine schwarz-weiß-rote Schnur daran und warf ihn über die Reeling.

Von Bord zu Bord wurde signalisiert »Prosit Neujahr!« Ich zog mir zur Wache zwei Hosen, drei Sweater und zwei Paar Handschuhe, obendrein noch Ölzeug an, fror aber trotzdem noch in Nässe, Kälte und Wind. Deshalb aß ich Mirzls Konservenschoten kalt. Auch hinterher in meiner Koje fror ich trotz eines Schlafsackes, den mir Vater geschenkt hatte mit einem Begleitbrief, darin er mich ermahnte, in meiner gegenwärtigen Verbitterung nicht die Achtung vor dem allgemeinen deutschen militärischen Geiste zu verlieren.

Wenn ich in den langen, langen Stunden einsamer Wache das alte Steckenpferd ritt, »wie ungerecht geht das alles zu«, dann gab ich, durch Vaters oder Eichhörnchens Briefe und durch anderes beeinflußt, mir wirklich immer wieder die Sporen: »Betrachte es doch ruhiger, unpersönlicher, abständlicher.« Aber solche Vorsätze flogen wie Bumerangs. Ich überlegte mir zum Beispiel: An welchen von den vielen Vorgesetzten, die du bisher kennengelernt hast, denkst du mit besonderer Hochachtung oder gar mit Enthusiasmus? An keinen!

Es wurde für die Hinterbliebenen der Gefallenen eine Kollekte veranstaltet. Ich war der einzige an Bord, der nichts dazu beisteuerte.

Ein Mann unserer Division wurde wahnsinnig. Es gab Leute, die über Urlaub blieben, weil sie mit Arrest bestraft sein wollten, um auf diese Weise wenigstens für einige Zeit von Bord zu kommen. »Die Offiziere schwelgen hier«, sagte einer dieser Leute zu mir, als ich ihm gut zureden wollte, »und wir dienen den Offizieren, nicht dem Vaterlande.« Was konnten diese Leute dafür, daß sie diese jungen Offiziere, Leutnants, Oberleutnants, Kapitänleutnants verantwortlich machten und haßten. Sie kamen ja mit höheren Instanzen nicht in Berührung. Was konnten diese jungen Offiziere dafür, daß sie Annehmlichkeiten, die ihnen in dieser abscheulichen Zeit geboten wurden, annahmen und nach ihrer Art und Denkungsweise auswerteten. »Wir haben es doch hier eigentlich noch recht gut«, sagte einmal der Leutnant zu mir, und als ich ihn daran erinnerte, daß wir manchmal an manchem Tage sechzehn, ja zwanzig Stunden Dienst hatten, brach er verdutzt das Gespräch ab.

Wir fuhren den Sperrkommandanten spazieren, nein, erst fuhren wir zum Dampfer »Hera«, um Wasser zu nehmen. Aber dann legten wir uns neben eins der neuesten Torpedoboote. Es handelte sich um einen Offiziersbesuch, also um eine Privatangelegenheit. Die Offiziere tranken unten in der Messe und ließen uns warten, warten und weiter warten. Wir standen wie Lakaien an Deck, flüsterten ein paar vertrauliche Worte mit den Lakaien des Torpedobootes, während wir uns mit den Fendern und Leinen abmühten, weil die beiden Schiffe bei der starken Dünung gegeneinander bumsen oder sich voneinander losreißen wollten. Da unser Kommandant es auch auf die Dauer nicht für nötig erachtete, uns ein Wort der Erklärung oder eine Dienstanweisung zukommen zu lassen, setzten wir uns schließlich hungrig zum Essen; als das eben aufgetragen war, erschien Herr Kaiser und rief: »Klar zum Manöver!«

Wegen Urlaubsüberschreitung erhielten: Obermatrose Eichmüller drei Tage Mittelarrest nebst Degradation zum Matrosen, Matrose Schulz fünf Tage Arrest.

Jessen fluchte auf den Leutnant, der Koch auf einen Unbekannten, der ihm aus Tort das Ofenrohr in der Kombüse verstopft hatte. Die Leute schimpften über den Koch. Der Leutnant schimpfte über seine Mannschaft, der Sperrkommandant über alle Mannschaften. Ich konnte überhaupt nicht mehr schimpfen. Ich fühlte mich einsam und dachte noch immer traurig an den toten Dolch.

Zum Geburtstage des englischen Königs wollte wohl unsere Marine auch ihre Glückwünsche bringen. Ich sah die »Straßburg« und »Nautilus« schwer mit Minen beladen auslaufen.

»O Peter Jessen aus Holebül bei Flensburg, du einziger, mit dem ich hier – ich glaube in einer betrunkenen Stunde – Brüderschaft schloß!« schrieb ich in mein Tagebuch. »Obermaat Jessen, du altes, fettes Schwein. Du ißt Tag für Tag mit mir und jedesmal zuckt es mir in den Fingern, deinen kahlen Seehundskopf, dein unehrliches Gesicht mit den schlauen Augen, die während des Essens nicht von der Schüssel weichen, tief in die Suppe zu tauchen. Du schmatzt, du rülpst, du schlürfst und ketschst. Bei allen Mahlzeiten bist du der erste an der Kombüse, und wenn ich dich früh wecke, sagst du statt ›Guten Morgen‹, ›Wo ist der Kaffee?‹ Du sprichst nur vom Essen. Du würdest für ein gutes Gericht deine treuesten Anhänger verraten. Ja, man möge mich für ungerecht, ärgerblind oder für wetterwendisch halten, weil ich dich nun heruntersetze, weil ich mich in dir getäuscht habe, wie sich alle in dir täuschen. Denn du bist ein kalter, berechnender Egoist. Du bist ein Meister der knechtischen Geduld und der Verstellung. Du hast mir im Skat viel Geld abgeknöpft. Du hörtest stets mit Spielen auf, wenn du gewonnen hattest, und du merktest dir, daß der Treffbube einen schwarzen Pickel auf der Rückseite hatte. Du studiertest meine Züge, die verrieten, ob ich günstige oder ungünstige Karten hatte. Du spielst an Bord und vor den Vorgesetzten die Rolle des schlichten, stillen Mannes. Du bist feig, hast Angst vor Pulver und Kampf, du hast keine Ehre und keinen Anstand im Leibe, du bist zu Beschwerden zu feig und hetzt andere gegen den Leutnant auf, wenn er dich gekränkt hat, und du treibst andere durch unanfechtbare, aufreizende Reden in Strafen.«

Am nächsten Tag las ich diese Eintragung erst leise für mich und dann laut Jessen vor. Der erzählte mir, ich wäre durch sehr viel Bier sehr betrunken geworden, und dann hätte ich mich in meiner guten Laune zur Entrüstung der anderen Maate ins Matrosenlogis gesetzt, hätte mit den Leuten die Reise nach Jütland gesungen und hinterher ihnen das Herz von Douglas vorgetragen.

Die Minen der ersten Sperre wurden gesprengt, weil sie zu tief im Schlick versackt waren. Interessiert sahen wir zu. Da wuchs für Sekunden ein riesiger zackiger Eisberg oder ein gläsernes Schloß donnernd aus dem Wasser, und wenn es in sich zurückgefallen war, dann bedeckte sich das Meer an der Stelle mit Hunderten von toten Fischen, und die Möwen sammelten sich alsbald.

Ich bedaure, daß ich unfähig bin, Dialekt und Sprachweise meiner Kameraden wiederzugeben. In einer stockdunklen Nacht nach dem Dienst sagte Jessen zu mir: »Wieder ein Tag um. Der Leutnant hat noch Besuch, wenn der abzieht, gehen wir vor Anker. Da lohnt es sich doch gar nicht, sich schlafen zu legen.« Wir setzten uns also an unser Klapptischlein, das schon einer von uns beinahe umzingeln konnte. Jessen kaute Äpfel, ich las in dem herrlichen Buche Anton Reiser. Undeutlich hörten wir den Leutnant Befehle rufen betreffs Anlegen oder Ablegen. Wir lagen bei starkem Wind an einer Leine hinter »Franz«. Jessen fragte aufhorchend: »Sollen wir an Deck?«

»Ich nicht«, erwiderte ich müde faul, »paß auf«, fügte ich spöttisch hinzu: »jetzt gibt es einen Stoß.« Gleich darauf erzitterte der ganze »Vulkan« unter einem mächtigen Anprall. Ich lachte Jessen frivol zu.

»Volle Kraft zurück!« schrie eine Stimme an Deck. Wir unten ahnten nicht, daß unser Leutnant gar nicht bei uns, sondern drüben an Bord, und daß unsere Leine gerissen war, wir infolgedessen von Windstärke 10 durch die beiden dunklen Tinten Luft und Wasser gerissen wurden. »Alle Mann an Deck!« Ich zog mir aber doch erst mein Ölzeug an.

Oben war dickstes Preußischblau mit Schneesturm und zischenden Seen, aufgeregten Rufen und Wirrwarr, in den auch ich mich sofort verwickelte. Ich tastete mich nach der Lampenkammer. Das war ganz recht, denn die gehörte zu meinem Ressort, und Licht war nötig, aber ich vergaß, den Schlüssel mitzunehmen und mußte nochmals umkehren. Und allen kam alles Mögliche zwischen die Beine. Aber schließlich kriegten wir das Schiff doch wieder in Gewalt und brachten es an »Franz«, der uns durch Lichtsignale unterstützte. Der Leutnant stieg an Bord. Bis wir unter seiner Leitung einen Ankerplatz gefunden und Anker geworfen hatten, gab es noch viel Durcheinander, Zank, Scherben, Splitter, Anstrengungen, Gefährliches und Kaltblütiges.

Die Verpflegung ward dünner, und der Koch verteilte das Dünne ungerecht.

Alle Kriegsschiffe hatten ihren hintersten Schornstein rot gestrichen. Ein Zeppelin zog aus. Unter ihm flog ein Wildentenschwarm in wohlausgerichteter Formation. Während eines kleinen Mittagsschläfchens hörte ich, wie Tünnes im Heizraum jemandem riet, sich zwecks Abwehr der Kakerlaken den ganzen Körper mit Zwiebel einzureiben. Von Deck her klangen Befehle zum Strafexerzieren. Dann mußte ich ein Seitengewehr umschnallen, um Eichmüllern an Land ins Arrestlokal zu transportieren. Unterwegs berichtete er mir über sein seemännisches Vorleben. Wenn ich viel Lügen und Übertreibungen abzog, blieb noch, daß er Yachtmatrose in Potsdam gewesen war. Sehr komisch stellte er dar, wie Prinz Eitel Friedrich und die Prinzessin im Boote gefrühstückt hatten, aus zahllosen winzigen Büchsen und Dosen, worin immer nur ein viertel Bissen gewesen wäre, etwa zwei Pflaumen oder ein Kleckschen Butter; auch diese Kleinigkeiten hatten sie erst auf einen Teller gelegt, dann von dort etwas auf ihre eigenen Teller genommen, um es dann erst mit Gabel und Messer klein zu säbeln. Eichmüller hatte wütend zugesehen, und als er zum Schlusse der Mahlzeit aufgefordert wurde, sich auch etwas zuzulangen, und er mit seinen klobigen Tatzen in die Reste griff und alles im Nu hinunterschlang, hatte die Prinzessin gesagt, sie hätte noch nie einen solchen Fresser gesehen.

Eichmüller hatte Kamm, Zahnbürste, Seife, ein Brot, und was sonst Vorschrift war, bei sich. Ich führte ihn erst in eine abgelegene Konditorei und fütterte ihn noch einmal satt. Im Arrestlokal wurde er aber wegen Überfüllung nicht angenommen, das heißt, das Arrestlokal war überfüllt. Der Aufseher sagte mit dem Stolze eines Theaterbesitzers: »Bei uns muß man schon wochenlang voraus belegen. Wir schicken an manchen Tagen bis siebzig Arrestanten zurück.« Ich bemühte mich nun, ein anderes, vergittertes Unterkommen für Eichmüller zu finden, der mir dabei eifrig half. Wir fanden endlich, was wir suchten. Ich hatte Befehl, einen anderen, strafberüchtigten Matrosen von »Glückauf« aus dem Arrest abzuholen. Zuvor expedierte ich aber mein letztes Tagebuch nach Hause, was ich bei jeder Gelegenheit tat, weil ich befürchtete, es könnte einmal entdeckt und konfisziert werden.

Eine junge Frau sprach mich an, die mich offenbar verkannte, denn sie wähnte, sie hätte mich auf der Durchreise in Bremen kennengelernt. Ich ließ sie eine halbe Stunde lang in diesem Irrtum, weil ich glücklich war, mal wieder mit einem Weib sprechen zu können.

Der »Glückauf«-Matrose hatte sieben Tage verbüßt, weil er im Rausch einen Kapitän untern Arm genommen hatte und gemütlich mit ihm plaudern wollte. Ich scherzte: »Sie haben sich doch wenigstens gehörig ausschlafen können?«

»Ach«, sagte er, »als ich mich eben auf die andere Seite legen wollte, war die Zeit schon um.«

Abends lief mit anderen Kreuzern die »Seydlitz« ein und wurde von »Seeadler« mit Hurra begrüßt. Das Schiff schien gebrannt zu haben, denn es war achtern ganz schwarz. Der Sperrkommandant hielt es aber nicht für nötig, uns mitzuteilen, was geschehen war. Erst durch ein Wasserboot drang etwas zu uns. Danach waren in einem Seegefecht bei Borkum unsere Kreuzer »Blücher« und »Seydlitz« torpediert worden. »Blücher« kenterte sofort. Die Mannschaft ertrank. »Seydlitz« sollte hundertsechzig Mann verloren haben. Englischerseits sollte der »Tiger« gesunken sein, ein modernes Schiff mit schwerer Artillerie.

Wir mußten die Lampen abblenden. Verschärfte Kriegsbestimmungen traten ein, die Sperre blieb bis morgens geöffnet, um unsre Schiffe möglichst schnell herauszulassen.

Andern Tags fuhr ich mit dem Routineboot dienstlich an Land. An der Mole im Fluthafen stand ein Auto. Zwei Chauffeure trugen einen Kapitänleutnant, dessen rechtes Bein gebeugt verbunden war, von Bord in den Wagen. Ich half dem Offizier beim Einsteigen. Hinterher erfuhr ich, daß es Weddigen gewesen war.

Die Nacht war ungewöhnlich still, so still, daß der Ruf eines fernen Wattvogels wie etwas Lautes unterbrach, und daß ich einmal ein leichtes Flappen der Flagge für fernen Geschützdonner hielt. Über dem glatten Wasserspiegel wallte Nebel und verzerrte die Perspektive. Der Horizont blieb verborgen. Die Leuchtbojen schienen bald nah, bald fern zu sein. Ich mußte an Chaos und Weltschöpfung denken. Mir waren die Zigaretten ausgegangen, und mich reizten Eichmüllers Aufschneidereien. Ich hatte mir diesbezüglich seit langem Notizen gemacht und hielt nun dem jungen Bengel eine Statistik vor, nach der er in einem Jahre vier Frühlinge in fünf voneinander entlegenen Ländern verbracht, außerdem während seiner dreijährigen Dienstzeit mindestens sieben Jahre Soldat gewesen war. Als er aber auch diesen Beweisen wieder aalglatt entschlüpfte, mußte ich lachen und begann nun, von meinen kriegstechnischen Erfindungen zu reden, mit denen meine Phantasie sich oft beschäftigte. Von der Pfefferkanone, die vor einem Angriff bei günstigem Wind große Pfeffermassen über die feindlichen Schützengräben schleudert. Von dem Fluchtgewehr, das, ohne daß man's ihm vorher anmerkt, die Geschosse nicht vorn, sondern hinten herausschießt, und das man mit Munition bei der Flucht dem Feinde zurückläßt. Oder von den unbemannten, nur verkappte Fallbomben tragenden Freiballons, die man zu Tausenden mit gutem Wind über Feindesland schickt, auf daß sie dort abgeschossen werden.

Zu Kaisers Geburtstag brachten die Blätter lobende Berichte über den obersten Kriegsherrn, die »Woche« Nr. 4 ein rührend schönes Gedicht von Joseph von Lauff.

Ich sah an Land den langen feierlichen Beerdigungszug für die hundertachtundsechzig Getöteten von »Seydlitz«. Nachdem ich bereits zwei andere Schritte für mein Wegkommen von der Jade unternommen hatte, eilte ich nun nach der »Seydlitz«, die hinterm Flugzeugschuppen lag. Auf dem Kai staute sich eine große Menschenmenge, es bekam aber niemand Zutritt. Ich drängte mich bis zum Posten Fallreep vor, sagte, ich wollte den Kommandanten sprechen und wurde daraufhin zum ersten Offizier geführt. Der ging erst einmal um mich Strammstehenden herum, um die Inschrift meines Mützenbandes zu lesen: »Sperrfahrzeugdivision der Jade«. Dann suchte er auszuforschen, was ich vom Kommandanten wollte. Ich drückte mich aber nur allgemein aus, es handle sich um ein Gesuch. Zum Adjutanten des Kommandanten geschickt, der das Eiserne Kreuz trug, begann ich: »Ich habe ein Gesuch an den Herrn Kommandanten, beziehungsweise an den Herrn Adjutanten.«

»Nun, was denn?«

»Ich bitte«, fuhr ich vorsichtig fort, »auf unvorschriftsmäßigem Wege ein Gesuch aussprechen zu dürfen.«

Er erlaubte das, ging sehr höflich auf das ein, was ich nun vortrug und begab sich dann zum ersten Offizier. Währenddessen betrachtete ich das verwüstete und zerschossene Achterdeck. Ein Maat schilderte mir bewegt Einzelheiten aus dem Seegefecht. Eine dreizehn Zentner schwere Granate war ins Achterschiff durch das Deck in den Kartuscheraum gedrungen, der sofort in Flammen stand. Leute verbrannten und brieten in den glühenden Panzertürmen. Man hatte sie als kleine zusammengeschrumpfte Leichen herausgeholt.

Der Adjutant kam zurück. Er meinte, es bliebe nichts übrig, als mein Gesuch auf vorschriftsmäßigem Wege einzureichen, ich könnte nur um beschleunigte Weitergabe bitten. Er würde es befürworten, und dem Schiffe selbst wäre es sehr erwünscht, tüchtige Unteroffiziere zu bekommen. Als ich einwarf, der Sperrkommandant würde das Gesuch nicht weitergeben, sagte er: »Doch, er ist verpflichtet, es weiterzugeben.«

Abends um zehn Uhr, als Leutnant Kaiser vom »Seeadler« von der Kaisergeburtstagsfeier zurückkehrte, legte ich ihm mein wohlverfaßtes, dringendes Gesuch vor. Er schrieb an den Rand »befürwortet« und sektfröhlich, wie er war, fing er noch einen langen witzelnden Speech an. Wir von der Sperrfahrzeugdivision hätten allesamt Anrecht auf das Eiserne Kreuz. Weil wir aber hinter der Front stünden, müßten wir es hinten tragen. »Hester«, sagte der Leutnant dann, »Sie sind zwar als Individuum sehr brauchbar, aber Sie müssen sich noch einen anderen Kommandoton angewöhnen, wenn Sie sich den Respekt bei den Leuten erhalten wollen. Geben Sie einen Befehl, dann klingt das immer wie eine Bitte; Sie müssen die Leute anbrüllen, daß sie sich auf den Arsch setzen.« Ich hatte das Gefühl, daß er da etwas an mich richtete, was einmal der Sperrkommandant an den Vizesteuermann Kaiser gerichtet hatte. Mein Kommandant erzählte mir nun, daß ihm sechs Tage und Eibel und Witzmann fünf Tage Urlaub während der bevorstehenden Werftliegezeit bewilligt seien. Dann las er mir noch mit bebender Stimme die kaiserlichen Geburtstagserlasse vor: »... Ernst der Lage... Ansichtskarten mit Kaiserbild für Rote-Kreuz-Zwecke verkaufen... Alle Disziplinarstrafen bis sechs Monate erlassen.« Letzteres freute mich für Schulz und Stuben. Eichmüller bekam dadurch auch seinen Obermatrosenwinkel wieder.

Ich machte mich bei den anderen Maaten vom »Vulkan« mehr und mehr unbeliebt. Bei den Matrosen galt ich als der beste, als der freundlichste von den Unteroffizieren, aber sie betrugen sich mir gegenüber deshalb besonders respektlos und undankbar. Ich vermißte den Schlüssel zur Schiffsuhr und den Schlüssel zur Lampenkammer. Vermutlich hatte jemand, um mir einen Streich zu spielen, die Schlüssel über Bord geworfen.

Puh! Es war kalt. Die Wasserpumpe zugefroren. Meine Hände steif und brennend, einzelne Finger abgestorben. Und das abscheuliche Arbeiten an Deck mit nassen Leinen, das Herüberreichen von Lasten, von einem tanzenden Schiff zum andern. Nein, lieber Schützengraben.

Aber im Ruderhause unseres verschneiten und vereisten Schiffchens duftete ein Maiglöckchensträußchen von Eichhörnchen.

Der Alte – der sechsundzwanzigjährige Alte – ich meine unseren Kommandanten, rief mich spät noch in seine Kajüte und plauderte mit mir, was mir sehr unlieb war, weil ich hinterher Mittelwache hatte. Der tiefere Grund für diese Plauderei war folgender: Ein Befehl war erlassen, daß die Schiffsführer künftig monatliche Meldungen einreichen sollten über bisher gesammelte Kriegserfahrungen. Da brauchte Herr Leutnant nun wohl einen Schriftsteller. Aber andererseits ärgerte er sich, wenn man ihm direkte Vorschläge machte. Er wollte nur unbemerkt etwas ablauschen, Würmer aus der Nase ziehen, und das tat er jetzt und gähnte ganz ungeniert dabei.

Es gab wieder verwickelte, kleinliche Zänkereien und Angebereien. Wenn sich Leute über Unteroffiziere beschwerten, nahm Herr Kaiser stets für uns Partei. Besonders leid tat mir's, daß ich mit Schaffrot so oft zusammenstieß, weil er nur beschränkt und ungehobelt, aber niemals hinterlistig wie die andern zu mir war.

Jessens Koje war kahl wie sein Kopf. Die meinige hatte ich mit Ansichtskarten ausgeschmückt. General Hindenburg, eine dicke Dame im Badekostüm, mein Schwager auf dem Apfelschimmel, daneben ein Bild »Steh ich in finstrer Mitternacht«, und dazwischen hingen Taschenmesser, Schlüssel, sieben Tabakpfeifen, ein Teesieb, ein Sektstöpsel und Bierflaschengummi. Totgeschlagene Kakerlaken klebten wie Rosinen über die bunte Wand verstreut. Das war mein Reich, wo ich schlief und träumte und las. Ich las »Mein feldgraues Buch« von Frieda Schanz, worin Stellen vorkamen wie »... Kaiser-Schlacht-Gott im überirdischen Licht« und »... heilige möwenweiße Königin Luise«. Ich las Zeitungen.

Der Kommandant der Wesermündung setzte in einem Steckbrief dreihundert Mark Belohnung aus für Ergreifung des englischen Nordseelotsen Trug, der sich zwecks Spionage an der Unterweser herumtreiben sollte. The Times vom 26. Dezember 1914 schilderte den Untergang von »Gneisenau« und »Scharnhorst« und bewunderte offen die deutsche seemännische und soldatische Bravour. Das wirkte so viel edler als unsere Bieruntersetzer mit der Inschrift: »Gott strafe England.«

Ein achtundzwanzig Seiten langer Brief von Eichhörnchen, die meine Tagebücher bei den Eltern gelesen hatte und daran Anstoß nahm, daß so viel vom Essen berichtet würde. Auch Eichhörnchen hatte nach meiner Meinung eine törichte, manchmal geradezu hysterische Einstellung zu den Zeitereignissen, und mich ärgerte die Broschüre, die sie mir preisend zusandte: »Über die Tragik in des Kaisers Leben.«

Sieben Pfund ungebrannten Kaffee von Telschow. Einem Briefe von Ruth Trinius war eine Karte beigelegt mit dem Aufdruck »Deutsch sein, heißt edel und tapfer sein«. Ich retournierte ihr die Karte mit dem Vermerk »Geschmackloser Quatsch«. Anonym bekam ich eine Feldflasche mit köstlichem altem Rum geschickt.

Eines Tages hatte »Vulkan« die Aufgabe, ein Scheibenfloß an einer langen Leine vor dem Fort Schillig hin und her zu schleppen. Das Fort schoß auf eine Entfernung von 6000 Metern darauf, was recht interessant war. Nach jedem Trip untersuchten wir die Treffer, und ich fand dabei einen in der Leinwand hängengebliebenen Granatzünder, den ich mir aufbewahrte. Übrigens erregte ich Aufsehen dadurch, daß ich mich in große Gala geworfen hatte. In gewichsten Seestiefeln, schneeweißen Hosen, bestem Hemd, bester Mütze mit neuem Exerzierkragen und sorgfältig gebürstetem Schnurrbart verrichtete ich – allerdings sehr behindert – meine Arbeit. Man frug mich aus, aber ich verriet nichts. Ich hatte nämlich erfahren, daß Kaiser Wilhelm schon seit gestern in Wilhelmshaven weilte. Nun war zwar nicht anzunehmen, daß wir ihn zu Gesicht bekämen, aber wenn, dann war ich entschlossen, mein Gesuch persönlich bei ihm anzubringen.

Zahnschmerzen trieben mich an Land. Nachher konnte ich mich aber nicht entschließen, mein Geld für den Zahnarzt auszugeben, sondern zog eine musikalische Veranstaltung vor. Kothe sang Lieder zur Laute. Ich saß zwischen Offizieren und reichgekleideten Wilhelmshavener Damen eingekeilt, gesund aussehenden Damen mit blonder Haarfülle. Aber lange hielt ich's dort nicht aus, sondern setzte mich zu größerer Freiheit in ein Weinlokal und berauschte mich an dem Gegensatz: Jetzt schöne Möbel, herrlicher Rheinwein, Bedienung, Musik, und noch vor wenigen Stunden – und wieder in wenigen Stunden – harte Arbeit und diese trostlose, einen verrückt machende Öde draußen auf dem kalten kleinen Schiff.

Endlich durfte das Schiff in die Werft, und der Kommandant und Eibel und Witzmann fuhren auf Urlaub. Da arbeiteten wir viel froher und intensiver ohne Mittagspause, um abends desto früher auf Stadturlaub gehen zu können.

Siebzehn Menschen mußte ich sprechen, nach sechs Gebäuden und durch achtzehn Zimmer wandern, um zwei Paar Filzschuhe für die Nachtposten zu erhalten.

Ich war ermächtigt, die dienstliche Post für »Vulkan« zu öffnen. Der erste Brief enthielt die Verfügung, daß Obermaat Eibel nicht auf Urlaub zu lassen wäre, weil er kürzlich in der Marktstraße einer Patrouille entlaufen wäre, die ihn wegen Skandalierens angehalten hatte. Nun, Eibel war längst in seiner Heimat.

Ich genoß das »Jeden Abend an Land« mit Wonne. Ich hörte Marcell Salzer, sah Humperdincks Märchenoper »Hänsel und Gretel« und besuchte das Kriegstheater. Damen und Herren der Gesellschaft führten unter Mitwirkung von Marinern Ludwig Fuldas »Jugendfreunde« auf. An der Spitze dieses Wohlfahrtunternehmens stand die Frau des Korvettenkapitäns Moraht. Es gelang mir durch Beharrlichkeit, diese Dame einmal zu sprechen. Ich wollte gern mit Theater spielen, obwohl ich absolut nicht die Überzeugung hatte, dafür geeignet zu sein. Mich lockte der Gedanke, wieder einmal mit Kunst in Berührung zu kommen. Vor allem aber hoffte ich, durch den Einfluß von Frau Morath meine Abkommandierungspläne zu fördern.

Und dann hatte ich ein schönes Erlebnis. Ich lernte nachts vor dem Tor einer Villa M. M. ein hübsches, rotbackiges, heißäugiges und märchenhaft sittsames Dienstmädchen kennen. Sie wurde mein Verhältnis. Es gab einmal ein eigenartiges und komisches Renkontre mit der gnädigen Frau. Ich führte M. M. aus. In den einfachen Lokalen, die wir aufsuchten, versteckte sie ihre roten und rissigen Hände und erzählte mir ungeziert, auch nicht ohne Humor, ihre einfache, brave Lebensgeschichte. Sie fragte, was ich im Zivilberuf wäre, und als ich nach längerem Ratenlassen sagte, ich machte Verse, erschrak sie hübsch und äußerte, daß ich ja dann gar nicht zu ihren Kreisen gehörte. Ich redete ihr das aus. Dann tranken wir Brüderschaft, und ich verabredete mit ihr, die nur selten Ausgangserlaubnis bekam, das nächste Zusammentreffen.

Darüber hatte ich meinen Urlaubsschein verloren, ich half mir aber mit einem Trick durch die Sperre am Werfttor. Mit raschen Schritten ging ich auf den dortigen Polizeiposten zu, hielt ihm rasch, als wär's ein Urlaubsschein, eine Quittung über ein zurückgeliefertes leeres Bierfaß vor und frug dabei aufgeregt: »Ist es wahr, daß ein englischer Flieger eine Bombe auf das Café Central geworfen hat?« Der Posten machte große Augen. Andere Leute der Wache traten neugierig herzu, beteiligten sich an der Debatte, und einer behauptete, er habe es gesehen. Ich verduftete mit der Versicherung: eine alte Frau habe mir die Nachricht zugerufen, und ich möchte beschwören, daß sei eine freche Lüge.

Kaum saßen wir im Dock trocken, so hatte Jessen schon das Schiff über und über gestrichen. Die Ölfarbe wollte aber bei dem Frostwetter nicht trocknen. Aus Kummer darüber ging Jessen nun auch einmal abends an Land, sonst schlief er immer. Ich blieb für ihn an Bord, wo es eisig kalt war, weil wegen der Kesselreinigung die Dampfheizung wegfiel. Auf Deck lag hoher Schnee, und wir hatten kein Wasser. Ich wusch mich in einer sehr fragwürdigen Flüssigkeit, die ich in einem Eimer im Heizraum entdeckte.

Nach neun Uhr kamen die Matrosen vom Urlaub zurück, alle kanonenvoll besoffen. Es war erstaunlich, daß sie auf der steilen Leiter und bei den sonstigen unumgänglichen Kletterpartien im Dock nicht das Genick brachen. Dafür wischten sie mit ihren Hosen und Überziehern Jessens schöne nasse Ölfarbe ab. Einer brachte unseren Hund Bootsmann wieder mit, der, seit er uns entlaufen, groß und struppig geworden war und jedem ersten besten Kuli nachlief. Der Koch hatte Tränen im Auge und behauptete, der Heilige Geist sei ein Stoßvogel. Stüben torkelte in meine Kammer und brachte mir ein Vertrauensvotum aus mit dem Nachsatz, daß gewisse andere Leute dagegen ein paar Messerstiche in die Rippen verdienten. Ich beschwichtigte ihn und ermahnte alle, sich im Logis ruhig zu verhalten. Aber schon wenige Minuten danach erhob sich in diesem Raume eine gewaltige Schlägerei, an der sich dem Klange nach unterschiedliche Inventarstärke beteiligten. Schaffrot und ich lauschten lachend.

Ich ging auf »Seydlitz«. Der Adjutant hatte noch nichts von meinem Gesuch vernommen. Also hatte es der Sperrkommandant nicht weitergegeben.

Es war Aussicht vorhanden, daß »Vulkan« außer Dienst gestellt würde, denn beim Ausklopfen des Kesselsteins stellte sich heraus, daß unser Kessel stellenweise nur noch sieben Millimeter maß, also in Gefahr war, eines Tages zu platzen. Ein Stabsingenieur sollte den Schaden demnächst untersuchen und das entscheidende Wort sprechen. Unsere Leute gaben sich inzwischen Mühe, von den sieben Millimetern noch etwas herunterzuschaben.

Von meiner Liebe erhielt ich den ersten und letzten Brief, sehr sauber geschrieben. »Wilhelmshaven, den 10. Februar 1915. Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß ich aus bestimmten Gründen auf jedes Wiedersehen verzichten muß. Ich will hoffen, daß Sie unser kurzes Beisammensein recht bald vergessen werden. Leben Sie wohl!!! und werden Sie glücklich. M. M.« Ich war traurig.

Die Arbeiter in der Werft hatten schweren Dienst. Diejenigen, die mit dem Luftdruckhammer nieteten, klagten darüber, daß ihre Arme nachts zuckten; manche hatten das Gehör verloren. Man sah viele Arbeiter mit verkrüppelten Gliedmaßen, sah blasse, abgemagerte und schwindsüchtige Gestalten.

Von der Kesselbesichtigung wurde abgesehen. Wir verholten vom Dock in den Bauhafen. Zufällig kamen wir dort wieder neben die »Berlin« zu liegen, die mit geheimnisvollen Sachen beladen wurde. Natürlich klopfte ich gleich einmal auf den Busch, ob etwa ein Maat an der Besatzung fehlte, aber ich hatte kein Glück. Man erzählte mir, der Kommandant der »Berlin« wüßte selbst nicht, wohin die Reise ginge. Er hätte geheime Order, die er erst fünfzig Seemeilen von Land weg öffnen dürfte.

Eichmüller vertraute mir sein neuestes Leid. Er hatte ermittelt, daß in einer gewissen Kneipe ein Signalgast von der Baudivision verkehrte, der aus dem gleichen Heimatdörfchen stammte wie Eichmüller, und dieser hatte ihn schon dreimal besucht, um etwas über Zuhause zu hören, »aber«, sagte Eichmüller wörtlich, »der Kerl ist jedesmal so besoffen, daß er überhaupt nicht mehr weiß, wo er geboren ist.«

Der achtzehnte Februar kam, der wegen des U-Boot-Ultimatums mit Spannung erwartet wurde. Wir erhielten zunächst nur einen Funkspruch »Zwei Zeppeline vermißt«.

Ich übernachtete auf einem romantischen Minenprahm, wo ich mir in einer Hängematte Wanzen und Mandelentzündung holte. Zuvor hatte ich mich aber mit einer Flasche Rum hinter eine Mine verkrochen, um ein Gedicht zu schreiben. Wieviel schöne Gedichte können aus dieser Flasche kommen! Und wieviel Kraft, Vernichtung und Tod mögen in dieser Mine stecken! Ich sann und spann, aber ein Gedicht brachte ich nicht zuwege.

Die anderen Maate vom »Vulkan« sprachen nur noch dienstlich mit mir. Sie hatten auch den Koch gegen mich aufgehetzt. Mir ging's wie Deutschland: Ich war von Feinden umringt.

Ich überzeugte mich davon, daß Jessen ein Konto auf der Kreditbank in Gravenstein hatte. Er leugnete das errötend und um das Gespräch abzuleiten, gestand er mir, daß er einen Bandwurm hätte.

Eine schon längst von mir beantragte und sehnlichst erwartete Bescheinigung traf ein, besagend: ich wäre vom 2. bis einschließlich 7. März nach Leipzig und München beurlaubt. Ich durfte aber schon einen Tag früher fahren. Ich schlief nachts unruhig, wälzte mich wie ein Pferd ohne Beine herum und wachte schreiend auf, weil ich geträumt hatte, ich wäre zwischen zwei zusammenscherende Schiffe geraten. Jessen beruhigte mich. Er konnte seines Bandwurms wegen auch nicht schlafen, weshalb er wieder wider ärztliche Verordnung den Bandwurm zu füttern begann, indem er selbst kräftig aß.

Vier Uhr ward ich geweckt. Meine Sachen waren gepackt. Eine Dekade Löhnung war mir vorausbezahlt. Sicherheitshalber gab ich noch einen Morsespruch nach »Seeadler»: »Bitte Routineboot Beurlaubten mitnehmen.«

Erst als ich im Speisewagen saß und der Zug abrollte, verlor ich die dumpfe Furcht, im letzten Moment noch zurückgeholt zu werden. Eine Seligkeit umfing mich, sechs Tage Freiheit!

Diese sechs Tage Urlaub verliefen köstlich. Schon die Bahnfahrten ließ ich auf mich wirken. Überall jubelnde Empfänge, trauriges Abschiednehmen, überall Verwundete, lachende Menschen, ernste Menschen, Soldaten über und über mit Blumen geschmückt. Zu Hause bei den Eltern und Geschwistern wurde ich ebenso verwöhnt wie unterwegs und wie in München von den Freunden und von Tante Selma. Man fragte mich immer wieder: wo steckt eigentlich Prinz Heinrich? Von der Marine sprachen alle mit höchster Achtung, und ich wurde schon unterwegs von fremden Menschen mit Höflichkeiten und Freundlichkeiten überschüttet. Ein Kind schenkte mir aus eigenem Antriebe eine Dicke Berta aus Schokolade. Dicke Berta nannten die Soldaten das neue 42-cm-Geschütz. Auf der Rückfahrt begleitete mich Eichhörnchen bis Bremen. Als sie meinen Blicken entschwunden war, da ward mir zumut, als führe ich nun ins Gefängnis zurück.

Auf »Vulkan« fand ich eine günstige Nachricht vor. Die innere Sperre sollte aufgehoben, unsere Boote außer Dienst gestellt und die Mannschaften an die Kompanie überwiesen werden. Nur ein Boot sollte bleiben, und das war natürlich »Vulkan«. Der Leutnant erlaubte mir nicht, beim Sperrkommandanten vorstellig zu werden. Er und der Sperrkommandant gaben weder Gesuche noch Beschwerden von mir weiter. Das war gegen § 5 der Kriegsartikel. Erst nachdem ich mich hinter Oberleutnant Raichert steckte, hatte ich Erfolg. Ich sollte abgelöst werden. Herr Kaiser teilte mir das zornig mit. Ich fing überglücklich gleich an, meine Sachen zu ordnen. An die Matrosen verteilte ich kleine Andenken, und ich riß die hundert Ansichtskarten von meiner Bordwand. Tante Selma hatte mir in München drei Töpfe Pflaumenmus mitgegeben, die für mehrere Monate reichen sollten. Nicht wissend, wie ich das transportieren sollte, fraß ich zwei Töpfe an einem Nachmittag leer, was ein jämmerliches Leibweh ergab. Aber Leibweh hin, Leibweh her: ich kam von Bord.

Wir gingen abends bei Tonne 16 vor Anker, und ich hatte mich dann in die Koje gepackt, um über mein künftiges Schicksal nachzudenken, als ein Knall übers Wasser hallte. – »Anker auf!« – Ich lief barfuß an Deck. Pechschwarze Nacht. Auf einem Torpedoboot hatte eine Explosion stattgefunden. Wir wanden den Anker hoch und setzten Lichter. Das Unfallboot war von einem Scheinwerfer beleuchtet und bereits von anderen Torpedobooten umringt. Man brauchte unsere Hilfe nicht.

Am nächsten Tage nahmen wir im Hafen Kohlen, und ich schaufelte wie ein Besessener, denn ich wollte mir nicht noch zuletzt Faulheit nachsagen lassen. Da meldete sich ein Maat an Bord, der seinen Kleidersack mitbrachte. Meine Ablösung. Herr Kaiser wollte mich noch ein wenig schikanieren. Ich durfte nicht direkt in die Kaserne, sondern sollte erst mit heraus nach der Sperre fahren und von dort das Routineboot zur Rückfahrt benutzen. Dieses war dann aber schon fort, so daß ich noch eine ungeduldige Nacht auf »Glückauf« verbrachte.

»Melde mich von Bord!«

Leutnant Kaiser gab mir die Hand mit einem sauersüßen Lächeln. »Hoffentlich verwirklichen sich Ihre ...«


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